Während Komplexität und Herausforderungen eines ohnehin anspruchsvollen Arbeitsfeldes zunehmen, verschlechtern sich zeitgleich seine Arbeitsbedingungen. Um die notwendige hohe Professionalität zu sichern, braucht es auch methodische Zugänge, die diesen Anforderungen begegnen und professionelles Handeln fördern können. Könnte VHT als eine Methode, welche neben den Adressat*innen auch die Ebene der Fachkräfte und deren Bedarfe mitdenkt, Lösungsansätze anbieten? VHT kann im stationären Rahmen mit Kindern und Jugendlichen, Eltern, im Hilfeplangespräch, zu diagnostischen Zwecken und in der Arbeit mit Fachkräften angewandt werden. Professionelles Handeln verläuft nach Hiltrud von Spiegel (2020/2021) auf den Dimensionen WISSEN – KÖNNEN – HALTUNG. Inwiefern wirkt sich videobasiertes Arbeiten auf diese aus? Und welche Wirkungszusammenhänge zeichnen sich ab? Diesen Fragen geht die vorliegende Arbeit mithilfe des qualitativen Verfahrens der Fokusgruppenforschung nach.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einführung in die Thematik
2 Stationäre Erziehungshilfen
2.1 Selbstverständnis und Rahmenbedingungen
2.2 Zielgruppe und Problemstellungen
2.3 Theoretische und konzeptionelle Leitorientierungen
2.4 Methodische Zugänge und Techniken
3 Professionelles Handeln im Kontext der stationären Erziehungshilfen
3.1 Von der Semi-Profession zur reflexiven Professionalität
3.2 Modelle professionellen Handelns
3.3 Methoden und Kompetenzen als Bestandteil professionellen Handelns
3.4 Merkmale professionellen Handelns in stationären Erziehungshilfen
3.5 Institutionelle und personale Merkmale professionellen Handelns
4 Grundlagen der Methode VHT
4.1 Zielsetzung und Methodik des VHTs
4.2 Einordnung in den Methodenbegriff
4.3 Historisch-organisationale Einordnung
4.4 Das theoretische Gerüst: Das VHT-Säulenmodell
4.4.1 Erste Säule: Menschenbild und Empowerment
4.4.2 Zweite Säule: Positiver Lernansatz
4.4.3 Dritte Säule: Einsatz von Videobildern
4.4.4 Vierte Säule: Basiskommunikation
4.5 Das weitere Fundament: Systemische Schule und Bindungstheorie
4.5.1 VHT als systemische Beratungsmethode
4.5.2 Bindungs-, Bedürfnis- und Feinfühligkeitsorientierung
5 VHT im Kontext der stationären Erziehungshilfen
5.1 VHT mit Fachkräften
5.2 VHT zu diagnostischen Zwecken
5.3 VHT im Hilfeplangespräch
5.4 VHT mit Kindern und Jugendlichen
5.5 VHT mit Eltern
6 Empirische Untersuchung
6.1 Forschungsstand und Forschungsinteresse
6.2 Forschungsmethode
6.3 Feldzugang und Sampling
6.4 Datenerhebung
6.5 Datenaufbereitung und -auswertung
6.6 Forschungsethik und Gütekriterien
7 Ergebnisse der Forschung
7.1.1 Dimension des Wissens
7.1.2 Dimension des Könnens
7.1.3 Dimension der Haltung
7.2 Wirkungsfaktoren und -zusammenhänge
7.3 Professionalität innerhalb der Methode
8 Zusammenfassung und Diskussion
9 Fazit und Ausblick
10 Quellenverzeichnis
11 Anhang
11.1 Informationsschreiben
11.2 Leitfaden für die Fokusgruppe
11.3 Transkriptionsregeln
11.4 Transkriptionsauszug
11.5 Kodierleitfaden
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Phasenmodell professionellen Handelns
Abbildung 2: Verortung im Methodenbegriff
Abbildung 3: Beratungskontinuum
Abbildung 4: Säulen des VHTs
Abbildung 5: Aktivierungsprinzip des VHTs
Abbildung 6: Prinzip ,aktivieren statt kompensieren’ im Trajektplan
Abbildung 7: Video-Kontakt-Schema: Merkmale gelungener Kommunikation
Abbildung 8: Videobasiertes Arbeiten im stationären Hilfeprozess
Abbildung 9: Verortung des Forschungsgegenstands
Abbildung 10: VHT-Erfahrung nach Anwendungsbereichen
Abbildung 11: Auswirkungen videobasierten Arbeitens auf Merkmale professionellen Handelns
Abbildung 12: Wirkungszusammenhänge und -faktoren
Abbildung 13: Darstellung der zentralen Ergebnisse
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Hauptgründe für die Unterbringung in eine stationäre Erziehungshilfe
Tabelle 2: Ergänzende Hauptgründe für die Unterbringung in eine stationäre Erziehungshilfe
Tabelle 3: Vergleich von Bindungsmerkmalen stationär lebender Jugendlicher und nicht stationär lebender Gesamtbevölkerung
Tabelle 4: „Rahmenmodell zur Analyse und Planung professionellen Handelns in der Sozialen Arbeit“
Tabelle 5: Zuordnung der Basiskommunikationsprinzipien in das Kontaktritual
Tabelle 6: Kategorienbildung
Tabelle 7: Codehäufigkeiten
Tabelle 8: Zuordnung weiterer Merkmale professionellen Handelns
Tabelle 9: Transkriptionsregeln nach Bohnsack; Dresing und Pehl
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einführung in die Thematik
Das Arbeitsfeld der stationären Erziehungshilfen soll einen positiven Lebensort für junge Menschen bilden, welche dauerhaft oder vorrübergehend nicht in ihrer Familie leben können, dabei die Verarbeitung traumatischer Lebensereignisse begleiten und entwicklungsförderliche Bedingungen bereitstellen (Günder 2015: 15). Dieser bereits ohnehin anspruchsvolle Auftrag an das Arbeitsfeld und deren Professionelle (15), verschärft sich vor dem Hintergrund diverser Herausforderungen und Entwicklungsaufgaben, vor denen dieses steht.
So beobachtet Gahleitner aufgrund des zunehmenden Kostendrucks der Kinder- und Jugendhilfe die „Verschiebung in Richtung ambulanter Angebote [...] mit der Zielsetzung, stationäre Unterbringungen zu vermeiden [und eine] dadurch besonders hohe Rate von Kindern und Jugendlichen mit psychiatrischen Störungsbildern in den stationären Hilfen“ (2017: 8). Nüsken stellt weiter fest, dass die sich wandelnde gesellschaftliche Wirklichkeit verbunden mit einer ständig zunehmenden Komplexität der Lebensbedingungen, in denen Kinder und Jugendliche aufwachsen, sich entsprechend auf das Arbeitsfeld auswirken. Neben Veränderungen wie den bereits benannten Sparbemühungen, rechtlichen Reformen (zu unter anderem Kinderschutz, Partizipation und Beschwerde) und öffentlicher Aufmerksamkeit aufgrund missglückter Kinderschutzfälle, entwickelten sich auch neue Anforderungen durch junge Geflüchtete sowie durch die Zunahme von Problemlagen in multibelasteten Familien. (Nüsken 2020: 17) Die aktuellste Neuanforderung dieser Reihe steht zudem bereits bereit; das 2021 verabschiedete Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) ergänzt die bisherige Zielgruppe des Arbeitsfeldes um junge Menschen mit Behinderungen (Schönecker 2022: 71). Für Kessl et al sorgen die bereits benannte zunehmende Komplexität und Modernisierung im Übrigen für Grenzverschiebungen und -aufweichungen in der Zuständigkeit für Problemlagen und Themen, weshalb sie insgesamt eine Prekarisierung des Pädagogischen sehen (2014: 14f.).
Die Aufgabenstellungen nehmen also an Komplexität und Herausforderung zu, während sich die Arbeitsbedingungen verschlechtern (AGJ 2011:1ff.). Was Averbeck für die gesamte Kinder- und Jugendhilfe feststellt, dürfte auch für das stationäre Setting gelten: Die knapp dreitausend von ihr befragten Fachkräfte gaben zu 61% an, durch das hohe Arbeitspensum belastet zu sein, weitere 57% durch die hohen emotionalen Anforderungen. (Averbeck 2019: 117) Von bedeutenden Belastungen zeugen überdies auch, dass 43% der in Teilzeit Arbeitenden angibt, dass sie aufgrund der gegebenen Arbeitsbedingungen keiner Vollzeitbeschäftigung nachgehen und 38% sagen aus, dass die Arbeitsbelastung bei höherem Umfang sonst zu groß sei (87). Diese schützende Funktion von Teilzeitstellen (87) könnte auch erklären, wieso die Zahl an Teilzeitbeschäftigungen bei Basismitarbeitenden der stationären Erziehungshilfen besonders hoch ist (KVJS 2015: 50).
Die hohe Arbeitsbelastung verbunden mit hohen Anforderungen, führen zu einer hohen Fluktuation der Professionellen (AGJ 2011: 5). Große Anteile der stationär Arbeitenden sind zudem über vierzigjährige Fachkräfte, die „nach langjähriger Arbeit im Schicht-, Wochenend- und Nachtdienst zunehmender vom Burnout bedroht [sind]“ (AGJ 2011: 5). Weiter werden der jüngeren Fachkräftegeneration veränderte Motivationen zugeschrieben, sie neigen - so die überspitzte These der Autorinnen - weniger zur Selbstausbeutung und suchen nach attraktiveren und mehr wertgeschätzten Be- ruflichkeiten (3). Der Fachkräftemangel führt auch dazu, dass Quereinsteigenden- sowie Assistenzprogramme den Anteil nicht (akademisch) ausgebildeter Pädagog*innen zukünftig steigen lassen, was eine „gravierende Verschlechterung der psychohygienischen Situation“ Professioneller herbeiführen kann und in prekärer Professionalität des Arbeitsfeldes zu münden droht (Kessl et al 2014: 13).
Teile der Fachkräfte versuchen die benannten Notlagen „durch persönlichen Einsatz zu mildern und beispielsweise durch Überstunden den Personalmangel aufzufangen und fachliche Standards aufrecht zu erhalten“ (Averbeck 2019: 10) - auf eigene Kosten, auch auf Kosten der eigenen Gesundheit. Die Krankheitstage Sozialarbeitender sind überdurchschnittlich hoch (Kessl et al 2014:13f.). Dies scheint noch aussagekräftiger in Verbindung mit Averbeck’s Ergebnis, dass 34% der befragten Professionellen häufig arbeiten gehen, auch wenn sie sich krank fühlen (2019: 145). Überdurchschnittlich ist weiter die Häufigkeit psychischer Erkrankungen, insbesondere Burnouterkran- kungen als Folge personeller Not, Arbeitsdichte, -menge und -klima (Kessl et al 2014: 13f.; Averbeck 2019: 13). Als Alternative zum Durchhalten erwägen Fachkräfte auch die berufliche Neuorientierung - wichtige personelle Ressourcen sowie Wissensbestände drohen dann das Arbeitsfeld zu verlassen und den Fachkräftemangel samt den beschriebenen Zusammenhängen weiter zu verschärfen (10).
Zusammengefasst werden kann also, dass Fachkräfte der stationären Erziehungshilfe herausfordernden Tätigkeiten nachgehen gepaart mit hohen gesellschaftlichen sowie fachlichen Ansprüchen (Averbeck 2019: 7). Die Anforderungen an Fachkräfte sind zudem deutlich gestiegen (Nüsken 2020: 17) und die benannten Veränderungen „[stellen] hohe Anforderungen an die methodische Qualifizierung in der Betreuung, Begleitung und Behandlung“ (Gahleitner 2017: 8). Günder pointiert:
„Die Erziehung in Heimen und sonstigen betreuten Wohnformen verlangt heute mehr denn je eine hohe Professionalität der Fachkräfte, welche diesem Anspruch innerhalb des sozialpädagogischen Arbeitsfeldes [...] auch entsprechen können.“ (2015: 12)
Neben notwendigen Veränderungen der rahmenden Arbeitsbedingungen, braucht es also - Gahleitner folgend - auch methodische Zugänge, die den anspruchsvollen Anforderungen begegnen können, indem sie Professionalität generieren. Und offenbar braucht es einen methodischen Zugang, der nicht nur professionelles Handeln fördert, sondern die Ebene der Mitarbeitenden und deren Bedarfe mitdenkt.
Ein möglicher methodischer Zugang könnte die sowohl auf Adressat*innen, als auch auf Professionelle zielende Methode VHT darstellen. Bei VHT handelt es sich um eine systemische, konsequent ressourcenorientierte Beratungsmethode, welche auf Empowerment, Prinzipien gelingender Kommunikation sowie positiven Videobildern als Medium gründet (SPIN DGVB o.J.e: o.S.).
