In den letzten fünfzehn Jahren – insbesondere bei der letzten Erweiterungsrunde – sorgte die Fragestellung eines EU-Beitritts der Türkei für kontrovers geführte Debatten innerhalb der Europäischen Union. Die Aufnahme von zwölf neuen Staaten verschlechterte die Lage der Türkei augenscheinlich, da so genannte Verteilungsdebatten und verschiedenartige patriotische Vorlieben in der Europäischen Union ließen taktische Überlegungen, die in Europa seit jeher weniger Gewicht haben als etwa in den Vereinigten Staaten von Amerika, faktisch in den Hintergrund treten.
Die vorliegende Bachelorarbeit geht der Frage nach, wer von den beiden Hauptakteuren (Türkei, EU) wen dringender braucht. Nach einem geschichtlichen Abriss der Entwicklung der Türkei und des türkisch-europäischen Verhältnisses – als Ausgangspunkt für die Eigenwahrnehmung der Türkei und ihre denkbare Rolle im „europäischen Konzert“ – folgt eine Auswahl ungleichartiger Interpretationen, das keineswegs nebensächliche Problem und die Definition der Minderheiten. Anschließend werden die aktuellen Vor- und Nachteile eines möglichen türkischen EU-Beitritts aus europäischer bzw. türkischer Sicht erläutert. Die weiteren Kapitel widmen sich der geostrategischen und -politische Bedeutung der Türkei, ihrer Rolle als Energieträgerin auf der Achse Mittelmeer-Kaukasus-Mittlerer Osten und als Vermittlerin zwischen der arabisch-islamischen Staatenwelt und Europa sowie ihrer Vorbildfunktion für eben diese Staaten.
Darüber hinaus wird die Doppelzüngigkeit der EuropäerInnen in historischen, religiösen, geografischen und wirtschaftlichen Streitfragen kritisch untersucht.
Abschließend wird hervorgehoben, dass die Arbeit mit einigen Schaubildern versehen wurde, in denen die Türkei, Deutschland, Rumänien und Bulgarien verglichen werden.
