Dieses Essay beschäftigt sich mit der Entstehung der Halbtagsschule in Deutschland.
Die heute noch vielfach in Deutschland übliche Halbtagsschule, zunehmend oftmals mit angehängter Nachmittagsbetreuung, ist ein historisch neues Phänomen aus dem 19. Jahrhundert. In Anlehnungen an die Tradition der Kloster- und Domschulen des Mittelalters, wurde der Unterricht von 5 – 6 Stunden täglich an den Latein- und Gelehrtenschulen, aber auch an städtischen Schulen und Dorfschulen grundsätzlich auf Vor- und Nachmittag verteilt.
Von der Ganztagsschule zur Halbtagsschule - eine kurze Geschichte zur Entstehung der Halbtagsschule in Deutschland
Das Projekt Ganztagsschule ist eine Option für eine zukunftsorientierte Bildungspolitik und weitgehend unumstritten. Warum ein Aufsatz zum Thema: - Von der Ganztagsschule zur Halbtagsschule. Der Bildungsforscher Wolfgang Böttcher brachte es auf dem 40. Jubiläum des Elternbund Hessen auf den Punkt mit der Bemerkung: „Wer nach vorne fahren will, sollte mal in den Rückspiegel gucken“ (Böttcher, Vortrag zu „Ausblick Schule 2050“ am 26. 10. 2019).
Die heute noch vielfach in Deutschland übliche Halbtagsschule, zunehmend oftmals mit angehängter Nachmittagsbetreuung, ist ein historisch neues Phänomen aus dem 19. Jahrhundert. In Anlehnungen an die Tradition der Kloster- und Domschulen des Mittelalters, wurde der Unterricht von 5 – 6 Stunden täglich an den Latein- und Gelehrtenschulen, aber auch an städtischen Schulen und Dorfschulen grundsätzlich auf Vor- und Nachmittag verteilt (vergl. Buchholz, Über den Wegfall des Nachmittagsunterrichts, 1901, S. 124).
Da im späten Mittelalter und der beginnenden Neuzeit das Mittagessen gegen 10 Uhr eingenommen wurde, war ein durchgehender Unterricht überhaupt nicht möglich, auch wenn der Unterricht teilweise um 5 Uhr, ab dem 16. und 17. Jahrhundert zunehmend um 6 Uhr begann (vergl. Roeck, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums in der frühen Neuzeit, 2011, S. 337). Der Schule gehörte der ganze Tag. Mittwoch- und Sonnabendnachmittag war i.d.R. unterrichtsfrei (Vergl. Erler, Unterrichtszeit, 1873, S. 601). Diese beiden Nachmittage gehörten entweder der Kirche, oder dienten manchmal auch der Erholung.
Der Stundenplan des Gymnasiums zu Mühlhausen/T. zeigt einen Vormittagsunterricht von 7 – 10 Uhr, der Nachmittagsunterricht fand von 12 bis 15 Uhr statt (StadtA Mühlhausen, 10_E5_Nr. 43_Bd. 1_fol 58, 72f.pdf). Kein Unterricht am Mittwoch- und Sonnabend- nachmittag.
Stundenplan des Gymnasiums von Mühlhausen/Thüringen von 1769
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Auch an Elementarschulen der Neuzeit war diese Aufteilung des Unterrichts üblich, sofern er gegenüber den Interessen der Eltern nach Mitarbeit in der Landwirtschaft durchgesetzt werden konnte. Deshalb fand zumindest in den Sommerschulen nur wenig Unterricht statt. In den Winterschulen dagegen wurde meist Unterricht am Vor- und Nachmittag gehalten. In den städtischen Schulen fand dagegen meist vollständiger Unterricht am Vor- und Nachmittag statt.
Stundenplan der Grünberger Knabenschule von 1800
(Grünberger Knabenschulordnung von 1800, zit. nach Diehl, 1903, S. 401.)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Als die Einnahme des Mittagessens sich ab ca. 1750 zunehmend und schrittweise gegen 12.00 Uhr und später veränderte, wurde ein Spielraum für eine 4. Vormittagsstunde geschaffen. Viele Schulen nutzten diese Möglichkeit. So verblieben z.B. in Preußen meist nur noch 8 Zeitstunden Unterricht am Nachmittag in der Woche. Die 4. Stunde am Vormittag führte jedoch zu einer deutlichen Belastung der Schüler- und der Lehrerschaft, die durch eine zweistündige Mittagspause nicht ausgeglichen werden konnte.
