Jugendliche zeigen insbesondere in der Zeit der Adoleszenz eine hohe Vulnerabilität für Risikoverhalten. Im Rahmen dieser Arbeit wird der Fokus auf das selbstverletzende Verhalten als eine Form von Risikoverhalten gelegt. Da selbstverletzendes Verhalten besonders in der Adoleszenz eine hohe Prävalenz zeigt, ist es sehr wahrscheinlich, dass Pädagog*innen im Rahmen ihres Berufes mindestens einmal mit selbstverletzendem Verhalten bei Jugendlichen konfrontiert werden. Damit sie in solchen Situationen nicht überfordert sind und unangemessen reagieren, sind diverse Kenntnisse zu Handlungsanweisungen und Interventionsmöglichkeiten nötig. Solche sollen im Rahmen dieser Arbeit formuliert werden. Dafür wird zunächst eine Definition der Begriffe Jugend, Pubertät und Adoleszenz vorangehen. Die Begriffe werden häufig synonym verwendet, die Differenzierung und Abgrenzung untereinander ist allerdings wichtig, um die Entwicklung von Jugendlichen zu verstehen und die daraus folgenden Ursachen für selbstverletzendes Verhalten in der Adoleszenz nachvollziehen zu können.
Im Anschluss daran werden die biologischen und kognitiven Veränderungen aufgegriffen. Diese erläutern wiederum, wie es zu den Entwicklungsaufgaben kommt, die im darauffolgenden Kapitel erläutert werden. Risikoverhalten in Form von Alkohol- und Drogenmissbrauch, Mutproben, aber eben auch selbstverletzendem Verhalten, können Verhaltensweisen darstellen, die eine Adoleszenzkrise bemerkbar machen. Im Anschluss wird ein Einblick in die Definition des selbstverletzenden Verhaltens gegeben, wobei es keine einheitliche Definition gibt. Demnach werden eine Einteilung und Differenzierung von synonym verwendeten Begriffen wie Automutilation, Autoaggression und selbstverletzendes Verhalten vorgenommen und eine Definition für selbstverletzendes Verhalten erarbeitet, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit verwendet wird. Im achten Kapitel folgt eine Angabe der möglichen Klassifikationen und der Erscheinungsformen von selbstverletzendem Verhalten. Es wird dabei zwischen Häufigkeit, Verletzungsgras, Dauer, Automatisierung und Stereotypisierung differenziert. Auch häufig genutzte Instrumente und betroffene Körperstellen werden aufgegriffen. Die Prävalenz von selbstverletzendem Verhalten wird im neunten Kapitel ausgearbeitet, wobei sich die Angaben dazu je nach Literatur stark voneinander unterscheiden.
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffsdefinition Jugend - Pubertät - Adoleszenz
3. Biologische und kognitive Entwicklung
3.1 Biologische Veränderungen
3.2 Kognitive Veränderungen
4. Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz
5. Adoleszenzkrise
6. Risikoverhalten
7. Definition Selbstverletzendes Verhalten
8. Klassifikation und Erscheinungsformen selbstverletzender Verhaltensweisen
9. Prävalenz
10. Funktionen von selbstverletzendem Verhalten
11. Erklärungsansätze
11.1 Biologische Ansätze
11.2 Lerntheoretischer Ansatz
11.3 Psychoanalytischer Ansatz
11.4 Entwicklungspsychopathologischer Ansatz
12. Risikofaktoren
12.1 Biologische Faktoren
12.2 Kognitive Faktoren
12.3 Emotionale Faktoren
12.4 Soziale Faktoren
12.5 Trauma und Missbrauch
13. Komorbidität
13.1 Persönlichkeitsstörungen
13.2 Impulskontrollstörungen
13.3 Substanzmissbrauch
13.4 Essstörungen
13.5 Affektive Störungen
13.6 Dissoziative Störungen
14. Das integrative Modell
15. Prävention
16. Pädagogische Intervention
17. Grenzen der pädagogischen Arbeit
18. Fazit
19. Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Periodisierung des Jugend- und frühen Erwachsenenalters
Abbildung 2: Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz nach Havighurst - dargestellt unter der Perspektive des Übergangszwischen Kindheit und frühem Erwachsenenalter
Abbildung 3: Entwicklungspsychopathologisches Modell des selbstverletzenden Verhaltens
Abbildung 4: Bedingungsmodell des selbstverletzenden Verhaltens im Jugendalter
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Angaben zum Beginn von selbstverletzendem Verhalten in einer Stichprobe von 490 Studierenden
1. Einleitung
„Es gehört einfach irgendwie zu meinem Leben.
Meine Arme sind von Narben übersät.
Für mich kommt sowieso jede Hilfe zu spät, weil ich in dieser Situation nicht denken kann, weil ich mein Handeln dann nicht lenken kann. Ich spüre, morgen fang ich wieder an, auch wenn ich es eigentlich gar nicht will.
Erst nach diesem Ritzen, da werde ich still.
Dann kehrt plötzlich Ruhe in mir ein.