Inhaltsverzeichnis
Einleitende Worte
1 Assoziierungsabkommen von Ankara
2 Über die Kopenhagener Kriterien
3 Verschiedene Auslegungen des Minderheitenbegriffs
3.1 Minderheitenbegriff im Osmanischen Reich
3.2 Minderheitenbegriff in der Türkei
3.3 Minderheitenbegriff in Europa
3.3.1 Die LazInnen
3.3.2 Die GeorgierInnen
3.3.3 Die Roma
4 Pro und Kontra einer eventuellen türkischen EU-Mitgliedschaft
4.1 Vorteile der türkischen EU-Mitgliedschaft aus türkischer Sicht
4.2 Vorteile der türkischen EU-Mitgliedschaft aus europäischer Sicht
4.2.1 Zusammenarbeit durch Überwindung religiöser und kultureller Konflikte
4.2.2 Signalwirkung auf die restliche islamische Welt
4.2.3 Garant der Friedenssicherung
4.2.4 Zukünftige demografische Entwicklung der EU
4.3 Nachteile der türkischen Mitgliedschaft aus türkischer Sicht
4.4 Nachteile der türkischen EU-Mitgliedschaft aus europäischer Sicht
4.4.1 Sicherheit
4.4.2 Menschenrechte
4.4.3 Integration
4.4.4 Kosten
5 Die Rolle der Türkei in ihrem Umfeld
5.1 Geostrategische und -politische Bedeutung der Türkei
5.2 Energieträgerin zwischen dem Kaspischen Meer und Europa
5.3 Vermittlerrolle und Vorbildfunktion im Nahen Osten
6 Stereotype in der EU bezüglich der Türkei
6.1 Stereotype
5.1.1 TürkInnen in Europa
6.1.2 Islam und Christentum – Ist die EU ein ChristInnenverein?
6.1.3 Geografische Lage – Wo sind die Grenzen Europas?
6.1.4 Soziökonomische Aspekte
6.2 Doppelzüngigkeiten der EU
6.2.1 Volksabstimmungen
6.2.2 Aufnahmekapazitäten
6.2.3 Privilegierte Partnerschaft
7 Bedeutsame Kernproblematiken in der Türkei
7.1 Das KurdInnenproblem und die PKK
7.2 Der Zypernkonflikt
7.3 Die Rolle des Militärs – Hüter der Republik
8 Persönliches Schlussresümee
9 Literaturverzeichnis
Einleitende Worte
In den letzten fünfzehn Jahren – insbesondere bei der letzten Erweiterungsrunde – sorgte die Fragestellung eines EU-Beitritts der Türkei für kontrovers geführte Debatten innerhalb der Europäischen Union. Die Aufnahme von zwölf neuen Staaten verschlechterte die Lage der Türkei augenscheinlich, da so genannte Verteilungsdebatten und verschiedenartige patriotische Vorlieben in der Europäischen Union ließen taktische Überlegungen, die in Europa seit jeher weniger Gewicht haben als etwa in den Vereinigten Staaten von Amerika, faktisch in den Hintergrund treten.
Die vorliegende Bachelorarbeit geht der Frage nach, wer von den beiden Hauptakteuren (Türkei, EU) wen dringender braucht. Nach einem geschichtlichen Abriss der Entwicklung der Türkei und des türkisch-europäischen Verhältnisses – als Ausgangspunkt für die Eigenwahrnehmung der Türkei und ihre denkbare Rolle im „europäischen Konzert“ – folgt eine Auswahl ungleichartiger Interpretationen, das keineswegs nebensächliche Problem und die Definition der Minderheiten. Anschließend werden die aktuellen Vor- und Nachteile eines möglichen türkischen EU-Beitritts aus europäischer bzw. türkischer Sicht erläutert. Die weiteren Kapitel widmen sich der geostrategischen und -politische Bedeutung der Türkei, ihrer Rolle als Energieträgerin auf der Achse Mittelmeer-Kaukasus-Mittlerer Osten und als Vermittlerin zwischen der arabisch-islamischen Staatenwelt und Europa sowie ihrer Vorbildfunktion für eben diese Staaten.
Darüber hinaus wird die Doppelzüngigkeit der EuropäerInnen in historischen, religiösen, geografischen und wirtschaftlichen Streitfragen kritisch untersucht.
Abschließend wird hervorgehoben, dass die Arbeit mit einigen Schaubildern versehen wurde, in denen die Türkei, Deutschland, Rumänien und Bulgarien verglichen werden.
1 Assoziierungsabkommen von Ankara
Der türkische Ministerpräsident Adnan Menderes (Demokratische Partei; DP) stellte am 31. Juli 1959 an die EWG-Kommission, der zu jener Zeit Walter Hallstein vorstand, einen Antrag mit dem Ziel, Assoziationsgespräche mit der EWG zu führen. Nachdem die Verhandlungen aufgenommen wurden, unterzeichnete die Türkei mit den sechs Gründungsstaaten Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden am 12. September 1963 in der türkischen Hauptstadt Ankara das so genannte Ankara-Abkommen. Dieses Assoziierungsabkommen trat am 1. Dezember 1964 in Kraft. Als wesentliche Grundpfeiler sah dieses Abkommen die stufenweise Errichtung einer Zollunion zwischen der EWG und der Türkei vor.[1] Auf diese Weise klopft das Land am Bosporus – wie kein anders Land – seit fast einem halben Jahrhundert an die Tore Europas.
Infolge der Annahme des Assoziierungsabkommens mit der EWG im September 1963 gab deren Präsident, Walter Hallstein, deutlich zu verstehen:
„Und eines Tages soll der letzte Schritt vollzogen werden: Die Türkei soll vollberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft sein. Dieser Wunsch und die Tatsache, dass wir in ihm mit unseren türkischen Freunden einig sind, sind der stärkste Ausdruck unserer Gemeinsamkeit.“[2]
Was das Ankara-Abkommen selbst betrifft, ist die Türkei seit der Bestätigung dieses völkerrechtlichen Vertrags mit der EWG eine potenzielle Beitrittskandidatin. Ferner sieht sie dieses Übereinkommen als ersten bürokratischen Schritt auf dem Weg zu einer Mitgliedschaft. Dies unterstreicht Artikel 28:
„Sobald das Funktionieren des Abkommens es in Aussicht zu nehmen gestattet, dass die Türkei die Verpflichtungen aus dem Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft vollständig übernimmt, werden die Vertragsparteien die Möglichkeiten eines Beitritts der Türkei zur Gemeinschaft prüfen.“[3]
Die einleitenden Worte des Abkommens betonen die Perspektive auf eine türkische Vollmitgliedschaft; die Bedeutung des Assoziationsvertrags besteht darin, dass die Zusammenarbeit mit der Vorläuferin der EU, also der EWG, „später den türkischen Beitritt zur Gemeinschaft erleichtern soll“.
