Die Arbeit widmete sich der Thematik, inwiefern die deutsche Klimaschutzbewegung sich bereits in Teilen radikalisiert hat und ob noch von legitimem Protest oder sogar schon von politischem Extremismus gesprochen werden kann. Dabei fokussierte die Abhandlung die Gruppierungen Fridays for Future, Ende Gelände, Extinction Rebellion und Die Letzte Generation, wodurch sowohl eine Analyse der einzelnen Vereinigungen als auch der "gesamten" Klimaschutzbewegung möglich war.
Kennzeichnend ist, dass die wissenschaftliche Betrachtung des zugrundeliegenden Themas noch am Anfang seiner Geschichte steht. Dieses Phänomen kann, wie es auch häufiger in der Radikalisierungs- beziehungsweise Bewegungsforschung beobachtbar ist, auf die Aktualität des Untersuchungsgegenstandes und die damit zusammenhängende mangelhafte Datenlage zurückgeführt werden. Dabei kann jedoch beobachtet werden, dass vor allem seit der Besetzung von Lützerath vermehrt Beiträge publiziert wurden. Des Weiteren ist einführend zu erwähnen, dass sich sowohl auf internationaler als auch nationaler Ebene bereits vor dem Entstehen der neuzeitlichen Klimaschutzbewegung Beiträge finden lassen. Dennoch würde eine Auflistung jener Studien den erforderlichen Rahmen sprengen und unnötig verkomplizieren. Infolgedessen konzentriert sich der folgende Abschnitt in großen Teilen auf Literaturbeiträge ab 2017/18. Eine ausführlichere Betrachtung des globalen Forschungsstandes bietet Neas et al., an welchem sich der folgende Passus fragmentarisch orientiert, jedoch einen stärkeren Fokus auf die Untersuchungen der deutschen Bewegung legen möchte.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1. „Wer Klimaschutz verhindert, schafft die grüne RAF“
1.1 Forschungsstand
1.2 Verlauf und Methode
2. Begrifflichkeiten und theoretische Konzeptualisierung
2.1 Radikalismus
2.2 Politischer Extremismus
2.3 Radikalisierung
3. Historische Erörterung und empirische Standortbestimmung
3.1 Ursprung und Verlauf seit den 1970er-Jahren
3.1.1. Fridays for Future explizit
3.1.2. Die Letzte Generation, Extinction Rebellion und Ende Gelände
3.2 Empirische Einordnung der Klimaschutzproteste
3.2.1. Konzeptualisierung des Gewaltbegriffs
3.2.2. Juristische Beurteilung
3.2.3. Über die ethische Dimension der Protestaktionen
3.3 Das extremistische Potenzial
3.3.1. „System Change not Climate Change“ – Revolutionäre Energie innerhalb der Klimaschutzbewegung?
3.3.2. Der Einfluss linksextremistischer Gruppierungen
4. Resümee und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
BRD. Bundesrepublik Deutschland
EG. Ende Gelände
FFF….. Fridays for Future
IL.Interventionistische Linke
MLPD Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands
NPD..Nationaldemokratische Partei Deutschland
uG.ums Ganze!
XR… Extinction Rebellion
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Wesentliche Protestfelder der Umweltbewegung in Deutschland seit den 1970er-Jahren
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Merkmale des Radikalismus, Extremismus und Terrorismus
1 „Wer Klimaschutz verhindert, schafft die grüne RAF“
Menschen rennen, Steine fliegen, dann eine Flasche. Plötzlich entflammt der Boden: ein Molotowcocktail. Beschreibungen, die auf vieles zutreffen: den vorherrschenden Bürgerkrieg in Syrien, Anschläge auf Flüchtlingsheime in Deutschland oder die Kundgebung gegen das vom Kohleabbau betroffene Dorf Lützerath. Ungeachtet der Intentionen und Konnotationen der genannten Szenarien würde man Demonstrationen, welche sich auf umweltpolitische Aspekte konzentrieren, wohl am wenigsten mit einem Molotowcocktail assoziieren. Doch neben friedlichem Protest geschah eben jenes am 11. Januar 2023 in der nordrhein-westfälischen Gemeinde.1 Doch was war passiert? Bereits seit den 1920er-Jahren wurden in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) Menschen umgesiedelt und ihre Dörfer für den Kohleabbau geräumt. Im Zuge dieser Maßnahmen verloren über 100.000 Einwohner ihr Zuhause. Fürsprecher des Vorhabens betonten die wirtschaftlichen Interessen und vernachlässigten die klimatologischen Auswirkungen, klassische Gegner des Projekts waren Umweltverbände und vor allem die Partei Bündnis 90/Die Grünen.2 Und so verwunderte es nicht, dass der seit 2021 amtierende grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck noch vor Amtsantritt ein Ende des Kohleabbaus verkündete. Umso überraschter müssen Befürworter des Erhalts der Siedlungen wohl jedoch im Herbst 2022 gewesen sein, als der Bundeswirtschaftsminister, die nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerin Mona Neubaur und der Energieversorgungskonzern RWE die Vereinbarung trafen, den rheinischen Kohleausstieg zwar auf 2030 vorzuziehen, die Gemeinde Lützerath allerdings noch abzubaggern.3 Als Hauptargument führte die schwarz-grün geführte Regierung Nordrhein-Westfalens die auf einem eigenen Gutachten basierende energiepolitische Notwendigkeit an. Diese sei unter anderem auf die durch den Krieg in der Ukraine verursachte „Gasknappheit“ zurückzuführen.4 Gegner des Deals, allen voran einzelne Gruppierungen der deutschen Klimaschutzbewegung wie zum Beispiel Fridays for Future (FFF), Ende Gelände (EG) oder Extinction Rebellion (XR) beriefen sich hingegen auf die Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, welche „die Abbaggerung weiterer Dörfer wegen darunterliegender Braunkohlevorräte […] für den Braunkohlestrombedarf [als] nicht notwendig“ erachtet.5 Das Wirtschaftsministerium wiederum bezeichnete die Berechnungen aufgrund einer vermeintlich inkorrekten Datengrundlage als „nicht vertretbar“.6 Infolgedessen entschieden sich in den Wintermonaten viele Aktivisten, zu den bereits seit 2020 