Die Selbstverständlichkeit, mit der heute Begriffe wie Erinnerung, Identität, kollektives Gedächtnis und Geschichte im selben Atemzug genannt werden, beruht nicht zuletzt auf einer gewaltigen Zäsur in der Mitte des 20. Jahrhunderts: dem Holocaust. Eng damit verbunden ist das von zahlreichen Überlebenden postulierte Darstellungsverbot des Holocaust mit der Begründung, etwas so Schreckliches und ultimativ Grausames könne niemals in angemessene Worte gefasst, geschweige denn von Nicht-Betroffenen wirklich verstanden werden. Dem steht jedoch die kulturbedingte Notwendigkeit des Erinnerns gegenüber, damit nicht nur die direkt nachgeborenen Generationen, sondern auch die in fernerer Zukunft lebenden Nachkommen von Opfern, Tätern und Zeitgenossen aus diesem historischen Ereignis ihre Lehren ziehen und seine Relevanz im Gedächtnis behalten können.
Die Arten der Darstellung und die hierfür gewählten Medien sind zahlreich und verfolgen unterschiedlichste Zwecke. Populäre Literatur nimmt hierbei einen spezifischen Platz ein, insbesondere dann, wenn es sich um das Schaffen jüdischer Schriftsteller handelt. Ausgehend von zwei zeitgenössischen Romanen jüdisch-amerikanischer Autoren sollen in der vorliegenden Arbeit Rückschlüsse gezogen werden auf die Konstruktion von Identität und kultureller Erinnerung.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Definitionen zentraler Begriffe
2.1. Erinnerung
2.2. Gedächtnis
2.3. Identität
3. Theoretische Grundlagen
3.1. Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis
3.2. Pierre Nora: Les lieux de mémoire
3.3. Aleida und Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis
4. Amerika und der Holocaust
4.1. Entwicklung des jüdisch-amerikanischen Romans seit 1945
4.2. Diskurs und Repräsentation des Holocaust in den USA
5. Verdeutlichung einzelner Aspekte an Hand von zwei Beispielen
5.1. Jonathan Safran Foer: Everything is illuminated
5.1.1. Foer als postmoderner Autor
5.1.2. Generationenkonflikte: Zwei Großväter und zwei Enkel auf einer mythischen Reise nach Osteuropa
5.1.3. Jüdischer Humor, magischer Realismus und die Rechtfertigung von Popliteratur als Mittel zur Traumabewältigung
5.1.4. Autobiographisches Schreiben und Authentizität
5.2. Nicole Krauss: History of love
5.2.1. Postmoderne Elemente bei Krauss: Eine Geschichte auf Reisen
5.2.2. Familienbande? Über die blinden Stellen im Leben der 54 Protagonisten
5.2.3. Elemente jüdischen Erzählens und Spiegelung der jüdischen Kultur
5.2.4. Die Bedeutung der Verschriftlichung von Gurskys Erinnerungen
6. Schlusswort
7. Bibliographie
1. Einleitung
„Novels do not imitate existing versions of memory, but produce, in the act of discourse, that very past which they purport to describe.“1
Diese Aussage von Birgit Neumann fasst prägnant zusammen, worum es in der vorliegenden Arbeit gehen soll. Die wachsende Anzahl an autobiographischen und selbstreflexiven Texten auf dem Buchmarkt zeigt das enorme Bewusstsein für den Themenkomplex Erinnerung und Identität, zumal die Gedächtnisforschung immer deutlicher zu der Erkenntnis gelangt, dass die Identitätsbildung aus der Vergangenheit heraus ein schwieriges Unterfangen ist. Die Kontroverse über die fundamentalen Probleme und Grenzen der Identitätsbildung findet hier ihren Niederschlag. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Forschung werden in Romanen Erinnerungen durch Rekapitulationen geschaffen, die nicht zwangsweise genau der Vergangenheit entsprechen. Dies wirft bei der Leserschaft die Frage auf, wie diese Vergangenheit nun zu deuten ist. Die größte Schwierigkeit besteht hierbei sicherlich in der anhaltenden Debatte um Faktentreue und Authentizität. Populäre Literatur kann eine historisch korrekte und gleichzeitig der persönlichen Erinnerung gerecht werdende Wiedergabe von Erlebnissen häufig nicht leisten, was auch Neumann registriert hat: „Particularly in contemporary fictions of memory, narrative instances often actively interpret, re-interpret, and continually re-create the individual past and the identity built on this past in the act of narration.”2
Die Selbstverständlichkeit, mit der heute Begriffe wie Erinnerung, Identität, kollektives Gedächtnis und Geschichte im selben Atemzug genannt werden, beruht nicht zuletzt auf einer gewaltigen Zäsur in der Mitte des 20. Jahrhunderts: dem Holocaust. Eng damit verbunden ist das von zahlreichen Überlebenden postulierte Darstellungsverbot des Holocaust mit der Begründung, etwas so Schreckliches und ultimativ Grausames könne niemals in angemessene Worte gefasst, geschweige denn von Nicht-Betroffenen wirklich verstanden werden. Dem steht jedoch die kulturbedingte Notwendigkeit des Erinnerns gegenüber, damit nicht nur die direkt nachgeborenen Generationen, sondern auch die in fernerer Zukunft lebenden Nachkommen von Opfern, Tätern und Zeitgenossen aus diesem historischen Ereignis ihre Lehren ziehen und seine Relevanz im Gedächtnis behalten können.
