Kinder und Jugendliche mit schwerwiegenden Verhaltensauffälligkeiten lassen sich nur schwer in die Maßnahmen der Erziehungshilfe integrieren. Aufgrund der Überforderung von Institutionen, Fachkräften und den betroffenen Kindern und Jugendlichen selbst kommt es zu häufigen Abbrüchen aus dem Hilfesystem. In einer Literaturanalyse zu den Themenfeldern von Bindungsforschung, Beteiligungsverfahren und Traumapädagogik im stationären Kontext erfolgte eine Auseinandersetzung mit den vielfältigen Problemlagen, Risikofaktoren und Interventionsmöglichkeiten für die Praxis. Hierbei sollten Faktoren ermittelt werden, die sich positiv auf den Verlauf von Erziehungshilfen auswirkten und Abbrüche verringerten. Eine zentrale Bedeutung kam dabei der Partizipation und Bindung in der pädagogischen Arbeit der stationären Kinder- und Jugendhilfe zu.
Die Ergebnisse zeigten, dass durch die Beteiligung im Hilfeprozess die Kinder und Jugendlichen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützt und eine positive Wirkung im Hilfeverlauf erzielt wurde. Ebenfalls trug das Vorhandensein einer verlässlichen Bezugsperson und eine positive Beziehungsgestaltung zu den Fachkräften zur Stabilisierung der hoch belasteten Kinder und Jugendlichen bei. Dies wirkte sich unterstützend auf den Hilfeverlauf aus und verringerte Abbrüche. Implikationen für die pädagogische Praxis sind eine Kooperation der verschiedenen Hilfesysteme, wie die Kinder- und Jugendpsychiatrie, um auf die Herausforderungen in der Praxis reagieren zu können. Die Anforderungen an eine hohe Professionalität der Fachkräfte und Weiterentwicklung von Konzepten der Einrichtungen erfordern eine Fokussierung auf Aus- und Weiterbildung, um den unterschiedlichen Anforderungen und Bedarfen aller Beteiligten gerecht zu werden.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Beschreibung derZielgruppe
2.1 Begriffliche Auseinandersetzung
2.2 Charakteristik der Kinder und Jugendlichen mit Abbrüchen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe
2.3 Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen mitAbbrüchen in der stationären Kinder-und Jugendhilfe und die Folgen
2.4 Lebensläufe und Entstehungsbedingungen
2.5 Schutz- und Risikofaktoren
3 Hilfeformen für Kinder und Jugendliche mit Abbrüchen in der Kinder- und Jugendhilfe
3.1 Gesetzliche und strukturelle Rahmenbedingungen
3.2 Erzieherische Hilfen
3.3 Risikofaktoren im Hilfesystem
4 Die Bedeutung von Bindung in derArbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Abbrüchen in der stationären Jugendhilfe
4.1 Grundlagen derBindungstheorie
4.2 Die Bedeutung einer sicheren Bindung
4.3 Bindungskonzepte von Kindern und Jugendlichen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe
4.4 Professionelle Beziehungsgestaltung
4.4.1 Was Kinder mit Bindungsstörungen brauchen
4.4.2 Implikationen für die Beziehungsarbeit im pädagogischen Setting
4.4.3 Beziehungsprofessionalität
5 Die Bedeutung von Partizipation in derArbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Abbrüchen in der stationären Jugendhilfe
5.1 Definition Partizipation
5.2 Theoretische Grundlagen von Partizipation
5.3 Partizipation in der Kinder- und Jugendhilfe
5.3.1 Die Basis von Partizipation in der stationären Kinder- und Jugendhilfe
5.3.2 Partizipationsbereiche in der stationären Kinder- und Jugendhilfe
5.4 Wie kann Partizipation in derArbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Abbrüchen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe gelingen?
6 Auswertung
6.1 Die Wirkung von Bindung in der stationären Kinder- und Jugendhilfe
6.2 Die Bedeutung der Beziehungsqualität im Betreuungsprozess
6.3 Der Erfolg von stationären Unterbringungen aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen
6.4 Die Einbeziehung traumapädagogischer Konzepte zur Stabilisierung
6.5 Der Einfluss individueller Faktoren auf den Hilfeverlauf
6.6 Die Wirkung von Partizipation in der stationären Unterbringung
6.7 Der Einfluss der Organisation und des Einrichtungsklimas
6.8 Die Beteiligung im Hilfeverlauf
6.9 Die Wirkung intensivpädagogischer Maßnahmen
6.10 Hindernisse bei der Umsetzung von Beteiligung in der stationären Unterbringung
7 Diskussion
8 Fazit
Literatur
Abstract
Zusammenfassung. Kinder und Jugendliche mit schwerwiegenden Verhaltensauffälligkeiten lassen sich nur schwer in die Maßnahmen der Erziehungshilfe integrieren. Aufgrund der Überforderung von Institutionen, Fachkräften und den betroffenen Kindern und Jugendlichen selbst kommt es zu häufigen Abbrüchen aus dem Hilfesystem. In einer Literaturanalyse zu den Themenfeldern von Bindungsforschung, Beteiligungsverfahren und Traumapädagogik im stationären Kontext erfolgte eine Auseinandersetzung mit den vielfältigen Problemlagen, Risikofaktoren und Interventionsmöglichkeiten für die Praxis. Hierbei sollten Faktoren ermittelt werden, die sich positiv auf den Verlauf von Erziehungshilfen auswirkten und Abbrüche verringerten. Eine zentrale Bedeutung kam dabei der Partizipation und Bindung in der pädagogischen Arbeit der stationären Kinder- und Jugendhilfe zu. Die Ergebnisse zeigten, dass durch die Beteiligung im Hilfeprozess die Kinder und Jugendlichen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützt und eine positive Wirkung im Hilfeverlauf erzielt wurde. Ebenfalls trug das Vorhandensein einer verlässlichen Bezugsperson und eine positive Beziehungsgestaltung zu den Fachkräften zur Stabilisierung der hoch belasteten Kinder und Jugendlichen bei. Dies wirkte sich unterstützend auf den Hilfeverlauf aus und verringerte Abbrüche. Implikationen für die pädagogische Praxis sind eine Kooperation der verschiedenen Hilfesysteme, wie die Kinder- und Jugendpsychiatrie, um auf die Herausforderungen in der Praxis reagieren zu können. Die Anforderungen an eine hohe Professionalität der Fachkräfte und Weiterentwicklung von Konzepten der Einrichtungen erfordern eine Fokussierung auf Aus- und Weiterbildung, um den unterschiedlichen Anforderungen und Bedarfen aller Beteiligten gerecht zu werden.
1 Einleitung
In aktuellen Diskursen der Kinder- und Jugendhilfe geht es um die steigende Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die sich aufgrund schwerwiegender Verhaltens- und Bindungsstörungen nicht dauerhaft in die Regelangebote pädagogischer Betreuung integrieren lassen. Die Erfahrungen aus der Praxis der Erziehungshilfe zeigen eine hohe Anzahl von Abbrüchen aus den Hilfemaßnahmen, diskontinuierliche Bindungen und daraus resultierenden, stark von anerkannten sozialen Normen abweichende Lebensstile. Dabei kommt es zu kaum regulierbaren Risikoverhalten und Impulsdurchbrüchen, exzessiven Substanzmissbrauch, dauerhafter Schulverweigerung oder auch stark selbst- und fremdgefährdetem Verhalten. Hinzu kommt das Risiko der Entgleisung in die Straffälligkeit oder in ein dissoziales Milieu, das zu Beeinträchtigungen bis ins spätere Erwachsenenalter führen kann. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen geraten zwischen Erziehungshilfe, Justiz und Kinder- und Jugendpsychiatrie ohne verlässliche Lebens- und Bindungsperspektive in einen systembedingten Verschiebemechanismus. Es folgen immer wieder kurzfristige Unterbringungen in Inobhutnahmeeinrichtungen oderkurzeitige Neuaufnahmen in stationären Wohngruppen sowie häufig - nach Akutkrisen - Aufnahmen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder eine Entlassung in den elterlichen Haushalt. Die Kinder und Jugendlichen sind dem Risiko ausgesetzt, außerhalb der Reichweite der Hilfesysteme unterzutauchen. Sie kommen selbstbestimmt bei Bekannten oder Freunden unter, die sich selbst in prekären Lebenssituationen wie Drogen- und Straßenszene befinden und kindeswohlgefährdeten Rahmenbedingungen ausgesetzt sind. Die Fachkräfte der Erziehungshilfe sind oftmals fachlich im Gruppenalltag mit den herausfordernden Verhaltensweisen und multiplen Problemlagen der Kinder und Jugendlichen überfordert. Die Kinder und Jugendlichen hingegen sind aufgrund ihrer prägenden Lebenserfahrungen mit den Regeln und Anforderungen der betreuenden Einrichtungen und Jugendämter überfordert. Sie können die von ihnen geforderte Anpassungsleistung nicht erbringen, sodass es zu Eskalationen und schließlich zu Hilfeabbrüchen kommt.
