Nach dem ICE-Unglück in Eschede am 03.06.1998 mit 101 Todesopfern und 88 schwer Verletzten stellt sich die Frage, wer die moralische Verantwortung für dieses schwerwiegende Zugunglück trägt. Hierzu soll zuerst der Begriff der moralischen Verantwortung erklärt, die Grundsätze der Verantwortungszuschreibung genannt und anschließend potentielle Verantwortungsträger anhand von faktischen Annahmen diskutiert werden. Abschließend soll aufgezeigt werden, wer die moralische Verantwortung für das ICE-Unglück von Eschede trägt.
1 Fragestellung und Vorgehensweise
Am 03.06.1998 ereignete sich das ICE-Unglück von Eschede, welches aufgrund von insgesamt 101 Todesopfern und 88 schwer Verletzten als bislang schwerstes Zugunglück in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einging. An jenem Tag entgleiste der Hochgeschwindigkeitszug ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ bei Tempo 200 auf der Bahnstrecke Hannover-Hamburg in der Gemeinde Eschede und brachte dabei eine Brücke zum Einsturz, wodurch herabstürzende Trümmer den Weg für die nachfolgenden Zugteile versperrten und eine Kollision verursachten.
Ursächlich für die Entgleisung des ICE war ein Radbruch der neuartigen „Composite-Räder“. Aufgrund von schlechten Fahreigenschaften, welche einen geringeren Reisekomfort verursachten, reagierte die Deutsche Bahn auf die Wünsche ihrer Kunden und ersetzte die herkömmlich verwendeten „Monobloc-Räder“ durch die bruchanfälligen „Composite-Räder“, welche bisher ausschließlich bei Straßenbahnen, die nur kurze Strecken bei niedrigen Geschwindigkeiten zurücklegen, zum Einsatz kamen, jedoch den Fahrkomfort aufgrund ihrer Konzeption für Hochgeschwindigkeitszüge verbesserten. Infolge des Zugunglücks wurden zwei Mitarbeiter der Deutschen Bahn und ein Arbeitnehmer des Radzulieferers juristisch belangt, welche sich jedoch jeweils durch eine Zahlung in Höhe von 10.000€ entlasten konnten und demnach als juristisch unschuldig gelten. Die Organisation Deutsche Bahn AG konnte strafrechtlich nicht belangt werden, da laut des deutschen Rechtssystem eine strafrechtliche Anklage juristischer Personen nicht möglich ist.
Nun stellt sich die Frage, wer die moralische Verantwortung für dieses schwerwiegende Zugunglück trägt. Hierzu soll zuerst der Begriff der moralischen Verantwortung erklärt, die Grundsätze der Verantwortungszuschreibung genannt und anschließend potentielle Verantwortungsträger anhand von faktischen Annahmen diskutiert werden. Abschließend soll aufgezeigt werden, wer die moralische Verantwortung für das ICE-Unglück von Eschede trägt. Die vorliegende Arbeit basiert auf der vermittelten Theorie aus Kapitel 5 „Grundlagen zur Moralischen Verantwortung“, auf den Foliensatz „Das ICE-Unglück von Eschede“ sowie auf zusätzliche Quellen, welche im Literaturverzeichnis vermerkt wurden.
2 Moralische Verantwortung und die Verantwortungsträger des ICE-Unglücks
Der Begriff Verantwortung kann unterschiedlich interpretiert werden. Im umgangssprachlichen Gebrauch versteht man hierunter vorwiegend eine Ursächlichkeit für eine bestimmte Situation. Beispielsweise schließt ein Student des Studiengangs „Management im Gesundheitswesen“ die Unternehmensethikklausur ohne Erfolg ab, da er während der Klausur einen „Blackout“ erlitt. In diesem Fall ist die Ursächlichkeit das Auftreten eines „Blackouts“ verantwortlich für das Scheitern des Studierenden während der Prüfungssituation. Im moralischen Sinne wird Verantwortung jedoch nicht mit einer Ursächlichkeit und nicht mit unbelebten Dingen wie beispielsweise einem „Blackout“ verbunden, sondern mit einzelnen natürlichen Personen und Gruppen von Individuen denen Verantwortung zugeschrieben wird. Diese sind Subjekte, welche die moralische Verantwortung für Objekte wie ihren Handlungen, die Folgen ihres Handelns sowie für ihre Überzeugungen tragen. Dieser Prämisse wird jedoch vorausgesetzt, dass die Grundsätze der Verantwortungszuschreibung bei den Subjekten erfüllt sind. Als Grundsätze der Verantwortungszuschreibung werden das Kontrollprinzip, die Rationalität, die Handlungsfreiheit sowie die Wissentlichkeit genannt.