„Bilder - sowohl stehende als auch bewegte Bilder - sind komplexe und ganzheitliche Informationsträger, die in der Beratung vielfältig einsetzbar sind. Sie frieren’ eine Situation ein und halten sie gesprächsfähig, sie können aus verschiedenen Blickwinkeln analysiert werden [und] machen kleinste Details sichtbar, auf die in der Echtsituation nicht geachtet wurde[. Sie] ermöglichen es, aus einer Metaposition heraus auf das Geschehen zu schauen und es neu zu verstehen [...]“ (Gens 2020a: 10)
Dieses videobasierte Arbeiten richtet sich dabei sowohl an Personen, welche Fürsorge anbieten, als auch Personen welche im Zentrum von Fürsorge stehen (MONTAG 2021, o.S.). Ihre Methodik verläuft über kurze Videoaufnahmen der Kommunizierenden aus deren familiären oder professionellen Alltag, anschließender Analyse und Zusammenschnitt der bereits gelingenden und aussagekräftigen Kommunikationssequenzen und der abschließenden Videoauswertung mit dem Gegenüber (Gens 2020a: 15).
Wurde die Methode in den 1970er Jahren in den Niederlanden zunächst im Kontext (teil-)stationärer Erziehungshilfen begründet und aus deren Praxis heraus entwickelt (Schepers; König 2000: 12f.), verlagerte sich der Fachdiskurs im Verlauf der Jahrzehnte stark in das Feld ambulanter Erziehungshilfen. Dabei scheint sie dem Arbeitsfeld der stationären Erziehungshilfen ein Repertoire zur Verfügung stellen zu können. Sie findet Anwendung in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, mit deren Eltern, im Hilfeplangespräch, im diagnostischen und fallverstehenden Arbeiten sowie in der Personalentwicklung (Biener; Brümmer 2020: 58). Insbesondere Professionellen soll VHT ermöglichen „tägliche Herausforderungen und berufliche Konflikte an Lösungen und Ressourcen orientiert systematisch [zu] analysieren und positiv [zu nutzen]“ (Goltsche 2020: 25). Weiter soll videobasiertes Arbeiten Fachkräften die Chance bieten, junge Menschen und ihre Familien in deren Bewältigungsstrategien und Bedürfnissen besser zu verstehen und ein gemeinsames Fallverständnis zu generieren. So könne professionelle Haltung eingenommen und professionelles Handeln entwickelt werden (Biener; Brümmer 2020: 58; Brümmer 2020: 62). Könnte sich also VHT als methodischer Zugang der Beantwortung beschriebener Herausforderungen im Arbeitsfeld annähern? Welche Möglichkeiten bietet sie hierzu an und zeigen diese tatsächlich Wirkung? Die vorliegende Arbeit möchte dieser Spur folgen und fragt sich:
Inwiefern wirkt sich videobasiertes Arbeiten auf das professionelle Handeln von Fachkräften im Arbeitsfeld der stationären Erziehungshilfen aus?
Methodisch schlägt die Bearbeitung der Fragestellung den folgenden Weg ein. So möchte sie zunächst in eine stabile theoretische Fundierung investieren und dabei das Arbeitsfeld, professionelles Handeln sowie die Methode VHT aufbereiten, und sich der Thematik daraufhin empirisch annähern. Der abschließenden Beantwortung der Forschungsfrage dient hierzu ein qualitatives Forschungsdesign, liegt das Erkenntnisinteresse doch „nicht in der Überprüfung zuvor theoretisch abgeleiteter Hypothesen, sondern in der systematisierenden Exploration und Erschließung“ (Schaffer; Schaffer 2020: 47) dieses noch unbeforschten Gegenstandes. Es werden zwei Fokusgruppen mit insgesamt elf Fachkräften aus dem Kontext stationärer Erziehungshilfen durchgeführt, welche aus verschiedenen Positionen und Perspektiven heraus Erfahrungen mit unterschiedlichen Anwendungen von VHT im Arbeitsfeld zusammentragen.
Die Arbeit verläuft also über die benannten zwei Abschnitte, den fundierenden Theorieteil und die anschließende empirische Untersuchung hinweg. Im Theorieabschnitt begibt sich das zweite Kapitel zunächst in das Arbeitsfeld der stationären Erziehungshilfen und klärt dort grundlegendes im Sinne seines Selbstverständnisses sowie seiner Rahmung, seiner Zielgruppe und deren Problemlagen. Um ein möglichst gehaltvolles Bild des Feldes zu erlangen, gibt die Arbeit Einblicke in theoretische und konzeptionelle Leitorientierungen und konkrete methodische Zugänge und Techniken. Das dritte Kapitel nimmt sich anschließend vor, professionelles Handeln zu präzisieren. Nachdem ein kurzer Abriss der Professionsdebatte in das Thema einleitet, werden hierzu professionelle Handlungsmodelle sowie methodisches Handeln und Kompetenzen als Bestandteile beleuchtet. Abschließend wird ein Bild professionellen Handelns in Bezug auf das spezifische Arbeitsfeld der stationären Erziehungshilfen entworfen. Das vierte Kapitel wendet sich der Methode VHT zu, indem es seine Zielsetzung und Methodik klärt, VHT in den Methodenbegriff einordnet, die Genese und Organisation sowie das theoretische Säulenmodell der Methode vorstellt. Jenes wird über die vier Säulen Menschenbild, positiver Lernansatz, Videobilder und Basiskommunikation ausgearbeitet sowie über sein Fundament aus systemischen und bindungstheoretischen Inhalten. Anschließend bewegt sich die Arbeit im fünften Kapitel zu den Praxisanwendungen des videobasierten Arbeitens im Arbeitsfeld der stationären Erziehungshilfen und stellt vor, wie VHT mit Fachkräften, zu diagnostischen Zwecken, im Hilfeplangespräch, mit jungen Menschen und Eltern verwendet werden kann. Auf diesem theoretischen Fundament kann dann die empirische Untersuchung ihren Anfang nehmen und ihr Design über Forschungsinteresse, -stand und -methode hin zu Sampling, Datenerhebung, - aufbereitung und -auswertung darstellen und sie auf ethische Aspekte und Güte hin zu prüfen. Das siebte Kapitel stellt die generierten Forschungsergebnisse vor, gegliedert in Auswirkungen auf das professionelle Handeln, Wirkungszusammenhänge sowie Professionalität innerhalb der Methode. Die Erkenntnisse werden abschließend diskutiert, um die Arbeit mit einem Fazit und Ausblick abschließen zu können.
2 Stationäre Erziehungshilfen
Um die Anforderungen und Merkmale professionellen Handelns im Kontext der stationären Erziehungshilfe nachvollziehen zu können, ist es zunächst notwendig das Arbeitsfeld in seinen Grundzügen zu verstehen. Das vorliegende Kapitel versucht, dieses über die folgenden vier Unterkapitel hinweg zu skizzieren.
2.1 Selbstverständnis und Rahmenbedingungen
„Das Heim als positiver Lebensort soll frühere oftmals negative oder traumatische Lebenserfahrungen verarbeiten helfen, für günstige Entwicklungsbedingungen sorgen, Ressourcen erkennen und auf ihnen aufbauen, den einzelnen jungen Menschen als Person annehmen und wertschätzen, eine vorrübergehende oder auf einen längeren Zeitraum angelegte Beheimatung fördern und die Entwicklung neuer Lebensperspektiven unterstützen.“ (2015: 15)
So benennt Günder die Zielsetzung und das Selbstverständnis der stationären Erziehungshilfen (2015: 15). Heimerziehung oder sonstige betreute Wohnformen sind im §34 SGB VIII in Verbindung mit weiteren Paragrafen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes geregelt. Der junge Mensch hat zunächst „ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (§1). Ist diese „dem Wohl des Kindes [...] entsprechende Erziehung nicht gewährleistet“ (§27), kann Heimerziehung als eine Leistung im Katalog der Hilfen zur Erziehung „geeignet und notwendig“ (§27 Abs.1) werden. Sie soll entweder längerfristig angelegt werden, in die Erziehung in einer anderen Familie überleiten oder eine Rückkehr des jungen Menschen in seine Familie anstreben (§34). Bei der Wahl der Fremdunterbringung, haben Familien Wunsch und Wahlrecht (§5), ebenso sind sie im Hilfeplan zu beteiligen (§36). Gegen den Willen der Sorgeberechtigten kann ein junger Mensch dann in Obhut genommen werden (§42), wenn eine Kindeswohlgefährdung (§8a) vorliegt. Kinder und Jugendliche, die von seelischen Behinderungen bedroht oder betroffen sind, steht Eingliederungshilfe nach §35a zu. Jungen Volljährigen steht Heimerziehung bei Bedarf bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres zur Verfügung (§41).
Während Heimerziehung bis ins letzte Jahrhundert in größeren Kinderheimen organisiert war, gibt es heute ein differenziertes Leistungsangebot unter der Überschrift des §34 SGB VIII, welche sowohl Günder, Schierer als auch Rätz, Schröer und Wolff systematisieren. Es wird in Wohngruppen beziehungsweise Außenwohngruppen gegliedert, welche sich im Zuge benannter Dezentralisierung aus großen Heimen in kleine Wohneinheiten in Form von Wohnetagen oder Einfamilienhäusern aufgliederten und sich unauffällig und familienähnlich in Wohngebiete einfügten. Dabei handelt es sich meist um Gruppengrößen von fünf bis acht jungen Menschen, die im Schichtdienst von pädagogischen Fachkräften betreut werden. (Günder 2015: 76) Zu den familienähnlichen Wohngruppen, als weitere Rubrik, gehören beispielsweise Kinderdörfer sowie Erziehungsstellen (Rätz; Schröer; Wolff 2014: 171). Besonders zu stabilisierende Kinder und Jugendliche werden entweder im Zuhause der Professionellen begleitet oder jene bringen ihren Privathaushalt mit in die Lebensgemeinschaft ein (Günder 2015: 78). Weiterhin bestehen Intensivgruppen, welche einen hoch strukturierten, therapeutischen Ort und Alltag inklusive therapeutischer Zusatzleistungen für junge Menschen bietet (Rätz; Schröer; Wolff 2014: 171). Unter Verselbstständigungsgruppen, als weitere Kategorie, werden Gruppen für Jugendliche verstanden, welche in ihrer Verselbstständigung bereits so vorangeschritten sind, dass sie nicht mehr über 24 Stunden betreut werden müssen. Der Betreuungsbedarf wird individuell am*an der Jugendlichen ausgerichtet (Rätz; Schröer; Wolff: 171). Selbiges gilt für das Betreute Jugendwohnen, bei denen junge Menschen in ihrem eigenen Wohnraum zu einem gewissen Stundenkontingent Unterstützung in bestimmten Lebensbereichen erhalten (Günder 2015: 77). Weiterhin gibt es flexible beziehungsweise Wochengruppen, in der sich die Woche für Kinder und Jugendliche in Tage in der Familie und Tage in der Wohngruppe teilt und enge Zusammenarbeit zwischen Eltern und Professionellen stattfindet (Schierer 2017: 33). Diese Form sowie weitere als stationär einzuordnende Gruppenformen sind nicht zwingend als Heimerziehung nach §34 SGB VIII zuzuordnen. Darunter fallen unter anderem auch Inobhutnahmegruppen (§42 SGB VIII), Mut- ter-/Vater-Kind-Wohnformen (§19 SGB VIII), Clearingstellen, welche die Perspektive von Familien oder die Unterbringung von unbegleitet eigereisten Minderjährigen klären sowie Notunterkünfte für junge Menschen, die das Gruppenangebot ablehnen, wie junge Wohnungslose beispielsweise. Zuletzt gehört auch die hinterfragte stationäre Gruppenform der sogenannten Geschlossenen Unterbringung in Verbindung mit §1631 BGB aufgeführt. Rund 260 Plätze stehen deutschlandweit in diesem Setting zur Verfügung für Varianten der Selbst- oder Fremdgefährdung (Rätz; Schröer; Wolff 2014: 169).
Unterdessen kann auch eine starke konzeptionelle Ausdifferenzierung und Fortentwicklung beobachtet werden (Rätz; Schröer; Wolff 2014: 170). So bestehen beispielsweise „geschlechtshomogene Gruppen, Gruppen für Jugendliche mit Essstörungen, mit Traumata oder Gruppen für Mädchen und junge Frauen mit sexuellen Gewalterfahrungen“ (Schierer 2019: 34).