Die Studie zu Ursachen und Begleitumständen von Abbrüchen stationärer Erziehungshilfe (ABiE) (Tornow, Ziegler 2012) benennt als Ursachen der bundesweit bis zu ca. 40% abgebrochenen vollstationären Erziehungshilfen die Überforderungssituation pädagogischer Fachkräfte und Institutionen mit den verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen. Somit kommt es aufgrund nicht tolerierbarer Grenzverletzungen in Form von körperlichen Übergriffen und Bedrohungen gegenüber anderen Gruppenmitgliedern und pädagogischen Fachkräften häufig seitens der Einrichtung zum Abbruch oder durch die Kinder oder Jugendlichen selbst. In der Folge sind die Betroffenen nur schwer durch die Hilfen zur Erziehung erreichbar und aufgrund der häufigen Wechsel der Hilfemaßnahmen kommt es immer wieder zu Beziehungsabbrüchen, die weitreichende psychosoziale und physiologische Folgen nach sich ziehen können. Vor allem Bindungsstörungen können nachhaltige Auswirkungen auf die Biografie und spätere Lebensführung haben und zu emotional instabilen Persönlichkeitsentwicklungen führen (vgl. Seiser2018: 28 ff).
Bei Kindern und Jugendlichen, die sich häufig zwischen der Erziehungshilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie bewegen, stellt sich daher die Frage, welche Voraussetzungen in der pädagogischen Arbeit erfüllt sein müssen, um diese vulnerable Zielgruppe vor weiteren Belastungen zu schützen. Wie können Resilienzfaktoren erhöht werden oder eine Verringerung der Auffälligkeiten erreicht werden, um eine Stabilität ihres Lebensalltags herzustellen?
Es gibt eine Reihe von empirisch belegten Faktoren (Macsenaere, Esser 2015) im pädagogisch-erzieherischen Prozess, die sich günstig auf den Verlauf der Erziehungshilfen ausgewirkt und Abbrüche verringert haben. Eine zentrale Bedeutung in der pädagogischen Auseinandersetzung mit den herausfordernden jungen Menschen kommt dabei der Partizipation und der Beziehungsqualität zu den Fachkräften im stationären Setting zu (vgl. Baumann, Esser2021: 247).
Demnach wird sich die vorliegende Arbeit mit der Wirkung von Bindung und Partizipation in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe beschäftigen. Dabei ist die Darstellung der Bedeutsamkeit von Bindung und Partizipation für die Kinder und Jugendlichen und die sich daraus abzuleitenden Handlungsansätze für eine professionelle Beziehungsgestaltung sowie partizipativer Methoden für die Praxis relevant. Entsprechend ist die Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit:
Wie können Beziehungsgestaltung und partizipative Methoden in der stationären Kinder- und Jugendhilfe eingesetzt werden, um Kinder und Jugendliche mit Abbrüchen in den Hilfeverläufen zu unterstützen?
Im Rahmen einer Literaturanalyse wird der gegenwärtige Forschungsstand zu Bindung und Partizipation in der stationären Kinder- und Jugendhilfe sowie die Herausforderungen, Möglichkeiten und auch Grenzen für die Praxis betrachtet. Hierbei werden der Forschungsstand und die Erkenntnisse für Kinder und Jugendliche mit Abbrüchen aus der Kinder- und Jugendhilfe und deren hohem Hilfebedarf sowie die relevanten Handlungsansätze zur Unterstützung in den Fokus gerückt.
Zunächst erfolgt in Kapitel 2 eine Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit der Zielgruppe aus der Perspektive von Menno Baumann, der die Fachöffentlichkeit durch seine Forschungsarbeiten und den Begriff „Systemsprenger“ geprägt hat. Im Weiteren erfolgt eine Darstellung der Charakteristika und die Beschreibung von problematischen Verhaltensweisen und deren Auswirkungen auf die Beteiligten und Institutionen. Darüber hinaus werden die Lebensläufe und die Entstehungsbedingungen sowie die Risiko- und Schutzfaktoren der Zielgruppe betrachtet. Kapitel 3 beschäftigt sich mit den Hilfeformen der stationären Kinder- und Jugendhilfemaßnahmen für die Betroffenen, benennt die gesetzlichen und strukturellen Rahmenbedingungen und stellt verschiedene Formen der Erziehungshilfe vor. Im Abschluss des Kapitels erfolgt eine Auseinandersetzung mit den Risikofaktoren im Hilfesystem, die Abbrüche von Kindern und Jugendlichen begünstigen. In Kapitel 4 wird die Bedeutung von Bindung betrachtet. Im ersten Schritt werden die Grundlagen der Bindungstheorie, die Bedeutung einer sicheren Basis als Grundlage von Resilienz und das Bindungsverhalten von Kindern und Jugendlichen in der stationären Unterbringung dargestellt. Aus den daraus resultierenden Erkenntnissen werden Implikationen für eine professionelle Beziehungsgestaltung in der Praxis vorgestellt. Kapitel 5 betrachtet die Bedeutung von Partizipation im stationären Kontext. Im Aufbau erfolgt die Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit, die theoretischen Grundlagen von Partizipation sowie die Umsetzung und Bedeutung in der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Das Kapitel schließt mit Erkenntnissen, wie Partizipation gerade in der Arbeit mit der Zielgruppe gelingen kann. In Kapitel 6 erfolgt eine umfassende Auswertung des Forschungstandes auf Grundlage von Studien. Eine Evaluation und Interpretation der Ergebnisse sowie die Einordnung in den Forschungsstand wird in Kapitel 7 dargestellt. Das Fazit in Kapitel 8 veranschaulicht die Ergebnisse der Arbeit in einer Zusammenfassung und beantwortet die Forschungsfrage.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Bachelorarbeit auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Formulierungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter. Ebenfalls wird zur besseren Lesbarkeit sowie der Einfachheit halber in der vorliegenden Arbeit Bezug auf die „Fachkräfte“ genommen. Hierunter werden die sozialen und pädagogischen Fachkräfte, die in der stationären Kinder- und Jugendhilfe tätig sind, zusammengefasst. Insbesondere sind die Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, (Kindheits-)Pädagogen und Erzieher gemeint.