Laut dem Kontrollprinzip kann einer Person oder einer Gruppe die Verantwortung für ein Objekt nur dann zugeschrieben werden, wenn sie über einen Einfluss auf ihre Handlungen und deren Folgen verfügt. Unter Rationalität versteht man die Fähigkeit sich von Gründen leiten zu lassen und diese abwägen zu können. Das heißt, eine Person kann sich gedanklich zwischen verschiedenen Handlungsalternativen entscheiden und letztendlich „vernünftig“ handeln. Diese Fähigkeit wird bei natürlichen Personen vorausgesetzt. Jedoch gibt es auch Ausnahmen, da beispielsweise geistig behinderte Menschen in ihrer Rationalität eingeschränkt sind. Einen weiteren Grundsatz der Verantwortungszuschreibung stellt die Handlungsfreiheit dar. Diese ist gegeben, wenn eine Person oder eine Gruppe zwischen mehreren Handlungsalternativen wählen und ohne Nötigung über ihr Handeln selbst bestimmen kann. Zudem ist die Verantwortungszuschreibung durch die Wissentlichkeit um die Folgen ihrer Handlung bestimmt. Nur wer die Handlungsfolgen kennt, kann auch für sie verantwortlich gemacht werden. Unwissenheit entbindet jedoch nicht zwingend von Verantwortung. Sie gilt nicht als Entschuldigung, wenn die verletzten Normen und Rechtsvorschriften als allgemein bekannt gelten, ihre Kenntnis Pflicht ist oder die Möglichkeit besteht, sich über die Rahmenbedingungen zu informieren. Unwissenheit kann auch dazu führen, dass bei eigentlich gut gemeinten Intentionen eine unbeabsichtigte negative Folge entsteht. Jedoch kann einer Person oder einer Gruppe auch in diesem Falle Verantwortung zugeschrieben werden, wenn ihr die Folgen ihres Handelns bewusst waren oder hätten bekannt sein müssen.
Im Rahmen des ICE-Unglücks von Eschede sollen nun mögliche Verantwortungsträger anhand faktischer Annahmen diskutiert werden. Hierzu wurden die Mitarbeiter der Vertriebsabteilung der Zulieferfirma der „Composite-Räder“, die Instandhaltungsmitarbeiter, sowie das Management der Deutschen Bahn als potentielle Träger moralischer Verantwortung identifiziert.
Den Mitarbeitern der Vertriebsabteilung der Zuliefererfirma kann Handlungsverantwortung zugeschrieben werden, da sie im Rahmen eines rationalen Entscheidungsprozesses befähigt gewesen waren, abzuwägen ob die bruchanfälligen „Composite-Räder“ für die Nutzung im Hochgeschwindigkeitsverkehr über eine ausreichende Eignung verfügten. Zudem lag eine Handlungsfreiheit vor, da sie nicht gezwungen waren der Deutschen Bahn die Räder zu veräußern. Das Kontrollprinzip ist ebenfalls erfüllt, da durch eine ausbleibende Transaktion der bruchanfälligen Räder das Zugunglück verhindert werden hätte können. Ebenfalls ist der Zuliefererfirma eine Überzeugungsverantwortung zuzurechnen, da sie annahmen, dass die „Composite-Räder“, welche bisher vorwiegend bei Straßenbahnen zum Einsatz kamen, den enormen Belastungen des Hochgeschwindigkeitsverkehrs standhalten. Der Grundsatz der Wissentlichkeit ist nicht erfüllt, da die Zulieferfirma keine Kenntnis darüber hatte, in welchem Maße die Deutsche Bahn ihre Inspektions- und Instandhaltungsarbeiten bei den Rädern durchführte. Zwar waren diese bruchanfällig, jedoch hätten Ermüdungsbrüche durch sorgfältige Inspektionen erkannt und verhindert werden können. Demnach kann der Zulieferfirma keine Folgeverantwortung zugeschrieben werden.