bestehenden Proteststrukturen in Lützerath und Umgebung dazuzustoßen. Ihr deklariertes Ziel war der Erhalt aller Dörfer, welche aufgrund des Kohleabbaus weichen sollten. Ähnlich wie auch bei der Besetzung des Hambacher und Danneröder Forstes, versuchte die Mehrheit der Demonstranten dabei mithilfe von Baumhaustrukturen und Formen des friedlichen Widerstandes die Räumung zu verhindern. Dabei kam es unter anderem zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen polizeilichen Vertretern und einzelnen Teilnehmern. Der beschriebene Molotowcocktail spiegelt dabei nur ein Beispiel wider. So wurde ebenso mit Feuerwerkskörpern geschossen und Steine auf die Polizei geworfen. Doch ließ sich die Staatsmacht von den Protestaktionen wenig beeinflussen und räumte das Dorf trotz mehrmaliger „Rückeroberungsversuche“ der Demonstranten innerhalb weniger Tage.7 Seitdem stilisiert die deutsche Klimaschutzbewegung Lützerath als ein Symbol für den demokratischen und notwendigen Widerstand gegen die vermeintlich klimaschädliche Ausrichtung der Bundesrepublik. Ein anderes Bild zeichnet hingegen der konservative Journalist Julian Reichelt. Er spricht von „Klima-Terror“ sowie „[a]ntikapitalistisch[en] und antidemokratisch[en]“ Taten, welche das Ziel des „Systemsturz[es]“ innehätten.8 Jüngst davor hatte dagegen die Sprachwissenschaftlerin Constanze Spieß den Begriff „Klimaterroristen“ als „Unwort des Jahres“ gekürt, da die Bezeichnung eine diffamierende und verallgemeinernde Kriminalisierung demokratischer Kräfte darstellen würde.9 Tadzio Müller, der sich auf seinem Twitter-Profil selbst als die „Grande Dame des Klimaextremismus“ betitelt und eines der führenden Gesichter der deutschen Klimaschutzbewegung ist, befeuerte indessen noch die Diskussion und bezeichnete die Bildung eines terroristischen Untergrunds als logische Konsequenz: „Wer Klimaschutz verhindert, schafft die grüne RAF.“10 Und auch die Politiker im Bundestag versuchten sich an einer Einstufung zwischen einer „totalitär[er], autoritär[er] [Haltung]“11 und vermeintlicher „Kriminalisierung“12 der Klimaschutzakteure. Die genannten Beispiele unterstreichen die wirre Lage hinsichtlich der Einstufung der Klimaschutzbewegung. Sie verdeutlichen, dass sowohl die Medien, der Staat als auch die Wissenschaft weit entfernt von einem Grundkonsens sind. Will man die gegenwärtigen Gruppierungen jedoch genauer analysieren, ist eine empirische Standortbestimmung unerlässlich. Die wissenschaftliche Betrachtung der aufgezeigten Problematiken scheint infolgedessen unumgänglich. Resultierend daraus möchte sich die Studie mit der Fragestellung auseinandersetzen, inwieweit sich eine Radikalisierung der Protestinhalte und -formen der gegenwärtigen Klimaschutzbewegung in Deutschland feststellen lässt.
Bevor sich anschließend eine Übersicht des Forschungsstandes und des Verlaufes der Arbeit wiederfindet, müssen a priori einige Details erläutert werden. Spricht die Abhandlung von der Klimaschutzbewegung, so sind im Allgemeinen Akteure gemeint, die sich für eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen, eine Neuausrichtung der Klimapolitik und den Stopp der Förderung fossiler Brennstoffe einsetzen.13 Darüber hinaus werden Begrifflichkeiten wie Klimaschutzbewegung, Klimabewegung, Umweltbewegung oder ähnliche als Synonyme verwendet. Diese Bezeichnungen dürfen jedoch nicht mit den einzelnen Untergliederungen verwechselt werden. Die Studie möchte resümierend sowohl eine allgemeine als auch eine auf die verschiedenen Gruppierungen gesonderte Antwort finden. Demgegenüber wird auf den Begriff des Aktivisten verzichtet, da er nur schwer greifbar ist. Hinsichtlich der zeitlichen und örtlichen Dimension konzentriert sich die Arbeit in großen Teilen auf den Analysezeitraum seit 2018 und bezieht sich auf Deutschland. Letztlich ist noch darauf hinzuweisen, dass die Ausführungen trotz der anfangs getroffenen, dramatisch wirkenden Worte keinesfalls die demokratisch und friedlich agierende Umweltbewegung diskreditieren wollen. Werden im Analysepart der Arbeit versucht nun einzelne Beispiele den beiden Konstrukten des Radikalismus und Extremismus zuzuordnen, muss dies im Gesamtzusammenhang betrachtet und ergänzend folgender Aspekt berücksichtigt werden. Radikalismus und vor allem Extremismus können als politische Kampfbegriffe betrachtet werden. Dies bedeutet, dass die jeweiligen extremistischen sowie radikalen Konnotationen meistens durch politische und gesellschaftliche Akteure geprägt werden. Demzufolge besteht die Möglichkeit, dass jene Etikettierungen vorgenommen wurden, um den politischen Feind zu diffamieren, dies aber nicht automatisch heißt, dass tatsächlich radikale oder extremistische Strukturen existieren würden.14 Es gibt somit die Gefahr einer voreiligen Klassifizierung. Wie Jaschke analysiert, bedarf es aufgrund „der Skandalisierung, Ausgrenzung und Ausschaltung politischer Konkurrenz“ mithilfe der Begriffe einer unvoreingenommen und differenzierten Auseinandersetzung.15
1.1 Forschungsstand
Kennzeichnend ist, dass die wissenschaftliche Betrachtung des zugrunde liegenden Themas noch am Anfang seiner Geschichte steht. Dieses Phänomen kann, wie es auch häufiger in der Radikalisierungs- beziehungsweise Bewegungsforschung beobachtbar ist, auf die Aktualität des Untersuchungsgegenstandes und die damit zusammenhängende mangelhafte Datenlage zurückgeführt werden. Dabei kann jedoch beobachtet werden, dass vor allem seit der Besetzung von Lützerath vermehrt Beiträge publiziert wurden. Des Weiteren ist einführend zu erwähnen, dass sich sowohl auf internationaler als auch nationaler Ebene bereits vor dem Entstehen der neuzeitlichen Klimaschutzbewegung Beiträge finden lassen.16 Dennoch würde eine Auflistung jener Studien den erforderlichen Rahmen sprengen und unnötig verkomplizieren. Infolgedessen konzentriert sich der folgende Abschnitt in großen Teilen auf Literaturbeiträge ab 2017/18. Eine ausführlichere Betrachtung des globalen Forschungsstandes bietet Neas et al., an welchem sich der folgende Passus fragmentarisch orientiert, jedoch einen stärkeren Fokus auf die Untersuchungen der deutschen Bewegung legen möchte.17