2 Beschreibung derZielqruppe
2.1 Begriffliche Auseinandersetzung
Den Ausgangspunkt dieser Arbeit bildet die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen mit Abbrüchen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Mit Abbrüchen ist in diesem Kontext die vorzeitige Beendigung einer Hilfe im Dissens eines weiter bestehenden Bedarfs definiert. Kinder und Jugendliche mit Abbrüchen aus dem System der Kinder- und Jugendhilfe werden in der Fachöffentlichkeit zunehmend auch als „Systemsprenger“ bezeichnet. Dieser Begriff wurde in seiner Verwendung maßgeblich von Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik, und seinen Forschungsarbeiten geprägt und bezieht sich entweder individuumsorientiert auf die „sprengende“ Person eines Systems oder richtet ihren Fokus auf das vorhandene System. Baumann erklärt dies mittels der Beschreibung von Grenzüberschreitungen durch Kinder und Jugendliche, „welche sich in einer durch Brüche geprägten negativen Interaktionsspirale mit dem Hilfesystem, den Bildungsinstitutionen und der Gesellschaft befinden und diese durch als schwierig wahrgenommene Verhaltensweisen aktiv mitgestalten“ (Baumann 2019: 7). In Bezug auf das vorhandene System wendet er den Terminus Systemsprenger auf Kinder und Jugendliche an, „bei denen die Erziehungshilfemaßnahmen von Seiten der betreuenden Einrichtung abgebrochen wurde, da das Kind/ der Jugendliche auf Grund schwerwiegender Verhaltensstörung nicht zu betreuen erschien und somit den Rahmen der Erziehungshilfe gesprengt hat“ (ebd.).
Der Begriff Systemsprenger beschreibt in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe eine Anzahl von Phänomenen, die die Hilfesysteme überfordern und steht in der Kritik, das Kind oder den Jugendlichen in den Mittelpunkt zu rücken, dabei einer systemischen Haltung nicht gerecht zu werden und die Gefahr von Stigmatisierung zu bergen. In unterschiedlichen pädagogischen Kontexten kann der Begriff der Systemsprenger voneinander abweichende Bedeutungen haben. So ergeben sich im Kontext Schule andere Zusammenhänge als in der Kinder- und Jugendhilfe oder der Psychiatrie. Weitere Bezeichnungen der Zielgruppe finden sich in Begrifflichkeiten und Umschreibungen wie „besonders herausfordernde Kinder“, „Grenzgänger“, „Verweigerer“, „Hoch- Risiko - Klientel“ oder „schwierige junge Menschen“ wieder. Dabei lastet der Fokus ähnlich unbestimmt auf dem Individuum. Baumann hebt hervor, dass der Begriff „Systemsprenger“ die Interaktionsdynamik zwischen dem im Mittelpunkt stehenden Kind oder Jugendlichen, seiner Familie, den Hilfesystemen und der Gesellschaft als Ganzes beschreibt. Ebenso verwendet er den Begriff Hoch-Risiko-Klientel, der im doppelten Wortsinn zu verstehen ist. Die Kinder- und Jugendlichen seien zum einen massiv davon betroffen, einer Vielzahl bekannter Risikofaktoren kindlicher Entwicklung ausgesetzt zu sein, auf der anderen Seite stellen sie ein Risiko für sich und andere dar (vgl. Baumann 2017: 2f.).
Schwabe/ Stallmann/Vust beschreiben die Zielgruppe als „hoch riskant agierende und schwer zu vermittelnde junge Menschen“ (Schwabe et al. 2021: 21). An Bezeichnungen wie „schwierige Jugendliche“ oder „Systemsprenger“ kritisieren sie, dass die Begrifflichkeiten vermuten lassen, dass es durch die alleinige Aktivität des jungen Menschen zu Abbrüchen und wechselseitigen Ressentiments zwischen dem jungen Menschen und dem Hilfesystem kommt. Das komplexe, interaktive Geschehen findet dabei keine Berücksichtigung. Dabei gehen sie davon aus, dass an den gescheiterten Kinder- und Jugendhilfemaßnahmen verschiedene Parteien beteiligt sind. Dazu gehören Jugendamt, Jugendhilfeträger, die jungen Menschen und ihre Eltern, sowie auch Kinder- und Jugendpsychiatrie, Polizei und Jugendgerichte. Die verschiedenen Systeme geraten durch wechselnde Konstellationen in destruktive Muster, mit dem jungen Menschen, aber auch untereinander, sodass es häufig zu einem Erleben von Wut, Enttäuschung und Ohnmachtsgefühlen für den jungen Menschen kommt (vgl. Schwabe et al. 2021: 27).
Peters kritisiert hier ebenfalls den Begriff von Baumann „Systemsprenger“, obwohl dieser betone, dass es sich bei den bezeichneten Kindern und Jugendlichen weder um eine Eigenschaft noch um eine medizinische Diagnose handele, sondern um die deskriptiv gemeinte Bezeichnung eines Verhältnisses zwischen Kindern und Jugendlichen und dem Hilfesystem. Dennoch bleibt der Versuch der Erklärung unzureichend und es wird eindeutig die Perspektive der Organisation formuliert und dem Kind oder Jugendlichen die negative Rolle zugeschrieben. Es wird hervorgehoben, die Betroffenen stören Regeln und Routinen einer gegebenen Organisation so stark, sodass sie gegebenenfalls untragbar werden und letztendlich die Einrichtung verlassen zu müssen. (vgl. Peters 2019: 7). Trotz der genannten Erklärungen von Baumann wirke der Begriff „naturalisierend“ und „vereigenschaftlichend“, kein Kind oderJugendlicherwerde sich selbst so bezeichnen (ebd.).
Die Auseinandersetzung mit den Begrifflichkeiten zur Bestimmung der Zielgruppe verdeutlicht die fehlende allgemein akzeptierte Definition der gemeinten Kinder und Jugendlichen. Der Terminus „Systemsprenger“ und die aufgeführten Bezeichnungen bleiben aus unterschiedlichen Fachrichtungen höchst umstritten. Obwohl es sich nicht um eine neue Zielgruppe handelt, sondern diese schon seit jeher zu den Adressaten der Kinder- und Jugendhilfe gehört und die Konzepte der verschiedenen Einrichtungen an ihre Grenzen kommen oder eine Einstufung als nicht mehr bedarfsgerecht erfolgt, bleibt eine klare Definition bis heute aus (vgl. Kieslinger et al. 2021:17). Die Zuordnung, welche Kinder und Jugendlichen dieser Zielgruppe zugeschrieben werden, liegt zumeist auch in der Haltung und in der Definitionsmacht von Fachkräften, sodass die Zuschreibungen und Definitionen aus berufsethischer und fachpolitischer Perspektive grundsätzlich kritisch zu hinterfragen sind (vgl. Seiser2019: 28).
Eine eindeutige Definition der Zielgruppe scheint nicht möglich, da die sehr unterschiedlich beschriebenen Phänomene der Kinder und Jugendlichen, die als schwierig erlebt werden, und die sich daraus resultierenden Analysen sich im Zeitverlauf wandeln. In dieser Arbeit wird aufgrund der sich oft negativ zuschreibenden Definitionen und um eine Stigmatisierung zu vermeiden, die Zielgruppe als „Kinder und Jugendliche mit Abbrüchen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe“ bezeichnet. Die Begrifflichkeit ermöglicht es, sachlich die Problemlage derZielgruppe zu benennen und nicht die Eigenschaften und das Verhalten des jungen Menschen oder ausschließlich das Helfersystem in den Fokus zu rücken.
2.2 Charakteristik der Kinder und Jugendlichen mit Abbrüchen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe
Macsenare charakterisiert die „schwierigen“ jungen Menschen, die schon mehrere hochschwellige Hilfemaßnahmen durchlaufen haben, in seiner Evaluationsstudie Erzierherische Hilfen (EVAS), die sich seit 1999 in erster Linie mit den unterschiedlichen Effekten der Jugendhilfemaßnahmen beschäftigt, gegenüber Kindern und Jugendlichen mit geringer Jugendhilfevorerfahrung wie folgt:
- Der Hilfebeginn findet in einem merklich höheren Alter (ab 13,2 Jahren zu 11,7 Jahren) statt.
- Es gehen häufig Wohnungs- und Schulwechsel voraus.
- Das Sorgerecht liegt häufiger bei einem Vormund und seltener bei beiden Elternteilen.
