In einer Rezension über Daniel Kehlmanns Roman "Die Vermessung der Welt" heißt es: „Die Vermessung der Welt hat den entscheidenden Schritt aus der puren Fiktion in die geschichtliche Wirklichkeit gemacht, in der die unscheinbaren Romanhelden […] eine Dosis Glaubwürdigkeit aus den tatsächlichen Leistungen ihrer Karrieren bekommen haben“.
Laut einem Interview Kehlmanns mit der FAZ, sieht Kehlmann gerade darin das schriftstellerische Experiment „ein Buch zu schreiben, das beginnt wie ein Sachbuch“. So nennt er im Eröffnungssatz die einzige Jahreszahl im gesamten Roman: „Im September 1828 verließ der größte Mathematiker des Landes zum ersten mal seit Jahren seine Heimatstadt, um am Deutschen Naturforscherkongress in Berlin teilzunehmen“.
Doch schon in der nächsten Zeile schlägt das „Sachbuchhafte“ ins „Romanhafte“ um: „Selbstverständlich wollte er nicht dorthin“. Es „sollte so klingen“, um es mit den Worten Kehlmanns auszudrücken, „wie ein seriöser Historiker es schreiben würde, wenn er plötzlich verrückt geworden wäre“. Lässt sich somit eine eindeutige Zuordnung dieses Werkes in die Gattung der historischen Romane rechtfertigen? Oder bewegt sich der Roman auf der Ebene einer historiographischen Metafiktion?
Inwiefern gibt es erzählerische Schnittpunkte aus dem Sachbuchgenre der Biographie? Betrachtet man den literarwissenschaftlichen Diskurs, so gab es schon zu Anfängen des historischen Romans stets die Diskussion über die Dialektik von Faktizität und Fiktionalität, aufgefasst als das Grundproblem des Erzählens. Es stellt sich somit zusätzlich die Frage inwieweit Fakt und Fiktion in Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt eine Rolle spielen, beziehungsweise welcher Stellenwert diesen im Roman jeweils zugeschrieben wird.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung:
1.1 Inhalt und Rezension des Romans Die Vermessung der Welt:
2 „Wie ein verrückt gewordener Historiker“:
2.1 Distanz und Nähe:
2.2 Kehlmanns Spiel mit der Wirklichkeit:
3 Die Biografie und die Parallelbiografie:
4 „Die Vermessung der Welt“ als historischer Roman:
4.1 Narrative Strategien des historischen Romans:
4.2 Textvergleich über die Besteigung des Chimborazo - A.v. Humboldt / Meyer-Abich / Kehlmann:
5 Der Schriftsteller als Historiker und Dichter:
6 Literaturverzeichnis:
1 Einleitung:
In einer Rezension über Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt heißt es:
„Die Vermessung der Welt hat den entscheidenden Schritt aus der puren Fiktion in die geschichtliche Wirklichkeit gemacht, in der die unscheinbaren Romanhelden […] eine Dosis Glaubwürdigkeit aus den tatsächlichen Leistungen ihrer Karrieren bekommen haben“ (Anderson, S. 58).
Laut einem Interview Kehlmanns mit der FAZ, sieht Kehlmann gerade darin das schriftstellerische Experiment „ein Buch zu schreiben, das beginnt wie ein Sachbuch“ (Kehlmann: „Ich wollte schreiben wie ein verrückt gewordener Historiker“, S. 33). So nennt er im Eröffnungssatz die einzige Jahreszahl im gesamten Roman:
„Im September 1828 verließ der größte Mathematiker des Landes zum ersten mal seit Jahren seine Heimatstadt, um am Deutschen Naturforscherkongress in Berlin teilzunehmen“ (S.7 in Die Vermessung der Welt später im Roman).
Doch schon in der nächsten Zeile schlägt das „Sachbuchhafte“ ins „Romanhafte“ um: „Selbstverständlich wollte er nicht dorthin“ (ebd; Hervorhebung von Verfasser). Es „sollte so klingen“, um es mit den Worten Kehlmanns auszudrücken, „wie ein seriöser Historiker es schreiben würde, wenn er plötzlich verrückt geworden wäre“ (Kehlmann, S. 33).