So können hinsichtlich des geschichtlichen Verlaufs die Beiträge von Boscheinen et al. als auch Brand et al. genannt werden.18 Beide skizzierten den Entwicklungsprozess seit den 1970er-Jahren, wobei Ersterer sich überwiegend mit der aktuellen Entwicklung beschäftigte. Brand und Stöver dahingegen beschrieben ausführlichere historische Eckpunkte vor dem Aufkommen in den 2010-Jahren. Das größte Forschungsfeld findet sich derzeit hinsichtlich der vermeintlichen Radikalisierung der Klimabewegung. So beobachtete Brunnengräber bereits 2013, vor dem Aufkommen der gegenwärtigen Verbände, eine mögliche Radikalisierungsgefahr. Er führte dies auf „Unzufriedenheiten mit dem internationalen System und den kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen“ zurück und kritisierte, dass sich Proteste „nicht zuletzt gegen die repräsentativen Formen internationaler Politik [richteten], die von vielen nationalen und vor allem subnationalen Belangen weit entfernt“ seien.19 Einen aktuelleren Beitrag bietet zum Beispiel der Soziologe Nils Kumkar. Er analysierte unter der Berücksichtigung einer fehlenden quantitativen und qualitativen Datenlage eine kaum messbare Radikalisierung innerhalb der allgemeinen Klimaschutzbewegung. Er bemängelte zudem eine überproportionale mediale Fokussierung auf bestimmte gewaltbereitere Teile im Vergleich zu der mehrheitlich friedlichen Bewegung.20 In einzelnen Beträgen des Science Media Centers warnten Robin Celikates und andere Forscher vor einer Verallgemeinerung der Medien. So sprach er in seinen Ausführungen gar von „völlig überzogene[n] Diskreditierungsversuche[n]“ bezüglich des „Schreckgespenst[es] eines neuen Ökoterrorismus“. Sie kamen im Allgemeinen zum Ergebnis, dass zwar eine Radikalisierung in den Protestformen festzustellen sei, diese aber aufgrund ihrer Gewaltfreiheit gegenüber Menschen dem demokratischen zivilen Ungehorsam angehören würden. Darüber hinaus kritisierten sie die Gleichsetzung von gewalttätigen Einzelpersonen und Kleingruppen gegenüber der allgemeinen Klimabewegung.21 Die französische Politologin Sylvie Ollitrault schlussfolgerte in ihren Ausführungen dahingegen, dass die Aufstände von einer militanten Generation angeführt werden, welche die Problematiken teilweise im kapitalistischen System sehen und für eine drastische Veränderung der Konsumgesellschaft plädieren.22 Als einer von wenigen präsentierte Alexander Ruser eine vergleichende Untersuchung, welche sich nicht nur speziell auf eine Gruppierung konzentriert. Er kam zum Ergebnis, dass es sich bei Fridays for Future um ein „Beispiel für radikale Konformität“ handelt, welches unter der Einhaltung demokratischer Prinzipien auf die Folgen des Klimawandels mittels provozierender Aktionen hinweisen möchte. Dahingegen versah der Soziologe das Bündnis „Ende Gelände“ mit dem Label einer demokratieschädlichen Vereinigung, welche die „Legitimität kapitalistischer (Energie-)Produktion als auch die Effektivität demokratischer Beteiligungsformen in Frage [stellt].“23 Letztlich ist noch auf die aktuelle „Spotlight“-Ausgabe des Peace Research Institute Frankfurt einzugehen. Darin attestierte Daniel Mullis keine generelle Radikalisierung der Klimaschutzbewegung. So wurden „in Lützerath, wie auch bei den Auseinandersetzungen um den Hambacher […] und Dannenröder Forst […] Grenzen des zivilen Ungehorsams deutlich überschritten“, jedoch repräsentieren diese Übertretungen im Vergleich zu den demokratischen Bemühungen und artverwandten historischen Protesten der 1970er- und 80er-Jahre nur einen geringen Teil.24 Darüber hinaus müssen noch die qualitativ herausstechenden Beträge Varwicks sowie von Garcia-Gibson thematisiert werden. Ersterer prognostizierte den „Weg in die ‚Ökodiktatur‘“, sollten sich die Politiker nicht von der „Kunst des Möglichen“ entfernen und zu radikaleren und systemverändernden Mitteln greifen.25 Er sieht die Radikalisierung einzelner Protestteilnehmer aufgrund des Dilemmas der trägen Realpolitik somit als ein zwangsläufiges Ergebnis an. Der in London forschende Francisco Garcia-Gibson erläuterte in seinem Fachbeitrag dahingegen den Unterschied zwischen „persuasive“ und „coercive protests“.26 Wollen die einen mit deliberativen Mitteln die Bevölkerung von ihren Vorstellungen überzeugen, sieht er die Absicht radikalerer Individuen in der Änderung der Verhaltensweisen durch Drohung. Die Protestformen der Letztgenannten ordnete er dabei eindeutig als undemokratisch ein. Gleichzeitig sieht er in ihnen jedoch aufgrund der bedrohlichen Auswirkungen des Klimawandels eine gewisse Notwendigkeit:
„Climate change poses such an extremely serious threat to basic rights worldwide – risking hundreds of millions of lives – that people’s right to democracy is outweighed when infringing it is a necessary means for achieving climate change mitigation.“27
Explizit mit der Thematik des zivilen Ungehorsams setzte sich Robin Celikates ebenfalls auseinander. Er labelte die Sichtweise, dass Aktionen des zivilen Ungehorsams oftmals mit vollkommen gewaltfreien und symbolischen Akten verbunden werden, als zu kurz gegriffen. Der Sozialwissenschaftler kritisierte darüber hinaus die unpräzise juristische Einstufung von Gewalttaten und plädierte für einen offeneren Definitionsrahmen des „zivilen Ungehorsams“.28 Auch Kiesewetter und Teune widmeten sich diesem Sachverhalt in ihren Beiträgen.29