Als Geburtsstätte der modernen Halbtagsschule in Deutschland kann wohl das Johanneum in Hamburg bezeichnet werden. Bereits 1856 hatte die Realschule des Johanneums als erste öffentliche Schule in Deutschland die zweistündige Mittagspause schrittweise abgeschafft, damit die Schüler der ›höheren Schichten‹ rechtzeitig zur Einnahme der (späten) Hauptmahlzeit gegen 16.00 Uhr zu Hause waren. In der Schule gab es dann die Möglichkeit, eine kleine Zwischenmahlzeit einzunehmen (Schulprogrammen der Realschule des Johanneums von 1856, S. 42). Die Gelehrtenschule des Johanneums folgte auf Initiative der Elternschaft 1865 nach. (vergl. Seelmann-Eggebert, Zur Entstehung der Halbtagsschule in Hamburg im 19. Jahrhundert, 2018).
In Berlin war der Stadtschulrat Friedrich Hofmann die treibende Kraft für die Durchsetzung der zumindest teilweisen Abschaffung des Nachmittagsunterrichts an Gymnasien. In einem Vortrag in der ›Gymnasiallehrer-Gesellschaft vom 10. Nov. 1867‹ stellte er seine Vorstellungen zur Vormittagsschule an Berliner Gymnasien vor (Hofmann, Über die für Berliner Schulen zweckmäßige Dauer und Lage der Unterrichtszeit 1867).
„Man wird wohl kaum der Übertreibung beschuldigt werden können, wenn man behauptet, daß an den Tagen, an welchen Nachmittags unterrichtet wird […] durchschnittlich 2 Stunden täglich von unseren Kindern auf den Schulweg verwendet werden müssen. Es leuchtet ein, daß hier blos durch Beseitigung des Nachmittagsunterrichts ein gutes Stück Zeit zur Arbeit und zur Erholung unserer Jugend gewonnen werden kann“ (Hofmann, 1867, S. 22).
Kurz darauf begann man an Berliner Gymnasien, den Nachmittagsunterricht schrittweise abzuschaffen. Nach der Entstehung der ersten Schulen mit durchgehendem Unterricht ohne Mittagspause an Gymnasien in Hamburg folgten also bereits kurze Zeit später Berlin, Stettin, Bremen und Königsberg. In ganz Preußen, vor allem in den nördlichen größeren Städten, stellen die Schulen jetzt Anträge auf Einrichtung des ›ungeteilten‹ Unterrichts, wie man den durchgehenden Unterricht mit der Abschaffung des Nachmittagsunterrichts damals nannte. Es entwickelte sich auf vielen Ebenen ein Streit um die Vor- und Nachteile des ungeteilten Unterrichts, also der Halbtagsschule. Der Psychiater Richard von Krafft-Ebing schrieb in einem Aufsatz - Über gesunde und kranke Nerven - von 1885, dass er von der Schädlichkeit geistiger Überanstrengung überzeugt wäre. Zur Frage der Vormittagsschule gab er eine deutliche Stellungnahme ab:
„Die Tagesarbeit darf nicht auf einen Sitz bis zur Erschöpfung geleistet und von einer viel- stündigen Erholungspause gefolgt sein. Eine solche Einteilung ist fehlerhaft, weil sie zu einer Ermüdung des Gehirns führt, das während einiger Stunden geistigen Ausruhens nicht wieder ausgeglichen werden kann“ (Kraft-Ebing, 1885, S. 58).
Und an anderer Stelle wies er auf die möglichen negativen Folgen eines ungeteilten Schultages für Schüler und Lehrer hin.
„Auf 2 – 3 Stunden geistige Arbeitsstunden sollte eine Erholungspause folgen. […]. Ein Schüler, der 4 Stunden hintereinander zu leisten hat […], leistet weniger und ist mehr angestrengt, als Der, welcher sein Pensum auf Vor- und Nachmittag mit Zwischenpausen einteilen kann […]“ (ebd., S. 85).
