Das Essay behandelt die Frage, ob die immer noch gängige Einteilung der deutschen Geschichte in drei Reiche - vom Mittelalter bis zum "Dritten Reich" noch zeitgemäß ist. Zur Analyse dieser Problemstellung soll im Folgenden ein Blick in die beiden ersten Gebilde geworfen werden. Hierbei wird zunächst das Heilige Römische Reich und sein Selbstverständnis im Zentrum der Betrachtungen stehen. Darauf aufbauend soll zweitens das Kaiserreich in den Fokus der Betrachtungen rücken. Schließlich sollen drittens auch die jeweiligen Zwischen- und Folgezeiten ab dem 19. Jahrhundert zur Abrundung der Thematik beitragen.
Essay
„Zeichen und Wunder geschehen, aus der Sintflut will sich eine neue Welt gebären, jene Pharisäer aber greinen um elende Notgroschen! Die Befreiung der Menschheit vom Fluche des Goldes steht vor der Türe! Nur darum unser Zusammenbruch, nur darum unser Golgatha! Heil ist uns Deutschen widerfahren, nicht Jammer und Not, so arg wir's auch jetzt noch empfinden. Nirgends auf Erden ein anderes Volk, das fähiger, gründlicher wäre, das dritte Reich zu erfüllen, denn unsres! Veni Creator Spiritu“1
Mit diesen Worten prägt Dietrich Eckart bereits im Juli 1919 einen Begriff, der wenig später und bis heute wie kein anderer jenes Deutschland bezeichnet, in dem die Nationalsozialisten ihre Diktatur errichteten und von dem aus sie die Welt mit Krieg und Verbrechen überziehen werden, die in der Geschichte bis heute unvergleichbar bleiben. Dietrich Eckart, Herausgeber der antisemitischen Zeitschrift „Auf gut deutsch“, frühes Mitglied von DAP und der sich daraus entwickelnden NSDAP, Berater und Mentor von Adolf Hitler, verbindet mit der Erwartung eines kommenden „Dritten Reiches“ allerdings vor allem Hoffnung: Hoffnung auf das „Heil“ der „überlegenen“ Deutschen und auf den damit verbundenen Untergang des Judentums.
Obwohl es sich bei der Begrifflichkeit keineswegs um eine Neuschöpfung handelt, macht erst Moeller van den Bruck in seiner Schrift „Das Dritte Reich“ im Jahr 1923 deutlich, um was es sich bei den zugrundeliegenden drei Reichen eigentlich handelt. In seiner Logik handelte es sich beim ersten Reich um das Heilige Römische Reich Deutscher Nation2, das zweite identifizierte er als das Kaiserreich zwischen 1871 und 1918 und das dritte, kommende Reich werde eine „Synthese von Nationalismus und Sozialismus“3. Obwohl diese Interpretation keineswegs die einzige seiner Zeit war, entwickelte sie sich doch zu populärsten und hat bis heute Bestand. So findet sich noch heute auf Zeit online ein Artikel zur deutschen Geschichte mit der Überschrift „Vom zweiten zum „Dritten Reich““4. Auffällig hierbei ist der Umgang mit dem Begriffspaar, der keineswegs fahrlässig erscheint. Ganz offensichtlich wird der Begriff des „Dritten Reichs“ kritisch gesehen und deshalb in Anführungszeichen gesetzt während die Bezeichnung des Kaiserreichs als zweites Reich scheinbar unkritisch übernommen wird.
Aus der Kombination der beiden dargestellten Vorüberlegungen – die Einteilung der deutschen Geschichte in die drei Reiche als völkisch-nationale Idee und ideoligiestiftend für den NS-Staat einerseits und die immer noch aktuelle Verwendung genau dieser Einteilung andererseits – ergibt sich die Herausforderung, der sich dieses Essay stellen will: Ist es sinnvoll, diese Einteilung beizubehalten? Ist die Grundstruktur der deutschen Geschichte durch jene drei Reiche geprägt? Oder handelt es sich um eine als Legitimationsversuch der Nationalsozialisten künstliche – letztendlich unzutreffende Struktur?