Bezüglich quantitativer Analysen auf internationaler Ebene sind die Untersuchungen unter der Führung Wahlströms, de Moors und Zamponis zu nennen.30 Die Studien näherten sich dabei allesamt den Fragen der demografischen Zusammensetzung und Mobilisierungsmotive der Fridays for Future-Demonstranten an. Aus deutscher Sicht analysierten Haunss et al. sowie Neubauer und Gardner die Datensätze.31 Weitere, eigenständig durchgeführte Untersuchungen bieten darüber hinaus Sebastian Koos und Franziska Lauth, welche Ergebnisse zweier Befragungen im Mai und September 2019 aus Konstanz präsentierten. Sommer et al. konzentrierten sich auf Demonstrationen im Kreis Berlin und Bremen.32 Bezogen auf die Analyse der Motivationshintergründe ist außerdem der Beitrag von Wallis und Loy zu erwähnen.33 Sie kamen zum Ergebnis, dass Demonstrationsteilnehmer vor allem durch den Wunsch der verpflichtenden Einhaltung ihrer persönlichen Normen und Werte angetrieben werden. Darüber hinaus können zwischenmenschliche Beziehungen von Außenstehenden und Mitgliedern der Umweltbewegung eine prägende Rolle spielen. Aus psychoanalytischer Sichtweise bietet die Studie von Kleres und Wettergren spannende Einblicke.34 Sie stellten möglichen einen Zusammenhang zwischen den Emotionen Furcht, Hoffnung, Wut und Schuld und den Handlungsmotiven von Mitgliedern der Klimabewegung fest. Einen ähnlichen Weg wählten die Untersuchungen von Nicolai beziehungsweise Jansma et al., welche einerseits Zorn und andererseits kollektive Unrechtserfahrungen als mögliche psychologische Erklärungsmuster bezüglich Radikalisierungsbeobachtungen anführten.35 Betreffend textbasierter Untersuchungen stechen die Beträge von Holmberg und Alvinius sowie Evensen heraus.36 Beide kritisierten unter Bezugnahme der Reden von Greta Thunberg als Stellvertreterin der FFF-Bewegung die eindimensionale Rhetorik des „Vertrauens in die Wissenschaft“ und empfehlen den Weg hinzu mehr normativen und ethischen Begründungen. Erweiternde Erkenntnisse hinsichtlich populistischer Gefahren bietet darüber hinaus der Beitrag von Fritz Reusswig und Beate Küpper. Sie konzentrierten sich in ihren Ausführungen vor allem die Seite der „Klimaschutzgegner“ und identifizierten eine „Fundamentalisierung der Protestinhalte“, eine „Radikalisierung der Protestformen“, eine „Vereinnahmung und Einschüchterung der ‚schweigenden Mehrheit‘“ sowie die „Delegitimierung staatlicher Institutionen und Diffamierung öffentlicher Akteure“ als mögliche Gefahren.37 Kemmerzell et al. fokussierten sich dahingegen auf die vermeintlichen Gemeinsamkeiten des Linkspopulismus und der Inhalte der Klimaschutzbewegung. Sie kamen jedoch zum Ergebnis, dass „ihre Präferenz für expertokratische Politik […], ihre Demokratieskepsis, ihre selektiv kosmopolitische Orientierung sowie ihren sozialen Elitenbias“ als eine Art „Gegenentwurf zum Populismus“ betrachtet werden kann.38 In diesem Kontext muss zudem auf Studien eingegangen werden, welche sich mit dem medialen Framing gegenüber Klimaaktivisten auseinandersetzten. Federführend kann dabei der Aufsatz von Lena von Zabern und Christopher Tulloch angeführt werden, welche sieben Arten von Frames aus drei verschiedenen Nachrichtenagenturen analysierten. Es konnte beobachtet werden, dass Proteste oft mittels Marginalisierung und Entpolitisierung diskreditiert werden.39 Bergmann und Ossewerde erforschten in einer kritischen Diskursanalyse des Weiteren eine altersdiskriminierende Sprache in Beiträgen der Frankfurter Allgemeinen und der Berliner TAZ.40 Goldenbaum und Thompson präsentierten darüber hinaus eine eher allgemeine Zusammenfassung der medialen Berichterstattung in der BRD.41
Als ein gegenwärtig intensiv untersuchtes Gebiet können die Beiträge hinsichtlich linksextremistischer Beeinflussung innerhalb der Klimabewegung bezeichnet werden. So widmete sich beispielsweise der anerkannte Extremismusforscher Armin Pfahl-Traughber mehrfach der Thematik.42 In seinen Analysen kam er zum Ergebnis, dass neben demokratischen Kräften auch extremistische Individuen an Demonstrationen teilnehmen. Des Weiteren wird laut ihm der Versuch unternommen, gemäßigte Mitglieder zu radikalisieren, zu instrumentalisieren und gegebenenfalls als Bündnispartner zu gewinnen. Zu ähnlichen Urteilen kamen Baron sowie Hansen und Hildmann.43 In diesem Kontext müssen darüber hinaus die Untersuchungen von Philipp Currle und Frank Johannsen angesprochen werden, welche sich explizit mit dem Verband der Interventionistischen Linken (IL) befasst haben und ihr den größten Einflussfaktor aller Gruppierungen zusprechen.44 Darüber hinaus thematisierte der Beitrag Tim Seglers die einzelnen Gruppierungen im Speziellen und präsentierte einen wertvollen Überblick.45 Auch der juristische Forschungsbereich thematisierte die Klimaschutzbewegung. So befassten sich zum Beispiel Waltraut Verleih und Lukas Theune mit der rechtlichen Beurteilung der Untersuchungshaft aufgrund von Autobahnblockaden.46 Darüber hinaus ist der Beitrag von Gutmann zu erwähnen. Der Jurist setzte sich mit der Gruppierung „Ende Gelände“ auseinander, die vom Verfassungsschutz als extremistischer Verdachtsfall eingestuft wurde.47 Eine herausragende Rolle für diese Untersuchung spielte zudem Jochen Theurers Monografie „Klimaschutz und Gewalt“.48 Als einer von wenigen versuchte sich der Autor an einer juristischen Bestimmung der definitorischen Grenzen der Gewaltanwendung auf Klimaschutzprotesten und identifizierte Leitlinien zwischen demokratischen Aktionen und rechtsbrechenden Handlungen.