Die Personalausstattung richtet sich je nach Rahmenvertrag zwischen Leistungstragenden und -erbringenden nach §78f. SGB VIII. Die baden-württembergische Minimalausstattung für Wohngruppen beläuft sich bei sechs bis neun Plätzen auf 3,6 bis 4,3 Vollzeitstellen (KVJS 2021: 17), welche sich meist auf Teilzeitstellen (KVJS 2015: 50) von Erziehenden, Jugend- und Heimerziehenden, Arbeitserziehenden, Heilpäda- gog*innen, Sozialarbeitenden, Sozialpädagog*innen, Pädagog*innen und sonstige Qualifikationen mit Sondergenehmigung und entsprechend auf Auszubildende, Studierende und Freiwillige verteilen (KVJS 2015: 54). „Hauswirtschaftliche Tätigkeiten, psychologische[r] Fachdienst, Leitungsfunktion bis hin zu individuellen Zusatzleistungen [werden] mit zusätzlichen [Vollkraftstellen] gerechnet“ (Schierer 2019: 33)
2.2 Zielgruppe und Problemstellungen
Deutschlandweit werden etwa 126.900 Hilfen in Form von stationären Hilfen nach §34 SGB VIII für Kinder, Jugendliche und junge Volljährige erbracht. Diese Zahlen aus dem Jahr 2020 machen damit einen Anteil von etwa dreizehn Prozent der geleisteten Hilfen zur Erziehung aus. (Statistisches Bundesamt 2022a: o.S.) Heimerziehung, „als eine der intensivsten umfassendsten Formen der Hilfen zur Erziehung“ (Behringer 2021: 63), ist entsprechend für junge Menschen indiziert, die „häufig extremen psychosozialen Belastungen ausgesetzt sind“ (Schmid 2007: 21). Schmid führt auf, es handle sich unter anderem um
„zerrüttete Familienverhältnisse, chronische Konflikte innerhalb der Familie, beengte Wohnverhältnisse, inkonsequenter und strafender Erziehungsstil, [...] mangelnde pädagogische Kompetenzen, Trennung der Eltern, frühe Elternschaft der leiblichen Eltern, psychische Störungen [dieser und damit auch ein erhöhtes genetisches Risiko], traumatische Erfahrungen, Kindesmisshandlung, Deprivation, negative Bindungserfahrungen [sowie] mangelnde soziale Unterstützung“ (2007: 21).
Weiter lassen sich in den Hauptunterbringungsgründen genehmigter Hilfen des statistischen Bundesamtes die Problemlagen der jungen Menschen ablesen. Die in diesem Jahr herauszugebenden Erhebungen sind noch nicht in Berichtform verfügbar und beschränken sich hierbei auf vorab herausgegebene einzelne Tabellen. (Statistisches Bundesamt 2022: o.S.) Dabei scheinen die prozentualen Anteile an den Gesamtunterbringungen einen Einblick geben zu können, wieso Kinder und Jugendliche faktisch in stationären Erziehungshilfen leben.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Hauptgründe für die Unterbringung in eine stationäre Erziehungshilfe 2020, eigene Auflistung angelehnt an Statistisches Bundesamt 2022b: o.S.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2: Ergänzende Hauptgründe für die Unterbringung in eine stationäre Erziehungshilfe 2016, eigene Auflistung angelehnt an Behringer 2021: 62; Statistisches Bundesamt 2018: 39ff.
Dabei sind die aufgeführten Indikationen in seltensten Fällen allein Grund für eine Unterbringung. Die benannten Problemlagen stellen dabei jeweils Zweit- und Drittgründe dar, die ebenfalls zu verschiedenen Anteilen mit zur Aufnahme in einer stationären Hilfe beitragen. (Statistisches Bundesamt 2018: 39ff.)
Vor dem Hintergrund vielfältiger Belastungsfaktoren, in verschiedener Kombination, ordnet Schmid die Zielgruppe als Hochrisikopopulation ein und untersucht deren psychopathologische Auffälligkeit (2007: 21,28). Die knapp 700 Proband*innen - 480 männlich, 209 weiblich - mit durchschnittlich 14 Jahren, wiesen als Gruppe eine Prävalenz psychischer Störungen von knapp 60 Prozent auf (Schmid 2007, 81, 129). Aufgrund der ermittelten Komorbiditätsrate von 37 Prozent, also dem Vorliegen von mindestens zwei psychischen Erkrankungen, schließt Schmid auf ein breites Feld „von komplexen, schwer zu behandelnden Störungsbildern“ (2007: 129) im Arbeitsfeld. Je mehr Vorerfahrungen mit beheimatenden Settings, desto höher die Belastung (130). Auch Schleiffer untersucht die psychiatrische Auffälligkeit mithilfe von Selbst- und Fremdeinschätzungen von 72 Jugendlichen (2014: 103). Deren klinische Gesamtverhaltensauffälligkeit von über 50% ist drei Mal höher als die der Stichprobe deutscher, nicht stationär lebender Gleichaltriger. Schmid ergänzt aus seiner Studie, „[ü]ber 30% erreichen derart auffällige Resultate, wie sie weniger als zwei Prozent der Kinder aus der Allgemeinbevölkerung erreichen“ (2013: 37).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 3: Vergleich von Bindungsmerkmalen stationär lebender Jugendlicher und nicht stationär lebender Gesamtbevölkerung, eigene Darstellung angelehnt an Schleiffer 2014: 47, 118f.
Ähnlich auffälliges offenbart der Blick auf die Bindungsmerkmale von jungen Menschen in stationären Hilfen, welche in tabellarischer Form und im Vergleich zur Gesamtbevölkerung am prägnantesten dargestellt werden können. Das Kapitel 4.5.2 befasst sich mit Bindungstypen umfassender. Hier sei nur benannt, dass sichere Bindung im Sinne von Urvertrauen ein Schutzfaktor für Menschen darstellt (Brisch 2015: 40), während es sich bei unsicheren und insbesondere hochunsicheren (desorganisierten) Bindungsmustern um bedeutsame psychiatrische Risikofaktoren handelt (Schleiffer 2014: 70ff.).
2.3 Theoretische und konzeptionelle Leitorientierungen
In Gegenwart der vorangegangenen Kapitel, insbesondere in Anbetracht der Plurali- sierung und konzeptionellen Ausdifferenzierung der stationären Hilfeformen, stellt sich auch die vorliegende Arbeit die Frage, wie sich diese Vielfalt ordnen lässt (Stahlmann 2000: 75). Die Frage nach theoretisch-konzeptionellen Bezügen wirft also nicht zuletzt die Frage nach dem dennoch gemeinsamen Nenner, den gemeinsamen Standards auf. Gahleitner ordnet zudem ein, dass auch die „Komplexität des Alltags [es schwer mach[t], den immensen Schatz an fachrelevanten Erfahrungen der Professionellen] an Konzepte und Theoriebestände zurückzubinden“ (2017: 9). Die folgenden Ausführungen stellen vor diesem Hintergrund ebenso einen Versuch dar, einige Orientierungspunkte zu sammeln.
Zunächst bietet das Konzept der Lebensweltorientierung, welche seine Handlungsmaxime durch den achten Jugendbericht für das Feld der Kinder- und Jugendhilfe ausbuchstabiert, nach wie vor zentrale strukturelle und inhaltliche Orientierung für die stationären Erziehungshilfen an (Moch 2016: 77). Im Zentrum stehen dabei die jungen Menschen und ihre Familien in ihrer Lebenswelt, ihren alltäglichen Lebensverhältnissen, samt ihrer Probleme, Stärken und Bewältigungsanstrengungen vor dem
„Hintergrund materieller und politischer Bedingungen Raum, Zeit und soziale Beziehungen [...]. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit agiert in diesen Widersprüchen, indem sie darauf abzielt, die lebensweltlichen Potentiale der Adressat[*]innen zu stärken, ihre Defizite zu überwinden und Optionen freizusetzen, also im Medium des Alltags einen gelingenderen Alltag zu ermöglichen und zu erleichtern“ (Grunwald; Thiersch 2018: 303)
Hierzu werden die Handlungs- und Strukturmaximen aufgestellt, von denen vor allem „Alltagsnähe, Regionalisierung/Dezentralisierung, [.] Integration/Inklusion [und] Partizipation [.]“ (Grunwald; Thiersch 2018: 308) Bedeutung für das stationäre Setting aufweisen. Alltagsnähe oder -orientierung bedeutet zunächst, dass junge Menschen im Kontext ihres Alltagslebens betrachtet werden müssen. Stationäre Hilfen sind dabei nicht nur angehalten, den Alltag der Familie zu verstehen, sondern gestalten darüber hinaus selbst Alltag (Moch 2016: 78ff.). Dezentralisierung, Regionalisierung beziehungsweise Sozialraumorientierung sind in erster Linie dafür verantwortlich, dass stationäre Hilfen in Form von unauffälligen Wohneinheiten in den Lebenszusammenhängen der Familien postiert sind. Die Handlungsmaxime zielt darüber hinaus auf die Vernetzung und Verortung innerhalb der örtlichen Ressourcen, wie beispielsweise die Nachbarschaft und Vereine des Stadtteils. (Grunwald; Thiersch 2018: 308; Stahlmann 2000: 76) Integration und Inklusion sind weiterhin als Beschäftigung mit Normalität zu sehen. Es geht darum, verschiedene Lebensentwürfe der Familien zu respektieren und dennoch eine gewisse Anschlussfähigkeit an die Gesellschaft anzustreben (Hans- bauer; Merchel; Schone 2020: 63).
Inklusion - dies wurde bereits in der Einleitung aufgegriffen - dürfte als Konzept und Prinzip zunehmend eigenständige Bedeutung gewinnen, vor dem Hintergrund des Jugendstärkungsgesetzes, welche die Aufnahme stationärer Hilfen von Kindern mit und ohne Behinderung vorsieht (BMFSFJ 2021: o.S.).
Ähnliches, neues Gewicht erfährt die Maxime und das Prinzip der Partizipation im Rahmen von stationären Erziehungshilfen. Als Teil der Lebensweltorientierung plädiert es dafür, dass Nutzer*innen und Professionelle gemeinsam Hilfeformen sowie Hilfealltag ausgestalten (Hansbauer; Merchel; Schone 2020: 63).
Gahleitner beschäftigt sich derweil mit weiteren Leitorientierungen, allem voran dem pädagogisch-therapeutischen Milieu (2017: 22). Das ursprünglich von Bettelheim geprägte Konzept versucht, alle Dimensionen des Alltags belasteter Kinder und Jugendlicher, bewusst und mit der Intention der Ganzwerdung beziehungsweise Persönlichkeitsentwicklung zu gestalten (Krumenacker 1998: 38). Den Alltag hält Bettelheim dabei für bedeutsamer sowie wirksamer als einzelne Therapiesitzungen (Krumenacker 1998: 116 nach Bettelheim; Sander 1979: 219). Er soll abgestuft und ausgewählt sein, also Komplexität reduzieren und die jungen Menschen nur Erfahrungen aussetzen, die sie bewältigen können (Krumenacker 1998: 125ff.). Weiterhin senden Architektur, Räume und Ausstattungen stumme, unbewusste Botschaften an Kinder. So müssen beispielsweise stabile Möbel Halt, Sicherheit und Aushalten ausstrahlen. (137ff.) Ebenso wird auf die Organisationsstruktur als Dimension des Konzeptes wert gelegt, welche auch stille Botschaften sendet. Einheitlichkeit, Autonomie, Solidarität und Gemeinschaft unter der Mitarbeitenden, wirken als Antwort auf die gespaltenen Persönlichkeiten der Kinder positiv ein. (146ff.) Er fordert konsequente Empathie, sowie die Überbefriedigung von Bedürfnissen; Kinder müssen auf diese Weise erst wieder entdecken, dass Leben lebenswert sei (126). Deshalb kommt auch den nicht-alltäglichen Ereignissen besondere Bedeutung zu. Feste im Jahresverlauf, sogenannte ,magische Tage‘, sind ermutigende Sinnbilder für Neubeginne; ihr überreichliches Zelebrieren wirkt der Hauptangst der Kinder entgegen, nicht geliebt oder verlassen zu werden. (128ff.) Selbst wenn stationäre Konzepte heute nicht das sehr strikte, ursprüngliche Konzept verfolgen, so ist ihnen gemein, dass sie ein entwicklungsförderliches, heilsames Alltagsgeschehen zu gestalten versuchen und um die Auswirkungen von Alltagsdetails wissen (Gahleitner 2017: 30).
Weiterhin bildet Traumapädagogik eine Leitorientierung der stationären Erziehungshilfe, traumasensible Konzeptionen werden gefordert. Dabei ist zunächst eine traumasensible Haltung einzunehmen, im Verstehen um traumatische Erlebnisse innerhalb der Biografie der Kinder und Jugendlichen (Gahleitner 2013: 47).