Dann bin ich stark und nicht mehr so klein.“ (Chrsita Wieckhorst 2008, S.3)
Jugendliche zeigen insbesondere in der Zeit der Adoleszenz eine hohe Vulnerabilität für Risikoverhalten. Dieses Risikoverhalten kann bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben für einen kurzen Zeitraum auftreten, es kann sich allerdings auch pathologisch entwickeln und in eine dauerhafte Form übergehen (vgl. In-Albon; Plener; Brunner; Kaess 2015, S. 9). Im Rahmen dieser Arbeit wird der Fokus auf das selbstverletzende Verhalten als eine Form von Risikoverhalten gelegt. „Erleben und begreifen zu müssen, daß sich das eigene Kind absichtlich und dauerhaft leichte oder schwere Verletzungen zufügt [...], schockiert Eltern und Pädagog*innen in denkbar heftigster Form“ (Klosinski 1999, S. 2). Da selbstverletzendes Verhalten besonders in der Adoleszenz eine hohe Prävalenz zeigt, ist es sehr wahrscheinlich, dass Pädagog*innen im Rahmen ihres Berufes mindestens einmal mit selbstverletzendem Verhalten bei Jugendlichen konfrontiert wird. Damit sie in solchen Situationen nicht überfordert sind und unangemessen reagieren, sind diverse Kenntnisse zu Handlungsanweisungen und Interventionsmöglichkeiten nötig. Solche sollen im Rahmen dieser Arbeit formuliert werden. Dafür wird zunächst eine Definition der Begriffe Jugend, Pubertät und Adoleszenz vorangehen. Die Begriffe werden häufig synonym verwendet, die Differenzierung und Abgrenzung untereinander ist allerdings wichtig, um die Entwicklung zu von Jugendlichen zu verstehen und die daraus folgenden Ursachen für 1 selbstverletzendes Verhalten in der Adoleszenz nachvollziehen zu können. Im Anschluss daran werden die biologischen und kognitiven Veränderungen aufgegriffen. Diese erläutern wiederum, wie es zu den Entwicklungsaufgaben kommt, die im darauffolgenden Kapitel erläutert werden. In Kapitel 5 und 6 wird anschließend Bezug auf die Adoleszenzkrise genommen, die sich bei einer Bewältigung der Entwicklungsaufgaben entwickeln kann, und inwiefern sich diese Adoleszenzkrise auf das Verhalten der Jugendlichen auswirken kann. Risikoverhalten in Form von Alkohol- und Drogenmissbrauch, Mutproben, aber eben auch selbstverletzendem Verhalten, können Verhaltensweisen darstellen, die eine Adoleszenzkrise bemerkbar machen. Im Anschluss wird ein Einblick in die Definition des selbstverletzenden Verhaltens gegeben, wobei es keine einheitliche Definition gibt. Demnach werden eine Einteilung und Differenzierung von synonym verwendeten Begriffen wie Automutilation, Autoaggression und selbstverletzendes Verhalten vorgenommen und eine Definition für selbstverletzendes Verhalten erarbeitet, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit verwendet wird. Im achten Kapitel folgt eine Angabe der möglichen Klassifikationen und der Erscheinungsformen von selbstverletzendem Verhalten. Es wird dabei zwischen Häufigkeit, Verletzungsgras, Dauer, Automatisierung und Stereotypisierung differenziert. Auch häufig genutzte Instrumente und betroffene Körperstellen werden aufgegriffen. Die Prävalenz von selbstverletzendem Verhalten wird im neunten Kapitel ausgearbeitet, wobei sich die Angaben dazu je nach Literatur stark voneinander unterscheiden. Im Anschluss werden die Funktionen von selbstverletzendem Verhalten aufgeführt, wobei an dieser Stelle die Gründe von Betroffenen für ihr Verhalten gemeint sind. Darauffolgend versuchen unterschiedliche Erklärungsansätze einen objektiveren Einblick in die Gründe für selbstverletzendes Verhalten zu geben. Dabei wird zwischen biologischen, lerntheoretischen, psychoanalytischen und entwicklungspsychopathologischen Ansätzen unterschieden. Aus diesen Ansätzen ergeben sich diverse Faktoren, die unter Umständen das Risiko für selbstverletzende Verhaltensweisen in der Adoleszenz erhöhen. Diese lassen sich wiederum in biologische, kognitive, emotionale und soziale Faktoren oder Trauma und Missbrauch als Risikofaktor gliedern. Auch die im darauffolgenden Kapitel zur Komorbidität genannten psychischen Störungen stellen ein erhöhtes Risiko für die Entstehung selbstverletzender Verhaltensweisen dar. Übersichtshalber werden diese allerdings in einem separaten Kapitel aufgeführt. Psychische Störungen, die häufig komorbid zu selbstverletzendem Verhalten auftreten sind Persönlichkeits-, Impulskontroll- und Essstörungen. Auch Substanzmissbrauch, affektive und dissoziative Störungen sind häufig komorbid vorzufinden. In Kapitel 14 wird das integrative Modell nach Petermann und Nitkowski vorgestellt, das versucht die einzelnen Einflussfaktoren in Beziehung zueinander darzustellen. Anschließend werden mögliche Präventionsmaßnahmen genannt, wobei zwischen Primär- und Sekundärprävention unterschieden wird. Es werden einzelne Projekte zur Prävention von selbstverletzendem Verhalten vorgestellt, die zur Umsetzung in schulischen Einrichtungen entwickelt wurden. Das sechzehnte Kapitel befasst sich mit den pädagogischen Interventionsmaßnahmen, die durch die vorangegangenen Kapitel herausgearbeitet werden konnten. Durch die pädagogischen Interventionsmaßnahmen eine Hilfestellung im Rahmen der pädagogischen Arbeit für den Umgang mit sich selbstverletzenden Jugendlichen zu geben, ist Ziel dieser Arbeit. Dafür werden zunächst die möglichen Situationen und Arbeitsfelder, in denen selbstverletzendes Verhalten häufig auftritt, genannt. Anschließend wird ein Einblick in die pädagogische Grundhaltung gegeben, sodass Pädagog*innen wissen, wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten sollten. Dies können Erstkontakte sein, also wenn selbstverletzendes Verhalten das erste Mal bei einer Person beobachtet werden oder diese Person selbst auf die Pädagog*innen zugeht. Es kann sich allerdings auch um Akutsituationen oder zu einer Therapie unterstützenden Alltagssituationen handeln. Wichtig sind auch die in Kapitel 17 genannten Grenzen der pädagogischen Arbeit, die allen Pädagog*innen bewusst sein muss. Pädagog*innen sind nicht ausgebildet, um pathologisch selbstverletzendes Verhalten zu ergründen und zu behandeln. Die eigenen Fähigkeiten, Interventionsmöglichkeiten aber auch die eigenen Grenzen zu kennen, machen ein gute pädagogische Arbeit in Zusammenhang mit selbstverletzendem Verhalten in der Adoleszenz aus.