Die Arten der Darstellung und die hierfür gewählten Medien sind zahlreich und verfolgen unterschiedlichste Zwecke. Populäre Literatur nimmt hierbei einen spezifischen Platz ein, insbesondere dann, wenn es sich um das Schaffen jüdischer Schriftsteller handelt. Ausgehend von zwei zeitgenössischen Romanen jüdisch-amerikanischer Autoren sollen in der vorliegenden Arbeit Rückschlüsse gezogen werden auf die Konstruktion von Identität und kultureller Erinnerung. Dabei wird ein erster theoretischer Teil in die benötigten wissenschaftlichen Termini einführen, um anschließend die Theorien von Maurice Halbwachs, Pierre Nora sowie Aleida und Jan Assmann zu erläutern, die beispielhaft für die Entwicklung der Gedächtnisforschung der letzten 60 Jahre sind. Ein überleitendes Kapitel wird sich mit der jüdisch-amerikanischen Literaturgeschichte seit 1945 auseinandersetzen und die seitdem erfolgte Repräsentation des Holocaust in den USA veranschaulichen. Im Hauptteil der Arbeit werden die beiden Romane, Everything is illuminated von Jonathan Safran Foer und The History of Love von Nicole Krauss, an Hand ausgewählter Aspekte analysiert, wobei Parallelen zwischen den beiden Primärtexten als auch Querverweise auf die im ersten Teil angesprochenen wissenschaftlichen Theorien aufgezeigt werden sollen.
2. Definition zentraler Begriffe
2.1. Erinnerung
Erinnerung ist ein Begriff, der aus der Psychologie stammt und das Wiederbeleben von Ereignissen und Erfahrungen bezeichnet.3 Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen Erinnerung und Wissen: erstere speist sich aus dem episodischen Langzeitgedächtnis, in dem persönliche Erlebnisse verarbeitet werden, letzteres bezieht sich auf das Abrufen von zuvor bewusst Gelerntem. Erinnerungen können spontan an die Oberfläche treten, wenn sie durch Bilder, Gerüche, Musik oder ähnliche Assoziationen stimuliert werden; sie können aber auch aktiv abgerufen werden durch konkretes Bewusstmachen eines in der Vergangenheit liegenden Ereignisses („wie war das noch?“). Erinnerung ist jedoch nicht verlässlich, da das menschliche Gehirn ganz intuitiv entscheidet, was es in welcher Intensität speichert und welche Episoden es auslässt. Zudem werden viele Erinnerungen, insbesondere stark emotionale, durch die zeitliche Distanz nostalgisch verklärt und nach eigenem Gutdünken rekonstruiert. Das Erinnerungsvermögen wird in hohem Maße durch soziale Kontakte gestützt, die z.B. als Zeitzeugen fungieren und Details und Abläufe bestätigen. Diese soziale Dimension ist ausschlaggebend für die Entwicklung eines kulturellen Erinnerungsbegriffs, der häufig ein Kollektiv – beispielsweise Familie, Generation, Nation – zum Subjekt hat und dessen Implikationen im Folgenden näher erläutert werden.
2.2. Gedächtnis
Nach bisherigem Forschungsstand ist es nicht gelungen, das Gedächtnis an einem spezifischen Ort im menschlichen Gehirn zu lokalisieren. Es bildet jedoch unstrittig den aktuellen Stand der Wahrnehmungs- und Erlebnisgeschichte eines Menschen ab. Wie Aleida Assmann festgestellt hat, entspricht der Unterschied zwischen Erinnerung und Gedächtnis der Unterscheidung von der Tätigkeit, auf Vergangenes zurückzublicken, und der allgemeinen neurologischen Fähigkeit hierfür.4 Auch der zeitliche Rahmen spielt eine entscheidende Rolle. So ist ihrer Definition nach das Gedächtnis als dauerhafter Speicherort für alles Erlebte zu verstehen; die Erinnerung hingegen stellt etwas Flüchtiges, Gegenwärtiges dar. Begrifflich wird des Weiteren differenziert zwischen episodischem Gedächtnis, das die individuelle Biographie einschließt, dem durch explizites Lernen erworbenen, trainierbaren semantischen Gedächtnis sowie dem prozeduralen Gedächtnis, mit dessen Hilfe Gewohnheitshandlungen verinnerlicht werden.5 Die Rekonstruktivität von Erinnerung gilt als wissenschaftliche Tatsache:
„[...] Erinnern konstruiert Vergangenheit, und zwar auch wissenschaftliches historiographisches Erinnern, das nicht etwa ‚die Vergangenheit’ darstellt, sondern eine Vergangenheit durch Rekurs auf Zeugnisse in erzählenden Sinnzusammenhängen darstellt. Erinnern als aktuelle Sinnproduktion wird erheblich beeinflusst von gestaltendem Erzählen.“6
Dies verdeutlicht, dass das Gedächtnis u.a. nach dem Bedürfnis arbeitet, dem Leben einen erzählenswerten Sinn zu geben und macht es somit gemeinsam mit der Erinnerung zu einem unabdingbaren Imperativ für die menschliche Identitätsbildung. Es bietet Stabilität im Selbstvergewisserungsprozess und ermöglicht zudem – in Schriftkulturen mit Hilfe der dauerhaften Tradierung von Ereignissen - den Zugriff auch auf das, was nicht selbst erlebt wurde. Dieser kollektiv geteilte Erfahrungsschatz wird bei Assmann wie folgt erläutert:
„Darüber hinaus bedarf es der Anlässe und Anstöße, um dieses Wissen durch Aktualisierung, Teilnahme, Auseinandersetzung und Aneignung in eine Form von kollektiv geteiltem Gedächtnis zu verwandeln. Diesen verkörperten und identitätsrelevanten Schatz kulturellen Wissens nennen wir Bildung.“7
Demzufolge sind Kultur, Gedächtnis und auch Erinnerung autokonstitutiv und machen es in Grenzfällen unmöglich zu unterscheiden, was real ist und was lediglich erdacht. Problematisch wird das für die Fachgrenzen, da Psychologie, Geschichts-, Literatur- und Kulturwissenschaften zu verschwimmen drohen. Das zentrale Interesse richtet sich in jüngster Zeit auf neu gewonnene Speichermedien und Übertragungsformen und rückt hierbei auch das literarische Erzählen und Erinnern in ein anderes Licht.