Durch eine wechselseitige und gelegentliche Öffnung der Märkte verfolgt diese Abmachung das Ziel einer zu verwirklichenden Zollunion, Finanzspritzen durch den Westen und der Entlastung des Zugangs türkischer Arbeitskräfte in die EG-Staaten. Die Zunahme der Integration sollte fortschreitend Folge leisten, konnte allerdings keinesfalls immer eingehalten werden. Abschließend soll noch einmal der bereits oben erwähnte Präsident Hallstein zu Wort kommen:
„Wir sind heute Zeuge eines Ereignisses von großer politischer Bedeutung. Die Türkei gehört zu Europa. Das ist der tiefste Sinn dieses Vorgangs: Er ist, in denkbar zeitgemäßer Form, die Bestätigung einer Wahrheit, die mehr ist als ein abgekürzter Ausdruck einer geographischen Aussage oder einer geschichtlichen Feststellung, die für einige jahrhunderte Geltung hat. Die Türkei gehört zu Europa.“[4]
Nach Auffassung des Autors der vorliegenden Bachelorarbeit lässt sich aus der Sicht Europas kein auffälliges Bemühen erkennen, das Abkommen, so wie ursprünglich gedacht war, zu verwirklichen. Dabei muss erwähnt werden, dass die EG von 1959 nicht deckungsgleich mit der EU von 2009 ist. Das betrifft keineswegs nur die Beitrittskriterien, sondern auch die europäische Entwicklung im Allgemeinen. Niemand, auch Hallstein nicht, konnte ahnen, wie schwierig und ausführlich eine Beitrittsverhandlung ist. Ferner muss unterstrichen werden, dass die 1996 in Kraft getretene Zollunion zwischen der EU und der Türkei vom Prinzip her weiter entwickelt ist als die Idee eine der Mitgliedschaft vor fünfzig Jahren.
2 Über die Kopenhagener Kriterien
Um ein vollwertiges Mitglied der Europäischen Union zu werden, muss jeder mögliche Beitrittskandidat als europäischer Staat anerkannt werden und die bedeutsamen Prinzipien der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit beachten. Darüber hinaus hat er wirtschaftliche, aber auch politische Bedingungen, die auch als „Kopenhagener Kriterien“ bekannt sind, zu erfüllen.
1. Der Staat weist eine stabile Demokratie auf, in der die Menschenrechte und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit sowie der Minderheitenschutz geachtet werden.
2. Er verfügt über eine funktionstüchtige Marktwirtschaft.
3. Er übernimmt die gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften, Normen und Politiken, die den Besitzstand der EU bilden.[5]
Von großer Relevanz ist überdies das Acquis-Kriterium, unter dem die Fähigkeit eines Staats verstanden wird, alle Pflichten der Mitgliedschaft, d. h. das gesamte Recht sowie die Politik der EU, zu übernehmen und sein Einverständnis mit den Zielen der politischen und der Wirtschafts- und Währungsunion zu geben.
Ende 1997 legte der Europäische Rat in Luxemburg fest, dass die Einhaltung der „Kopenhagener Kriterien“ bereits für die Aufnahme von Verhandlungen erforderlich ist, während die wirtschaftlichen Kriterien, aber auch die Fähigkeit, die sich aus dem Beitritt ergebenen Verpflichtungen zu erfüllen, „aus einer zukunftsorientierten, dynamischen Sicht“[6] zu beurteilen sind.
Zum Blickwinkel der Integrationsfähigkeit ist dabei anzumerken, dass die Fähigkeit der EU, neue Staaten wie etwa die Türkei aufzunehmen, sowohl für die EU als auch für den möglichen Beitrittskandidaten einen einflussreichen Aspekt darstellt. Dieser nicht unumstrittenen Fähigkeit der EU wird bei steigender Zahl der Mitgliedsstaaten immer mehr Bedeutung beigemessen und wurde in den Verhandlungsrahmen für Kroatien und die Türkei sowie in den Folgerungen des Europäischen Rats 2006 maßgeblich herausgestrichen.