„Eine Besonderheit der Traumapädagogik liegt [weiterhin] darin, dass man aus der Wirkung von traumatischen, emotional invalidierenden Umwelten logisch ableiten kann, was die Kinder und Jugendlichen an einem Ort benötigen, an dem sie Sicherheit und Geborgenheit erfahren sollen und können“ (Schmid 2013: 57)
Entsprechend folgen aus früheren Erlebnissen von Unberechenbarkeit die unbedingte Berechenbarkeit der Betreuenden, der vorherigen Isolation wirken Beziehungsangebote entgegen und der früheren Geringschätzung folgt nun unbedingte Wertschätzung. Auf die Missachtung ihrer kindlichen Bedürfnisse folgt nun Bedürfnisorientierung, auf das traumatische ausgeliefert sein, wirkt nun die korrigierende Erfahrung der Mitbestimmung und Partizipation ein. Die Gestaltung eines solchen sicheren Ortes, so die Zielsetzung, ermöglicht den jungen Menschen, ihre Symptome bald aufgeben zu können. (Schmid 2013: 57)
Weiterhin orientiert sich das stationäre Setting an Bindungs- und Beziehungstheorie. Gahleitner nimmt hierzu auch wie folgt Bezug.
„[Im] nachsozialisierenden Rahmen [ist] Lebensweltorientierung [ein] bedeutsamer Anteil, funktioniert in stationären Einrichtungen [...] aber nur mithilfe einer - für die Adressat[*innen] häufig mühsam völlig neu zu erwerbenden - Bindungs- und Vertrauensbeziehung“ (2017: 39).
Bindungs- und Beziehungssensibilität ist von Betreuenden gefordert, welche die gemeinsame Arbeit erst ermöglicht. Nur auf der Basis der Beziehung, können „emotional korrigierende Erfahrungen“ (Gahleitner 2017: 20) eröffnet werden. Schleiffer bestätigt, dass stationäre Hilfe korrigierende Bindungserfahrungen anbieten kann, sodass sich unsichere sowie desorganisierte Bindungsmuster Richtung sicher-autonomer verschieben können und beschreibt, wie den jeweiligen Herausforderungen der Muster professionell begegnet werden muss (2014: 241ff.).
In Verbindung mit bindungstheoretischem Wissen, nimmt in den letzten Jahren auch der Fachdiskurs um das Mentalisierungskonzept im Rahmen der stationären Erziehungshilfe zu (Behringer 2021: o.S.). Betreuende sind im Auftrag der korrigierenden Bindungserfahrung in ständiger Kommunikation mit jungen Menschen und begleiten deren Erlebniswelt empathisch (Gahleitner 2017: 44). Dies hilft jenen, ihr „eigenes Handeln zu interpretieren und eigene emotionale Reaktionen zu verstehen. [Es geht] über Empathie hinaus, denn es meint auch, sich in sich selbst einzufühlen und nicht nur in die andere Person.“ (Behringer 2021: 9) Insgesamt gilt die Mentalisierungsfä- higkeit, die es im stationären Kontext zu fördern gilt, als bedeutsamer Resilienzfaktor (11).
Diese kurze Sammlung könnte beliebig um weitere Konzepte und fundierende Theorien ergänzt werden. So wären beispielsweise die Erlebnispädagogik, Systemtheorie (Günder 2015: 279, 384) sowie das Konzept der Neuen Autorität (Omer; Schlippe 2010: o.S.) aufzuführen. Für einen Eindruck reichen die Ausführungen aus, lassen sie doch bereits durchschimmern, welche Anforderungen an das professionelle Handeln betreuender Fachkräfte im stationären Setting gestellt sind.
2.4 Methodische Zugänge und Techniken
Wie steht es derweil um das methodische Handeln in stationären Erziehungshilfen? Auch hier soll keine umfassende Übersicht angeboten werden, sondern vielmehr anhand von drei ausgewählten Beispielen ein Eindruck methodischen Arbeitens entstehen. Hierbei offeriert sich traditionell die Unschärfe zwischen den Kategorien Methoden, Techniken, Verfahren sowie Konzepten (von Spiegel 2021: 69). Auf eine Klärung wird hier verzichtet, aber im Kapitel 4.2 näher eingegangen.
Zunächst hat sich - verbunden mit der dahinterliegenden Systemtheorie - das systemische Arbeiten in der stationären Praxis etabliert (Hanswille 2020: 395). Dies bedeutet zunächst die grundlegende Miteinbeziehung des Familiensystems, in das auffälliges Verhalten, das Symptom, eingebettet ist. Systemisches Arbeiten ist dabei in verschiedenen Settings möglich, wie beispielsweise im Einzelsetting, im Elterngespräch oder im Familiengespräch. (405ff.) Als zugehörige Interventionen und Techniken werden die folgenden als Beispiele aufgeführt.
„Joining, diverse Fragetechniken (Ausnahmefragen, Wunderfrage, Skalierungsfragen, hypothetische Fragen etc.), Skulpturen und Aufstellungen mit Menschen und/oder Gegenständen/Symbolen, Reframing, Metaphern, Ex- ternalisieren, Reflecting Team, Rituale, Timeline-Arbeit, die Arbeit mit Tieren und Puppen, Genogrammarbeit, die Arbeit mit inneren und äußeren Systemen, die Arbeit an und mit Grenzen etc.“ (Hanswille 2020: 406)
Darüber hinaus sollen Professionelle der stationären Erziehungshilfe auch verwandte methodische Ansätze nutzen, wie beispielsweise hypnosystemische Techniken, Sandspieltherapie, Psychodrama, videobasierte Verfahren, künstlerische Methoden sowie Körpertherapie (Hanswille 2020: 406; Günder 2015: 281).
Als eine ebenfalls auf systemischen Inhalten basierende Methode, kann weiterhin die Systemische Interaktionstherapie aufgeführt werden. Ein Blick auf SIT lohnt sich als Beispiel auch vor dem Hintergrund, dass sich einige stationäre, überwiegend therapeutische Einrichtungen, der ganzheitlichen Elternarbeit sowie familientherapeutischen Ansätzen verschreiben (Günder 2015: 278). Biene, der Begründer der Methode, stellt in der Begegnung von Familien mit dem Erziehungshilfesystem bestimmte Muster fest (Euteneuer 2020: 16). Dabei befinden sie sich die Eltern jeweils entweder im
- Abgabemuster: ,Mein Kind ist schwierig, ich kann nichts mehr tun, es müssen nun Expert*innen an mein Kind und es verändern‘,
- Kampfmuster: ,Es gibt kein Problem. Wir wehren uns gegen die Jugendhilfe und bleiben so lange im Widerstand, bis sie uns wieder in Frieden lässt‘,
- Scheinkooperation: Elternteile, die nur oberflächlich kooperieren, insgeheim aber nicht überzeugt beziehungsweise im Kampf- oder Abgabemuster sind, oder
- Kooperationsmuster: ,Ich als Elternteil bin zuständig für unser familiäres Problem und mein Kind. Ich will mit Unterstützung etwas verändern‘. (16f.)
Ziel ist es, dass Professionelle das Muster erkennen und die drei ersten in Kooperation umzuwandeln versuchen, was sich Musterdiagnose und Musterarbeit nennt (17, 24). Dann geht es mithilfe verschiedener Techniken, wie unter anderem „Problemtrancearbeit, Pacing und Leading, Hypnotalk, Zielplakate[n], Rollenspiele[n], Elterngruppen [oder] verabredete[n] Rückmeldungen“ (Euteneuer et al 2020: 24) um das Erreichen der individuellen, erzieherischen Ziele. Um diese Familienaktivierung zu realisieren, können ganze Familien im stationären Setting aufgenommen werden, wobei sich die übliche Aufnahmedauer auf sechs Monate beläuft (Günder 2015: 280ff.).
Abgesehen von diesen beiden methodischen Beispielen, weist die stationäre Erziehungshilfe störungs- oder auffälligkeitsspezifische Techniken auf. Dies schildert Günder am Beispiel aggressiven Verhaltens und Gewalt von stationär lebenden Kindern und Jugendlichen. Die von ihm befragten Fachkräfte zählten als Intervention zu dieser Verhaltensauffälligkeit unter anderem „Einzelgespräch, Gruppengespräch, [...], Verstärkerprogramme/[v]erhaltenstherapeutische Maßnahmen, Wiedergutmachungsrituale, Strafe/Sanktionen, Anti-Aggressionstrainings, Entspannungsverfahren [sowie das] Aufstellen neuer Regeln“ (Günder 2015: 217) auf.
3 Professionelles Handeln im Kontext der stationären Erziehungshilfen
Nachdem das vergangene Kapitel einen umreißenden Einblick in das Feld stationärer Erziehungshilfen ermöglichte und bereits Aufträge an Professionelle durchschimmern ließ, möchte sich die Arbeit im Folgenden genauer mit diesem Anforderungsprofil beschäftigen. Zur Beantwortung der Forschungsfrage ist es wichtig, genau zu klären, was professionelles Handeln innerhalb der Sozialen Arbeit sowie im Arbeitsfeld der stationären Erziehungshilfe bedeutet.
3.1 Von der Semi-Profession zur reflexiven Professionalität
Becker-Lenz et al benennen, dass es „auf die Frage, was Professionalität in der Sozialen Arbeit bedeutet, [...] divergierende[.] und zum Teil deutlich miteinander in Widerspruch stehende[.] Positionen“ (2011: 9) gebe. Ein einheitliches Verständnis oder Leitlinien von professionellem Handeln bestehen daher noch nicht (2011: 9). Der Professionalisierungsdiskurs war zunächst geprägt vom Versuch, Soziale Arbeit beziehungsweise Sozialpädagogik am soziologischen Professionsbegriff zu bemessen (Dewe; Otto 2018: 1191). Die an ,alten‘ Professionen wie Jura und Medizin entwickelten Kriterien, fordern 1) eine spezielle Expertise, 2) eine akademische Ausbildung, 3) ein alleiniger Zuständigkeitsbereich, 4) die Betrauung für Aufgaben mit großer Bedeutung, 5) größtmögliche Autonomie, 6) große Entscheidungsbefugnisse und 7) ein Ethikkodex (Heiner 2004: 15f.; Staub-Bernasconi 2013: 26). Weil Soziale Arbeit, insbesondere ihr Abhängigkeitsverhältnis von Arbeitgebenden, die Kriterien nur bedingt erfüllt, wurde sie aus diesem Professionsverständnis heraus als Semi-Profession, bescheidene oder sich noch entwickelnde Profession betitelt (Staub-Bernasconi 2013: 26ff.; von Spiegel 2021: 40). Im Anschluss daran wurde für eine Abgrenzung vom normativ geprägten Professionsbegriff plädiert, hin zu einem eigens entwickelten Professionsverständnis (Dewe; Otto 2018: 1203; von Spiegel 2021: 41). Die neue Perspektive lenkt den Blick
1. „auf den Aspekt der Handlungslogik professionalisierter sozialer Berufspraxis,
2. auf den Aspekt des Wissens und Könnens der Akteur[*innen] in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit,
3. auf den Aspekt der Bedeutung von Reflexivität für die Bewältigung professioneller Aufgaben.“ (Dewe; Otto 2018: 1203)
Mit dem Begriff der reflexiven Professionalität wird also ein neues Professionsverständnis herausgebildet, „das sich nicht mehr am Vorliegen der überlieferten professionstypischen Merkmale, sondern stattdessen die tatsächlichen Arbeitsvollzüge, also das professionelle Handeln selbst, als Ausgangspunkt der Betrachtung bestimmt“ (Dewe; Gensicke 2018: 9). Er „arbeitet den besonderen Handlungsmodus personenbezogener sozialer Dienstleistungsberufe heraus. Dabei wird verfügbares Wissen, der jeweilige soziale Kontext und der Umgang mit ihnen als Ressource professionellen Handelns verstanden“ (Dewe; Gensicke 2018: 1).
Diesem Blick möchte die vorliegende Arbeit folgen, weshalb sie sich bewusst für den Terminus professionelles Handeln’ unter dem Dach dieses reflexiven Professionalitätsverständnisses entscheidet. Wie professionelles Handeln skizziert werden kann, wird Teil des folgenden Kapitels sein.
3.2 Modelle professionellen Handelns
Von Spiegel beschreibt professionelles Handeln in drei Bausteinen (Maykus 2020: 27), welche sich an der alltagssprachlichen Unterscheidung ,Kopf, Herz und Hand’ orientieren (von Spiegel 2020: 66). Die Dimensionen Wissen, Können und Haltung sind im professionellen Handeln als gleichrangige Größen zu begreifen (Maykus 2020: 27).