Abschließend soll nun noch das Konzept der Identität wissenschaftlich abgegrenzt werden.
2.3. Identität
Der kontrovers diskutierte Begriff Identität bezeichnet – abstrahiert betrachtet - häufig die Summe der Eigenschaften und Fähigkeiten, die ein Individuum kennzeichnen und unverwechselbar machen. Denkbare Eckpfeiler sind hierbei Geschlecht, Rasse, Sprache, Nationalität, Religion, Beruf und vieles mehr. In Psychologie und Philosophie existieren vielfältige Identitätsmodelle, die sich vor allem durch die jeweils postulierten Faktoren unterscheiden, durch die Identität gestiftet wird. Perspektivisch betrachtet unterscheidet man häufig auch zwischen kollektiver und persönlicher Identität, treffend erläutert in folgendem Kontext:
"[D]ie kollektive Identität ist gebunden an die Ausbildung gruppen-spezifischer Kulturformen und wird in der Regel in struktureller Analogie zur persönlichen Identität gedacht, die traditionellerweise die ganzheitliche ordnungsstiftende Integration von disparaten Selbst- und Welterfahrungen, Selbst- und Fremdentwürfen, Erwartungen und kulturellen Rollenvorgaben in eine relativ statische harmonische Instanz durch Identifikationsprozesse meint."8
Während persönliche Identität durch das sich wandelnde Selbstbild eines Individuums im Spannungsfeld von Gesellschaft und individueller Biographie bestimmt wird, wird kollektive Identität in hohem Maße durch das kulturelle Gedächtnis konstituiert, das sich aus Ritualen, Symbolen und Mythen speist. Sozial bedingte Identität ist zudem eng verknüpft mit der Annahme von Werten und Rollenbildern.
In jüngster Zeit hat die ethnische Identität in Forschung und Öffentlichkeit eine Aufwertung erfahren, was sie in Verbindung mit der Frage nach Authentizität von kulturellen Werten zu einem spannenden Untersuchungsbereich hat wachsen lassen. Im anschließenden Kapitel soll die Funktionsgeschichte des kulturellen Gedächtnisses in groben Zügen erläutert werden.
3. Theoretische Grundlagen
3.1. Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis
Der französische Soziologe und Philosoph Maurice Halbwachs hat mit seiner Schrift La mémoire collective, erschienen 1950 in Paris, den Begriff des kollektiven Gedächtnisses maßgeblich entwickelt und gilt seitdem als geistiger Vater des daraus entstandenen Forschungszweigs.
Die erste grundsätzliche, von ihm aufgestellte Hypothese besteht in der sozialen Bedingtheit von individueller Erinnerung. Unsere Erlebnisse werden überwiegend von unseren Mitmenschen geprägt, indem sie uns eine Begebenheit erzählen, wir ein Buch über etwas lesen oder auch lediglich deshalb auf etwas aufmerksam werden, weil es uns an eine andere Person erinnert. Indem man sich diese Person ins Gedächtnis ruft, fügt man sich in ein Kollektiv ein. Selbst Ereignisse, an die man sich selbst nicht erinnert – beispielsweise weil sie lange zurückliegen – können räumlich und zeitlich verortet werden durch Zeugen wie Freunde und Familienmitglieder, die dieses Erlebnis mit uns geteilt haben und unsere eigenen Erinnerungen somit präzisieren und vervollständigen können. Diesen sozialen Bezugsrahmen nennt Halbwachs cadres sociaux, und die Abhängigkeit der Erinnerung von Sozialisation und Kommunikation kann als Funktion des sozialen Lebens betrachtet werden. Denkschemata, die unsere Wahrnehmung leiten, werden durch diesen sozialen und kulturellen Horizont gestiftet und perspektiviert:
„Es würde in diesem Sinne ein kollektives Gedächtnis und einen gesellschaftlichen Rahmen des Gedächtnisses geben, und unser individuelles Denken wäre in dem Maße fähig sich zu erinnern, wie es sich innerhalb dieses Bezugsrahmens hält und an diesem Gedächtnis partizipiert.“9
Fremde Erinnerungen können die eigenen aber nicht ersetzen: „Folgt daraus, dass das individuelle Gedächtnis in seiner Eigenschaft als Gegenteil des kollektiven Gedächtnisses eine notwendige und hinreichende Voraussetzung für das Auffinden und Wiedererkennen einer Erinnerung darstellt? In keiner Weise.“10 Es ist also eine gemeinsame Grundlage von Nöten, die Zugehörigkeit zur selben Gruppe, die eine gefühlsmäßige Übereinstimmung gewährleist und somit das Übertragen von Erinnerungen ermöglicht. Dennoch ist es denkbar, dass es individuelle Erinnerungen gibt, die nicht von kollektiven Erinnerungen abhängen oder beeinflusst sind. Dies setzt allerdings voraus, dass das Individuum in diesem Augenblick tatsächlich ganz allein gewesen ist.