- Der Anlass der Hilfen sind häufiger vielfältige Problemlagen, wie dissoziale Störungen, Straffälligkeit, Suchtgefährdung und Abgängigkeiten. Es treten hingegen seltener Leistungsprobleme auf. Bei Entwicklungsdefiziten und internalisierenden Störungen liegt kein Unterschied vor.
- Bei den familienbezogenen Hilfeanlässen liegen bei zumindest einem Elternteil häufiger häusliche Konflikte, Kindesmissbrauch und psychische Erkrankungen vor.
- Die betroffenen jungen Menschen verfügen nach Mascenaere über erheblich weniger Ressourcen und Schutzfaktoren als die andere Gruppe.
- Des Weiteren haben sie bedeutend mehr Defizite: angeführt werden dabei polizeilich ermittelte Straftaten (31,3% versus 15,9%) und Verurteilungen (14,3% versus 6,9%), in doppelter Häufigkeit. Der Anteil von Drogenkonsum (54,1% versus 32,6%) ist ebenfalls erhöht. Diagnosen und Symptome wie ADHS, aggressives Verhalten, Delinquenz, dissoziales Verhalten, Bindungsstörung, Auffälligkeiten im Sexualverhalten, Drogenmissbrauch, Ängste/ Panikattacken und depressive Verstimmungen liegen häufigervor.
Die Studie hat ergeben, dass durch die Anzahl der Risikofaktoren die Erfolgswahrscheinlichkeit von Hilfen zur Erziehung erheblich reduziert wird (vgl. Macsenaere 2018: 310f.).
Die beschriebenen Kinder und Jugendlichen zeichnen sich durch einen komplexen Hilfebedarf aus, da durch die besondere Kumulation von Risikofaktoren die Häufung von psychischen Störungen besonders hoch ist. Studien zur Häufigkeit psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen in deutschen und schweizerischen Jugendhilfeeinrichtungen (Dölitzsch et al.
2014, Schmid et al. 2008, Schmid et al. 2014) haben ergeben, dass das Vorliegen einer psychischen Störung mit einem besonders hohen Anteil von ca. 60-75 % in der stationären Jugendhilfe, anderen Hilfen zur Erziehung oder der Eingliederungshilfe geschätzt wird. Verschiedene Diagnosen verdeutlichen das enorme Spektrum der psychischen Belastungen. Häufig leiden die Kinder und Jugendlichen an Störungen des Sozialverhaltens mit trotzig, impulsiven, aggressiven und dissozialen Verhaltensmustern, mitunter in der Kombination mit emotionalen Störungen. Dazu gehören hyperkinetische Störungen, Persönlichkeitsentwicklungsstörungen, Anpassungsstörungen, Störungen durch Substanzkonsum oder spezifische Traumafolgestörungen. Diese sind in der Folge auf schwierige Lebensumstände, Benachteiligungen, unsichere Bindungen und gehäufte Traumatisierungen zurückzuführen, woraus sich dann oft komplexe Störungen und Symptome entwickelt haben. Die Kinder und Jugendlichen erleben durch die hohe Symptombelastung eine erhebliche Beeinträchtigung im Alltag und eine Teilhabebeschränkung in den verschiedenen Lebensbereichen. Diese wirken sich zum Beispiel auf zwischenmenschliche Beziehungen aus oder mit Schwierigkeiten in der Schule und Ausbildung. Die zahlreichen Auffälligkeiten stellen ein Risiko für die Wirksamkeit von Kinder- und Jugendhilfemaßnahmen dar und führen häufig zu Abbrüchen und dem Scheitern zukünftiger Hilfemaßnahmen (vgl. Groen, Jörn-Presentati 2017: 23 f).
2.3 Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen mit Abbrüchen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe und die Folgen
In der Studie „Kinder, die Systeme sprengen“ (2006-2010) benennt Baumann vordergründig drei problematische Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen:
„Körperliche Gewalt vor allem gegenüber jüngeren Kindern oder den Mitarbeiterinnen der Einrichtung inklusive sexualisierter Gewalthandlungen, offen inzensierter Drogenkonsum sowie Abgängigkeit in Kombination mit selbstgefährdetem Verhalten“ (Baumann 2017: 3f). Aus Erkenntnissen seiner weiteren Analysen definiert Baumann weitere problematische Verhaltensweisen, wie „Selbstverletzungen mit para-suizidalen Tendenzen sowie Zündeln und Brandstiftung. In diesen Verhaltensweisen zeigt sich das hohe Risikopotenzial dieser jungen Menschen, sie vereinen in besonderer Weise Opfer- und Täteranteile in sich“ (ebd.).
Schwabe, Stallmann und Vust unterscheiden bei den riskanten Verhaltensweisen unterschiedliche Risikoquellen:
a) Die Selbstgefährdung
Eine Selbstgefährdung durch den Konsum von Alkohol kann den Verlust der Steuerungsfähigkeit zum Schutze einer adäquaten Selbstsorge nach sich ziehen. In der Folge kommt es zu Verletzungen durch Stürze, zur Erstickung durch Erbrochenes, Erfrierungen oder zu Handlungen in sexueller oder aggressiver Form, die das Risiko schwerer Belastungen, Traumatisierungen oder Schwangerschaft bergen. Wiederholt auftretend besteht eine Gefährdung der eigenen Person oder, im Falle einer Schwangerschaft, dem Ungeborenen irreparable toxische Schädigungen der Leber oder des Gehirns zuzufügen. Beim Missbrauch von Drogen kann es aufgrund von drogeninduzierten Psychosen zu Wahnzuständen kommen, in denen die Gesundheit oder das eigene Leben der Kinder und Jugendlichen gefährdet werden. Weitere Selbstgefährdungen können durch selbstverletzendes Verhalten wie Ritzen, Schnibbeln, Nahrungsverweigerung oder übermäßiges Essen entstehen und zu irreparablen Schädigungen der Gesundheit führen. Ebenso können suizidale Gedanken und daraus resultierende Handlungen das eigene Leben in Gefahr bringen. Weitere Gefährdungen entstehen durch Prostitution oder der Hingabe zu unsicheren, würdeverletzenden, sexuellen Kontakten, die in der Folge zu psychischen wie physischen Schädigungen führen können. Befinden sich die Kinder und Jugendlichen im Zustand von extremer emotionaler Erregung oder psychischer Verwirrtheit, kann dies dazu führen, dass sie unaufmerksam und hektisch im Straßenverkehr agieren und Opfervon Unfällen oder Überfällen werden. Häufig sind sie auch gefährdet, in Abhängigkeitsbeziehungen zu ihren psychisch kranken Eltern oder in die Fänge von Banden, Sekten, Zuhältern zu geraten und durch Ausbeutung und Bevormundung gehindert zu werden, eine altersentsprechende Beschäftigung in der Freizeit auszuleben. Eine weitere Problematik können die Lebensverhältnisse, wie Obdachlosigkeit oder verwahrloste Wohnverhältnisse, sein, die zu unzureichender Körperhygiene oder starken gesundheitlichen Problemen führen können.
b) Die Fremdgefährdung
Eine Fremdgefährdung liegt beispielsweise vor, wenn Kinder und Jugendliche gewalttätige Handlungen ausüben und es zu körperlichen Angriffen auf andere Kinder und Jugendliche oder Fachkräfte in der Einrichtung kommt und dies in Folge von Verletzungen oder massiven Bedrohungen zu psychischen Schäden der Betroffenen führt. Ebenso kann es zu sexuellen Grenzverletzungen kommen, wenn andere Kinder und Jugendliche in sexueller Hinsicht bedrängt oder sexuell missbraucht werden. Ablehnende Signale, Vorbehalte und Ängste werden ignoriert oder das neugierige Verhalten jüngerer Kinder wird für die eigenen Ziele ausgenutzt. Zustände in hoher emotionaler Erregung können durch körperliche, unkontrollierbare, aggressive Handlungen zu erheblicher Verletzungsgefahr aller Beteiligten führen. Auch verbale und körperliche Drohungen in Form von Einschüchterung, um Ängste auszulösen, oder Demütigungen stellen eine erhebliche Fremdgefährdung dar. Weitere Risiken sind die ungeschützte Weitergabe von Krankheiten, wie Hepatitis, AIDS oder anderer Geschlechtskrankheiten, zwanghaftem Verhalten, Unvorsichtigkeit oder das absichtliche Legen von Bränden (vgl. Schwabe et.al. 2021: 171 ff.).