Resümierend können folgende Schwächen des Forschungsstandes charakterisiert werden: ein Fokus auf den Protest meist weißer Jugendlicher im globalen Norden, der von anderer Literatur über Aktivismus im globalen Süden getrennt wird; eine Überbetonung von Massenmobilisierungen und eine ausufernde Betrachtung der Person Greta Thunberg.49 Vor allem die Fokussierung auf die schwedische Klimaaktivistin und ihre Fridays for Future-Initiative muss als schädlich für den wissenschaftlichen Kontext erachtet werden. Studien zu anderen Gruppierungen wie bei Hansen und Arning, welche sich explizit auf Extinction Rebellion konzentrierten oder bei Hendrik Sander, der sich mit den Anti-Kohle-Protesten von Ende Gelände auseinandersetzte, entsprechen eher der Seltenheit.50 Die vorliegende Abhandlung platziert sich zwischen den genannten Forschungen der Protestanalyse und extremistischen Einflussnahme, möchte die verschiedenen Untergliederungen der deutschen Klimaschutzbewegung berücksichtigen und somit eine erweiternde und interdisziplinäre Rolle einnehmen. Besonders hervorzuheben ist hierbei die zweidimensionale Betrachtung mittels juristischer Eingrenzung und ethischer Debatte, welche in der Fachliteratur in diesem Umfang nur selten anzutreffen ist. Vorgreifend ist zudem darauf hinzuweisen, dass die Studie in großen Teilen auf der Protestebene bleibt. Radikalisierungstendenzen der Einstellungsebene außerhalb der Demonstrationen wie beispielsweise eine detaillierte Analyse der Zielsetzungen oder Sprache spielen nur eine untergeordnete Rolle. Erklärungsmuster einer vermeintlichen Radikalisierung werden aufgrund einer unzureichenden Datenlage und somit nur vagen Annahmemöglichkeiten ebenso vernachlässigt.
1.2 Verlauf und Methode
Zum Abschluss des ersten Kapitels wird nachfolgend auf die Struktur sowie angewandte Methode der vorliegenden Studie näher eingegangen. So dient der zweite Abschnitt dem Erlangen der theoretischen Wissensgrundlage. Infolgedessen werden die Terminologien Radikalismus, Extremismus und Radikalisierung hergeleitet und unter der Bezugnahme wissenschaftlicher Ergebnisse intensiv besprochen. Aufgrund der Tatsache, dass der Untersuchungsgegenstand „Klimaschutzbewegung“ als Gruppierung wahrgenommen werden kann, konzentrieren sich die Ausführungen hinsichtlich des Konstruktes der Radikalisierung dabei primär auf gruppendynamische Erklärungsansätze. Der darauffolgende dritte Abschnitt der Untersuchung dient der eigentlichen Beantwortung der Leitfrage. So werden zu Beginn die für eine empirische Vertiefung des Forschungsgebietes unerlässlichen historischen Aspekte der neuzeitlichen Umweltbewegung in Deutschland und ihrer Vorgängerorganisationen erläutert. Im Fokus steht dabei die Frage, was unter der Klimaschutzbewegung überhaupt verstanden werden kann und welche Gruppierungen zu ihr gehören. Aufgrund ihrer herausragenden Rolle werden die Verbände Fridays for Future, Die Letzte Generation, Extinction Rebellion und Ende Gelände gesondert betrachtet. Anschließend befasst sich Kapitel 3.1 mit der Protestanalyse. Der Absatz konzeptualisiert einleitend den gesetzlichen Gewaltbegriff, anhand dessen eine Einstufung der Protestformen gemäß der Leitlinien der deutschen Gesetzeslage vorgenommen wird. Darauffolgend findet eine kritische Auseinandersetzung zwischen jener juristischen Erörterung und der vermeintlich rechtfertigenden ethischen Notwendigkeit der Protestaktionen statt. Anhand dieser zweidimensionalen Untersuchung werden die Proteste abschließend in einen Gesamtzusammenhang gesetzt und gegebenenfalls einem radikalen oder extremistischen Narrativ zugeordnet. Unter Bezugnahme auf die analysierten extremistischen Protestformen wird unter 3.3 nachfolgend auf das extremistische Potenzial einzelner Untergliederungen eingegangen. Darüber hinaus werden Instrumentalisierungsversuche durch linksextremistische Gruppierungen näher erläutert. Abgeschlossen wird die Arbeit im vierten Teil, in welchem die Fragestellung herausgestellt und resümiert wird.
Das methodische Vorgehen der Arbeit ist in den Bereich der qualitativen Einzelfallstudie anzusiedeln. Auch das Gros der zitierten Literatur arbeitet derartig. Dies ist vor allem auf die Aktualität des Untersuchungsgegenstandes und der infolgedessen fehlenden quantitativen Ergebnisgrundlage zurückzuführen. Als zu analysierendes Phänomen kann ein Individuum, eine Gruppe, eine Organisation oder ein gesellschaftliches Teilsystem gesehen werden. Der dieser Abhandlung zugrunde liegende Fall sind die Klimaschutzproteste, an welchen die Merkmale des Radikalismus und Extremismus getestet und gegebenenfalls Radikalisierungstendenzen bestätigt werden sollen. Nach Brüsemeister und Stykow et al. sind Single-Case Studies insbesondere dort sinnvoll, „wenn sie einen Zugang zu einem wenig erforschten gesellschaftlichen Bereich eröffnen“51 oder „die Theorieentwicklung noch nicht weit fortgeschritten ist“.52 Zwar ist das Forschungsgebiet der Radikalisierung alles andere als „nicht weit fortgeschritten“, doch finden sich hinsichtlich der Klimaschutzbewegung kaum verwertbare Studienergebnisse. Vor allem die „Möglichkeit historischer und geografischer Kontextualisierung“ können in diesem Fall als Vorteil erachtet werden.53 Kritiker werfen der Methode aufgrund umfangreicher Interpretationsspielräume zu wenig Objektivität vor. Des Weiteren besteht die Problematik, dass von einem Einzelfall nicht auf die Allgemeinheit geschlossen werden kann und somit nur lückenhaft Theorien entwickelt und getestet werden können. Dementgegen besitzen qualitative Studien aufgrund ihrer intensiven und umfassenden Betrachtungsweise eine Art Korrektiv gegenüber quantitativ-statistische Analysen und ihrer vermeintlichen Oberflächlichkeit.54 Der Erkenntnisgewinn dieser Studie liegt demzufolge nicht nur in ihr selbst, sondern vor allem in der Auswertung unterschiedlicher Fallstudien desselben Themenbereichs und dem Vergleich ihrer Ergebnisse.