Halbwachs konstatiert also, dass ein Individuum immer an zwei Gedächtnissen Teil hat, nämlich dem individuellen und dem kollektiven. Es gehört mehreren sozialen Gruppen gleichzeitig an wie Familie, Freundeskreis, Religionsgemeinschaft, Arbeitskollegen etc., wobei in jeder Gruppe unterschiedliche Erfahrungen gemacht werden. Während das individuelle Gedächtnis sich auf das kollektive stützt, umfasst das kollektive die individuellen Gedächtnisse – sie verschmelzen also nicht, sondern das eine stellt eine Teilmenge des anderen dar. Beide sind räumlich und zeitlich begrenzt, die Grenzen sind jedoch nicht dieselben. Dies betrifft beispielsweise das nationale Gedächtnis: Ereignisse im Bestehen einer Nation nehmen auch im individuellen Gedächtnis einen Raum ein, obwohl man von vielen nur gehört oder in der Zeitung gelesen hat. Halbwachs beschreibt dieses eigentümliche Ineinandergreifen wie folgt:
„Mit einem Teil meiner Persönlichkeit bin ich der Gruppe verbunden, sodass nichts, was in ihr vorgeht, so lange ich an ihr teilhabe, nichts sogar, was sie beschäftigt und verändert hat, bevor ich in sie eintrat, mir völlig fremd ist. Aber wenn ich die Erinnerung an ein solches Ereignis in aller Vollständigkeit wiederherstellen wollte, müsste ich all die deformierten und partiellen Wiedergaben vergleichend nebeneinander stellen, die alle Mitglieder der Gruppe von ihm gemacht haben.“11
Diese Aussage impliziert auch schon eine in den vorangegangenen Definitionen vorweggenommene Tatsache, nämlich dass Erinnerungen rekonstruktiv und unverlässlich sind. Dies hat auch Halbwachs erkannt:
„[D]ie Erinnerung ist in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten und wird im übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen vorbereitet, aus denen das Bild von ehemals schon recht verändert hervorgegangen ist.“12
Oft kann man sich an ein konkretes Erlebnis nicht erinnern und sich nur auf historische Daten stützen, um letztlich anzuerkennen, dass es wohl stattgefunden haben muss. Es bleibt die Ungewissheit, ob es sich tatsächlich so zugetragen hat. Andererseits gibt es unzählige Erinnerungen, die für wahrhaftig gehalten werden und die ebenso auf Grund falschen Wiedererkennens und nicht korrekter Zeugenaussagen rekonstruiert worden sind.
Darüber hinaus sind Erinnerungen wandelbar, sie verändern sie ähnlich wie Meinungen und Haltungen im Laufe eines Lebens. Jüngere Erinnerungen überdecken ältere, und die Rolle der Einbildungskraft füllt und färbt unsere Erinnerungen je nachdem, wie wir sie später interpretieren oder sehen wollen: „Der Grund liegt darin, dass das, was wir für einen leeren Raum hielten, in Wirklichkeit nur eine etwas undeutliche Zone war, von der unser Denken sich abwandte, weil es dort zu wenig Spuren fand.“13
Gedächtnis darf jedoch niemals mit Geschichte verwechselt werden; die Begriffe sind in Halbwachs’ Theorie unvereinbar. Das kollektive Gedächtnis ist nur bedeutsam für die Gruppe, die es pflegt – besteht die Gruppe nicht mehr, erlischt es. Es findet keine Entwicklung oder Fortführung statt; stattdessen bildet sich eine neue Gruppe und ein neues Gedächtnis. Die zeitlichen Trennungslinien bleiben unscharf und hängen von der Lebensdauer der jeweiligen Gruppenmitglieder ab. Das impliziert, dass es auch kein universales, unparteiisches Über-Gedächtnis geben kann, sondern lediglich viele parallel existierende kollektive Gedächtnisse, die stark selektiv und rekonstruktiv verfahren. Geschichte beginnt, wo Gedächtnis endet, wo also kein lebendes Kollektiv mehr erinnert.
Kritisch anzumerken ist, dass der Begriff des kollektiven Gedächtnisses von Halbwachs für heutige Forschungszwecke nicht ausreichend differenziert ist. Wie Jan Assmann anmerkte, hat Halbwachs sich nicht zur Rolle der Schrift als Medium kultureller Erinnerung geäußert.14 Dennoch bleibt sein Konzept wegweisend für die modernen Kulturwissenschaften, sobald diese sich mit der Tradierung kulturellen Wissens auseinandersetzen.