3 Verschiedene Auslegungen des Minderheitenbegriffs
„‚Minderheit’ kann als ein politisch-soziologischer Grundbegriff verstanden werden, der auf die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Teilen eines Ganzen verweist, d. h. auf das Verhältnis zwischen ‚allen’, ‚vielen’ und ‚wenigen’“.[7]
Für die vorliegende Bachelorarbeit ist vor allem der Minderheitenbegriff im Osmanischen Reich, in seinem völkerrechtlichen Nachfolgestaat, der Türkei, und darüber hinaus in Europa und aus der Sicht der EU im Hinblick auf einen denkbaren Türkeibeitritt von maßgeblicher Bedeutung.
Die Problemstellung von Minderheitenbegriff und -rechten ist in der Türkei untrennbar mit den weltanschaulichen Grundsätzen des Staats und seiner Verfassungs- und Rechtsordnung verknüpft.[8] Demgemäß lässt sich das türkische Minderheitenverständnis auch nicht ohne eine Darstellung des geschichtlichen und ideellen Hintergrunds seiner Entwicklung erfassen. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, im Folgenden auf die Minderheitsbegrifflichkeiten im Osmanischen Reich und der modernen Türkei einzugehen.
3.1 Minderheitenbegriff im Osmanischen Reich
In der Rechtsstellung des Osmanischen Reichs wurden die Minderheiten in so genannte „millets“[9] unterteilt, um den ungleichen Glaubensgruppen das Recht, private Angelegenheiten autonom zu regeln, zuzusichern. Im Osmanischen Reich gab es in diesem Sinne keine Minderheiten bzw. existierte ein solches Verständnis nicht. Für die Minderheiten gab es keinen Begriff. Ein solcher wurde erst zur Zeit der Jungtürken in nationalistischen und laizistischen Kreisen durch das Wort „ekallıyet“[10] geprägt, das jedoch niemals zur Bezeichnung einer bestimmten Minderheiten(-gruppe) im heutigen Sinn verwendet wurde.
Folglich galten alle nicht-muslimischen Gruppierungen wie etwa die Griechisch-Orthodoxen, die Juden, die Armenier und die Protestanten und die Katholiken als Minderheiten.[11]
3.2 Minderheitenbegriff in der Türkei
Im türkischen Grundgesetz ist kein Minderheitenbegriff zu finden. Vielmehr ist in den Artikeln 3[12] und 5[13] von einer unteilbaren Einheit von Land und Nation die Rede. Bedeutsamer als die Staatordnung ist für die Situation der christlichen Minderheiten in der Türkei der Lausanner Friedensvertrag von 1923, der vom Völkerbund beschlossen wurde und Passagen zum Schutz „nicht muslimischer Minderheiten“ enthält, unter die die religiösen Minderheiten fallen. Auf diese Weise gibt es in der Türkei, ähnlich wie im Osmanischen Reich, nichtmuslimische Minderheiten wie Armenier, Griechen und Juden. Die Kurden werden aufgrund ihres islamischen Glaubensbekenntnisses nicht als Minderheit eingestuft. Man kann durchaus mit Recht sagen, dass sowohl das Osmanische Reich, als auch seine völkerrechtliche Nachfolgerin, die Republik Türkei, die Religion als Kriterium zur Anerkennung einer Volksgruppe wählt, währenddessen Sprache und ethnische Herkunft keine Rolle spielen.
Schenkt man dem Standardwerk Ethnic Groups in the Republic of Turkey von Peter Andrews Glauben, so gibt es in der Türkei nahezu 50 verschiedene ethnische Gruppierungen, von denen allerdings nicht alle die Voraussetzungen des europäischen Minderheitenbegriffs erfüllen.
3.3 Minderheitenbegriff in Europa
Im Gegensatz zum türkischen Minderheitenbegriff ist der europäische weiter gefasst und beinhaltet neben den von der Türkei begriffsmäßig anerkannten „nicht muslimischen“ Minderheiten auch muslimische Minderheiten, aber auch ethnische und sprachliche Minderheiten.[14] Zudem muss zum europäischen Minderheitenbegriff festgehalten werden, dass dieser im Rahmen der religiösen Minderheiten keine weitere Unterteilung vornimmt und folglich nicht zwischen nichtmuslimischen und muslimischen Minderheiten unterscheidet. Religiöse Minderheiten wären GriechInnen, ArmenierInnen, Juden und Jüdinnen, AssyrerInnen, AlevitInnen und YezidInnen. Da die KurdInnen in einem eigenen Unterkapitel beschrieben werden, werden die LazInnen, die GeorgierInnen und die Roma als Minderheiten vorgestellt.