2 Begrifflichkeiten und theoretische Konzeptualisierung
Noch bevor im dritten Kapitel eine Analyse des zugrunde liegenden Themenkomplexes unternommen werden kann, sollen nachfolgend die für diese Arbeit essenziellen Fachtermini detailliert erläutert werden. Die einzelnen Untergliederungen, welche den Radikalismus, politischen Extremismus und den Prozess der Radikalisierung näher beleuchten, bedienen sich dabei allesamt dem gleichen Aufbau. So wird anfänglich ein Blick auf die etymologische Geschichte geworfen, welche jeweils von einer ausführlichen Vorstellung wissenschaftlicher Ergebnisse gefolgt ist. Zudem wird sich der Identifikation arbeitsdefinitorischer Merkmale gewidmet, anhand welcher sich die spätere Analyse orientieren soll. Unter der Prämisse, dass der allgemeine Sprachgebrauch die Bezeichnungen oftmals synonym verwendet, dienen die Abschnitte infolgedessen dem Gewinn der vor allem für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand substanziellen Unterscheidungsmerkmale des Wortpaares Radikalismus und Extremismus.55
2.1 Radikalismus
Betrachtet man die etymologischen Aspekte des Terminus Radikalismus, kann man seine Herkunft im lateinischen Ausdruck „radix“, welcher übersetzt „Wurzel“ bedeutet, wiederfinden. Erinnert das Wort anfänglich noch an die Pflanzenkunde, kann es bei weitergehender Begutachtung ebenso mit der „ursprünglichen Herkunft einer Sache“, der „enge[n] Bindung an etwas“ als auch dem Verlangen, zu seinen Ursprüngen zurückzukehren, verbunden werden.56 Erste Erwähnung im Bereich der Politik erfuhr der Ausdruck nach Ulrike Wasmuth während der Französischen Revolution. So wurden im Zuge der Sitzplatzanordnung des Abgeordnetenhauses Parteien als „radikal“ tituliert, sollten sie sich vom parlamentarischen Zentrum an die Ränder bewegen.57 Peter Wende analysiert dahingegen die Vokabel „radical“ im Rahmen der englischen Wahlrechtsreformen sowie die französische, ablehnende Bezeichnung „radicaux“ für republikanische Abgeordnete als mögliche erste Vorläufer.58 Historisch ist zudem darauf hinzuweisen, dass der Terminus nicht zwangsläufig negativ assoziiert wurde. Radikale Narrative führten beispielsweise vor der Einführung des Frauenwahlrechts als auch der Abschaffung des Sklavenhandels zu neuen Denkansätzen und somit aus heutiger Sicht positiven Veränderungen.59 Die Ausdrucksverwendung in Deutschland war von mehrfachen Sinnesänderungen geprägt. So wurde Radikalismus anfänglich vor allem mit der Ideologie des Liberalismus, nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Sozialismus und der Kommunistischen Partei Deutschlands verknüpft. Die Begriffsanwendung war dabei stark von der Machtstellung der jeweiligen politischen Strömung beeinflusst, sodass auch die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei während der 1930er-Jahre als radikale Partei bezeichnet wurde. Dieser Übergang führte dazu, dass der Radikalismus mit antisystemischen Einstellungen gewissermaßen gleichgesetzt wurde.60 Somit erlangte die Bezeichnung seine Assoziation „gegen etwas zu sein“ oder „Widerstand gegen das System zu leisten“. Aufgrund seines universalen und unpräzisen Charakters gelang es dem Begriff jedoch nie, sich im gesellschaftlichen als auch wissenschaftlichen Wortschatz zu etablieren. So ersetzte der frühere Bundesinnenminister Werner Maihofer 1974 die Bezeichnung durch den Begriff „extremistisch“. Taten, welche sich „gegen [die] freiheitlich demokratische Grundordnung wende[n], sie ganz oder teilweise abschaffen“ wollen, wurden seither in der Bundesrepublik nicht mehr dem Radikalismus zugeordnet.61 Dem Wort wohnt seitdem ein kritischer, von der vorherrschenden Meinung abweichender, jedoch nicht systemfeindlicher Geist inne. Solange radikale Individuen darüber hinaus den rechtsstaatlichen Boden nicht verlassen und die „Einsicht der Irrtumsmöglichkeit“ bewahren, kann das Konzept aufgrund pluralismusfördernder Effekte als wertvoll für die Demokratie erachtet werden.62 Betrachtet man den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext aus heutiger Sicht, erfährt der Terminus nur noch wenig Anwendung.63
Der Verfassungsschutz definiert Radikalismus heutzutage als „eine überspitzte, zum Extremen neigende Denk- und Handlungsweise, die gesellschaftliche Probleme und Konflikte bereits ‚von der Wurzel […] her‘ anpacken will.“64 Weiter wird konstatiert, dass radikales Gedankengut weder den „demokratischen Verfassungsstaat“ noch die zugrunde liegenden verfassungsrechtlichen Prinzipien abschaffen möchte. Die Grenze zu extremistischen Aktivitäten zieht das Bundesamt infolgedessen bei Taten, welche nach der Beseitigung der „Grundwerte der freiheitlichen Demokratie“ streben.65 Es ist zu kritisieren, dass jene definitorischen Ansätze keine genaueren Angaben zur Gewaltausprägung der „Denk- und Handlungsweisen“ vornehmen, sodass sie für die vorliegende Analyse unzureichend erscheinen. Einen weiteren Definitionsrahmen bietet dahingegen Astrid Bötticher, welche Radikalismus als eine politische Doktrin ansieht, die von soziopolitischen Bewegungen in emanzipatorischer Art und Weise vertreten wird und die Zielsetzung besitzt, individuelle sowie kollektive Freiheiten gegenüber autoritären und hierarchisch strukturierten Gesellschaften zu verteidigen.66 Weiter heißt es:
“In that sense radicalism, advocating sweeping political change, represents a form of hostility against the status quo and its establishment. Often, its initial milieu is found among the sons and daughters of a bourgeois elite, young people who identify with, and seek to improve, the social conditions of larger sections of the population. […] Radicalism as an ideological mindset tends to be very critical of the existing status quo, pursuing the objective of restructuring and/or overthrowing outdated political structures.”67