3.2. Pierre Nora: Les lieux de mémoire
Pierre Nora, ein französischer Historiker und Mitglied der Académie francaise, hat seinen siebenbändigen Untersuchungen zur kollektiven Identität Frankreichs, Les lieux de mémoire, einen kurzen theoretischen Aufsatz vorangestellt, der im Kontext dieser Arbeit sehr nützlich und aufschlussreich ist. Nach Nora befinden wir uns in der Mitte des 20. Jahrhunderts an einem Punkt des Umbruchs, an dem die Vergangenheit immer tiefer ins Vergessen rutscht und die aktive Erinnerung mehr und mehr abnimmt. Die Konsequenz hieraus ist die Schaffung von Erinnerungsorten: „Es gibt lieux de mémoire, weil es keine milieux de mémoire mehr gibt.“15 Diese Erinnerungsorte stellen eine Art künstlichen Platzhalter dar für das zerrüttete, nicht mehr existente Gedächtnis:
„Hausten wir noch in unserem Gedächtnis, brauchten wir ihm keine Orte zu widmen. Es gäbe keine Orte, weil es kein von der Geschichte herausgerissenes Gedächtnis gäbe. Jede Geste bis zur alltäglichsten würde wie die religiöse Wiederholung dessen erlebt, was immer schon getan wurde, in einer körperlichen Identifizierung von Tat und Sinn. Sobald es eine Spur, Distanz, Vermittlung gibt, befindet man sich nicht mehr im wahren Gedächtnis, sondern in der Geschichte.“16
Die Trennung von Geschichte und Gedächtnis ist für Nora der entscheidende Bruch, an dem seine Theorie ansetzt und die bereits von Halbwachs postulierten Erkenntnisse ausbaut: „Das Gedächtnis ist das Leben [...]. Die Geschichte ist die stets problematische und unvollständige Rekonstruktion dessen, was nicht mehr ist.“17 Nun muss man sich aber bewusst machen, dass die Erinnerungsorte nach Nora nicht lediglich Orte im geographischen Sinne sind, sondern dass der Begriff ein weitaus größeres Feld umfasst: „Die Gedächtnisorte, das sind zunächst Überreste. [...] Das, was eine Gemeinschaft, die bis in ihre Grundfeste in Wandel und Erneuerung hineingerissen ist, künstlich und willentlich ausscheidet, aufrichtet, etabliert, konstruiert, dekretiert, unterhält.“18 Eingeschlossen sind damit eben nicht nur Denkmäler, Gebäude und Kunstwerke aller Art, sondern auch historische Persönlichkeiten, Fest- und Jahrestage, Organisationen und normative Dokumente. Für Frankreich hat Nora u.a. den Eiffelturm, den 14. Juli, das Panthéon, die Marseillaise, die Nationalflagge oder das Wörterbuch von Larousse in seine Kategorisierung eingeschlossen und als lieux de mémoire verstanden. Trotz des Stolzes, den mancher angesichts dieser nationalen Symbole empfinden mag, stehen diese aber auch für eine tiefe Verunsicherung und werfen die Frage nach ihrer Notwendigkeit und Verwendung auf. An die Stelle lebendiger, gelebter Erinnerung sind leblose Objektivationen getreten, die als Stützen dienen. Nora spricht von einem „stummen Wissen“19 und der Umwandlung von Gedächtnis in Geschichte, „das geradezu das Gegenteil des eigentlichen ist: willentlich und bewusst, als Pflicht erlebt und nicht mehr spontan, psychologisch, individuell und subjektiv, nicht mehr sozial, kollektiv, alle und alles umfassend.“20
In seinem Aufsatz bietet Nora auch eine sehr klare Definition der Erinnerungsorte an, die sich an drei Dimensionen messen lassen müssen:
1. der materiellen Dimension, die in der bereits beschriebenen Objektivation von kulturellen Aspekten besteht und die Ausdehnung des Begriffs „Ort“ auch auf symbolische Daten im Sinne von einem „materiellen Ausschnitt einer Zeiteinheit“21 beinhaltet;
2. der funktionalen Dimension, die schon vor der Ernennung zum Erinnerungsort bestanden haben muss; beispielsweise ein Parlamentsgebäude, das vornehmlich Räumlichkeiten für Politiker zur Verfügung stellt, als lieux de mémoire später aber zum Symbol wird;
3. der symbolischen Dimension, die bewusst vollzogen wird und eine zweckgerichtete, materielle Objektivation zum Erinnerungsort überhöht.
Jedoch bleibt Nora dieser Definition im Laufe seines siebenbändigen Werks nicht konsequent treu, denn nach und nach schließt er auch Redensarten und Sprichwörter oder auch soziale, nationaltypische Umgangsformen der Franzosen mit ein, was manchen Kritiker zweifeln lässt, wie streng diese Kriterien tatsächlich erfüllt sein müssen. Man könnte meinen, dass sämtliche kulturelle Phänomene, ob materiell, sozial oder mental, die auf kollektiver Ebene in Verbindung mit nationaler Identität gebracht werden können, als Erinnerungsorte gelten. Nora meint hierzu:
„Das Interessante dieser Skizze einer Typologie liegt nicht in ihrer Strenge oder ihrer Vollständigkeit, nicht einmal in ihrem Anspielungsreichtum. Sondern in der Tatsache, dass sie möglich ist. Sie zeigt, dass ein unsichtbarer Faden die Objekte ohne offenkundige Beziehung zueinander verbindet.“22
Trotz eventueller definitorischer Mängel ist es spannend zu beobachten, dass die Strahlkraft dieses Konzeptes inzwischen auch Wissenschaftler u.a. in Deutschland23, den USA24 und Italien25 inspiriert hat, die Erinnerungsorte ihres Landes zu untersuchen und aufzulisten.
3.3. Aleida und Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis
Die Kulturwissenschaftler und Anglisten bzw. Ägyptologen Aleida und Jan Assmann entwickelten in den 80er Jahren gemeinsam eine Theorie des kulturellen Gedächtnisses, die zentraler Gegenstand der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung wurde und unterschiedlichsten Disziplinen ein neues Forschungsfeld eröffnete.