3.3.1 Die LazInnen
Die LazInnen bilden eine Ethnie, die der südkaukasischen Bevölkerungsgruppe zuzuordnen ist. Rund die Hälfte der ethnischen LazInnen[15] lebt im Stammgebiet an der nordöstlichen Schwarzmeerküste; die andere Hälfte ist in Großstädte abgewandert.[16] Die Anzahl der in der Türkei lebenden LazInnen, deren Sprache mit dem Georgischen verwandt ist, betrug bei der Volkszählung 1965 etwa 26.000 Menschen. Derzeit gehen Schätzungen davon aus, dass rund 240.000 bis eine Million Menschen lazisch sprechen.[17] Aufgrund der sich noch im Anfangsstadium befindenden Renaissance der lazischen Kultur und Sprache ist es infrage zu stellen, inwieweit schon eine lazische Identität besteht. Daher ist kritisch anzumerken, dass es zweifelhaft ist, ob die LazInnen die Grundvoraussetzungen des europäischen Minderheitenbegriffs erfüllen oder nicht.
3.3.2 Die GeorgierInnen
Die GeorgierInnen gehören zur Gruppe der SüdwestkaukasierInnen und stammen von der Schwarzmeerküste, die im 16. Jahrhundert von den Osmanen erobert wurde. In der Folge konvertierten die GeorgierInnen zum islamischen Glauben.[18] Heute leben rund eineinhalb Millionen Menschen georgischer Herkunft in der unmittelbaren Nähe zum Schwarzen Meer. Da die GeorgierInnen einen integralen Bestandteil der türkischen Gesellschaft darstellen und sich parallel dazu als GeorgierInnen, Muslime und TürkInnen sehen[19], sind sie weit gehend in der Türkei integriert, sodass die Voraussetzungen für eine Minderheit „nach europäischer Begriffsbestimmung“ nicht erfüllen.
3.3.3 Die Roma
Die Roma, die über die ganze Türkei verstreut, vornehmlich aber in Istanbul und in Thrakien[20] leben, bilden mit etwa 500.000 bis zwei Millionen Menschen[21] eine große Minderheit. Dessen ungeachtet gibt es keine offiziellen Angaben über sesshafte und wandernde Roma. Trotzdem stellen sie eine eigene ethnisch-kulturelle Volksgruppe dar. Des Weiteren sind sie weit gehend integriert, da sie Türkisch als ihre Muttersprache sehen und muslimischen Glaubens sind.
4 Pro und Kontra einer eventuellen türkischen EU-Mitgliedschaft
In diesen Teil- und Unterkapiteln sollen die Vor- und Nachteile einer türkischen EU-Vollmitgliedschaft aus europäischer und türkischer Sicht untersucht und näher erläutert werden. Darüber hinaus kann man die hier angeführten Punkte im Zusammenhang mit den Ausführungen des fünften Kapitels verknüpfen.
4.1 Vorteile der türkischen EU-Mitgliedschaft aus türkischer Sicht
Aus der Sicht der türkischen Regierungskreise können einige Vorteile dingfest gemacht werden. Sie betreffen nahezu alle Kernbereiche des politischen Lebens. Der Verfasser der vorliegenden Bachelorarbeit möchte den Versuch starten, die wichtigsten aufzuzählen und näher zu untersuchen.
Das Land am Bosporus hätte als denkbares Mitglied in der EU Bedürfnis auf hohe Summen aus dem gemeinsamen Budget der anderen EU-Mitgliedsstaaten. Eine Angleichung an die Standards würde die Basis für die ökonomische Entwicklung zwar begünstigen, aber ob dies reicht, bleibt fraglich. Innenpolitisch dient der mögliche Beitritt keineswegs nur dem außerordentlichen Gefälle innerhalb der LaizistInnen und der IslamistInnen. Ein nicht unwichtiges Motiv für den EU-Beitritt der Türkei ist im außenpolitischen Bereich anzusiedeln. Die hohe Bevölkerungsanzahl könnte zu hohen Stimmenanteilen im Europäischen Rat, im Europäischen Parlament selbst und in der Europäischen Kommission mit sich bringen.
Die Übernahme des „acquis communautaire“ (gemeinschaftlicher Besitzstand) und die daraus folgende türkische Angleichung an europäische Standards können in jeglicher Hinsicht nur ein Vorteil für die Türkei sein.
[...]
[1] Vgl. Mehmet Öcal, Die türkische Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts (1990-2001), Diss. Arb., Schenefeld 2005, S.48.