c) Unqeplante Elternschaft
Die Folge ungeplanter Elternschaft für Jugendliche durch Schwangerschaft und Geburt eines Kindes gehen mit erheblichen Herausforderungen für die junge Mutter und den Vater einher. Meist sind sie der Verantwortung, in einem Zustand eigener starker Belastung, kaum gewachsen. Durch eine mangelnde Frühversorgung in der eigenen Kindheit und der schwierigen Lebenslage fehlt neben der emotionalen und kognitiven Reife auch die innere Fähigkeit zur guten Versorgung eines kleinen Kindes. In der Beziehung und Versorgung des Säuglings kommt es häufig zur Kindeswohlgefährdung und dem Erleben eines immer wieder kehrenden Scheiterns und Versagens. Die ungewollte Elternschaft stellt somit ein Risiko für den weiteren Lebensweg der Jugendlichen und auch dem des Kindes dar. Weibliche Jugendliche sind davon meist intensiver betroffen als männliche Jugendliche und trotz der Unterstützung und Betreuung in Mutter-Kind-Einrichtungen kommt es zum Kindesentzug durch eine Inobhutnahme, da das Kindeswohl nicht sichergestellt werden kann.
d) Risiken für Mobiliar und Gebäude
Bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen kommt es häufig durch ihre extremen Verhaltensweisen zu enormen Zerstörungen des Mobiliars der Einrichtung. Obwohl die Wut auf Personen an Gegenständen ausgelebt wird, kann dieses Verhalten dennoch einen Fortschritt in der Wutkontrolle darstellen. Frustrationen über das eigene Leben, dem Gruppenalltag oder im Zuge gruppendynamischer Prozesse können auch zu Zerstörungen führen, die mit absichtlichen Überschwemmungen der Gruppenräume oder absichtlicher Brandstiftung enden und so zu großen wirtschaftlichen Schäden führen. Trotz der Abdeckung durch Versicherungen kann es zwischenzeitlich zu organisatorischen Engpässen und in der Folge finanziellen Einbußen kommen.
e) Risiken für den Ruf des Trägers und der Fachkräfte
Ein nicht kalkulierbares Risiko in der herausfordernden Betreuung der Kinder und Jugendlichen betrifft den Ruf des Trägers. Durch mögliche Folgen, wie beispielsweise Todesfall oder die Aufdeckung von zu laschen oder rigiden pädagogischen Interventionen gegenüber den Kindern und Jugendlichen, kann es zur Schließung eines Angebots, Entlassung von Fachkräften oder der Auflösung eines Trägers führen. Die juristische Klärung und Aufarbeitung solcher Fälle können mehrere Wochen und Monate dauern. Ebenfalls kann eine reißerische Pressemitteilung mit falschen oder lückenhaften Informationen, die nicht zur Aufklärung dient, eher ein falsches Bild in der Öffentlichkeit hinterlassen und Vorurteile schüren (ebd.: 175 ff.)
2.4 Lebensläufe und Entstehunqsbedinqunqen
Baumann weist bezüglich der Entstehungsbedingungen auf Erkenntnisse weiterer Studien (Baumann 2012, Mascenaere 2018, Rätz- Heinisch 2005, Tornow, Ziegler 2012) und auf Erfahrungen von Fachkräften der Sozialen Arbeit in der Praxis mit der Zielgruppe hin. Die Kinder und Jugendlichen, die viele Wechsel erleben, in endlosen Spiralen zwischen verschiedenen Hilfemaßnahmen festzuhängen scheinen und somit wenig ankommen oder sogar einen inneren Abbruch vollziehen, sind auch für das Jugendhilfesystem überdurchschnittlich vielen Problembelastungen ausgesetzt. Auf einer Ebene lassen sich ungünstige Familiendynamiken erkennen, die durch hochstrittige Trennungskonstellationen oder innerfamiliäre Gewalt entstehen oder wo es aufgrund eines psychisch erkrankten Elternteils zu einem impliziten Versorgungsauftrag für das Kind oder Jugendlichen kommt. Ebenso können das Vorliegen einer psychischen Erkrankung, akute Belastungssituationen sowie ein erhöhtes Stresserleben eine Rolle spielen. Auch physiologische Risikokonstellationen, wie neurologische Erkrankungen, hormonelle Störungen, Wahrnehmungsproblematiken, können besonderen Einfluss auf die Autonomieentwicklung in der Adoleszenz nehmen. Kommen soziale Risikofaktoren dazu, wie beispielsweise eine unsichere, unstrukturierte Familiensituation, steigt das Risiko, schwerste Verhaltensprobleme zu entwickeln. Die meisten Kinder und Jugendlichen mit verstörenden, schwierigen Verhaltensproblemen weisen eine Traumatisierung in ihrer Biografie auf (vgl. Baumann 2021: 60).
Die Folgen von schweren Belastungen für Kinder und Jugendliche führen je nach Intensität, Dauer, Alter und zeitlichem Abstand zum traumatischen Ereignis zu einer großen Anzahl von Symptomen. Im weiteren Lebensverlauf geht dies mit einer Vielzahl von Diagnosen und Komorbiditäten einher (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2018: 205). Bei einem Trauma kommt es zu einem vitalen „Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltbilds bewirkt. Insbesondere beim Erleben (nicht Verarbeiten) früher Traumata besteht eine hohe Vulnerabilität, damit eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit für spätere (schwere) seelische Erkrankungen“ (ebd.). Wichtige Standards in der Traumatherapie bei Kindern und Jugendlichen sind die Ressourcenorientierung, die besondere Beachtung von verletzten Sicherheits- und Kontrollbedürfnissen, sowie die Unterstützung und Stabilisierung des Betroffenen durch Bezugspersonen und Umwelt. Dabei kommt einer sicherheitsgebenden Beziehungsgestaltung eine besondere Bedeutung zu (ebd.).
Armut von Familien stellt ebenfalls einen erheblichen Risikofaktor für Kinder und Jugendliche dar und kann aufgrund mangelnderfinanzieller Versorgung zu gesundheitlichen Problemen im Kindesalter führen können (vgl. Köttgen 2007: 8). In der Folge von Armut kommt es häufiger zu emotionaler und körperlicher Vernachlässigung sowie Gewalt in der Familie, die eine erhöhte Prävalenz von Kindeswohlgefährdung nach sich zieht. Die frühen negativen Erfahrungen der Betroffenen können sich später in problematische Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen ausdrücken, indem sie z. B. mittels Gewalt und störender Verhaltensweisen versuchen, auf sich aufmerksam zu machen. Die Faktoren hierfür sind laut Köttgen eine Suchterkrankung der Eltern oder eines Elternteils, Gewalt und Vernachlässigung, wodurch das Risiko der Betroffenen von Geburt an steigt, höhere psychische, soziale und gesundheitliche Schäden zu erleiden. Ein Erleben von Trennungen, Neuzusammensetzungen der Familie oder auch sozialer Isolation, da aufgrund der Wohnverhältnisse keine Spielpartner eingeladen werden, kann eine fehlende Freizeitbeschäftigung zu einem erhöhten Medienkonsum führen. Die ungünstigen Lebensumstände führen zu Entwicklungsbedingungen, die mit einem geringen Selbstwertgefühl, Störungen im emotionalen und sozialen Bereich, innerer Unruhe und einer geringen Konzentrationsfähigkeit einhergehen können (ebd.:17).