Jan Assmann hat in diesem Rahmen folgende Definition gewagt:
„Unter dem Begriff Gedächtnis fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und –Riten zusammen, in deren Pflege sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.“26
Zentrale Voraussetzung zum Verständnis dieser Definition ist jedoch die Anerkennung von zwei wesentlichen Gedächtnisrahmen, dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis. Der Begriff des kommunikativen Gedächtnisses knüpft konzeptionell ganz stark an Halbwachs’ mémoire collective an. Auch Jan Assmann ist der Ansicht, dass Erinnerung erst durch das Pflegen einer Erinnerungskultur Vergangenheit rekonstruiert und kulturelles Erinnern wiederum eines Aktes der Belebung bedarf, initiiert durch die Mitglieder einer sozialen Gruppe. Das kommunikative Gedächtnis hat die unmittelbare Vergangenheit zum Gegenstand. Für sie gibt es Zeitzeugen, mit denen Erinnerungen geteilt werden; man spricht auch von einem Generationengedächtnis. Die Gedächtnisform ist abhängig von den Gedächtnisträgern bzw. der Konstitution dieser Trägergemeinschaft. Zeitlich gesehen richtet sich die Bewahrung von Erinnerungen nach dem Lebensalter der Gruppenmitglieder: „Dieser allein durch persönlich verbürgte und kommunizierte Erfahrung gebildete Erinnerungsraum entspricht biblisch den 3-4 Generationen, die etwa für eine Schuld einstehen müssen.“27 Der Grenzwert liegt also bei etwa 80 Jahren; besonders spannend ist aber gerade der Bruch bei der kritischen Schwelle nach 40 Jahren. Zeitzeugen, die während eines konkreten Ereignisses schon erwachsen waren, kommen nun in ein Alter, in dem sie tendenziell auf das Erinnern und Bewahren ihrer Vergangenheit viel Wert legen und Erlebtes weitergeben wollen. Dies bezeichnet oft auch den Moment, in dem Erinnerungsarbeit sich zu verschriftlichen beginnt. Dazu sollen an anderer Stelle weitere Ausführungen folgen.
Das kulturelle Gedächtnis hingegen existiert in zwei Modi: den fundierenden und den biographischen, ganz persönlichen Erinnerungen, wobei Erstere sich auf kulturelle Objektivationen beziehen in Form von „Ritualen, Tänzen, Mythen, Mustern, Kleidung, Schmuck, Tätowierung, Wegen, Malen, Landschaften usw., Zeichensystemen aller Art, die man aufgrund ihrer mnemotechnischen (Erinnerung und Identität stützenden) Funktion dem Gesamtbegriff ‚Memoria’ zuordnen darf.“28
Diese entstehen durch Institutionalisierung und bewusste Schaffung symbolischer Figuren, die sich an Fixpunkten – z.B. zeitlicher Natur – orientieren. Diese Definition impliziert einen zeremoniellen, beinahe sakralen Charakter von kulturellen Erinnerungen, wobei der Ritus künstlich und allein für diesen Zweck erschaffen wird. Die Abgrenzung vom kommunikativen Gedächtnis besteht im Nicht-Alltäglichen: „Man könnte also die Polarität zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis der Polarität zwischen Alltag und Fest gleichsetzen und geradezu von Alltags- und Festtagsgedächtnis sprechen.“29
Trennend wirkt auch die soziale Komponente, denn während beim kommunikativen Gedächtnis jeder Träger ungeachtet der Menge und Qualität an Wissen, die er sich angeeignet hat, als gleichwertig gilt, ist beim kulturellen Gedächtnis die Teilhabe differenziert: es muss gelehrt, gelernt und praktiziert werden. Zu diesem Zweck werden Träger ausgewählt, denen die Verantwortung obliegt, für die korrekte und vollständige Übermittlung Sorge zu tragen. Dieser elitäre Gedächtnisbegriff wird nachweislich von verschiedensten Kulturen so verstanden und praktiziert:
„Dazu gehören Schamanen, Barden, Griots ebenso wie die Priester, Lehrer, Künstler, Schreiber, Gelehrten, Mandarine und wie die Wissensbevollmächtigten alle heißen mögen. Der Außeralltäglichkeit des Sinns, der im kulturellen Gedächtnis bewahrt wird, korrespondiert eine gewisse Alltagsenthobenheit und Alltagsentpflichtung seiner spezialisierten Träger.“30
Jan Assmann hat zudem sechs konkrete Merkmale festgelegt, die den Gebrauch des Begriffs kulturelles Gedächtnis erleichtern und als Prüfstein dienen sollen:31
1. Identitätskonkretheit: Das kulturelle Gedächtnis ist einer benennbaren sozialen Gruppe zugeordnet.
2. Rekonstruktivität: Sie verdeutlicht den Vergangenheitsbezug der Erinnerung und ihre artifizielle Natur.
3. Geformtheit: Feststehende Ausdrucksformen sind von Nöten.
4. Organisiertheit: Institutionalisierung prägt das Verhalten der Gruppe.
5. Verbindlichkeit: Aus ihr ergibt sich ein gültiger Referenzrahmen für die Erinnerungsgemeinschaft.
6. Reflexivität: Das kulturelle Gedächtnis ist ein Spiegelbild der Gruppe und kann bei der Deutung des Alltags unterstützend wirken.