Zur Analyse dieser Problemstellung soll im Folgenden ein Blick in die beiden ersten Gebilde geworfen werden. Hierbei wird zunächst das Heilige Römische Reich und sein Selbstverständnis im Zentrum der Betrachtungen stehen. Darauf aufbauend soll zweitens das Kaiserreich in den Fokus der Betrachtungen rücken. Schließlich sollen drittens auch die jeweiligen Zwischen- und Folgezeiten ab dem 19. Jahrhundert zur Abrundung der Thematik beitragen.
Mit diesem Vorgehen soll – wie dem abschließenden Abschnitt zu entnehmen sein wird – ein Beitrag zu einer geeigneten – wenigstens aber zu einer bewussteren – Systematisierung der Geschichte jenes Raumes in Mitteleuropa geliefert werden, das sich heute als „Deutsch“ bezeichnet.
Lässt man also die deutsche Geschichte mit dem Heiligen Römischen Reich beginnen, tritt sogleich die erste Schwierigkeit auf: Wann beginnt eigentlich dessen Geschichte? Der erste Reflex als Antwort auf diese Frage führt offensichtlich zur Kaiserkrönung Karls des Großen an Weihnachten 800. Als erster westlicher Kaiser nach dem nach Untergang des antiken weströmischen Reiches bildete er die Grundlage für das, was später als römisch-deutsches Kaisertum bezeichnet werden wird. Darüber hinaus beriefen sich aber auch die französischen Könige der folgenden fast 1000 Jahre auf Charle le Magne. Das Frankenreich – dessen Kaiser er war – ist jedenfalls nicht als deutsch zu verstehen. Die Konturen werden erst nach dem Tod Karls des Großen und der Aufteilung des Frankenreichs in letztendlich eine Ost- und eine Westhälfte klarer. Folgerichtig lässt die Forschung das Heilige Römische Reich erst später – konkret mit Otto I.5 und noch konkreter mit der legendären Schlacht am Lechfeld 955 – beginnen. Und doch soll an dieser Stelle angezweifelt werden, ob man bereits hierbei wie Jan von Flocken von der „Geburt der deutschen Nation“6 sprechen kann, gab es doch weder eine Vorstellung dessen, was ab dem 18./ 19. Jahrhundert Nation genannt werden wird, noch trug das Heilige Römische Reich in dieser Zeit den Zusatz „deutscher Nation“. Dieser letzte Sachverhalt wird übrigens im Zusammenhang mit der Einteilung der deutschen Geschichte in die drei Reiche durch den einleitend erwähnten Moeller van den Bruck bewusst unterschlagen beziehungsweise falsch dargestellt. Seine Bezeichnung dieses mittelalterlichen Gebildes als „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“ ist jedenfalls anachronistisch.
Bemerkenswert in Zusammenhang mit der Fragestellung dieses Essays ist darüber hinaus, die eigene, also mittelalterliche Einordnung des Heiligen Römischen Reiches in die – natürlich eurozentristische – Weltgeschichte. Grundlage hierfür bildete vor allem die sogenannte Vier-Reiche-Lehre auf Grundlage der spätantiken Danielauslegung des Hieronymus. Letzterer geht von einer Einteilung der Weltgeschichte in vier Reiche aus: Babylon, das Reich der Perser, Griechenland und zuletzt das römische Reich7. Im Anschluss an diese vier Reiche sollte in der Erwartungshaltung der Gelehrten des im Prinzip gesamten Mittelalters die Apokalypse folgen, das irdische Leben also zu einem Ende kommen. Der aus damaliger Sicht scheinbare Widerspruch zur Realität – das letzte (römische) Reich war ja zumindest im Westen längst untergegangen – wurde mit dem politisch-religiösen Konzept der translatio imperii aufgelöst: Das antike römische Reich war demzufolge nicht unter-, sondern auf das Heilige Römische Reich des Mittelalters übergegangen8. In der selben Logik wurde davon ausgegangen, dass dem möglichen und zeitnah zu erwarteten Untergang dieses Reiches die Apokalypse und das Weltengericht unmittelbar folgen müsste.