Fachkräfte greifen in ihrem Handeln zunächst also auf die Dimension des professionellen Wissens zurück (von Spiegel 2021: 84). Dieses umfasst wiederum vier Elemente. Beschreibungswissen ist zunächst vonnöten, um Problemlagen und Situationen angemessen beschreiben zu können. Dazu braucht es ein Wissen darum, dass verschiedene Wirklichkeitskonstruktionen bestehen, es braucht beobachtende Methoden und Verfahren, die den relevanten Kontext mehrperspektivisch, kontextorientiert und systematisch erfassen können. (87) Erklärungswissen umfasst die Kenntnis von wissenschaftlichen und Alltagstheorien, um Problemlagen zu erklären. Hierzu sind zunächst Grundlagenkenntnisse vonnöten, sowohl aus den Bezugsdisziplinen als auch arbeitsfeldspezifisches Wissen (87f.). Kenntnisse über Organisationen, Gesetze, Finanzierungsgrundlagen sowie über die Wechselbeziehung zwischen Gesellschaft und Individuum gehören ebenso dazu (88). Unter Wertwissen sind Kenntnisse über professionseigene sowie arbeitsfeldbezogene Wertorientierungen und Leitlinien zu fassen, sowie das Wissen um Zusammenhänge zwischen Biografie und Moralentwicklung von Individuen (89). Von Veränderungswissen wird gesprochen, wenn es um die Kenntnis von arbeitsfeldbezogenen Methoden, von Teamarbeitstechniken, von betriebswirtschaftlichen sowie Evaluations- und Forschungsmethoden geht. Darüber hinaus sind Fachkräfte nach ihrer methodischen Grundausstattung angehalten, ihr Repertoire entsprechend ihres Arbeitsfelds zu erweitern (89f.)
Die Dimension der professionellen Haltung verweist auf die Annahme, dass hinter jeder professionellen Handlung eine Haltung steht. Berufliche Haltung erfordert zunächst reflexive Arbeit, im Sinne der Reflexion eigener Berufswahlmotive, individueller Werte, sowie der eigenen Gefühlswelt und Biografie (von Spiegel 2021: 90f.). Weiterhin soll sich die Haltung an sozialarbeiterischen Wertestandards orientieren. Hierzu zählen Partizipation, Wertschätzung, Ressourcenorientierung, Achtung der Würde und Autonomie des Gegenübers sowie die Akzeptanz von dessen Lebenswirklichkeit. (92) Weiterhin ist Fachkräften der reflektierte Einsatz von Haltungen nahegelegt. „Der Einsatz der Person als Werkzeug erfordert es, wichtige berufliche Wertestandards zu habitua- lisieren und sie [...] ,methodisch‘ einzusetzen“ (von Spiegel 2021: 93). Es soll eine berufliche Identität entwickelt werden, konzeptionell geforderte Haltungen sowie die Handlungsmaximen der Einrichtung sollen reflektiert und die eigene Identifikation damit geprüft werden (93).
Zur Dimension des professionellen Könnens zählen zunächst Kompetenzen im dialogisch-kommunikativen Handeln (von Spiegel 2021: 93). Es braucht in dieser Kategorie die Fähigkeit, tragfähige Arbeitsbeziehungen aufzubauen, lebensweltliche Unterstützungssysteme zusammenzustellen, das Gegenüber dialogisch zu verstehen und in Aushandlungsprozesse mit ihm zu gehen, sowie die Fähigkeit mediatorisch zwischen Systemen zu vermitteln. (94) Weiter geht es um Fähigkeiten „zum Einsatz der Person als Werkzeug “ (von Spiegel 2021: 95), welche Selbstbeobachtung und -reflexion, Empathie und Ambiguitätstoleranz gegenüber Widersprüchlichkeiten sowie Lebensweisen beinhalten. Die Beherrschung von grundlegendem, methodischen Werkzeug stellt weiterhin Teil des Könnens dar und umfasst die Kompetenz, Wissen zu beschaffen, anzueignen und verschiedene Bestände situationsspezifisch zusammenzuführen (95f.). Die Fähigkeit, Prozesse effizient sowie effektiv zu gestalten, als nächstes Können, braucht die Kompetenz zum konzeptionellen Arbeiten, zur Dokumentation, Selbstevaluation und Optimierung der Organisation (96f.). Weiter wird die Fähigkeit zur organisationsinternen Zusammenarbeit benötigt, im Sinne der Kompetenz, entsprechend der inhärenten Rolle darin zu handeln, im Team und innerhalb kollegialer Fallberatung zu arbeiten (97f.). Und zuletzt ist vermittelndes, vernetzendes, interinstitutionelles und kommunalpolitisches Handeln gefragt. Es geht unter anderem um Kompetenzen zur kommunalen Berichterstattung, zur Verhandlung innerhalb Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsvereinbarungen und zur Kooperation (bei gleichzeitiger Konkurrenz um Ressourcen). (98f.)
Heiner macht unterdessen den Vorschlag, grundlegende Kriterien professionellen Handelns auf ein empirisches Fundament zu stellen (2004: 155). Sie möchte dieses Modell nicht an beruflichem Status oder dem Beherrschen von bestimmten Methoden messen, sondern vielmehr am beruflichen Selbstverständnis, der beruflichen Identität und Expertise, im Sinne von „spezifische[m] Wissen und Können, das zur Bewältigung der beruflichen Aufgaben nötig ist“ (Heiner 2004: 155) ausrichten. Im Rahmen ihrer Untersuchung von Professionellen stellt sie vier Handlungstypen von Sozialarbeitenden und damit vier Handlungsmodelle und zugehörige Selbstverständnisse heraus (2004: 91f.). In den Ausführungen befragter Fachkräfte blickt sie unter anderem auf deren Einstellung zum eigenen Hilfeangebot und zum anderen auf die Einstellung gegenüber den Adressat*innen und erachtet diese als zwei zentrale Dimensionen des beruflichen Selbstverständnisses. Hierbei erkennt sie zunächst das sogenannte Dominanzmodell. Es zeichnet sich durch ein negatives Klient*innenbild aus, welchem die Fähigkeit zur Entwicklung und Problemlösung abgesprochen wird. Ihr Hilfeangebot nehmen sie selbst als qualifiziert wahr; dass es nicht wirksam ist, hängt in ihren Augen aber mit fehlendem Willen oder anderer Charakteristik des Gegenübers zusammen. Entsprechend diesen Einstellungen handeln sie wenig partizipativ und ermutigend.
(Heiner 2004: 92ff.) Weiterhin beschreibt Heiner das Aufopferungsmodell beruflichen Handelns. Jene halten ihre Hilfe für qualifiziert und schreiben auch ihrem Gegenüber Ressourcen zu. Allerdings halten sie ihr Angebot trotzdem für wirkungslos. Sie versuchen aktiv Verweigerung und Problemen ihrer Klient*innen entgegenzuarbeiten sowie strukturellen und sozialpolitischen Defiziten. Damit, so Heiner, überfordern sie sich systematisch und drohen zusammenzubrechen, vorausgesetzt sie beginnen nicht damit, kleinere Ziele zu setzen und Unterstützung anzunehmen. (Heiner 2004: 97f.) Das Servicemodell, als dritter Typ, bezeichnet Fachkräfte, die defizitär auf ihr Gegenüber schauen oder sich sehr distanziert zu ihm äußern. Ihr Angebot hingegen halten sie für wirksam und qualifiziert. Ihr Engagement richtet sich derweil ebenso wenig auf die Ad- ressat*innen als Persönlichkeiten oder die Beziehung zu ihnen, sondern auf den Fortbestand und die Weiterentwicklung der angebotenen Hilfeleistung. (Heiner 2004: 98)
Einzig als professionelles Handeln einzustufen ist nach Heiner das sogenannte Passungsmodell, in dem Fachkräfte von ihrem Angebot und dessen Wirksamkeit überzeugt sind, dabei allerdings immer wieder Weiterentwicklung und die individuelle Anpassung auf das Gegenüber als notwendig erachten. Sie bemühen sich stetig um eine ,Passung‘ zwischen Angebot sowie Hilfesystem und dem zu begleitenden Menschen und dessen Bedürfnissen. (Heiner 2010: 411f.) Dabei gelingt es ihnen, dem Gegenüber Ressourcen und Entwicklungspotenziale zuzuschreiben, gegebenenfalls auch unabhängig von deren Kompetenzen. Sie sind in der Lage, noch so unscheinbare positive Merkmale zu erkennen und zu wertschätzen. (2010: 413) Ihnen gelingt, „trotz aller Rückschläge immer noch einen Funken von Veränderungswillen [zu] entdecken; dass sie von den Impulsen ihrer Klient[*innen], das Leben besser in den Griff zu kriegen, ausgehen und an eine bessere Zukunft glauben - nicht zuletzt weil sie auch die merkwürdigsten Lebenswege noch als einen (missglückten) Versuch der Selbstverwirklichung deuten können“ (Heiner 2010: 413f.)
Und so investieren sie konsequent in die Motivationsarbeit (413). Dies hängt auch damit zusammen, dass sie ihre Klient*innen nicht als Opfer der Umstände sehen, sondern deren autonome Lebensführung zu fördern versuchen. Hierfür und um der Asymmetrie der Hilfebeziehung entgegenzuwirken, nutzen sie die Wege Partizipation und Beziehung. (Heiner 2004: 110f.)
„Dem entwicklungsoffenen, ressourcenorientierten und partizipativen Vorgehen der professionell agierenden Fachkräfte entspricht ein exploratives und tentatives Vorgehen, das durch behutsame Annäherung und bewusste Zurückhaltung versucht, das Vertrauen der Klient[*innen] zu gewinnen, sie emotional zu stützen und zugleich durch diese Zurückhaltung zur Förderung ihrer Autonomie und Eigenverantwortung beizutragen“ (Heiner 2004: 111)
Die Verantwortung für den produktiven Beziehungs- und Interaktionsprozess sehen Professionelle dabei bei sich liegen. Die Beziehung sowie die Interventionen im Prozess werden kontinuierlich reflektiert und evaluiert. (Heiner 2004: 110f.)
Auf Basis dieser Studie sowie weiterer theoretischer Überlegungen skizziert Heiner darüber hinaus ein „arbeits- und tätigkeitsfeldübergreifendes Modell professionellen Handelns“ (Heiner 2010a: 429), in dem sie sechs Anforderungskomplexen der Sozialen Arbeit jeweils Kontinuen zwischen zwei Handlungspolen zuordnet, auf dem sich Professionelle zur Bewältigung der beruflichen Anforderungen positionieren können (Heiner 2010a: 429f.). Ihre Positionierung geschieht fallspezifisch, situationsabhängig und gut begründet (431). Die Ausführungen erscheinen wesentlich für die Fragestellung, sind allerdings nicht in Heiners Ausführlichkeit zu beleuchten. Die vorliegende Arbeit möchte sich auf die Übersicht der Anforderungen und Kompetenzen beschränken.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 4: „Rahmenmodell zur Analyse und Planung professionellen Handelns in der Sozialen Arbeit“ nach Heiner 2010a: 430f.
3.3 Methoden und Kompetenzen als Bestandteil professionellen Handelns
Nachdem ein grundsätzliches Verständnis von professionellem Handeln geschaffen wurde, möchte das vorliegende Kapitel dieses mit den Begrifflichkeiten des methodischen Handelns sowie professioneller Handlungskompetenzen in Verbindung bringen. Der Methodenbegriff an sich, wird dabei an späterer Stelle (Kapitel 3.2) aufgemacht. Zu ersterem bietet zunächst von Spiegel eine Bestimmung an.
„Methodisches Handeln beschreibt eine besondere Art und Weise der Analyse, der Planung und der Auswertung des beruflichen Handelns, die sich vom laienhaften Alltagshandeln unterscheidet. E[s] bezieht sich auf den gesamten Prozess des beruflichen Arbeitens und realisiert sich im Einsatz der eigenen ,Person als Werkzeug’. Methodisch zu handeln heißt, die spezifischen Aufgaben und Probleme [...] zielorientiert, kontextbezogen, kriterien- geleitet sowie strukturiert und gleichzeitig offen zu bearbeiten. [...]“ (von Spiegel 2020: 61)
Von Spiegel spricht sich weiterhin dafür aus, methodisches Handeln nicht technologisch zu begreifen - als Werkzeug (68) - sondern vielmehr als collagenhaftes und eklektisches Handeln zu betrachten. „Theorie- und Methodenelemente [werden experimentell] in jeder Handlungssituation anders kombiniert“ (von Spiegel 2021: 105). Methodisches Handeln ist weiterhin auch nicht als ,Set‘ von Methoden und Kompetenzen zu begreifen, und dennoch verwendet von Spiegel den Begriff des Werkzeugkastens als Teil methodischen Handelns (2021: 107). Jene sind je nach Arbeitsfeld verschieden aufgebaut und ausgestattet (107) - ein Beispiel für eine solche Ausstattung mit Methoden und Techniken zeigte Kapitel 2.4.