Die Gegenüberstellung des erläuterten Begriffspaares lässt sich wie folgt an Hand einer Tabelle näher veranschaulichen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In: Assmann (1997), S.56
Ein wichtiges Thema in den Assmannschen Überlegungen ist die Schriftlichkeit. Sie ist ein mögliches Medium, um faktenorientiertes Wissen, aber auch den kulturellen Fingerabdruck einer Gemeinschaft zu überliefern. Zudem bietet sie im Gegensatz zu oralen Kulturen, die auf exakte Wiederholung angewiesen sind, die Möglichkeit der Auslagerung, da auf diese Weise durch Kontinuität und Pflege Informationen von enormem Umfang archiviert werden können. Jenen, die ein Ereignis nicht selbst miterlebt haben, bietet dies die Chance der Interpretation und Auslegung und damit auch zur Kritik. Ein weiterer Diskurs entzündet sich im Folgenden an der Frage, welche Texte kulturell wertvoll und sinnstiftend sind und in den Kanon aufgenommen werden sollen. Einer in Forschungskreisen weit verbreiteten Ansicht nach betrifft dies vor allem normative und formative Texte, die vorrangig dem Bereich der Hochkultur zugeordnet werden. Im letzten Kapitel dieser Arbeit soll erörtert werden, ob diese Ansicht auch heute noch zutreffend ist oder ob nicht auch Populärliteratur diese Aufgabe in Teilen übernehmen kann.
Abschließend soll ein weiteres Begriffspaar beleuchtet werden, welches Aleida Assmann für grundlegend erachtet hat: Funktions- und Speichergedächtnis.32 Das Funktionsgedächtnis wird auch als bewohntes Gedächtnis bezeichnet, da es mit dem Träger verbunden und somit selektiv angelegt, zukunftsorientiert und wertgebunden ist. Der Träger hat es erworben durch Auswahl und Verknüpfung der für ihn relevanten Informationen, wobei das Ziel die Sinngebung von Erinnerung ist. Das Speichergedächtnis hingegen, das unbewohnte Gedächtnis, ist bedeutungsneutral und stellt als Summe der archivierten Elemente eine wesentliche Ressource dar:
„Auf kollektiver Ebene enthält das Speichergedächtnis das unbrauchbar, obsolet und fremd Gewordene, das neutrale, identitäts-abstrakte Sachwissen, aber auch das Repertoire verpasster Möglichkeiten, alternativer Optionen und ungenutzter Chancen. Beim Funktionsgedächtnis dagegen handelt es sich um ein angeeignetes Gedächtnis, das aus einem Prozess der Auswahl, der Verknüpfung, der Sinnkonstruktion [...] hervorgeht. Die strukturlosen, unzusammenhängenden Elemente treten ins Funktionsgedächtnis als komponiert, konstruiert, verbunden ein. Aus diesem konstruktiven Akt geht Sinn hervor, eine Qualität, die dem Speichergedächtnis grundsätzlich abgeht.“33
Grundsätzlich wird mehr erinnert, als im Alltag benötigt wird. Das Speichergedächtnis dient dem Funktionsgedächtnis als Quelle und bietet die Möglichkeit der kontinuierlichen Erneuerung. Es ist aus diesem Grund auch stark institutionalisiert in Form von Bildungseinrichtungen, Instituten, Bibliotheken und Archiven. Die Verschränkung der beiden Gedächtnismodi bildet ein „heilsames Korrektiv“, denn „beide gehören zusammen und zu einer sich ausdifferenzierenden Kultur.“34
4. Amerika und der Holocaust
In der jüdischen Kultur hat Erinnerung seit jeher einen besonderen Platz. Das Studieren von religiösen und anderen normativen Texten, verbunden mit kontinuierlicher Wiederholung und Kritik des Gelesenen, macht auch heute noch einen umfangreichen Teil der jüdischen Bildung aus. Dies bemerkte u.a. Ruth Wisse in ihrem Modern Jewish Canon:
„Writing may be a solitary act, and our appreciation of it may be aesthetic in the main, but reading in the Jewish tradition has always merged to a communal discipline. [...] Modern Jewish literature is the repository of modern Jewish experience. It is the most complete way of knowing the inner life of the Jews.”35
Doch nicht nur der Umgang mit Religion ist mit besonderer Sorgfalt gestaltet: Jüdische Literatur, gerade populäre Literatur, ist von durch diese Tradition bedingten Eigenarten geprägt und seit geraumer Zeit als eigenes Genre anerkannt. In zahlreichen Ansätzen hat man die Charakteristika jüdischer Literatur zu benennen versucht, ohne zu einer abschließenden Definition gekommen zu sein. Ausgangspunkt für weitere Betrachtungen ist daher die folgende Feststellung: „(W)hile the definition of Jewish literature is open to interpretation, its existence is not.“36
4.1. Entwicklung des jüdisch-amerikanischen Romans seit 1945
Ende der 70er Jahre stellte Irving Howe seine Sammlung Jewish American Stories mit den einleitenden Worten vor, jüdisch-amerikanische Literatur „has probably moved past its high point“ und habe seine stärkste Ausdruckskraft gefunden „at exactly the moment it approche[d] disintegration“37. Dieser Aussage liegt seine These zu Grunde, dass der Prozess der Einwanderung der Juden in die Vereinigten Staaten zugleich Hauptthema ihres literarischen Schaffens ist und sich dieses nun - nach dem letzten großen Einwanderungsschub der Holocaust-Überlebenden - erschöpft hat. Dies wirft zwei Fragen auf: Ist das Thema Immigration tatsächlich das identitätsstiftende Element jüdisch-amerikanischer Literatur und wenn ja, bedeutet dies folglich dann nicht das Aussterben des Genres? Glücklicherweise hat sich Letzteres nicht bewahrheitet, jedoch besteht in der literaturwissenschaftlichen Forschung ein andauernder Disput, wie sich jüdisch-amerikanische Literatur abschließend definieren lässt. Unstrittig dagegen ist, dass insbesondere der jüdisch-amerikanische Roman seit den 1980er Jahren geradezu eine Renaissance erlebt hat. Jüdische Literatur beschreitet seitdem neue Wege und ist heute vielfältiger denn je.