Die Instandhaltungsmitarbeiter verfügten über die Kontrolle der Prüfung der Räder, jedoch waren sie im Rahmen der Inspektion in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt, da sie lediglich auf herkömmliche ungenauere Prüfverfahren beschränkt waren. Somit kann ihnen keine Handlungsverantwortung beigemessen werden, da sie durch die Inspektion mittels Taschenlampen und Abklopfen der Räder nur offensichtliche und keine feinen Haarrisse an den „Composite-Räder“ erkennen konnten. Trotz dessen ist ihnen eine Überzeugungsverantwortung zuzuschreiben, da bei der letzten Inspektion des Zuges am Vortag des Unfalles an dem betroffenen Radsatz eine Rundlaufabweichung von 1,1mm festgestellt wurde, was beinahe das Doppelte des zugelassenen Grenzwertes entsprach. Weiterhin hatte der betreffende Radreifen eine zu große Höhenabweichung, die ebenfalls festgestellt und protokolliert wurde. Trotzdem wurde der Radsatz entgegen den Instandsetzungsrichtlinien nicht ausgetauscht, da hier kein Sicherheitsrisiko von den Instandhaltungsmitarbeitern vermutet wurde. Der Grundsatz des Wissentlichkeit ist ebenfalls erfüllt, da den Instandhaltungsmitarbeitern hätte bewusst gewesen sein müssen, dass durch einen ausbleibenden Radwechsel ein Unfall verursacht werden könnte. Diese schwerwiegenden Folgen hätten im Rahmen eines rationalen Entscheidungsprozesses bedacht werden können. Dementsprechend kann ihnen eine Folgeverantwortung zugeschrieben werden.
Dem Management der Deutschen Bahn kann Handlungsverantwortung zugeschrieben werden, da sie gemäß dem Grundsatz der Rationalität, hätten abwägen können, ob die Nutzung der „Composite-Räder“ die geeignetste Variante zur Verbesserung des Fahrkomforts darstellte. Zudem verfügten sie über Handlungsfreiheit, da sie sich ebenso für eine Umrüstung der Hochgeschwindigkeitszüge mittels einer kostenintensiveren Luftfederung hätten entscheiden können. Weiterhin ist das Kontrollprinzip erfüllt, da die Managementebene der Deutschen Bahn, wie bereits erwähnt, auch auf sicherere Alternativen zur Verbesserung des Fahrkomforts zurückgreifen und somit das Zugunglück verhindern hätte können. Zudem kann ihnen eine Überzeugungsverantwortung beigemessen werden, da sie davon ausgingen, dass eine Inspektion mittels Ultraschallgeräten, welche bereits kleinste Haarrisse erkennen konnten nicht notwendig und die Prüfung der bruchanfälligen „Composite-Räder“ durch veraltete Prüfverfahren ausreichend sei. Ebenfalls kann dem Management die Folgeverantwortung zugeschrieben werden, da sie wussten, dass die Räder bruchanfällig waren und eine altübliche Prüfmethode dazu führen kann, dass feine Haarrisse unentdeckt bleiben und es somit aufgrund von Ermüdungsbrüchen zu schwerwiegenden Unfällen kommen könnte.
3 Fazit
Abschließend gilt festzuhalten, dass dem Management der Deutschen Bahn alleinig die moralische Verantwortung für das Zugunglück zugeschrieben werden kann, da bei diesem alle Grundsätze der Verantwortungszuschreibung erfüllt waren und somit eine Handlungs-, Überzeugungs- und Folgeverantwortung vorliegt.
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- Citation du texte
- Florian Koch (Auteur), 2021, Das ICE-Unglück von Eschede. Wer trägt die moralische Verantwortung?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1334116