Als Ordnungsprinzip methodischen Handelns wird derweil überwiegend auf Phasen- und Schrittmodelle zugegriffen, wie es unter anderem Müller anbietet (von Spiegel 2021: 107). Dies erachtet die ursprünglich aus dem therapeutischen Kontext bekannten Schritte Anamnese, Diagnose, Intervention und Evaluation für hilfreich innerhalb mehrperspektivischer Arbeit in komplexen Handlungssituationen (Müller 2017: 71). Die Anamnese dient dazu, Informationen zu generieren, vorzusortieren und dennoch offen für neue Zusammenhänge zu sein (77). Hiervon nicht immer trennscharf zu unterscheiden ist zweitens die Diagnose, welche den Schritt des Fallverstehens, der Deutung des Problems und die Entdeckung erster Bearbeitungsschritte umfasst (79). Intervention beschreibt als dritter Schritt ganz allgemein immer ein Dazwischengehen zwischen Gegenüber und Problem (80). Evaluation als vierter Schritt bedeutet derweil nicht nur eine Art Auswertung zum Ende der Hilfe, sondern ist in Form von Selbstevaluation immer wieder am Prozess beteiligt (81). Insgesamt gilt, dass die Systematik solcher Abfolgen in der Praxis offen verstanden werden muss: ein Überlappen, Vor- und Zurückgehen innerhalb der Schritte ist oft notwendig und sinnvoll (von Spiegel 2021: 107).
Heiner formuliert zum methodischen Handeln der Sozialen Arbeit indes, dass es folgende Merkmale erfüllen muss. Es soll
a) ressourcenorientiert sein, sodass Potenziale mindestens genauso viel Aufmerksamkeit geschenkt wird wie Problemen.
b) mehrdimensional sein, also alle Problemlagen des Gegenübers berücksichtigen, wenngleich sie nicht alle gleichwertig bearbeitet werden können.
c) mehrperspektivisch denken, also mehrere Sichtweisen aus dem professionellen und nicht-professionellen Umfeld des Gegenübers miteinbeziehen.
d) vernetzend sowie koordinierend zwischen diesen verschiedenen Akteur*innen wirken.(Mehrperspektivisch, mehrdimensional und vernetzend könnten nach Heiner derweil auch unter der Überschrift ,Ganzheitlich‘ vereint werden.) (Heiner 2004: 42f.)
e) alltagsorientiert sein, ihre Interventionen sind dabei häufig Teil von Alltagstätigkeiten, wie beispielsweise Spazieren, und versuchen, den Alltag zu einem gelingen- deren zu machen (Heiner 2004: 43 nach Grunwald; Thiersch 2004: 23).
f) umfeldbezogen sein, indem es soziales Umfeld mitdenkt und einbezieht.
g) partizipativ sein, den Dialog mit dem Gegenüber sowie nach Lösungen suchen und sich auf gegebenenfalls auch längere Aushandlungsprozesse einlassen. (Heiner 2004: 43)
Neben Methoden und methodischem Handeln sind auch Kompetenzen Teil des professionellen Handelns. Heiner benennt, „[a]ls Fachbegriff verweist ,Handlungskompe- tenz’ im Unterschied zu ,Fähigkeit‘ auf komplexe und zugleich bedeutende Anforderungen“ (2010b: 51). So würde man beispielsweise von Erziehungskompetenz, nicht aber von ,Tröste‘- oder Hausaufgabenhilfe-Kompetenz sprechen. Handlungskompetenz ist weiterhin durch diesen „Bezug auf komplexe Sachverhalte [...] ein sehr abstraktes Konzept, das viele Fähigkeiten begrifflich bündelt.“ (Heiner 2010b: 51). Dabei stellt die Kompetenz, im Unterschied zum professionellen Handeln als Umsetzung und Performanz, nur ein Potenzial, eine Handlungsoption dar. Dabei unterliegen ihr drei Bedeutungsdimensionen:
1. Zuständigkeitsdimension: Sie verweist auf die Berechtigung sowie Verpflichtung in einem bestimmten Feld tätig zu werden.
2. Qualifikationsdimension: Sie verweist auf die bereits benannte Fähigkeit, in komplexen und bedeutsamen Aufgaben tätig zu werden.
3. Motivationsdimension: Sie verweist auf die Bereitschaft, die Kompetenz auch einzusetzen. (Heiner 2010b: 51)
Zudem bietet Heiner ein weiteres Handlungskompetenz-Modell neben von Spiegel an. Sie gliedert zunächst in bereichsbezogene und prozessbezogene Kompetenzmuster auf. Zu den bereichsbezogenen Kompetenzmustern gehören die folgenden.
- Selbstkompetenz beschreibt die reflexiven Kompetenzen zur eigenen Person, die Fähigkeiten zur Selbstregulation und -beobachtung, zur Metaperspektivübernahme, zur Reflexion eigener biografisch bedingter Denk- und Deutungsmuster sowie Gefühle, Motivationen und Haltungen.
- Fallkompetenz betitelt die Fähigkeiten in Bezug auf das Klient*innensystem, die direkte Arbeit mit dem Gegenüber, dessen Problemen, Ressourcen und Umfeld.
- Systemkompetenz bezieht sich auf die indirekte Arbeit mit Klientinnen, das Bewegen und Kooperieren innerhalb in ihrer eigenen Organisation und anderen Organisationen, wie beispielsweise im Schul- oder Rechtssystem. Dabei geht es darum, Adressat*innen in der Wahrnehmung ihrer Rechte zu unterstützen. Fallübergreifend geht es auch um die Verbesserung der Hilfesysteme und deren Lücken. (Heiner 2010b: 62ff.)
Diese Bereiche sind mit prozessbezogenen Kompetenzmustern in Beziehung zu setzen, im Sinne von Fähigkeiten, die in diesen Feldern zum Einsatz kommen müssen. Es geht dabei um wiederum drei grundlegende Muster, welche entsprechend ihrer zeitlichen Abfolge innerhalb eines zirkulären Prozesses abgebildet werden (Heiner 2010b: 66).
1. Planungs- und Analysekompetenz, welche als Teilkompetenzen oder Kompetenzformen Beobachtungs-, Recherche-, Erklärungs- sowie Prognosekompetenz erfordern und sich allem voran in den Anwendungsbereichen „Diagnostik, Fallanalyse, Situationsanalyse, Sozialraumanalyse, Konzeptionsentwicklung, Hilfeplanung, Projektentwicklung [und] Interventionsplanung“ (Heiner 2010b: 66) zum Einsatz kommen.
2. Interaktions- und Kommunikationskompetenz, welche als Teilkompetenzen Wahr- nehmungs-, Präsentations-, Rezeptions-, Mitteilungs-, Einfühlungs-, Strukturie- rungs-, Fokussierungs-, Deutungs- und Organisationskompetenz bedeuten. (66) Sie finden in „Anleitung, Information, Beratung, Alltagsbegleitung, Alltagsstrukturierung, Gruppenleitung, Verhandlung, Gesprächsführung, Mediation [sowie] Moderation“ (Heiner 2010b: 66) Anwendung.
3. Reflexions- und Evaluationskompetenz meinen ausformuliert unter anderem Doku- mentations-, Datenanalyse-, Introspektions- und Interpretationskompetenz in „Selbstreflexion, Entwicklungsdokumentation, Fallreflexion, Begutachtung, kollegiale Beratung [und] Supervision [...]“ (Heiner 2010b: 66)
Dabei sind die verschiedenen Prozesskompetenzen für sich unverzichtbar für professionelles Handeln, je nach Zeitpunkt im Verlauf des Interventions- oder Hilfeprozesses aber unterschiedlich bedeutsam, sie werden von den Fachkräften zu „bestimmten Aktivitäten zu komplexen Handlungsstrategien kombiniert“ (Heiner 2010b, 69)
3.4 Merkmale professionellen Handelns in stationären Erziehungshilfen
Hansbauer, Merchel und Schone vermerken für professionelles Handeln innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe und somit auch für die stationäre Erziehungshilfe, dass es sich um ein sowohl teils kompliziertes, als auch komplexes Tätigkeitsprofil handelt (2020: 97). Komplizierte Tätigkeiten - dies trifft sicher nicht auf alle Tätigkeiten innerhalb der stationären Erziehungshilfe zu - meinen Prozessketten, welche mehrere Handlungsschritte verlangen, die präzise ausgeführt werden müssen (99). Komplexe Tätigkeiten - und dies trifft insbesondere zu - meinen, dass „das Ergebnis solcher Prozesse des Einwirkens nur bedingt vorhersagbar ist und man deshalb nie genau weiß, ob das Ergebnis der ursprünglichen Absicht entsprechen wird“ (Hansbauer; Mer- chel; Schone 2020: 99). Vor dem Hintergrund vor insbesondere komplexen Situationen schlagen sie, angelehnt an Abbott, vier Schritte professionellen Handelns vor (103f.), welche an jene von Müller erinnern, allerdings auf den Kontext konkretisiert werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Phasenmodell professionellen Handelns nach Hansbauer; Merchel; Schone 2020: 107
Die Situationsanalyse zu Beginn, die Diagnose, scheint Müllers Schritte der Anamnese und Diagnose zusammenzufassen. Mithilfe von partizipativen Methoden und Verfahren sollen Informationen gewonnen und eingeordnet werden. In den Erziehungshilfen wird dieser Schritt auch Fallverstehen genannt. (104) In stationärer Erziehungshilfe sind vor allem drei Dimensionen offen, die geklärt werden müssen.
1) Fragen nach der individuellen Selbstdeutung: Wie versteht das Kind sein Dasein? Wie platziert es sich im Familiensystem? Welche Erfahrungen, Entbehrungen und Schlüsselereignisse gab es? Welche jetzigen Befürchtungen resultieren daraus?
2) Fragen nach Handlungsmustern: Welche Reaktionen und Bewältigungsstrategien nutzen die Jugendlichen als Antwort auf die herausfordernden Umstände?
3) Fragen nach gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: Wie war die Beschäftigungssituation in der Familie, das Wohnumfeld, der Sozialraum, die finanzielle und Freizeitsituation? Wie ist die bisherige schulische Sozialisation? (255)
Inferenz beschreibt als weiterer Schritt
„eine besondere Art des schlussfolgernden Denkens, basierend auf einer spezifischen Definition von Realität, mit dem Ziel eine plausible Beziehung zwischen Diagnose und Behandlung mittels Exklusion (,was ist es wahrscheinlich nicht’) und Konstruktion (,was ist es wahrscheinlich’) herzustellen“. (Hansbauer; Merchel; Schone 2020: 105)
Dabei hat das Schlussfolgern eine Balance zwischen zu abstrakter und zu simpler Verkoppelung der beiden zu achten (106). Im Übrigen ist Inferenz nach den Autoren eine Kennzeichnung professionellen Handelns: „Nur da, wo schlussfolgerndes Denken notwendig ist, weil es sich um eine komplexe Aufgabe handelt, macht es überhaupt Sinn, von einer professionellen Tätigkeit zu sprechen“ (Hansbauer; Merchel; Schone 2020: 106). In diesem Schritt stellt sich die stationäre Erziehungshilfe die Frage, welche Handlungsstrategien und Förderelemente angezeigt sind (256). Unter Behandlung - dies beschreiben die Autoren auffallend knapp - ist die Hilfe zu verstehen, die auf Diagnose und Schlussfolgerung folgt. Wenn eine solche Hilfe wenig erfolgreich sein sollte, soll von Neuem mit den vorherigen Schritten begonnen und die Intervention entsprechend neu gewählt werden. (105ff.) Bezüglich stationärer Hilfen ,behandeln’ die Professionellen per se durch den pädagogisch-therapeutischen Ort, welcher im Kapitel 2.3 beschrieben wurde. Das Wohngruppensetting übernimmt als Hauptteil der Behandlung die Funktionen a) Sozialisation, hin zu einer gemeinschaftsfähigen, autonomen Persönlichkeit, b) Platzierung (Welche Ansprüche habe ich an das Leben, welche die Gesellschaft an mich?), c) Freizeit im Sinne der Eröffnung von Erlebnisräumen durch Hobbies, Sport, Urlaub und d) soziale Reproduktion als physische sowie psychische Regeneration (253). Gleichzeitig sind individuelle Interventionen für die Bewältigung persönlicher Probleme Teil des Behandlungsschrittes. (257f.) Den letzten Schritt bildet wiederum die methodengeleitete sowie systematische Evaluation, als eine Form der Rückkoppelung zwischen den anderen Schritten (siehe Abbildung). Für das stationäre Setting bedeutet dies auch die Evaluation von Teilprozessen, wie beispielsweise der Hilfeplanung. (107)
Nach dieser phasenorientierten Perspektive auf professionelles Handeln in den stationären Erziehungshilfen, bietet Gahleitner weitere wichtige Aspekte von Professionalität im benannten Arbeitsfeld an. Da jene bereits in den ausgeführten Leitorientierungen durchschimmerten, sollen sie hier nur knapp aufgegriffen werden. Die Ausführungen zu professionellem Handeln in Kapitel 3.2 und 3.3 haben Gültigkeit und Gahleit- ners Ausführungen sollen hier nur arbeitsfeldspezifisch ergänzen. In ihren Befragungen ehemaliger stationär Betreuter kristallisierten sich die folgenden drei professionellen Kompetenzen als besonders essentiell heraus (Gahleitner 2017: 33):
1. Bindungs- und Beziehungskompetenz: Weil Bindung und Beziehung die Schlüsselfaktoren im Hilfeprozess stationärer Arbeit sind, müssen Professionelle positive Beziehungsangebote und korrigierende Bindungserfahrungen anbieten können (35ff.). Jene sind vor allem durch gelingende Interaktion und Mentalisierungskom- petenz der Fachkräfte zu gestalten (43f.). Darüber hinaus greifen hier insbesondere von Spiegels Bestimmungen zur Person als Werkzeug (2021: 83)
2. „Traumasensibilität als zentrale Problem- und Fachkompetenz“ (Gahleitner 2017: 48): Der fachkompetente Umgang mit Belastungen der Kinder und Jugendlichen ist nicht auf therapeutische Elemente beschränkt, sondern muss von den Professionellen mitten im Alltag umgesetzt werden - im Verstehen und Handeln. (48f.)