2. Begriffsdefinition Jugend - Pubertät - Adoleszenz
Um den Zusammenhang zwischen der Adoleszenz und selbstverletzendem Verhalten herzustellen, beziehungsweise zu ergründen, warum selbstverletzendes Verhalten eine verbreitete Form einer psychischen Störung in der Zeit der Adoleszenz darstellt, benötigt es zunächst eine Definition des Adoleszenzbegriffs. Da die Begriffe Jugend, Pubertät und Adoleszenz sowohl im alltäglichen Sprachgebrauch als auch in diverser Literatur häufig synonym verwendet werden, soll an dieser Stelle eine kurze Differenzierung dieser Begriffe erfolgen.
Die Jugend wird im großen Rahmen als Transition von der Kindheit zum Erwachsenenalter angesehen. Näher betrachtet gibt es allerdings unterschiedliche Diskurse und Perspektiven darüber, was mit Jugend gemeint ist und welche Personengruppe als jugendlich gilt.
Juristisch gesehen sind Jugendliche alle Personen, die das vierzehnte, jedoch noch nicht das achtzehnte Lebensjahr erreicht haben (vgl. §7 SGB VIII). Als „junge Volljährige“ (ebd.), also noch nicht gänzlich Erwachsen, gelten Personen, die achtzehn, aber noch nicht siebenundzwanzig Jahre alt sind. Gemäß den Vereinten Nationen gelten Personen älter als vierzehn und jünger als fünfundzwanzig als Jugendliche (vgl. United Nations, o.J.). Auch wenn sich die Definitionen ein wenig voneinander unterscheiden, ist zu erkennen, dass sich die rechtliche Perspektive immer auf gewisse Altersbegrenzungen bezieht. Jugend wird hier also als altersnormierter Rechtsbegriff definiert.
In der Psychologie wird das Jugendalter angesehen als „eine Phase innerhalb des Lebenszyklus, die durch das Zusammenspiel biologischer, intellektueller und sozialer Veränderungen zur Quelle vielfältiger Erfahrungen wird“ (Oerter; Dreher 2008, S. 271). Jugendliche befinden sich demnach in einer Phase, in der sie sich individuell entwickeln und sich dabei an veränderte Gegebenheiten anpassen. Die Jugendlichen sind dabei in einer Übergangssituation, in der ihnen die Merkmale eines Kindes aberkannt werden und die Merkmale eines Erwachsenen noch nicht zugewiesen werden (vgl. ebd.).
Aus soziologischer Sicht gilt die Jugend als „[...] eine gesellschaftlich institutionalisierte, intern differenzierte Lebensphase, deren Verlauf, Ausdehnung und Ausprägungen wesentlich durch soziale Bedingungen und Einflüsse (sozioökonomische Lebensbedingungen, Strukturen des Bildungssystems, rechtliche Vorgaben, Normen und Erwartungen) bestimmt sind. Jugend ist keine homogene Sozialgruppe, sondern umfasst unterschiedliche Jugen- den“ (Schäfers; Scherr 2005, S. 23). Es handelt sich also nicht um einen Übergang, der zeitlich festgelegt, beziehungsweise an ein biologisches Alter gebunden ist. Auch in der Pädagogik wird Jugend nicht zeitlich festgelegt, sondern wird als eigenständige Lern-, Bil- dungs- und Entwicklungsphase angesehen, die spezifische Anforderungen an pädagogisches Handeln impliziert. Häufig wird hier auch von der Jugend als Moratorium gesprochen. „Mit dem Begriff des Moratoriums ist grob gesagt, eine spezifische lebensgeschichtliche ,Auszeit‘ für die Jüngeren angesprochen, sichtbar gemacht in ausgewiesenen Zeiten, Räumen, Statuspositionen und Diskursen, die einen Rückzug auf Zeit aus bestimmten Verpflichtungen und Teilhaben der bürgerlichen Gesellschaft beinhaltet“ (Zinnecker 2000, S. 37). Die Jugendphase stellt eine Transition von der Kindheit ins Erwachsenenalter, der Schule in den Beruf und von der Familie in die Gesellschaft dar. Für diese Transition muss der Jugend aus pädagogischer Sicht eine Auszeit ermöglicht werden, in der sie sich ausprobieren und Erfahrungen sammeln kann. Eine Zeit, in welcher der Jugend die Möglichkeit geboten wird, einen eigenen Lebensstil, Zukunftsperspektiven und vor allem eine eigene Identität zu entwickeln. Das Moratorium erstrebt demnach das nötige Fundament an Wissen und Fähigkeiten für das Erwachsensein (vgl. ebd., S. 37ff).