Weitere Entstehungsbedingungen und Gründe, warum sich die Kinder und Jugendlichen durch ihre hocheskalierenden Verhaltensweisen immer wieder in einem schwierigen Interaktionsprozess mit dem Hilfesystem befinden, belegt Baumann durch seine Forschungsergebnisse und sieht als zentrales Ergebnis, dass das Verhalten zur Erlangung von Kontrolle dient. Er geht davon aus, dass Kinder und Jugendliche, die durch ihr Verhalten Kontrolle bei situativer Unsicherheit herstellen möchten, nicht in der Lage sind, soziale Situationen angemessen zu deuten, da sie Mimik und Gestik anderer Personen nicht adäquat einschätzen können. Es kommt zu Schwierigkeiten, die eigenen Emotionen und Erlebniszustände sowie von anderen zu erkennen, sodass es zu einem mangelnden Gefühl von Sicherheit kommt. Eine angemessene Grundlage für die eigene Handlungs- und Impulskontrolle zur Einschätzung von Situationen und des Verhaltens anderer Personen fehlt. Ebenso können sie schwer aus Routinen und Beobachtungen lernen, selbst wenn sich der Ablauf immer wiederholt und davon ausgegangen werden könnte, dass es klar ist, ist es dennoch für die Kinder und Jugendlichen nicht eindeutig erkennbar. Die daraus resultierende Unsicherheit kann zur Folge haben, dass es nach der bekannten Strategie verlangt, die die Sicherheit wiederherstellen kann. In einem überschaubaren Rahmen und im einzelnen Kontakt mit den Pädagogen können die Kinder und Jugendlichen oft über einen langen Zeitraum sehr unauffällig agieren. Ändert sich die Situation jedoch und wird durch die Gruppendynamik oder das Hinzukommen von anderen Personen komplexer, kann die Situation plötzlich und unvermittelt eskalieren. In der Folge kann dies zu den in Kapitel 1.3 genannten Verhaltensweisen und einer Gefährdung für alle Beteiligten führen. Das Kind oder der Jugendliche zieht seine Interaktionspartner in ein bestimmtes Verhalten hinein und versucht so, wieder Kontrolle zu erlangen. In bestimmten Situationen kann pädagogische Interaktion gelingen, wobei Krisensituationen sehr eskalativ und nicht vorhersehbar auftreten, sodass Interventionen meist sehr schwierig bleiben. Die häufigen Eskalationen sind auch für die Betroffenen nicht steuerbar und kontrollierbar, da die Entwicklung dieser Strategien meist unter Bedingungen wie starker Angst, Bedrohung oder Irritation erfolgt ist und sich negative Interaktionserfahrungen auch mit Pädagogen weiter verstärkt haben (vgl. Baumann 2017: 5 f.). Des Weiteren kann Kontrolle als Thema im Rahmen der eigenen Biografie über oder gegen das System für die Kinder und Jugendlichen ebenfalls eine Rolle spielen. Hierbei geht Baumann davon aus, dass die verschiedenen Lebensthemen implizite Aufträge und Loyalitätsverpflichtungen beinhalten können. Diese muss das Kind oder der Jugendliche im Rahmen seiner Lebensbewältigung verfolgen, wogegen sich das Annehmen von pädagogischen Hilfen nicht mit seiner Lebenswelt vereinbaren lässt. Es kommt immer wieder vor, dass einige Kinder und Jugendliche in der stationären Jugendhilfe in ihrer Kernfamilie einen Versorgungsauftrag zu erfüllen haben. Dies kann die Versorgung von jüngeren Geschwistern, die Suchterkrankung eines Elternteils oder die Übernahme von Beziehungsund Kommunikationsstrukturen der Eltern betreffen. Die meist unbewussten, geheimen Aufträge können das Einlassen auf pädagogische Prozesse verhindern oderzu unbewussten Loyalitätskonflikten führen. In der Folge kommt es häufig zu Abgrenzungen gegenüber den pädagogischen Maßnahmen, da bestehende Konflikte zwischen Elternhaus und Helfersystem eine ungünstige Dynamik verursachen. Haben die Eltern einer Fremdunterbringung nicht zugestimmt, könnte eine gute Entwicklung bedeuten, dass das Kind oder der Jugendliche sich auf die Seite des Helfersystems stellt. Eine negativ-eskalierende Entwicklung kann dagegen als Loyalitätsbeweis gesehen werden. Die im Rahmen ihrer Biografie erworbenen Autonomieerfahrungen haben die Kinder und Jugendlichen häufig mit Enttäuschung, Verletzung oder sogar Gefahr verbunden und sie konnten keine positive Lebensstrategie entwickeln. Ein Annehmen von Hilfe führt hier zu einer Übertragung und wird als Abhängigkeit empfunden, die nicht zugelassen werden kann (Baumann 2017: 7 f.).
Trotzdem scheint es einen Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Abbrüchen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe zu geben, die über Beziehung steuerbar sind, aber in dieser die absolute Kontrolle benötigen. Dabei können sie sich jedoch nicht auf eine Beziehung im Sinne des gegenseitigen Austausches, der Kooperation, Identitätsfindung oder Bedürfnisbefriedigung, die zum sozialen Kern des Menschen zugerechnet werden können, einlassen. Die Beziehung dient zur Erfüllung eigener Urbedürfnisse, nach Sicherheit, vollkommender Zuwendung und Versorgung, und muss kontrolliert werden. Diese Kontrolle dient der Überprüfung der Tragfähigkeit dieser Beziehung und des umgebenen Netzwerkes. Ein Gefühl der Sicherheit zur Tragfähigkeit der Beziehung während der Interaktion erlangt der junge Mensch nicht, er erwartet ständig die Zurückweisung und den Abbruch oder sogar den Übergriff und provoziert diesen gleichermaßen durch eskalierendes Verhalten oder distanzlose Übergriffshandlungen. Es erfolgt ein Wechselspiel zwischen vollkommenem Einnehmen der Bezugsperson und gleichzeitig des Gefühls der Ablehnung, wenn die Bezugsperson auf Distanz geht, und ein Scheitern der Beziehung. Aufgrund dessen kommt es häufig zu schweren Krisen, um sich zu vergewissern, dass diese Beziehung diese Krisen aushalten kann. Die Handlungsmuster erzwingen ein Kümmern, Regeln und eineAbsprache, der Erwachsene kann diese Krisen nicht verhindern (ebd.).
Die genannten Aspekte kumulieren zu einer individuellen Hoch-Risiko-Konstellation und die betroffenen Kinder und Jugendlichen haben aufgrund ihrer eigenen biografischen Erfahrungen für sich individuelle Bewältigungsstrategien entwickelt, die sich in problematischen Verhaltensweisen und Handlungsweisen äußern. In der Außenwahrnehmung werden diese jedoch als störendes Verhalten und als psychiatrische Symptomatik wahrgenommen und führen immer wieder zu krisenhaften Situation. Bei der Betrachtung dieser komplexen Problemlagen der Kinder und Jugendlichen muss eine Auseinandersetzung mit den Schutz- und Risikofaktoren in der kindlichen Entwicklung und deren Einfluss auf die Ausbildung von Resilienzfaktoren erfolgen.