Lässt sich somit eine eindeutige Zuordnung dieses Werkes in die Gattung der historischen Romane rechtfertigen? Oder bewegt sich der Roman auf der Ebene einer historiographischen Metafiktion? Inwiefern gibt es erzählerische Schnittpunkte aus dem Sachbuchgenre der Biographie? Betrachtet man den literarwissenschaftlichen Diskurs, so gab es schon zu Anfängen des historischen Romans stets die Diskussion über die Dialektik von Faktizität und Fiktionalität, aufgefasst als das Grundproblem des Erzählens. Es stellt sich somit zusätzlich die Frage inwieweit Fakt und Fiktion in Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt eine Rolle spielen, beziehungsweise welcher Stellenwert diesen im Roman jeweils zugeschrieben wird.
1.1 Inhalt und Rezension des Romans Die Vermessung der Welt :
Ende des 18. Jahrhunderts machen sich zwei junge Deutsche an die Vermessung der Welt. Der eine, Alexander von Humboldt, kämpft sich durch Urwald und Steppe, befährt den Orinoko, der andere, Mathematiker und Astronom Carl Friedrich Gauß beweist auch im heimischen Göttingen, dass der Raum sich krümmt. Alt und berühmt treffen sich die beiden 1828 in Berlin. So ist, laut Klappentext, Die Vermessung der Welt ein raffiniertes Spiel mit Fakten und Fiktionen, ein philosophischer Abenteuerroman. Kehlmanns Die Vermessung der Welt wurde nach seinem Erscheinen 2005 von der Fachwelt durchweg gelobt. Das Buch fand begeisterte Leser im In- und Ausland, stand mehrere Monate in den Bestsellerlisten ganz oben und kam Anfang 2006 in die 17. Auflage. Mangold nennt in seiner Laudatio zur Verleihung des Candide-Preises 2005 an Daniel Kehlmann die euphorische Resonanz der Medienwelt ein wahres „Alexander-von-Humboldt-Feuerwerk“:
„[…] Nicht nur die Zeitungen berichten davon, das Nachrichtenmagazin Spiegel erhebt Humboldt zum Titel-Helden, Redakteure von Tagesthemen und heute-Journal berichten mit glühenden Wangen, Talkshows werden zum preußischen Naturforscher ausgerichtet“ (Mangold, S. 96).
Woher rührt diese Euphorie? Ist es Kehlmanns intelligenter, einzigartig komischer Schreibstil, der „Alexander von Humboldt“ erst richtig lesbar gemacht hat?
2 „Wie ein verrückt gewordener Historiker“:
In diesem Interview mit der FAZ vom 9. Februar 2006 erwähnt Kehlmann seinen Aufenthalt in Mexiko City, gesteht seine Liebe zur südamerikanischen Literatur und erzählt von seiner Entdeckung Humboldts, der in diesen Breitengraden den Menschen noch heute so sehr präsent ist („Humboldt, der zweite Entdecker Amerikas.“ vgl. Ette). In Humboldts Reisewerk sah Kehlmann deutlich den „Deutschen“, der die neue Welt betritt und das Auffallendste für ihn war, „wie sehr Humboldts Reisewerk von speziell deutschen, sehr komischen Situationen und Missverständnissen strotzt“ (S. 26). Auf die Idee seinen Roman Die Vermessung der Welt zu schreiben kam Kehlmann, als er bei seiner Lektüre auf die Tatsache stieß, dass Gauß 1828 bei einem Wissenschaftskongress in Berlin bei Humboldt gewohnt hat:
„Das war der Keim für meinen Roman. […] die beiden alten Männer, der eine, der überall war, der andere, der nirgends war; der eine, der immer Deutschland mit sich getragen hat, der andere, der wirkliche geistige Freiheit verkörpert, ohne je irgendwohin gegangen zu sein“ (S. 27).
2.1 Distanz und Nähe:
Die Vermessung der Welt bezeichnet Kehlmann selbst als einen „experimentellen Roman“, in dem er, bis auf wenige Ausnahmen, ausschließlich die indirekte Rede verwendet. Damit schafft Kehlmann eine Art Distanz zu seinen Figuren, er kommt ihnen nicht zu nahe und grenzt sich damit klar zu dem distanzlosen, (fast schon) trivialen Erzählstil historischer Romane ab. In der „Kollision der Form mit dem Inhalt“ und der fast durchgehenden indirekten Rede scheint Kehlmann wesentlich zur Problematisierung des historischen Romans beizutragen und lässt so eine „Grundironie“ entstehen, die dem ganzen Roman als Fundament gilt (vgl. Zeyringer, S. 36). Dieses Herstellen ironischer Distanz gilt als eine verlässliche Technik, einen Gegenstand gerade so weit von sich weg zu schieben, dass man ihn „noch fassen und doch schon zur Gänze überblicken kann, und zugleich so zu entzaubern, dass man nicht mit vernebeltem Huldigungsblick zu ihm aufschaut“ (Menasse, S. 30).