[2] Yazicioglu Ümit, Die Türkei auf dem Weg in die EU- eine historische Einordnung, in: Istanbul Post 26.07.2004, http://www.istanbulpost.net/04/07/03/yazicioglu.htm (5. 11. 2008, 13:00 Uhr).
[3] http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/Tuerkei/BeziehungenZurEU.html (5.11.2008, 13:09 Uhr).
[4] Siehe Fußnote 2.
[5] Zu allen drei Punkten siehe: http://europa.eu/scadplus/leg/de/lvb/e50017.htm#CRITERIA (5.11.2008, 13:17 Uhr).
[6] Vgl. Marianne Kneuer, Demokratisierung durch die EU: Süd- und Ostmitteleuropa im Vergleich, Wiesbaden 2007, S. 116.
[7] Siehe Klaus Schubert/Martina Klein, Das Politiklexikon, Bonn 4. Aufl. 2006, S. 190.
[8] Siehe dazu Christian Rumpf, Die rechtliche Stellung der Minderheiten in der Türkei, in: Jochen Frowein/Rainer Hofmann/Stefan Oeter (Hrsg.), Das Minderheitenrecht europäischer Staaten, Teil 1, Berlin 1993, S. 448.
[9] Darunter versteht man eine religiös definierte (Glaubens-)Nation.
[10] Das ist das türkische Wort für wenige, Minderheit; vgl. dazu den ersten Absatz der Rede von Prof. Ilber Ortaylı, Die rechtliche und alltagskulturelle Situation der Nichtmuslime – Vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik, in: http://www.konrad.org.tr/Multireligios%20alm/ortayli.pdf (6.11.2008, 10:23 Uhr).
[11] Wilhelm Albrecht, Grundriss des Osmanischen Staatsrechtes, Berlin 1905, S. 83 ff.
[12] Rumpf, Christian, Die Verfassung der Republik Türkei. Stand 06.06.2008, http://www.tuerkei-recht.de/Verfassung.pdf (5.11.2008, 21:23 Uhr), Artikel 3: Der Staat Türkei ist ein in seinem Staatsgebiet und Staatsvolk UNTEILBARES Ganzes. Seine Sprache ist Türkisch. Seine Flagge, deren Form durch Gesetz bestimmt wird, ist die rote Flagge mit weißem Halbmond und Stern. Seine Nationalhymne ist der „Unabhängigkeitsmarsch“.
[13] Ebd. bzw. Artikel 5: Die Grundziele und -aufgaben des Staates sind es, die Unabhängigkeit und Einheit des Türkischen Volkes, die Unteilbarkeit des Landes, die Republik und die Demokratie zu schützen, Wohlstand, Wohlergehen und Glück der Bürger und der Gemeinschaft zu gewährleisten, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Hindernisse zu beseitigen, welche die Grundrechte und -freiheiten der Person in einer mit den Prinzipien des sozialen Rechtsstaates und der Gerechtigkeit nicht vereinbaren Weise beschränken, sowie sich um die Schaffung der für die Entwicklung der materiellen und ideellen Existenz des Menschen notwendigen Bedingungen zu bemühen.
[14] Siehe auch Arndt Künnecke, Eine Hürde auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft? Der unterschiedliche Minderheitenbegriff der EU und der Türkei, Hamburg 2007, S. 147.
[15] Siehe ausführlich zur Geschichte der LazInnen Muhammed Vanilişi/Ali Tandilava, Lazlar’ ın Tarihi, Istanbul 2005, S. 15-86.
[16] Ebd., S. 5.
[17] Siehe dazu Sevim Genç, Die Lazen, in Silvia Kutscher/Johanna Mattissen/Anke Wodarg (Hrsg.), Das Mustafi-Lazische, Köln 1995, S. 4.
[18] Vgl. dazu das Zentrum für Türkeistudien, Das ethnische und religiöse Mosaik der Türkei und seine Reflexionen auf Deutschland, Münster 1998, S. 100.
[19] Siehe dazu Paul J. Maganella, The Peasant Venture. Tradition, Migration and Change among Georgian Peasants in Turkey, Cambridge 1979, S. 116.
[20] Zentrum für Türkeistudien, Mosaik, S.129.
[21] EU-Kommission, Türkei Fortschrittsbericht 2006, S. 25.
- Arbeit zitieren
- Orkun Aktuna (Autor:in), 2009, Die Türkei und die EU. Eine unendliche Geschichte mit ungewissem Ausgang, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133583
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