2.5 Schutz- und Risikofaktoren
Die Ergebnisse der Fallanalysen von Baumann 2012 und Rätz Heinisch 2005 belegen, dass Kinder und Jugendliche mit Abbrüchen in der stationären Jugendhilfe über starke Resilienzfaktoren verfügen. Diese haben ihnen ein Überleben unter sehr schwierigen Umständen gesichert, aber erscheinen mit pädagogischen Regelwerken kaum vereinbar. Diesem Befund folgend, kommt dem Verstehen der Überlebensstrategien und der Dynamik zwischen Risiko- und Resilienzfaktoren eine besondere Bedeutung zu. Das Wort Risiko hat im Zusammenhang mit der Zielgruppe eine gegenteilige Bedeutung, denn die Betroffenen waren nicht nur einem erhöhten Entwicklungsrisiko ausgesetzt, sondern es geht auch von ihnen ein Risiko aus. Hierbei bilden die, wie in Kapitel 1.3 beschriebenen, selbst- und fremdgefährdenden Verhaltensweisen einen enormen Risikofaktor (vgl. Baumann 2017: 3). Riskoerhöhende bzw. riskomildernde Faktoren nehmen Einfluss auf die kindliche Entwicklung und stehen in einer komplexen Wechselwirkung zueinander (Petermann et al. 2004, Resch 2004, Bengel et al. 2009, Fröhlich 2011). Dabei wurden empirisch folgende wesentliche protektive Faktoren identifiziert, die es Kindern und Jugendlichen ermöglichen, eine Widerstandskraft zu erlangen, die bei Belastungen stärkt und die Bewältigungsfähigkeit von Krisensituationen verbessert. Fehlen diese Faktoren, führt dies in der Folge zu einem erhöhten Entwicklungsrisiko (vgl. Fröhlich-Gildhoff2018: 56 f.).
- Es besteht mindestens eine stabile emotionale Beziehung zu einer primären Bezugsperson. Diese Bezugsperson stellt im optimalen Fall meistens ein Elternteil dar. Ist dies nicht der Fall, können auch andere Personen im familiären Umfeld oder professionelle Fachkräfte diese Funktion erfüllen.
- Die Bezugspersonen verfügen über Bindungsfähigkeiten, zeigen empathisches Verhalten und vermitteln so ein sicheres Bindungsverhalten zum Kind.
- Das Erziehungsverhalten ist durch einen autoritativen bzw. demokratischen Erziehungsstil gekennzeichnet und wird durch ein emotional zugewandtes, aber auch klar strukturiertes Erziehungsverhalten geprägt.
- Die Kinder und Jugendlichen erhalten soziale Unterstützung außerhalb der Familie.
- Sie erleben soziale Modelle, in denen ihnen ein angemessenes Bewältigungsverhalten in Krisensituationen vorgelebt wird.
- Es bestehen frühe Möglichkeiten von Selbstwirksamkeitserfahrungen, sodass die Kinder entsprechend positive internale Kontrollerwartungen und Kontrollüberzeugungen herausbilden können. Es bildet sich ein Selbstvertrauen, ein positiver Selbstwert und ein insgesamt positives Selbstkonzept.
- Es Besteht ein Gefühl angemessener sozialer Verantwortlichkeit.
- Die Kinder und Jugendlichen verfügen über kognitive Kompetenzen und angemessene Anregung.
- Sie erhalten der jeweiligen Entwicklungsstufe entsprechende Anforderungen zur Weiterentwicklung.
- Sie haben die Fähigkeit zur Selbststeuerung und Selbstregulation, die mit Unterstützung der Bezugspersonen herausgebildet wird (ebd.).
- Sie besitzen Fantasie.
- Ein Kohärenzgefühl, dem Verständnis von Ereignissen und Erlebnissen, die Bewältigung von Anforderungen und der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns, ist vorhanden.
- Die Erfahrung und das Erleben eines Sinns und der Bedeutung der eigenen Existenz wurde gemacht. Der Glaube kann hierbei eine wichtige Bedeutung haben.
- Sichere sozio-ökonomische Bedingungen sind gegeben.
In der Resilienzforschung wurden die empirische Befundlage und die protektiven Faktoren, denen eine schützende Wirkung für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zugeschrieben wird, in personaler, familiärer und sozialer Ebene gegliedert. Auf personaler Ebene werden verschiedene Faktoren, wie eine positive Lebenseinstellung, kognitive Fähigkeit, wie zumindest eine durchschnittliche Intelligenz, schulische Leistungen, realistische Selbsteinschätzung und Zielorientierung sowie eine ausgeprägte Selbstwirksamkeit angeführt. Ebenso wird die soziale Kompetenz von Kindern und Jugendlichen als wichtiger Schutzfaktor bewertet. Auf der Ebene der familiären Schutzfaktoren ist die Beziehungs-, Bindungs- und Erziehungsqualität von besonderer Bedeutung, da eine sichere Bindung und eine positive Beziehung eine schützende und auch indirekte Wirkung auf die Entwicklung personaler Schutzfaktoren haben. Eine familiäre Stabilität und ein positives Familienklima bilden dabei eine wichtige Grundlage, wobei der Erziehungsstil auf Basis einer positiven Beziehung ebenfalls vor vielfältigen Risikobedingungen schützen kann. Die Qualität der Beziehung der Eltern untereinander, vor allem wenn sie eine harmonische Beziehung führen und Konflikte konstruktiv gelöst werden, stehen im Zusammenhang mit einer resilienten Entwicklung (vgl. Bengel et.al. 2009: 157). Die Ergebnisse der BELLA-Studie zum seelischen Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen (Klasen et al. 2017) verdeutlichen, dass das Risiko einer psychischen Auffälligkeit für ein Kind doppelt so hoch ist, wenn bereits ein Elternteil selbst von einer psychischen Störung betroffen ist. Die Eltern nehmen bezüglich des kindlichen Wohlbefindens eine wichtige Rolle ein. Treten mehrere Risikofaktoren gleichzeitig auf oder sind bereits vorhanden, steigt die Prävalenz psychischer Auffälligkeiten erheblich an (vgl. Reiß et.al. 2020:15).
Auf der Ebene der sozialen Schutzfaktoren wird der Fokus auf den Bereich der sozialen Unterstützung gerichtet, der ebenfalls mit einer resilienten Entwicklung in Zusammenhang steht. Auch außerhalb der Familie kann als eine spezifische Form der sozialen Unterstützung eine gute Beziehung zu einer erwachsenen Person eingeordnet werden. Dabei können eine gute Beziehungsqualität und förderliche Eigenschaften, die unterstützend wirken, einen positiven Einfluss nehmen. In Bezug auf Gleichaltrige kann der Kontakt zur prosozialen Peer Group ein Schutzfaktor gegenüber vielfältigen Risikobedingungen darstellen. Besteht der Kontakt jedoch zu Risikogruppen, können auch destabilisierende oder vulnerabilisierende Effekte eintreten. Die Qualität der Bildungsinstitution mit einer guten Schulqualität und einem positiven Schulklima kann ebenfalls als protektiver Faktor benannt werden. Diese liegen auf der Ebene der Beziehungen in der Schule, dem pädagogischen Handlungsraum, der Unterstützung und Akzeptanz der Schüler, sowie der Ausstattung und der Sicherheit. In der Zusammenfassung der drei Kategorien von personalen, familiären und sozialen Schutzfaktoren wird deutlich, wie bedeutend die Beziehung für eine resiliente Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist. Frühe Bindungserfahrungen bestimmen, wie die ersten Entwicklungsaufgaben gelöst werden können und prägen weitere Entwicklungsprozesse. Im wesentlichen Ergebnis der Resilienzforschung wird festgestellt, dass einzelne Schutzfaktoren nicht isoliert voneinander betrachtet werden können, sondern in einer Wechselwirkung zueinanderstehen und sich gegenseitig beeinflussen (vgl. Bengel et.al. 2009: 158). Sind mehrere Schutzfaktoren vorhanden, können diese die Wirkung von Risikofaktoren ausgleichen. Bedeutende Faktoren im Aufbau einer Widerstandfähigkeit gegenüber Risikofaktoren lassen sich somit in positiven sozialen, familiären und schulischen Kontexten finden (vgl Reiß et. al. 2020:15f.).