Der Begriff Pubertät leitet sich von dem lateinischen Wort „Pubertas“ ab und meint die Geschlechtsreife. Die Pubertät gilt als die Zeit, in welcher der Körper biologische und endogene Veränderungen durchläuft. Dazu gehören zum Beispiel Wachstumsschübe, durch die sich Größe, Gewicht, Körperproportionen des Öfteren ändern. Auch die Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale (zum Beispiel stärkere Körperbehaarung, Brustwachstum, Menstruation) findet während der Pubertät statt. Sie wird häufig als Beginn der Jugendphase markiert. Mit Erreichen der Geschlechtsreife gilt die Pubertät als beendet (vgl. Hurrelmann 1997, S. 193).
Adoleszenz bezeichnet das Heranwachsen, also den Abschnitt zwischen Pubertät und Erwachsensein. Während in der Pubertät die körperliche und sexuelle Reifung stattfindet, folgt in der Adoleszenz die psychosoziale Reifung. Die Pubertät und die damit verbundenen Veränderungen können einen Konflikt bezüglich des körperlichen Selbstbildes bei den Jugendlichen auslösen. Sie befinden sich in einer Zeit der Bewältigung und Anpassung an die körperliche und sexuelle Reifung und stehen vor der Herausforderung ein neues Selbstbild zu finden. Darüber hinaus löst die Pubertät psychische Entwicklungsprozesse aus, in denen die Jugendlichen zum Beispiel lernen ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, unabhängiger von den Eltern zu werden. Meist wird von Entwicklungsaufgaben gesprochen, von denen die Adoleszenz maßgeblich gekennzeichnet ist, weshalb darauf im weiteren Verlauf dieser Arbeit nochmal näher Bezug genommen wird. Da in der Adoleszenzzeit viele unterschiedliche Umbrüche und Entwicklungen stattfinden, wird sie häufig nochmal in unterschiedliche Phasen geteilt. In Abbildung 1 werden die Phasen zur Differenzierung in frühe, mittlere- und späte Adoleszenz dargestellt. In der frühen Adoleszenz findet insbesondere die Auseinandersetzung mit den körperlichen Veränderungen der Pubertät statt. Weiterhin entwickeln sich in dieser Phase die Selbstwahrnehmung und das abstrakte Denkvermögen weiter. In der mittleren Adoleszenz wird zunehmend der Kontakt zu Gleichaltrigen gesucht und gewinnt weiter an Bedeutung. Die eigene Geschlechtsidentität entwickelt sich und der Kontakt zu dem anderen Geschlecht wird interessanter. Außerdem beginnt in dieser Phase häufig das Hinterfragen von moralischen Prinzipien und bisherigen Weltanschauungen. Als letzte Phase wird hier die späte Adoleszenz aufgeführt, in der die zunehmende Ablösung von den Eltern stattfindet, eigene moralische Prinzipen entwickelt werden, sich die eigene Weltanschauung verändert und die berufliche Zukunft geplant wird. Dabei stellt die in Abbildung 1 dargestellte Unterteilung keinesfalls eine normierte Einteilung dar. Häufig werden die Begriffe Prä- und Postadoleszenz verwendet, woran zu erkennen ist, dass auch gröbere Unterteilungen in lediglich zwei Phasen möglich sind. Auch die Altersangaben in Abbildung 1 sind keine standardisierten Angaben. Weder für die Pubertät noch für die Adoleszenz können Beginn und Ende anhand eines Alters festgelegt werden, so wird zum Beispiel ein zunehmend früheres Durchschnittsalter für den Eintritt der Menstruation beobachtet, auch Altersunterschiede bei der Entwicklung zwischen Jungen und Mädchen konnten festgestellt werden. Die unterschiedlichen Phasen werden immer durchlaufen, jedoch sind das Ausmaß und der zeitliche Rahmen individuell. Die Altersangaben sollen daher lediglich der ungefähren Einschätzung dienen und werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit keine Anwendung finden (vgl. Dreher 2010, S. 2ff.).
Abbildung 1: Periodisierung des Jugend- und frühen Erwachsenenalters
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Dreher 2010, S. 6.
Zusammenfassend ist die Jugendzeit durch die Pubertät und die Adoleszenz gekennzeich- net. Während die Pubertät die Zeit der Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale, also die körperliche Reifung darstellt, ist die Adoleszenz eine Zeit der mentalen Auseinandersetzung mit den körperlichen und psychosozialen Veränderungen, die bei dem Übergang in das Erwachsensein entstehen.
Für ein besseres Verständnis der zuvor beschriebenen Veränderungen, wird als nächstes ein kurzer Einblick zu der biologischen und kognitiven Entwicklung von Jugendlichen gegeben werden.
3. Biologische und kognitive Entwicklung
Dieses Kapitel greift zunächst die biologischen Veränderungen, das heißt Wachstumsprozesse und Hormonumstellungen auf. Anschließend soll ein grober Überblick zu den kognitiven Entwicklungen folgen.