3. Psychosoziale Vernetzungskompetenz: Ein tragfähiges Netzwerk muss von den Professionellen im Dialog mit den jungen Menschen aktiviert, stabilisiert und erweitert werden, über die Grenzen der Einrichtung hinaus (62ff.). Auch interinstitutionelle, enge Abstimmung der Professionellen soll positive Entwicklungsräume für sie eröffnen (79).
4. Uns zuletzt ergänzt Gahleitner selbst die drei Kompetenzen um ein ihr essentiell erscheinendes Thema - die Trauma- und Beziehungssensible Diagnostik als Kompetenz (81ff.). Damit greift sie den Handlungsschritt der Diagnose auf und benennt ihn wiederum als Fallverstehen. Sie kritisiert die Kluften zwischen verschiedenen Berufsgruppen, wenn es um die Entwicklung eines gemeinsamen Fallverstehens geht und fordert eine interprofessionelle und mehrdimensionale Diagnostik für Kinder und Jugendliche der stationären Erziehungshilfe. (83) Sie schlägt hierfür die Rahmung anhand der drei folgenden Dimensionen vor.
a) Klassifikatorische Diagnostik soll störungsspezifische Zuordnung von Symptomen ermöglichen und gleichzeitig biografisch-soziale Merkmale berücksichtigen. Hierzu biete beispielsweise der Kinder- und Jugendbereich des ICD-10 bereits ein multiaxionales, diagnostisches System, welches mit psychosozialen Umständen verbindet und so Raum für den interdisziplinären Austausch bildet.
b) Biografische Diagnostik soll mithilfe von Techniken der Biografiearbeit, wie Lebensfluss, Ich-Buch, Lebens-Panorama, mit den Kindern und Jugendlichen begangen werden. Heutige Symptomatik ist immer nur vor dem Hintergrund der Lebenserfahrungen zu betrachten. Das herauszulesende Selbstkonzept, welches in medizinischer Diagnostik unberücksichtigt bleibt, ergänzt die Analyse (90).
c) Lebensweltdiagnostik soll mithilfe von unter anderem Persönlichkeitstests, Ge- nogrammarbeit, Netzwerkdarstellungen oder Aufstellungen die Lebens- und Beziehungswelt sowie die Innenwelt und Identität der jungen Menschen betrachten (91ff.).
3.5 Institutionelle und personale Merkmale professionellen Handelns
Im vorliegenden Kapitel soll weiterhin der Erkenntnis Rechnung getragen werden, dass professionelles Handeln ausschließlich im Kontext von organisationalen Bedingungen, interorganisationaler Kooperation sowie der örtlichen Infrastruktur betrachtet und reflektiert werden kann (Hansbauer; Merchel; Schone 2020: 110).
„Die Person als Werkzeug braucht eine kollektive Unterstützung durch die Organisation, die berufliche Haltungen flankiert und stabilisiert [...]. Die Institution kann [...] einen sichernden, unterstützenden Rahmen bieten, dessen Verfahren und Routinen - zumindest, wenn sie fachlich gut durchdacht und strukturiert sind - [...] entlastend und stützend wirken.“ (von Spiegel 2021: 83)
Schwabe und Thimm lösen die Bedeutung institutioneller Rahmung mit der Aufstellung von Qualitätsdimensionen professionellen Handelns in stationären Erziehungshilfen ein, die sie im Rahmen der ,Qualitätsagentur Heimerziehung’ durch 31 Visitationen in deutschen Wohngruppen ermitteln (2018: 8). Aus Rahmengründen sollen im Folgenden nur die nicht bereits anderweitig aufgegriffenen Dimensionen aufgeführt werden. Das Modellprojekt buchstabiert unter anderem die folgenden aus.
Konzeptqualität: Grundlage des professionellen Handelns in der Einrichtung soll ein fundiertes Konzept, samt „Leitbild, Menschenbild, Zielen, Zielgruppen, Methoden, Verfahren [.] präzisiert durch Teilkonzepte, Schlüsselprozess-Vorgaben [und] Arbeitshilfen“ (Schwabe; Thimm 2018: 72) für Mitarbeitende sowie Kooperationspartner*innen bereithalten. Aus ihnen lassen sich „orientierende Regeln für professionelles Verhalten ableiten, die als sichernde ,Geländer‘ für die Gestaltung der beruflichen Arbeit dienen“ (von Spiegel 2021: 83). Auch Hansbauer, Merchel und Schone benennen die Notwendigkeit von konzeptioneller Orientierung (2020: 55f.), weshalb sich bereits Kapitel 2.3 und 2.4 mit einem Überblick über solche beschäftigten.
„Individuelle Haltungen von Fachkräften, die in jedem professionellen Handeln wirksam werden, werden von konzeptionellen Leitorientierungen der Profession mitgeprägt; die konzeptionellen Leitorientierungen bilden einen Spiegel, vor dem sich professionelle Akteur[*innen] methodisch und in ihrer normativen Haltung legitimieren sollen.“ (Hansbauer; Merchel; Schone 2020: 55)
„Individuelle, biografiesensible Hilfe- [...] und Erziehungsplanung“ (Schwabe; Thimm 2018: 129): Sie wird fortlaufend weiterformuliert, fremde und eigene Ziele werden kenntlich gemacht und deren Durchführung durch standardisierte Verfahren (Planungsgespräch, Auswertungsgespräch, Vorbereitungsbogen) sichergestellt. Bedürfnisse, Wünsche, Kapazitäten und Entwicklungsstand des jungen Menschen fließen hinein, werden vor dem Hintergrund seiner Biografie begriffen und passenden Angeboten zugeführt. (129f.)
Familienbezugsgestaltung: In der Eltern- und Familienarbeit - dies ist in Kapitel 2.4 bereits angeklungen - gibt es verschiedene Intensitäten, zusammengefasst in drei Arbeitsformen, die praktiziert werden können (Schulze-Krüdener; Homfeldt 2013: 255). Kontaktpflege, als erste Form, versucht über regelmäßige Telefonate, Besuche und Einladungen zu Festen, die Kooperation mit Eltern zu fördern oder zu intensivieren (Günder 2015: 242). Intensivere Formen, zweitens, sind beispielsweise Elterntrainings sowie -beratung, die planvoll und methodisch gestaltet werden. Als dritte Form sind familientherapeutische Interventionen zu nennen. Je intensiver die Familienarbeit, desto höher muss die professionelle Qualifikation, gegebenenfalls über entsprechende Weiterbildung, die finanzielle sowie die personale Ausstattung sein. (Günder 2015: 278ff.) Als professioneller Grundstandard muss intensitätsübergreifend „ein Arbeitsansatz [gesichert sein], der davon ausgeht, dass Eltern das ihnen Bestmögliche tun[. Dieser ermöglicht], dass Mitarbeite[nde] auch mit Eltern arbeiten (können), deren Erziehungs- und Sozialverhalten als problematisch betrachtet wird.“ (Conen 2007: 69)
Bildung und schulische Förderung: In seiner Studie stellt Crain fest, dass die „Schullaufbahn [befragter Jugendlicher] vor dem Heimeintritt durchwegs gefährdet war“ (2012: 237). Ob in angeschlossenen Heimschulsettings oder in Zusammenarbeit mit externen Schulen - die stationären Hilfen sollen durch positive Zusammenarbeit mit Lehrkräften, durch passgenaue schulische Unterstützung sowie motivierende und hilfreiche Impulse möglichst erfolgreiche, schulische Entwicklung anstreben. Sie selbst soll überdies Ort von informellen Bildungsangeboten sein. (Schwabe; Thimm 2018: 163)
Kinderschutz: Dieser ist aktiv und präventiv zu gestalten. Die Wohngruppe soll ein sicherer Ort und Schutzraum für Kinder und Jugendliche sein. Ihr Recht auf Schutz muss insbesondere durch Beteiligungs- und Beschwerdeverfahren, Schutzkonzepte (Schierer 2022: 22) mit standardisierten Präventions- und Interventionsschritten, Information, Beratung von innen und außen gesichert werden. Zudem muss der respektvolle Umgang, Achtsamkeit für weitere Übergriffe und Sensibilität in der Begleitung von Opfern auf professioneller Seite gegeben sein, um Retraumatisierungen in der stationären Hilfe zu verhindern. (Schwabe; Thimm 2018: 176f.)
Umgang mit Krisen und Konflikten: Diese sollen zunächst als Entwicklungschance und als dem Leben eigen begriffen werden (Schwabe; Thimm 2018: 196). Gewaltvollem Handeln junger Menschen wird auf drei Präventionsebenen begegnet: Auf Ebene der Primärintervention soll der Entstehung von Gewalt vorgebeugt werden, über Beteiligungsverfahren, (Selbst-)Verpflichtungen, genügend Betreuungskapazität, attraktive Beschäftigungen, Gruppenreflexion und ausreichend Angebote zum ,Auspowern‘. (Schwabe 2019: 174) Wenn sich Gewaltbereitschaft zuspitzt, setzt die Sekundärprävention ein, zu dem absolvierte Deeskalationsfortbildungen der Mitarbeitenden gehören, sowie Krisenmanagementkonzepte der Einrichtung und Rufbereitschaftsverfahren (175). Die Tertiärprävention „dient der Aufarbeitung, Sanktionierung und Wiedergutmachung fremdschädigender [...] Verhaltensweisen“ (Schwabe 2019: 176). Der Vorfall wird in standardisierter Weise dokumentiert, je nach Art des Ereignisses an externe Stellen gemeldet sowie mit Beteiligten nachbearbeitet und entsprechende Interventionen, wie eine Reflexionsauszeit in einer anderen Gruppe beispielsweise, eingeleitet (176).
Dokumentation: Es gibt festgelegte Verfahren auf allen Einrichtungsebenen, nützliche Dokumente und Medien zur Dokumentation. (Schwabe; Thimm 2018: 226)
Interne Kooperation und Teamarbeit: Auch Teamarbeit und Kollegialität zwischen stationär arbeitenden Professionellen hat Bedeutung für das professionelle Handeln (Henn 2020: 47ff.). Ein gutes Team ist in der Lage, folgende Hauptaufträge zu erfüllen. Sie gestalten a) gemeinsame Standards und den pädagogischen Rahmen für die Gruppe. Sie arbeiten b) über Planung, Durchführung und Evaluation hinweg gemeinsam und abgestimmt an Einzelfällen. Sie organisieren c) die anfallenden organisatorischen Aufgaben, wie Dienstplan, Finanzen, Veranstaltungen, wobei Zuständigkeit und Rollen geklärt sind. (Schwabe; Thimm 2018: 249) Sie übernehmen füreinander d) sozial-emotionale Aufgaben „[wie] Entlastung, Anerkennung, Unterstützung, Ermutigung, Kontrolle, Feedback. [Bestenfalls gelingt] eine Atmosphäre von Wertschätzung, Offenheit und Grundsolidarität“ (Schwabe; Thimm 2018: 249f.). Idealerweise entstehen über die Aufgaben hinweg gemeinsame Ziele und Haltungen und über verschiedene Erlebnisse hinweg ein Gemeinschaftsgefühl. (249f.)