Für das aus Sicht des 20. Jahrhunderts als erstes Reich bezeichnete Heilige Römische Reich zeigt sich also gleich in doppelter Hinsicht, wie unpassend und vor allem anachronistisch diese Nummerierung ist: Einerseits handelte es sich im Selbstverständnis der Herrscher und Gelehrten des Heiligen Römischen Reichs bereits um das vierte in einer bis auf die Babylonier zurückgehenden Kette – die Vorstellung eines ersten Reiches war völlig abwegig. Geradezu weltfremd musste darüber hinaus der Gedanke sein, dass noch weitere (je nach Sichtweise: zweite, dritte oder fünfte, sechste) Reiche folgen sollten. Immerhin war doch mindestens im Mittelalter völlig unstrittig, dass mit dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches auch der Untergang der Welt einhergeht.
Nach dem endgültigen Untergang des Heiligen Römischen Reiches – tatsächlich aufgrund der bis 1806 nahezu vollständig erodierten Macht des Kaisers nur noch ein Formalakt – folgten 65 Jahre ohne eine Mitteleuropa überformende Struktur, die als „Reich“ bezeichnet wurde oder werden konnte. Und doch war dies keine Zeit der Ruhe. Spätestens seit den 30iger Jahren des 19. Jahrhunderts finden sich allerorts und immer stärker werden Bestrebungen, die nationale Einheit – ein Deutsches Reich – herzustellen. War das die Suche nach Kontinuität, nach renovatio imperii, nach einem zweiten Reich, in dem Vergangenes wieder hergestellt werden soll?
[...]
1 Dietrich Eckart (Hrsg.), Auf gut deutsch, Wochenzeitschrift für Ordnung und Recht, Nr. 19/20. Wolfratshausen 1919, S. 296.
2 Hierbei ignoriert er, dass der Zusatz „Deutscher Nation“ erst eine Erfindung der Neuzeit ist. Damit vermeidet er die Diskussion, ob sowohl der Nationen-Begriff als auch der Begriff des „Deutschen“ überhaupt anwendbar sind.
3 Bärsch, Claus-Ekkehard: Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiösen Dimensionen der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler. 2. Auflage. München 2002, S. 57.
4 Ullrich, Volker / Staas, Christian: Vom zweiten zum „Dritten Reich“. In: Zeit Geschichte Nr. 4/2010 (https://www.zeit.de/zeit-geschichte/2010/04/Interview), abgerufen am 20.01.2023.
5 Vgl. Althoff, Gerd: Otto I., der Große. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 19. Berlin 1999, S. 656–660.
6 Von Flocken, Jan: Lechfeld – Geburt der deutschen Nation. In: https://www.welt.de/kultur/history/ article948139/ Lechfeld-Geburt-der-deutschen-Nation.html, abgerufen am 20.01.2023.
7 Vgl. Courtray, Régis: Der Danielkommentar des Hieronymus. In: Bracht, Katharina / Du Toit, David (Hrsg.): Die Geschichte der Daniel-Auslegung in Judentum, Christentum und Islam. Studien zur Kommentierung des Danielbuches in Literatur und Kunst (=Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, Bd. 371). Berlin / New York 2007, S. 140 f..
8 Thomas, H.: 'Translatio Imperii', in Lexikon des Mittelalters, Band 8. Stuttgart 1999. Sp. 944 – 946.
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- Oliver Gebauer (Autor), 2023, Die Begrifflichkeiten des ersten, zweiten und dritten Reiches, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1331476
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