In einem Versuch, jüdische Literatur klarer abzugrenzen, hat Jules Chametzky eine recht weit gegriffene Definition aufgestellt und damit auch die Schwierigkeiten aufgezeigt, die hierbei entstehen:
„’Jewish American Literature’ signifies an American literature that is Jewish: fiction, poetry, drama, memoir, and autobiography, commentary, letters, speeches, monologues, song lyrics, humor, translations, and visual narratives created by authors who admit, address, embrace, and contest their Jewish identity, whether religious, historical, ethnic, psychological, political, cultural, textual, or linguistic.”38
Je nach Blickwinkel und Intention ließe sich demnach der Kreis derer, die man als jüdisch-amerikanische Autoren betitelt, beliebig erweitern oder verringern. Andere Literaturwissenschaftler unterscheiden nach Kategorien wie Herkunft (ist der Autor Kind einer jüdischen Mutter?), Sprache (spricht und schreibt er auf Hebräisch / Jiddisch?) und Religiosität (lebt er nach den Gesetzen der Thora?). Die Diskussion entzündet sich demnach hauptsächlich an der Fragestellung, ob ein amerikanischer Autor jüdischen Glaubens auch automatisch als „jüdisch-amerikanischer Autor“ bezeichnet werden kann. Doch welche Dimensionen man für diese Einordnung auch wählen mag, jüdische Literatur der Nachkriegszeit bewegt sich grundsätzlich zwischen zwei Polen: dem wirtschaftlichen Erfolg und gesellschaftlichen Status der Einwanderer einerseits und dem Gedenken an das Leid der Vorfahren sowie die daraus erwachsende kulturelle Verantwortung andererseits.
Zweifellos feststellbar ist, dass jüdische Autoren sich mit ihrem Schaffen einen Platz im literarischen Kanon verdient haben und jüdisch-amerikanische Literatur somit zu Recht als ein Zweig ethnischer Literatur innerhalb der amerikanischen Literaturgeschichte bezeichnet werden darf - man denke nur an Saul Bellow und Isaac Bashevis Singer, beide Nobelpreisträger, oder auch an Joseph Heller, Norman Mailer, Philip Roth und Bernard Malamud, die zu den bedeutendsten und meist gelehrten Autoren Amerikas gezählt werden. Mit ihnen werden vor allem die „twin themes of marginality and victimization“39 verbunden und die Problematik des inside outsiders, also die Rolle des weder Fremden noch Einheimischen, dessen Integration in die ihn beheimatende Gesellschaft noch nicht abgeschlossen ist. Die erste Generation an Einwanderern in der Nachkriegszeit war tatsächlich meist zu sehr damit beschäftigt, sich einzugliedern und anzupassen, die amerikanische Kultur in sich aufzusaugen und nach Akzeptanz, Bildung und Wohlstand zu streben, sodass eine wirkliche literarische Auseinandersetzung mit dem Holocaust erst in den 60er Jahren stattfand – erstaunliche zwanzig Jahre später. Lässt sich hier eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der jüngsten europäischen Vergangenheit erkennen, vielleicht sogar der Wunsch nach Differenzierung von den europäischen Juden? Dies fragt auch Janet Handler Burstein in ihren Überlegungen zur jüdisch-amerikanischen Literatur nach 1980: „Were they just to busy to mourn? […] Were they cushioning their lives materially against spiritual and psychological losses and anxieties too massive to be acknowledged?”40 Auf ähnliche Überlegungen werde ich auch im nächsten Kapitel noch einmal ausführlich zu sprechen kommen.
[...]
1 Neumann (2008), S.334
2 ebed., S.338
3 vgl. Meyers Lexikon Online
4 Assmann (2008), S.188
5 vgl. Assmann (2008), S.189
6 Nünning (2001), S.212
7 Assmann (2008), S.190
8 Horatschek (2001), S.266 f
9 Halbwachs (1967), S.21
10 ebed., S.12
11 Halbwachs (1967), S.36
12 ebed., S.55 f
13 Halbwachs (1967)., S.63
14 vgl. Assmann (1997), S.36
15 Nora (1990), S.11
16 ebed., S.12
17 ebed., S.12 f
18 ebed., S.17
19 ebed., S.18
20 ebed., S.18
21 Nora (1990), S.26
22 ebed., S.32
23 vgl. François (2001)
24 vgl. Hebel (2003)
25 vgl. Isnenghi (1987-97)
26 Assmann (1988), S.15
27 Assmann (1997), S.48
28 Assmann (1997), S.52
29 ebed., S.53
30 ebed., S.54
31 vgl. Assmann (1988), S.13-15
32 vgl. Assmann (1999), S.133-142
33 ebed., S.137
34 ebed., S.142
35 Wisse (2000), S.4
36 ebed., S.18 f
37 Howe (1977), S.9
38 Chametzky (2001), S.2-3
39 Wisse (1976)
40 Handler Burstein (2006), S.4
- Arbeit zitieren
- Christina Dersch (Autor:in), 2009, Kulturelles Erinnern im jüdisch-amerikanischen Roman der Gegenwart, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133644
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