Leitung: Die Leitungsperson verfügt über die geforderten emotionalen, sozialen und sachlichen Kompetenzen, ihr Leitungshandeln wird von den Beteiligten regelmäßig reflektiert. Sie nimmt ihren Auftrag der Personalentwicklung systematisch wahr. (267)
Organisationskultur: Dieser Aspekt, den Hansbauer, Merchel und Schone unter anderem beschreiben, soll hier nochmals explizit aufgerufen werden: Abseits ihrer formalen Aufgaben, wie beispielsweise das Verfolgen des gemeinsamen Ziels, die glaubhafte, professionelle Repräsentation nach außen und Orientierung nach innen (2020: 130), pflegt die Organisation auch eine informelle Struktur, eine Organisationskultur mit Umgangsformen, Gewohnheiten und Alltagspraxen:
„[Diese] ist nicht nur für die Motivation, das Sich-Wohlfühlen der Mitarbeitenden in einer Organisation bedeutsam, sondern [hat] auch unmittelbare Auswirkungen auf die Qualität der Leistungserbringung [und] das fachliche Handeln [...]. [Sie] stellt einen wichtigen Sozialisationsfaktor für alle Organisationsmitglieder dar, [...] prägt deren Verhalten, deren Blick auf Aufgaben und Anforderungen [.]“ (Hansbauer; Merchel; Schone 2020: 131)
Vollständig wird dieses Bild von professionellem Handeln in stationären Erziehungshilfen zuletzt aber nur, wenn personengebundene Voraussetzungen miteingebunden werden. Nicht umsonst ist die Rede davon, dass in der Sozialen Arbeit - und dies dürfte in der stationären Erziehungshilfe insbesondere gelten - mit der eigenen Person als Werkzeug gearbeitet wird (von Spiegel 2020: 61). So stellen Schwabe und Thimm einen Katalog solcher personaler Eigenschaften auf (2018: 91), die Böttger als ehemalige Betreute weitgehend zu bestätigen scheint (2017: 41). Professionelle brauchen zunächst „Freude am Zusammensein mit jungen Menschen - man muss sie (nicht immer, aber immer wieder) mögen können und sich zumindest von einer Altersgruppe oder einem Typ von Kind oder Jugendlichen immer wieder faszinieren lassen“ (Schwabe; Thimm 2018: 91). Weiterhin bedarf es einer möglichst stabilen Gesundheit sowie Belastbarkeit, die bei chaotischen Situationen und anderen Anforderungen (wie beispielsweise möglichst guter Schlaf in der Nachtbereitschaft) unterstützen. Ein Maß an Humor sowie Selbstironie, die Fähigkeit, mit unterschiedlichsten Menschen in Kontakt zu kommen, nennen sie ebenso wie die Fähigkeit des Abschaltens, sodass Themen möglichst nicht mit nach Hause genommen werden (Böttger 2017: 41; Schwabe; Thimm 2018: 91). Weiterhin ist eine gute Emotionsregulationskompetenz und die Fähigkeit, sich gegebenenfalls für unangemessene Gefühlsausdrücke zu entschuldigen, wichtig. (Schwabe; Thimm 2018: 91) Um sich an wichtigen Stellen durchsetzen zu können, ist darüber hinaus ein „gewisses auch körpersprachliches Auftreten [beziehungsweise] Standing“ (Schwabe; Thimm 2018: 91) im Sinne von Mimik, Gestik und Körperhaltung vonnöten. Und zuletzt wird aufgeführt, dass Professionelle über praktische Kompetenzen, wie beispielsweise Kochen, Sport, Fahrradreparatur, verfügen sollten. Bestenfalls bringen sie auch besondere Hobbies oder Fähigkeiten mit in den Gruppenalltag ein, um die Kinder und Jugendlichen zu begeistern. (Böttger 2017: 41; Schwabe; Thimm 2018: 91)
4 Grundlagen der Methode VHT
Nachdem nun das Arbeitsfeld sowie professionelles Handeln beleuchtet wurden, kann sich die Arbeit ihrem Hauptthema, dem VHT, zuwenden. Das vorliegende Vorhaben unterliegt der Annahme, je besser es die Wirkprinzipien der Methode begreift, desto besser kann es im Anschluss die Forschungsergebnisse verstehen und in Zusammenhang bringen. Der Beschreibung der Methodik, Geschichte und Organisation sowie ihrer Einordnung in den Methodenbegriff und in theoretische Hintergründe, wird deshalb im Folgenden genügend Raum eingeräumt.
4.1 Zielsetzung und Methodik des VHTs
Um VHT kennenzulernen, ist es zunächst notwendig eine Vorstellung seiner Zielsetzung und Herangehensweise zu bekommen. In seiner Grundform definiert sich VHT als „[...] kurzzeitige, intensive Form der Hilfestellung für Familien, die zu Hause stattfindet, wobei mit Bildern gearbeitet wird, die die Kommunikation innerhalb der Familien demonstrieren, um so die gesamten Familienfunktionen positiv zu beeinflussen“ (Dekker 1999: 97). Ziel dieses klassischen VHTs ist dabei „die (Wieder-)Aktivierung der individuellen Ressourcen im Sinne positiver Kapazitäten von Eltern und Kind. Folglich kann sich der negative Kreislauf zugunsten eines positiven Kontaktes entwickeln. [Dieser] lässt positive Entwicklungen im Sinne einer gelungenen Erziehung und einer gesunden sozial-emotionalen Entwicklung von Eltern und Kind in Wechselseitigkeit zu.
VHT kann [...] praktische Fertigkeiten vermitteln und die Fähigkeit zur Problemlösung entwickeln und aktivieren“ (Schepers; König 2000: 17)
Die Methodik des VHTs verläuft dabei in vier Schritten. Als Intake, Erstgespräch (Schepers; König 2000: 28) oder Klärung der Hilfefrage (Gens 2020a: 15) lässt sich der erste Schritt betiteln. In einem ersten Treffen mit dem Gegenüber soll in die Methode eingeführt und eine Hilfefrage entwickelt werden. Hierzu entwickelte Gens wiederum eine ausführliche sechsschrittige Erarbeitung einer solchen. Beginnend mit dem verstehenden Empfangen der Problemsituation, über die Entwicklung eines Wunschbildes, der Würdigung bisheriger Lösungsversuche, der Entscheidung des Gegenübers zu noch einem Versuch und letztlich der Formulierung, welche positiv und eigenaktiv sein soll (Was kann ich dafür tun, dass .?) (Gens 2016a: 66). Die kurze Videoaufnahme von fünf bis zehn Minuten einer alltäglichen (zunächst möglichst einfachen) Situation, wie zum Beispiel eine Essenssituation, eine Spielsituation, eine Bettgehsituation oder ähnliches, bildet den zweiten Schritt des Prozesses (Räder 1999: 80). Im dritten Schritt der „ Bildanalyse mit Bildschnitt und Präsentationskonzept “ (Gens 2020a: 15) werden mithilfe des Video-Kontaktschemas (siehe Kapitel 4.3.4) gelungene Kontakte, Ressourcen und (Teil-)Antworten auf die Hilfefrage zu einem anregenden Bildschnitt zusammengefügt (siehe Kapitel 4.3.3) (Wels; Jansen; Kreuzer 2000: 276). Den vierten Schritt bildet die Rückschau (Goltsche; Rössel 2009: 9), in der der Videoschnitt gemeinsam angesehen und analysiert wird. Beratende unterstützen hier das Lernen am eigenen Modell mit aktivierenden Fragen, sodass die Lösungen selbst erkannt werden können (siehe Kapitel 4.3.2 und 4.3.3) (Wels; Jansen; Kreuzer 2000: 276).
Schepers und König stellen dem Viererschritt noch den des Screenings voran, in welchem zuerst geprüft werden soll, ob das Gegenüber überhaupt für ein VHT infrage kommt. Sie benennen unter anderem, dass Erwachsene mit bestimmten psychiatrischen Erkrankungsbildern auf den Einsatz von Videokamera und der damit verbundenen empfundenen negativen Selbstkonfrontation oder Bedrohlichkeit reagieren können, was ein VHT-Prozess ausschließe. (2000: 17, 27) Darüber hinaus sehen sie ein sogenanntes Follow-up nach drei, sechs, zwölf und 24 Monaten vor (2000: 31), eine Art Nachsorgekontakt bei Familien, in der mithilfe einer weiteren VHT-Einheit nochmals bestärkt wird und gegebenenfalls neue Fragestellungen ermittelt werden (Golt- sche; Rössel 2009: 10).
Mehrere solche Kreisläufe beziehungsweise Wechsel von Aufnahme, Schnitt und Rückschau bilden als Einheiten den VHT-Prozess. Jener dauert laut Fachliteratur unterschiedlich an. Während die klassische Form im Zuhause der Familie zwischen sechs und neun Monate andauern soll (Schepers; König 2000: 30), sieht das englischsprachige Äquivalent drei bis vier Einheiten als Maß an (Kent County Coucil o.J: o.S). Kennedy fasst zusammen, dass es die richtige Beratungsdauer aufgrund der unterschiedlichen Komplexität der anzugehenden Probleme des Gegenübers, nicht gibt. Wohl aber sei Untersuchungen zufolge den Prozessen gemein, dass die ersten beiden Einheiten die größten Entwicklungseffekte erzielen. (Kennedy 2011: 31)
Auch abschließend nochmals zu benennen ist, dass es sich bei den vorangegangenen Ausführungen um VHT in seiner klassischen Form handelt (Goltsche; Rössel 2009: 10). Welche weiteren Möglichkeiten des videobasierten Arbeitens es gibt und inwiefern sie sich methodisch gestalten und von dieser klassischen Form gegebenenfalls unterscheiden, wird in Kapitel 5 behandelt.
4.2 Einordnung in den Methodenbegriff
VHT scheinen viele Namen gegeben zu werden. Es ist die Rede von VHT als Beratungsform (Gens 2020, 10; Goltsche 2020: 23). Das zugehörige Kontaktstudium (siehe 4.3) ordnet VHT als Coaching ein (SPIN DGVB o.J.: o.S.). VHTs englisches Äquivalent VIG, Video Interaction Guidance, wird von seinen Praktizierenden teils als Therapie betitelt (Kennedy 2011: o.S.). Ab der Ebene von VHT-Ausbilder*innen wird der Supervisionsbegriff ins Spiel gebracht (SPIN DGVB 2017: 14f). Und dabei ist auch noch nicht abschließend geklärt, ob es sich bei VHT um eine Methode, ein handlungsleitendes Konzept, ein Verfahren oder eine Technik handelt. Das vorliegende Kapitel möchte sich einer solchen Einordnung annähern.
Rund um die Klärung des Methodenbegriffs versucht der Fachdiskurs überwiegend zwischen den Kategorien, Konzept, Verfahren, Methode und Technik zu differenzieren (Kreft; Müller 2020: 20). Recht unumstritten wirken dabei die Größenverhältnisse: Das Konzept, als größter Rahmen professionellen Handelns und bildet „unverzichtbare[.], beschreibende[.], klärende Vorarbeit für das nachfolgende methodische Handeln“ (Kreft; Müller 2020: 21). Sie enthalten Theorieelemente, die soziale Probleme oder Phänomene ganzheitlich zu verstehen versuchen (Stövesand; Stoik 2013: 19). Methoden, als nächstkleinere Einheiten „sind mehr oder weniger differenziert planbare, geregelte und zielorientierte sowie konsequent und reflektierend zu verfolgende ,Wege‘ des Problemlösens“ (Stimmer 2012: 25). Kreft und Müller plädieren dafür, den in ihren Augen inflationär genutzte Methodenbegriff nur für die drei amerikanischen beziehungsweise klassischen Methoden zu nutzen: Einzelhilfe, Soziale Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit (2020: 23). „Alle anderen Versuche, die Regeln der Kunst für einen bestimmten Teilbereich der Sozialen Arbeit zu beschreiben, sollten als Verfahren bezeichnet werden“ (Kreft; Müller 2020: 22). Techniken bilden die kleinste Einheit. Sie sind „als Antworten auf Detailprobleme auf dem komplexen Weg der Identifikation [hin zur Lösung] eines Problems“ (Galuske 2013: 32) anzusehen und unterscheiden sich von Methoden hinsichtlich ihrer Komplexität. Methoden sollten ganze Sets an Techniken umfassen. (31) Von Spiegel konstatiert, dass es traditionell verschiedene Auffassungen des Methodenbegriffs gebe, die nebeneinander existieren und trotz vielerlei Ordnungsversuche zu Verkürzung und Verwirrung führen (2021: 69). Die vorliegende Arbeit gibt sich die Erlaubnis, dem Vorschlag von SPIN DGVB zu folgen und VHT als
Methode in die Begrifflichkeiten einzuordnen. Die folgende Abbildung stellt angelehnt an Galuskes Einteilung ein Versuch dessen dar.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Verortung im Methodenbegriff, eigene Darstellung angelehnt an Galuske 2013: 332
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- Citar trabajo
- Felizitas Balzer (Autor), 2022, VHT als methodischer Zugang in den stationären Erziehungshilfen. Inwiefern sich videobasiertes Arbeiten auf das professionelle Handeln von Fachkräften auswirkt, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1348438
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