Kehlmann verschafft sich, neben der indirekten Rede, einen zusätzlichen Abstand zwischen sich und dem Erzählten, indem er das Imperfekt verwendet – man könnte behaupten in Anlehnung an Thomas Mann, der meinte, Geschichten müssten vergangen sein
„und je vergangener, könnte man sagen, desto besser für sie in ihrer Eigenschaft als Geschichten und für den Erzähler, den raunenden Beschwörer des Imperfekts“ (Mann, S. 9).
Eine gewisse Nähe zu seinen Romanfiguren schafft Kehlmann dadurch, dass er nicht nur die spektakulären Entdeckungen, sondern auch die (erfundenen) Umstände dieser Entdeckungen darstellt, wobei er auf auktorial vermittelte Einblicke in die Gefühlswelt der Figuren verzichtet. Diese äußert sich einzig in Handlungen und Gesprächen von Gauß oder Humboldt. So wird Gauß in seiner Hochzeitnacht klar,
„wie man Meßfehler der Planetenbahnen approximativ korrigieren konnte. Er hätte es gern notiert, aber jetzt kroch ihre Hand an seinem Rücken abwärts […] doch er bat um Verzeihung, stand auf, stolperte zum Tisch, tauchte die Feder ein und schrieb, ohne Licht zu machen“ (S. 150 im Roman).
2.2 Kehlmanns Spiel mit der Wirklichkeit:
Kehlmann geht es in seiner Dichtkunst immer um ein „Spiel mit der Wirklichkeit, um das Brechen von Wirklichkeit“, vor allem in seinem Debütroman Beerholms Vorstellung (1997) verschwimmen im Leben des Zauberkünstlers Arthur Beerholm die Grenzen zwischen Realität und Magie, zwischen Wahrheit und Illusion (vgl. Zeyringer, S. 37). Als Beweis dafür lassen sich die im Roman zahlreich erfundenen Zitate, etwa die Ratschläge Goethes zur Erziehung der Brüder Humboldt, anführen. Kehlmann schätzt lateinamerikanische Autoren, die einen „erweiterten Realismus, ein Spiel mit der Wirklichkeit, in Anlehnung an Kafka eingeleitet haben“ (Gollner, S.33). So bezeichnet Kehlmann Humboldt als „Abgesandten Weimars in Macondo“ - eine Bezeichnung, in der Kehlmann den Schauplatz „Macondo“ in Garcia Marquez Roman Hundert Jahre Einsamkeit (1967) anklingen lässt (ebd.). Kehlmanns Erzählen sei „Macondo in Weimar“. Ganz in diesem Stil lassen sich die Schilderungen unerklärlicher Vorgänge in Die Vermessung der Welt einbringen, die nicht weiter als solche reflektiert werden: Das Seeungeheuer und das Ufo, der Geist der Mutter in der Höhle (S. 73), die „so anregenden Zugänge in die Welt der Träume“ (Zeyringer, S. 44).
Im Gegensatz zum klassischen historischen Roman steht die historiographische Metafiktion. Das zentrale Stilmittel ist meist die Parodie bei der Figurendarstellung. Bahnbrechend für die Popularisierung von Metafiktion war das Werk des lateinamerikanischen Autors Jorge Luis Borges.
Kehlmann ist sich aber auch der Grenzen seines literarischen Schaffens bewusst, wie er in dem Gespräch mit der FAZ erläutert:
„Ich kann nicht wie Garcia Marquez eine schöne Frau beim Wäscheaufhängen davonfliegen lassen […] Humboldt ist mein Schlüssel, denn er hat diese Welt betreten, aber er hat sie als Deutscher betreten“ (ebd., S. 27).
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- Stud. phil. Jan Schultheiß (Autor), 2008, Fakt und Fiktion. Über Daniel Kehlmanns 'Die Vermessung der Welt', Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133737
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