3.1 Biologische Veränderungen
Die biologischen Veränderungen finden wie bereits erwähnt größtenteils in der Pubertät statt. So findet in der Pubertät zum Beispiel eine erhöhte Produktion von Hormonen statt. Während vor der Pubertät beide biologischen Geschlechter jeweils gleich viele Sexualhormone produzieren, steigt mit der Pubertät bei den Jungen der Androgengehalt und bei den Mädchen der Östrogengehalt. Diese Sexualhormone führen zur Reifung und Funktion der Geschlechtsmerkmale. So werden zum Beispiel Stimmbruch, stärkere Behaarung, Schambehaarung, Bartwuchs und der Muskelaufbau durch das Androgen beeinflusst, auch das Wachstum von Hoden, Hodensack, Penis, Prostata, Samenblase und die erste Ejakulation entsteht durch die Zunahme der Sexualhormone. Bei den Frauen führen die Östrogene zur Reifung von Brüsten, Brustwarzen, Gebärmutter, Eierstöcken und Schamlippen. Außerdem beginnt das Wachstum von Schambehaarung, das Becken weitet sich und die Menstruation setzt ein. Neben Östrogenen sind auch Gestagene wichtige Sexualhormone bei den Frauen. Sie sind insbesondere für die Vorbereitung der Schleimhäute zuständig, durch die die Einnistung einer befruchteten Eizelle ermöglicht wird. Auch für die Erhaltung einer Schwangerschaft sind Gestagene verantwortlich (vgl. Wipfler 2007, S. 11ff.).
Auch die Produktion von Wachstumshormonen wird in der Pubertät gesteigert. Sie regen die Zellteilung und das Zellwachstum an, wodurch das Wachstum des Körpers gefördert wird. Bei diesem rasanten Wachstum wird häufig von einem puberalen Wachstumsschub gesprochen, der bei den Mädchen in der Regel etwas früher einsetzt als bei den Jungen. Eingangs verfügen beide biologischen Geschlechter noch über die gleiche Muskelmenge, in der Pubertät nimmt dann die Muskelmasse bei den Jungen zu, die Mädchen hingegen bilden in dieser Zeit mehr Fettgewebe. Dabei handelt es sich allerdings nicht um ein lineares Wachstum, es verläuft in Schüben und führt daher, auch bezogen auf die Geschlechtsorgane, zu einem ungleichmäßigen Wachstum. Dies wiederum führt häufig zu einem unproportionalen Gesamtbild (vgl. ebd., S. 10f.).
Das Gehirn ist ebenfalls von den Veränderungen betroffen. „Neue Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie und den Neurowissenschaften konnten zeigen, dass es während der Adoleszenz zu einer grundlegenden Reorganisation des Gehirns kommt. In der postnatalen Hirnentwicklung wird zuerst das Maximum der Dichte der grauen Substanz im primären sensomotorischen Kortex erreicht, wohingegen der präfrontale Kortex zuletzt reift. Demgegenüber entwickeln sich subkortikale Hirnareale - insbesondere das limbische System sowie das Belohnungssystem - früher, so dass in der Adoleszenz ein Ungleichgewicht zwischen reiferen subkortikalen und unreiferen präfrontalen Hirnstrukturen besteht“ (Firk; Konrad; Uhlhaas 2013, S. 425). Die subkortikalen Hirnareale sind überwiegend für die Steuerung von Emotionen und Trieben zuständig, präfrontale Hirnareale steuern die kognitiven Funktionen. Dementsprechend sind in der Adoleszenz zunächst Gehirnstrukturen, die für die Verarbeitung von Gefühlen und Impulsen zuständig sind, stärker entwickelt als die Strukturen, die unter anderem für rationale Handlungsentscheidungen, Planung und Risikoeinschätzungen verantwortlich sind (vgl. ebd., S. 427).
3.2 Kognitive Veränderungen
Wie zuvor erläutert, reifen, wenn auch langsamer, die präfrontalen Hirnstrukturen in der Adoleszenzzeit, wodurch auch die kognitiven Fähigkeiten langsam zunehmen.
So nimmt zum Beispiel das logische Denkvermögen zu, es fällt zunehmend leichter abstrakt zu denken, Hypothesen aufzustellen. Das Denken wandelt sich mehr in die deduktive anstelle der induktiven Richtung. In der Adoleszenz wird sich das selbstständige Lernen angeeignet, auch Probleme und Konflikte können eigenständig gelöst werden, wobei auch die Möglichkeit der Übernahme und Koordination verschiedener Perspektiven hilfreich ist. Allgemein werden Jugendliche in der Adoleszenz selbstständiger, lösen sich zunehmend von den Eltern und treffen eigene Entscheidungen. Sie werden kritikfähiger und reflektieren sich selbst. Die Kognition führt dazu, dass Handlungsoptionen gegenübergestellt werden können und ermöglicht die Abwägung über die Konsequenzen der unterschiedlichen Handlungen (vgl. Gaar 2009, S. 17f.).
Da diese Entwicklung ihren Höhepunkt allerdings erst mit ungefähr fünfundzwanzig Jahren, häufig auch später, erreicht (vgl. Wipfler 2007, S. 14) und die subkortikalen Hirnstrukturen wie in Kapitel zwei beschrieben schon früher entwickelt sind, bleibt in der Adoleszenz weiter eine Tendenz zur emotionsgeleiteten Handlung.
Die Kognition ist besonders hilfreich für eine positive Bewältigung der in der Adoleszenz anstehenden Entwicklungsaufgaben, da anhand der zunehmenden kognitiven Fähigkeiten wird der Umgang mit den Entwicklungsaufgaben erleichtert (vgl. Gaar 2009, S. 17).