Der Radikalismus lehnt darüber hinaus Gewalt ab und konzentriert sich stattdessen auf einen progressiven Reformismus, um seine Ziele zu erreichen.68 Des Weiteren besitzen radikale Narrative nach Bötticher oftmals einen utopischen Kern, welchen sie nicht gewillt sind aufzugeben. Sollten jedoch rationale Argumente ein Mittel zur Zielerfüllung ihrer Weltanschauung darstellen, isolieren sie sich nicht zwangsläufig gegenüber diesen.69 Auch Wirth betont den Verzicht auf jegliche Gewaltlegitimation radikaler Kräfte zur Erreichung ihrer Zielvorstellungen.70 Alternative Ergebnisse hinsichtlich der Gewaltausprägung präsentieren dahingegen Malthaner und Waldmann. Sie definieren radikal als ein
„Einstellungs-, Orientierungs- und Handlungsmuster, [welches] einen Konflikt […] verabsolutier[t] und zum einen ein hohes Maß an Aufopferungs- und Kampfbereitschaft für die verfochtene Sache implizier[t], zum anderen mit der Bereitschaft und unterstellten Notwendigkeit verbunden [ist], für das angestrebte Ziel Gewalt anzuwenden.“71
Auch Moskalenko und McCauley differenzieren zwischen „non-violent political action (activism)“ und „illegal and violent political action (radicalism)“ und rücken damit Gewalt als entscheidenden Faktor in das Zentrum des Konzepts.72 Neben Wissenschaftlern, die Radikalismus entweder einen gewaltsam oder friedlichen Charakter verleihen wollen, gibt es ebenso Forscher, welche beide Möglichkeiten simultan berücksichtigen. So unterscheidet Schmid zwischen „non-violent and democratic“ und „violent and non-democratic“.73 Komplementierend sind zudem die Studien Neumanns sowie von Böckler und Zick aufzuführen, welche dem Radikalismus und Extremismus eine ausgeprägte Interdependenz unterstellen. So wird einerseits von einer Vorstufe74 als auch andererseits Unterstufe75 des Extremismus gesprochen. Diesen Einschätzungen folgt die Arbeit nicht. Wie auch Abay Gaspar kritisch beäugt, werden derartige Konzepte gegenüber „der Eigenständigkeit […] beider Phänomene nicht ausreichend gerecht“.76 Ferner stände der Versuch einer Standortbestimmung aufgrund unzureichender Unterscheidungsmöglichkeiten a priori unter schwierigen Vorzeichen.
Unter Berücksichtigung des historischen Kontextes und den breit gefächerten wissenschaftlichen Forschungsergebnissen definiert die Arbeit Radikalismus als eine übersteigerte und dogmatische sowie heutzutage weitestgehend negativ konnotierte Denkweise, welche das Ziel der gewaltfreien Systemveränderung innehat. Das Prinzip ist dabei ideologieunabhängig sowie nicht zwingend auf eine politische Herrschaftsform fokussiert. Radikales Gedankengut kann dem demokratischen Spektrum zugeordnet werden, ist jedoch nicht mit demokratischem Handeln gleichzusetzen. Die angesprochenen „Leitlinien der Gewaltfreiheit“ sind angestrebtes Ziel, gelten gegenüber Gegenständen gleichwohl nicht unisono. Jedoch wäre eine universelle, extremistische Charakterisierung jener Handlungen, bei denen es zu Gewalt kommt, voreilig und unzureichend. Aufgrund der Tatsache, dass die Fachliteratur keinen engeren Definitionsrahmen hinsichtlich des Gewaltbegriffs absteckt und die Studie infolgedessen keine starren Unterscheidungsgrenzen zwischen Radikalismus und Extremismus ziehen kann, muss dementsprechend sowohl Gewaltquantität als auch Gewaltqualität individuell berücksichtigt werden.
2.2 Politischer Extremismus
Die Ursprünge des Begriffs „Extremismus“ können ebenso auf das Lateinische zurückgeführt werden. Das Wort „extremus“ kann dabei mit dem „Schlimmsten“, dem „Ende“ als auch dem am „weitesten Entfernten“ übersetzt werden. Ergänzend kann die Substantivierung „Extremitas“ als die „äußerste Grenze“ herangezogen werden.77 Trotz seiner antiken Herkunft ist zu berücksichtigen, dass weitere begriffsgeschichtliche Analysen vor der Etablierung der heutigen modernen Demokratie als überflüssig angesehen werden können. Dies beruht darauf, dass die Bezeichnung im Allgemeinen als Antonym zur Demokratie angesehen wird und somit zwangsläufig im Zusammenhang mit der Herrschaftsform betrachtet werden muss.78 Dieser Auffassung wird nicht gefolgt, auch wenn einzelne Studien jene Fixierung auf den demokratischen Rechtsstaat kritisieren und als eindimensionale Charakterisierung ablehnen.79 Erste Erwähnungen finden sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Amerika, aber auch in Großbritannien sowie Frankreich. So versah der amerikanische Senator Daniel Webster Für- und Widersprecher der Sklaverei, insbesondere hinsichtlich ihrer Gewalttätigkeit mit der Bezeichnung.80 Auch die „kompromisslosesten Vertreter der Bürgerkriegsparteien“ wurden nach Kurt Möller um 1850 als Extremisten beschrieben.81 Entgegen der internationalen Verwendung fand der Begriff vergleichsweise späten Eingang in den deutschen Sprachgebrauch. Auch wenn in ihren Schriften nicht näher analysiert, können die Studien Loewensteins, Adornos und Arendts als erste namhafte Beispiele genannt werden.82 Mittels dieser wissenschaftlichen Beiträge, der erläuterten schlechten Stellung des Radikalismus sowie dem Aufkommen der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) und der „Neuen Linken“, gelang es der Vokabel jedoch spätestens ab der Hälfte der 1960er-Jahre an Popularität zu gewinnen.83 Letztendlich erreichte der Terminus 1974 durch die in 2.1 angesprochene Aktualisierung des Bundesverfassungsschutzes eine Vormachtstellung gegenüber dem Radikalismus. Neben der staatlichen Neuauslegung kam es ebenso zu Neuinterpretationen aus wissenschaftlicher Sicht. So kennzeichnete beispielsweise der Soziologe Erwin Scheuch die ehemals rechtsradikale NPD 1970 als rechtsextrem.84
[...]