3 Hilfeformen für Kinder und Jugendliche mit Abbrüchen in der Kinder- und Juqendhilfe
Geraten junge Menschen in schwierige Lebenssituationen, führt dies häufig zu einem erzieherischen Hilfebedarf. Dieser ergibt sich durch den Rechtsanspruch auf erzieherische Hilfen und besteht, wenn eine entsprechende Erziehung zum Wohle des Kindes oder Jugendlichen nicht gewährleistet werden kann und eine geeignete Hilfe für die weitere Entwicklung notwendig ist. Ein breites Hilfespektrum wird in § 27 SGB VIII Hilfen zu Erziehung geregelt und reicht von Erziehungsberatung über ambulante Hilfen bis hin zur Fremdunterbringung von Kindern oder jugendlichen (vgl. Macsenaere 2014: 50).
3.1 Gesetzliche und strukturelle Rahmenbedingungen
Die Jugendhilfe stellt ein wichtiges Unterstützungssystem für Kinder und Jugendliche dar. Im Kinder- und Jugendhilfegesetz des Sozialgesetzbuch (SGB) VIII werden die Aufgaben, Ziele und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, der Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit, die Förderung der Erziehung in der Familie, die Förderung von Kindern in Tagespflegeeinrichtungen, Hilfen zur Erziehung, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche sowie die Hilfen fürjunge Volljährige festgelegt.
In § 1 SBG VIII wird das Recht eines jungen Menschen auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit als allgemeine Zielsetzung benannt. Die verschiedenen Angebote und Leistungen zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen und ihren Familien werden in §§ 27-35 SGB VIII Hilfen zur Erziehung und im § 35a SGB VIII Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit (drohender) seelischer Behinderung geregelt. Ein Rechtsanspruch auf erzieherische Hilfen § 27 abs. 1 SGBV III besteht, wenn eine dem Wohle des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. In den genannten §§ 28-35 sowie § 41 SGB VIII werden für die Umsetzung der Hilfen verschiedene Leistungssettings definiert. Das Leistungsspektrum umfasst ambulante Hilfen, Erziehungsberatung, soziale Gruppenarbeit, Erziehungsbeistandschaft, Sozialpädagogische Familienhilfe, teilstationäre Hilfen, wie Tagesgruppen, und stationäre Hilfen, wie Hilfen außerhalb des Elternhauses, sowie intensive pädagogische Einzelfallhilfen. Bei dem § 35 a SGB VIII der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit (drohender) seelischer Behinderung kommt dem Aspekt der psychotherapeutischen Bedarfe im Leistungsangebot der Kinder- und Jugendhilfe eine besondere Bedeutung zu. Voraussetzung für den Erhalt der Hilfe ist eine länger als sechs Monate dauernde Abweichung der seelischen Gesundheit von einem für das Lebensalter und der Entwicklung angemessenen Zustand und der daraus resultierenden Teilhabebeeinträchtigung. Zur Anerkennung benötigt das Jugendamt eine Stellungnahme des Facharztes und Jugendpsychotherapeuten, der die Teilhabebeeinträchtigung feststellt. Bei der Umsetzung der Hilfen nach § 35a ist die Beteiligung der Gutachter bei der Erstellung des Hilfeplans gemäß § 36 erforderlich. Kommt als Hilfe zur Erziehung eine Auslandsmaßnahme gemäß § 36 Abs. 4 SGB VIII in Betracht, bedarf es ebenfalls der Stellungnahme eines Facharztes oder eines Kinder- und Jugendpsychotherapeuten zur Feststellung einer seelischen Störung. Die Begutachtung soll sicherstellen, dass eine mögliche erforderliche medizinische Versorgung gewährleistet werden kann. Die Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe sind aufgefordert, grundsätzlich mit anderen Stellen und Einrichtungen, unter anderem auch mit Trägern von Sozialleistungen nach § 81 SGB V, zusammenzuarbeiten (vgl. Groen; Jörns-Presentati 2018: 32).
3.2 Erzieherische Hilfen
Kinder und Jugendliche, die Hilfen zur Erziehung gemäß SGB VIII erhalten, stellen eine hochbelastete Risikogruppe dar. Hierbei gelten vor allem Kinder und Jugendliche in stationären Jugendhilfemaßnahmen als eine der am meisten vulnerablen Gruppen in der westlichen Gesellschaft. Die Kinder weisen mehr psychische Probleme und „eine komplexe Psychopathologie auf, die sich durch Bindungsschwierigkeiten, Beziehungsunsicherheit, sexuelles Verhalten, traumabedingte Ängste, Verhaltensprobleme, Unaufmerksamkeit/ Hyperaktivität und teilweise auch Probleme wie Selbstverletzungen und Essverhalten kennzeichnet“ (Tarren-Sweeney2008: 345).
Bei den Kindern und Jugendlichen, bei denen es aufgrund von krisenhaftem Verhalten zu häufigen Abbrüchen aus Hilfeformen kommt, gibt es nur wenige, aber sehr unterschiedliche Betreuungssettings, die in Betracht kommen.
Mögliche Hilfeformen sind:
a) Stationäre Intensivgruppen mit einer Größe von 3-7 Plätzen, die aufgrund besonderer Bedingungen in der Lage sind, mit diesen Kindern und Jugendlichen zu arbeiten
Hierbei ist ein hoher Personalschlüssel von großer Bedeutung, um differenzierte und attraktive Angebote machen zu können, auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen und Selbstwirksamkeitserfahrungen zu ermöglichen. Eine Bereitschaft zur Mitarbeit des Kindes oder Jugendlichen ist die Voraussetzung. Ebenfalls gibt es Hilfemaßnahmen, die eine Betreuung auch im geschlossenen Rahmen anbieten, um so Entweichungen erheblich zu erschweren und eine Arbeit mit den Betroffenen eher zu ermöglichen. Durch klare Tagesstrukturierungen und eine aktive Mitarbeit können sich die Kinder und Jugendlichen im Rahmen von Bewährungsstufen wieder größere Freiheiten in Form von Ausgang und anderes erarbeiten oder auch wieder verlieren. Geschlossene Unterbringungen und freiheitsentziehende Maßnahmen können nur auf Antrag von Eltern oder Vormündern auf Grundlage einer richterlichen Genehmigung gemäß § 1631b Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) umgesetzt werden. Die Zielsetzung in offenen wie geschlossenen Intensivsettings ist die Erziehung in der Gruppe, wo Gleichaltrigen eine wichtige Bedeutung zukommt. Therapeutische Hilfen werden begleitend bei der Hilfeform angeboten und basieren auf Freiwilligkeit oder sind an Verpflichtungen gekoppelt.
b) Niedrigschwellige Angebote, die auf Jugendliche ausgerichtet sind und bei denen die existenzielle Absicherung im Vordergrund steht
Die pädagogische Betreuung wird bewusst abgebaut, um den Jugendlichen zur Ruhe kommen zu lassen. Hiermit steht die aufsuchende Soziale Arbeit im Vordergrund. Die Fachkraft sucht den Jugendlichen in seinem Umfeld auf und bietet niederschwellige Dienstleistungen, wie medizinische Versorgung, Essen, Unterstützung bei behördlichen Angelegenheiten an, die der Jugendliche als nützlich und hilfreich erlebt. Bei solchen minimal invasiven Hilfen bestimmt der Jugendliche selbst viel mit und gestaltet seine Tagestruktur eigenverantwortlich. Dies kann ein Übergang sein, bis die Betroffenen wieder eine klare eigene Perspektive entwickelt haben, und die Rückkehr ins Hilfesystem offenhalten. Angesichts der hohen Kosten und eher mittleren bis niedrigen Erfolgsquoten intensiverer vorheriger Maßnahmen können die niedrigschwelligen Angebote eine gewisse Effizienz aufweisen. Sie stehen aber in der Kritik mit dem Vorwurf eines mangelnden Engagements für das Kindeswohl und der Grundversorgung. Dennoch verhindern sie eine komplette Verwahrlosung und Ablehnung des Hilfesystems.
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- Arbeit zitieren
- Angela Nuzzarello (Autor:in), 2022, Kinder und Jugendliche mit Abbrüchen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Die Bedeutsamkeit von Bindung und Partizipation im Hilfeverlauf, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1347538
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