Mit Blick auf die frühe und schnelle Wachstumsphase in der Pubertät wird deutlich, dass Kinder durch die Pubertät häufig schon früh ein erwachsenes Erscheinungsbild erlangen. Dies führt nicht selten dazu, dass die Gesellschaft auch entsprechende Erwartungen und Anforderungen an diese Kinder stellt. Da die kognitive Entwicklung allerdings erst später und langsamer erfolgt, kann die emotionale und psychosoziale Reifung der Kinder nicht mit diesen Ansprüchen mithalten. In diesem Zusammenhang wird von dem Phänomen der Akzeleration gesprochen.
4. Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz
Der Begriff Entwicklungsaufgaben wird häufig in der Jugendliteratur aufgegriffen. Das Konzept der Entwicklungsaufgaben wurde jedoch zunächst von Robert J. Havighurst formuliert und umfasst die gesamte Lebensspanne des Menschen.
„A developmental task is a task which arises at or about a certain period in the life of the individual, successful achievement of which leads to his happiness and to success with later tasks, while failure leads to unhappiness in the individual, disapproval by the society, and difficulty with later tasks“ (Havighurst 1972, S.2, zit. n. Schenk 2004, S.43).
Demnach wird jedes Individuum in bestimmten Lebenssituationen mit gesellschaftlichen Anforderungen und Lernaufgaben konfrontiert. Diese gilt es zu bearbeiten, da sie für die Herausbildung beziehungsweise für die Weiterentwicklung der eigenen Identität von Bedeutung sind. Die Entwicklungsaufgaben sind dabei immer voneinander abhängig und miteinander vernetzt, die eine Aufgabe bringt also nötige Fähigkeiten und Kompetenzen für die nächste Aufgabe mit sich. Deshalb führt die erfolgreiche Bewältigung einer solchen Aufgabe dazu, dass die nächste Aufgabe leichter zu bearbeiten ist. Während das Gelingen der Aufgaben zu gesellschaftlicher Anerkennung und zu steigendem Wohlbefinden beiträgt, führt das Scheitern zu persönlicher Unzufriedenheit, einer Ablehnung des Individuums durch die Gesellschaft und zu Problemen bei der Bewältigung der nachfolgenden Aufgaben.
Für die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben gibt es bestimmte Zeiträume, die als optimale Rahmenbedingung dienen. Dieser Zeitraum wird auch als „sensitive Periode“ (Grob; Jaschinski 2003, 28) bezeichnet. Entwicklungsaufgaben können auch außerhalb der sensitiven Periode bearbeitet werden, allerdings wird die Bewältigung hier schwieriger und es ist ein größerer Aufwand nötig (vgl. ebd.).
Havighurst beschreibt den Lebenslauf als eine Reihe von Problemen, die durch die Kombination von kulturellen Normen und Erwartungen der Gesellschaft, physischen Reifungsprozessen und den individuellen Erwartungen und Wertvorstellungen entstehen (vgl. Raithel; Dollinger; Hörmann 2009).
Die kulturellen Normen und Erwartungen meinen dabei die (altersbezogenen) Anforderungen, die von der Gesellschaft an das Individuum herangetragen werden. Diesen muss das Individuum entsprechen, sodass es von der Gesellschaft anerkannt und als Teil dieser angesehen wird. Diese Aufgaben sind kulturabhängig und können sich genau wie Normen mit der Zeit verändern, was bedeutet, dass sich auch die Entwicklungsaufgaben verändern. Die physischen Reifungsprozesse, zum Beispiel die Pubertät, sind hingegen eher einheitlich und dienen als Ausgangspunkt für Entwicklungsaufgaben. Die individuellen Erwartungen und Wertvorstellungen sind von dem Individuum abhängig und meinen dessen Ziele, Werte und Einstellungen, nach denen es handelt und sich eigene Aufgaben stellt (vgl. ebd.).
Entwicklungsaufgaben sind somit Lernaufgaben und beschreiben die Entwicklung als einen lebenslangen Prozess, sie verbinden die individuellen Bedürfnisse und gesellschaftliche 9 Anforderungen. Das Absolvieren dieser Aufgaben führt zum Erwerb der Fähigkeiten, die für eine erfolgreiche Bewältigung des Lebens erforderlich sind.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2:: Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz nach Havighurst - dargestellt unter der Perspektive des Übergangszwischen Kindheit und frühem Erwachsenenalter
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Oerter; Dreher 2008, S. 281.
Havighurst unterteilt in seinem Konzept die Entwicklungsaufgaben in die Lebensabschnitte frühe Kindheit, mittlere Kindheit, Adoleszenz, frühes Erwachsenenalter, mittleres Erwachsenenalter und spätes Erwachsenenalter (vgl. Trautmann 2004, S.24). Dabei befinden sich jeweils die Entwicklungsaufgaben vor, während und nach einer Lebensphase in Verbindung. Dies wird in Abbildung 2 deutlich, welche die Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz darstellt und dabei die Entwicklung von der mittleren Kindheit zur Adoleszenz und von der Adoleszenz zum frühen Erwachsenenalter verbindet. Havighurst definiert demnach die auf Abbildung 2 genannten acht Entwicklungsaufgaben für die Adoleszenz, welche den Übergang von der mittleren Kindheit zum frühen Erwachsenenalter darstellen (vgl. Oerter; Dreher 2008, S. 280).