1890 wurden die Voraussetzungen für die Errichtung einer Halbtagsschule auch an Gymnasien kleinerer Städte erleichtert. (vergl. Goßler, Gesichtspunkte für die Entscheidung der Frage der thunlichsten Beseitigung des Nachmittagsunterrichts an höheren Schulen vom 12. 5. 1890). Außerdem hatte sich der preußische König und deutsche Kaiser Wilhelm II. wiederholt mehr oder weniger für die Abschaffung des Nachmittagsunterrichts ausgesprochen (Wilhelm II, Eröffnungsrede, 1890). Während die Schulleitungen den Prozess oftmals mit großer Skepsis betrachteten, war die gymnasiale Lehrerschaft an der Abschaffung des Nachmittags- unterrichts sehr interessiert, bescherte er ihnen doch einen freien Nachmittag. Für die Abschaffung des Nachmittagsunterrichts war jedoch eine 5. Unterrichtsstunde am Vormittag notwendig. Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchgeführten Messungen zu den Ermüdungserscheinungen von Kindern und Jugendlichen führten mehrheitlich zu dem
Ergebnis, dass eine 5. Unterrichtsstunde angeblich weniger belastend wäre als eine 1. Unterrichtsstunde am Nachmittag. Um die Elternschaft von der Abschaffung des Nachmittagsunterrichts zu überzeugen, wurde der Nachmittagsunterricht zunehmend als ›gesundheitsgefährdend‹ bezeichnet. Da das preußische Bildungsministerium einer geforderten Reduzierung des Unterrichtsumfangs eine Absage erteilte, forderten die Befürworter des ungeteilten Unterrichts die Reduzierung einer Unterrichtsstunde auf 45 Minuten, um möglichst den gesamten Unterricht in den Vormittag unterbringen zu können. Der Druck auf das preußische Bildungsministerium wurde immer größer. Bereits 1909 wurde in einem Erlass (Einführung der sogenannten Kurzstunden an den höheren Lehranstalten, 1909, S. 811) versuchsweise die 45-Minuten-Stunde genehmigt und 1911 schließlich für alle Gymnasien in Preußen verpflichtend eingeführt (Trott zu Solz, Dauer der Unterrichtsstunden an den höheren Lehranstalten, S. 528/529). Die meisten Gymnasien in Preußen nutzten den Spielraum zur Einführung des ungeteilten Unterrichts, also der modernen Halbtagsschule. Nicht überall war man von der Entwicklung begeistert. Ludwig Humborg berichtet über das städtische Gymnasium zu Münster, dass man eine Vermehrung der freien Nachmittage eher für schädlich als nützlich hielt. „Es könnte bei so manchem Schüler für das spätere Leben die Auffassung festsetzen, als ob der Nachmittag mit Spiel und Erholung zuzubringen sei“ (Humborg, Das Ratsgymnasium zu Münster, 1951, S. 122). Aber die Kurzstunde wurde schließlich auch in Münster eingeführt. 1925 schrieb der Direktor Dr. Hoffschulte:
„Durch die sog. Kurzstunde, die im Winter oft auf 40 Minuten zusammenschrumpft, ist fraglos eine nervöse Hast in unserem Schulbetrieb hineingetragen worden, und allmählich sehen wir alle ganz gut ein, daß es nicht unbedingt notwendig ist, die Schule jeden Nachmittag zu schließen“ (Hoffschulte, zit. nach Humborg, ebd. S. 122).
Die ›Kurzstunde‹ verbreitet sich vor allem nach dem Ersten Weltkrieg sehr rasch in allen preußischen Provinzen. Der Verlust an Lernzeit durch die Kurzstunde konnte nur durch eine Reduzierung des gymnasialen Anspruchs ausgeglichen werden. Das Zusammendrängen des gesamten Unterrichts auf den Vormittag führte zu einer ungünstigen Rhythmisierung des Unterrichtstages mit negativen Folgen für ein erfolgreiches Lernen. In Bayern und Baden-Württemberg war die Ganztagsschule an Gymnasien noch bis 1938 weit verbreitet, bevor sie per Gesetz abgeschafft wurde (vergl. Erziehung und Unterricht in den Höheren Schulen, 1938, S. 24).
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- Citation du texte
- Dr. Guido Seelmann-Eggebert (Auteur), 2021, Von der Ganztagsschule zur Halbtagsschule. Eine kurze Geschichte zur Entstehung der Halbtagsschule in Deutschland, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1340942
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