1 Erl.: Bezogen wird sich hierbei auf die polizeiliche Anordnung während der Räumung von Lützerath am 11. Januar 2023, „das Werfen von Molotow-Cocktails“ zu unterlassen als auch im Internet verbreitete Videos, welchen den Wurf eines Molotow-Cocktails in Lützerath zeigen sollen. Vgl. Polizei NRW AC (2023) und Welt (2023): Minute 1:09–1:19.
2 Boscheinen; Bortfeldt (2021): Seite 8–11.
3 Gesamtes Statement, vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2022).
4 Vgl. Ministerium für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen (2022): Seite 17–20.
5 Hauhenstein; Hainsch; Herpich; u.a. (2022): Seite 6.
6 Ministerium für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen (2022): Seite 29–30.
7 Kerber (2023).
8 Achtung, Reichelt! (2023a, 2023b): siehe Videotitel beziehungsweise -beschreibung.
9 Philipps-Universität Marburg (2023).
10 Schaible (2021).
11 Vgl. Kuhle (2022): Seite 7511.
12 Vgl.
13 Vgl. Pfahl-Traughber (2022): Seite 197.
14 Jaschke (2020): Seite 11.
15 Ders. (2020): Seite 13.
16 Vgl. beispielsweise Gibson (2011) und besonders hervorzuheben Dietz; Garrelts (2013).
17 Vgl. Neas; Ward; Bowman (2022).
18 Boscheinen; Bortfeldt (2021) und Brand; Stöver (2008).
19 Brunnengräber (2013): Seite 369.
20 Kumkar (2022).
21 Celikates (2022a).
22 Ollitrault (2022): Seite 29–30.
23 Ruser (2020): Seite 812–813.
24 Vgl. Mullis (2023): Seite 3.
25 Varwick (2022): Seite 8.
26 Garcia-Gibson (2022): Seite 164–165.
27 Der. (2022): Seite 162.
28 Celikates (2022b, 2023).
29 Kiesewetter (2022) und Teune (2020).
30 Wahlström; Sommer; Kocyba; u.a. (2019), de Moor; Uba; Wahlström; u.a. (2020) und Zamponi; Baukloh; Bertuzzi; u.a. (2022).
31 Haunss; Rucht; Sommer; u.a. (2019) und Neubauer; Gardner (2020).
32 Koos; Lauth (2019) und Sommer; Haunss; Gardner; u.a. (2020).
33 Wallis; Loy (2021).
34 Kleres; Wettergren (2017).
35 Nicolai (2022) und Jansma; Bos; Graaf (2022).
36 Holmberg; Alvinius (2020) und Evensen (2019).
37 Reusswig; Küpper (2022): Seite 33.
38 Kemmerzell; Selk; Sonnicksen (2021): Seite 152–155.
39 von Zabern; Tulloch (2021).
40 Bergmann; Ossewerde (2020).
41 Goldenbaum; Thompson (2020).
42 Pfahl-Traughber (2017, 2022).
43 Baron (2020, 2021) und Hansen; Hildmann (2022).
44 Currle (2020) und Johannsen (2021).
45 Segler (2020).
46 Verleih; Theune (2021).
47 Gutmann (2021).
48 Theurer (2022).
49 Vgl. Neas; Ward; Bowman (2022): Seite 2.
50 Vgl. Hansen; Arning (2021) und Sander (2017).
51 Brüsemeister (2008): Seite 56.
52 Stykow; Daase; MacKenzie; u.a. (2009): Seite 167.
53 Dies. (2009): Seite 163.
54 Mayring (2016): Seite 41–46.
55 Erläuterungen bezüglich der synonymischen Verwendung der Begriffe, vgl. Dzhekova; Stoynova; Kojouharov (2016).
56 Wende (2004): Seite 113–114 und Bötticher (2017a): Seite 62–63.
57 Wasmuth (1997): Seite 107–131.
58 Wende (2004): Seite 116–117.
59 Halbhuber-Gassner; Kappenberg (2020): Seite 8.
60 Jesse (1988): Seite 628.
61 Bundesamt für Verfassungsschutz (1975): Seite 4.
62 Kubel (1972): Seite 1–5.
63 Jaschke (2020): Seite 12.
64 Bundesamt für Verfassungsschutz (o. J.).
65 Ebd.
66 Bötticher (2017b): Seite 74–75.
67 Dies. (2017b): Seite 75.
68 Weiterführende Gedanken zum Prinzip des gewaltfreien Radikalismus, vgl. Dies.; Mareš (2012): Seite 58.
69 Bötticher (2017b): Seite 75.
70 Wirth (2011): Seite 193 und 453.
71 Malthaner; Waldmann (2012): Seite 20.
72 Moskalenko; McCauley (2009): Seite 240.
73 Schmid (2013): Seite 8.
74 Neumann (2013): Seite 4 und Ders. (2017): Seite 17.
75 Böckler; Zick (2015): Seite 101.
76 Abay Gaspar (2019): Seite 2.
77 Georges (2010): Spalte 2640.
78 Kailitz (2013): Seite 244–247.
79 Vgl. beispielhaft Neugebauer (2001): Seite 13.
80 Safire (1996): Seite 14.
81 Möller (2001): Seite 195.
82 Vgl. Loewenstein (1937), Adorno; Frenkel-Brunswik; Levinson; u.a. (1950) und Arendt (1968).
83 Backes; Jesse (1993): Seite 38.
84 Vgl. Scheuch (1970).
- Citar trabajo
- Manuel Talarico (Autor), 2023, Die deutsche Klimaschutzbewegung zwischen demokratischer Rechtsstaatlichkeit und Radikalisierungsgefahr. Wandel im Protest?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1342497
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