Auch Erikson hat ein in acht Stadien aufgeteiltes Stufenmodell entwickelt, das sich mit der psychosozialen Entwicklung beschäftigt und verschiedene Entwicklungsaufgaben umfasst:
1. Urvertrauen vs. Urmisstrauen
2. Autonomie vs. Selbstzweifel und Scham
3. Initiative vs. Schuld
4. Kompetenz vs. Minderwertigkeitsgefühl
5. Identität vs. Identitätsdiffusion
6. Intimität vs. Isolation
7. Generativität vs. Stagnation
8. Ich-Integrität vs. Verzweiflung (Sendera; Sendera 2011, S. 23).
Die Stufen bauen ebenfalls aufeinander auf, das heißt, es benötigt eine ausreichende Auseinandersetzung mit dem Konflikt einer Stufe, um den Konflikt der darauffolgenden Stufe bezwingen zu können. Im Fokus der Adoleszenz steht hier Stufe fünf, die Identitätsbildung. Das Scheitern an einer Entwicklungsaufgabe kann unter Umständen eine gestörte psychische Entwicklung hervorbringen (vgl. ebd., S. 22f.).
Die Störungen, die möglicherweise bei einer Nicht-Bewältigung von Entwicklungsaufgaben entstehen, werden auch Adoleszenzkrisen genannt.
5. Adoleszenzkrise
Die Adoleszenz ist durch viele Übergänge, Veränderungen und Anforderungen, zum Teil auch überzogene Anforderungen, Stichpunkt Akzeleration, von der Gesellschaft an die Jugendlichen geprägt. Dadurch kann es leicht zu Überforderungen oder Rebellionen kommen, wodurch wiederum Probleme bei dem Lösen von Entwicklungsaufgaben entstehen können.
Adoleszenzkrisen meinen Störungen, die in der Adoleszenz entstehen, wenn die Adoleszenten Probleme bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben aufweisen. Dabei handelt es sich um vorübergehende Störungen, die sich meist positiv entwickeln. Grundsätzlich kann daher gesagt werden, dass sich eine Adoleszenzkrise „als Störung der Sexualentwicklung, Autoritätskrise, Identitätskrise, narzisstische Krise oder Depersonalisation und Derealisation äußern kann, als Übersteigerung normaler adoleszenter Entwicklungsvorgänge zu erklären ist und im Gegensatz zur Persönlichkeitsstörung meist durch plötzlichen Beginn und günstigen Verlauf charakterisiert ist“ (Pschyrembel Online 2016, o. S.).
Solche Krisen können allerdings auch massiv den Alltag behindern und zu einer Verzögerung oder Blockade bei dem Übergang in die nächste Entwicklungsphase führen. Übliche Methoden der Problemlösung reichen an dieser Stelle möglicherweise nicht mehr aus. Außerdem resultiert daraus eine gewisse Vulnerabilität, die durch weitere Umstände rapide zu einer Bedrohung für die weitere psychosoziale Entwicklung führen kann (Gunten 2008, S. 32ff.).
Adoleszenzkrisen werden häufig durch Alkohol- und Drogenkonsum, aggressive Interaktionen, Delinquenz, riskantes Sexualverhalten, auffälliges Essverhalten, Selbstverletzendes Verhalten ausgedrückt. Diese Verhaltensweisen werden auch als Risikoverhalten bezeichnet (ebd.).
6. Risikoverhalten
„Risikoverhalten gilt im Weiteren als ein unsicherheitsbezogenes Verhalten, das zu einer Schädigung führen kann und somit eine produktive Entwicklung - in Bezug auf die Entwicklungsziele Individuation und Integration - gefährdet“ (Raithel 2011, S. 26).
Risikoverhalten kann in verschiedenen Bereichen und Arten auftreten. Unterteilt werden kann dabei in gesundheitliches, delinquentes, finanzielles und ökologisches Risikoverhalten. Gesundheitliches Risikoverhalten meint dabei ein Verhalten, das zu Krankheit, Verletzung, Lebensbedrohung, Unfällen führen kann. Beispiele hierfür sind die Einnahme von Drogen und Alkohol, riskante Ernährungsmuster, Risikosportarten, Mutproben, ungeschütztes Sexualverhalten, riskantes Verkehrsverhalten. Delinquentes Risikoverhalten kann Sanktionen oder Strafmaßnahmen hervorrufen. Hier geht es unter anderem um Gewalttaten wie Körperverletzungen, sexuellen Übergriffen, aber auch um Diebstahl, Sachbeschädigung, Einbruch, Verstoß gegen Verkehrsregeln, Besitz und Verbreitung von illegalen Drogen. Finanzielles Risikoverhalten hingegen beschreibt die Teilnahme an Glücksspielen wie Sportwetten und Lotterien, auffälliges Kaufverhalten und Abschließen von Verträgen wie Handy, Internet, Kredit. Finanzielles Risikoverhalten kann somit unter Umständen zu Verschuldung und Pfändungen führen. Ökologisches Risikoverhalten ist auf die Umwelt gerichtet, und bezieht sich auf Umweltverschmutzungen in Form von mehrfachen Flugreisen, Müllentsorgungen in der Natur oder ähnliches. Zu der Unterteilung ist allerdings beizutragen, dass Risikoverhaltensweisen meist mehreren Kategorien zuzuordnen sind, also zum Beispiel ein gesundheitliches und gleichzeitig delinquentes Risiko darstellen (vgl. ebd., S. 28).
Bei dem Versuch das häufig auftretende Risikoverhalten in der Adoleszenz zu ergründen, wird man sowohl auf biologische als auch auf neurobiologische Aspekte stoßen. Inwiefern Entwicklungsaufgaben und Risikoverhaltensweisen zusammenhängen, wurde bereits dargestellt. Aber auch die zuvor aufgegriffene Entwicklung des Gehirns kann zu Risikoverhalten beitragen. Die langsame Entwicklung der präfrontalen Hirnstrukturen führt bei der schnelleren Entwicklung der subkortikalen Hirnstrukturen häufig zu einem emotionsgeleitenden Handeln in der Adoleszenz. Jugendliche in der Adoleszenz sind demnach besonders vulnerabel für Mutproben und andere Risikoverhaltensweisen. Erst mit zunehmender rationaler Handlungsentscheidung, die mit der Entwicklung präfrontaler Hirnstrukturen zusammenhängt, nimmt diese Vulnerabilität wieder ab (vgl. Kunert 2013, S. 66).
„In der Adoleszenz können vorübergehende Verhaltensabweichungen auftreten und die Abgrenzung einer solchen krisenhaften Zuspitzung der ohnehin typischen Probleme in der Adoleszenz von der Entwicklung manifester psychischer Erkrankungen wie Depression oder einer Borderline-Persönlichkeitsstörung kann bisweilen schwierig sein“ (In-Albon; Ple- ner; Brunner; Kaess 2015, S. 9). Risikoverhaltensweisen ähneln demnach nicht selten den Symptomen psychischer Störungen und erschweren die Differenzierung voneinander. Selbstverletzendes Verhalten zum Beispiel ist häufig als Risikoverhalten zu erkennen, wenn es sich um ein „gelegentlich, zeitlich begrenzt[es]“ (ebd.) Auftreten handelt. Als Symptom einer psychischen Erkrankung hingegen tritt selbstverletzendes Verhalten meist als wiederholende und länger andauernde Handlung auf. Wie bereits erwähnt verlaufen Adoleszenzkrisen meist glücklich und das Risikoverhalten nimmt wieder ab, es kann allerdings auch in eine psychische Störung übergehen. Selbstverletzendes Verhalten als vereinzeltes temporäres Risikoverhalten muss und sollte nicht mit selbstverletzendem Verhalten als Symptom psychischer Erkrankungen gleichgesetzt werden. Dennoch gilt es das Risikoverhalten zu beobachten, um den möglichen Übergang zu einer psychischen Störung frühzeitig erkennen zu können (vgl. ebd.).
7. Definition Selbstverletzendes Verhalten
Der Begriff selbstverletzendes Verhalten ist nicht einheitlich definiert. Mit Blick auf verschiedene Literatur wird deutlich, dass selbstverletzendes Verhalten unterschiedlich klassifiziert wird. Im englischsprachigen Raum gibt es 33 verschiedene Begriffe, die in diesem Zusammenhang genutzt werden und auch im deutschsprachigen Raum werden Begriffe wie Autoaggression, Automutilation, Parasuizid, Selbstbestrafung und Selbstverletzung häufig synonym gebraucht (vgl. Warschburger; Kröller 2008, S. 210). Englische Begriffe wie ,self- injurious behavior', ,self-harming behavior' und ,self-mutilation‘ sind alle unterschiedlich weit 13 gefasst und schließen jeweils andere Formen mit ein. Generell beleuchten sowohl die englischsprachigen als auch die deutschsprachigen unterschiedliche Aspekte hinsichtlich der Motive und Funktionen von selbstverletzendem Verhalten (vgl. Petermann; Nitkowski 2015, S. 18f.). Die Definitionen zu den im englischen Sprachraum genutzten Begriffen würden den Rahmen dieser wissenschaftlichen Arbeit übersteigen. Es soll allerdings ein kurzer Einblick zu den Begriffen Autoaggression, Automutilation, suizidalem Verhalten, selbstverletzendem Verhalten im engeren Sinn und artifizielle Störungen gegeben werden.
Als Überbegriff für alle Formen von selbstschädigendem Verhalten kann die Autoaggression bezeichnet werden. Die Autoaggression kann anschließend dahingehend unterteilt werden, ob es sich bei dem selbstschädigenden Verhalten um suizidales und parasuizidales Verhalten handelt, das die explizite Suizidintention mit sich bringt, die Person durch das selbstschädigende Verhalten den Tod hervorrufen will. Auf der anderen Seite steht die Automutilation, das nichtsuizidale autoaggressive Verhalten (vgl. ebd.).
Der Automutilation werden demnach alle selbstschädigenden Verhaltensweisen zugeordnet, die eben entgegengesetzt zu dem suizidalen Verhalten nicht mit einer expliziten Suizidabsicht erfolgen. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass selbstschädigendes Verhalten bezogen auf die Automutilation zu einem Tod führen kann, dieser ist allerdings nicht der ausdrückliche Grund für das Verhalten. Die Automutilation ist demnach ein etwas weiter gefasster Begriff und kann nochmal in selbstverletzendes Verhalten im engeren Sinn und Artifizielle Störungen differenziert werden (vgl. ebd.).
Artifizielle Störungen werden auch als Automanipulation von Erkrankungen oder heimliche Selbstverletzung bezeichnet. Artifizielle Störungen sind Erkrankungen, die sich dadurch äußern, dass Betroffene sich heimlich aktiv selbst schädigen. Dabei täuschen sie Krankheiten beziehungsweise Symptome vor oder induzieren diese absichtlich. So erzeugen sie zum Beispiel Hauterkrankungen durch das Auftragen von Säuren oder Laugen auf der Haut, injizieren sich Substanzen sodass Fieber oder Infektionen entstehen, täuschen Bauchschmerzen vor, um den Verdacht auf Magen-Darm-Erkrankungen zu lenken, nehmen eigenes oder tierisches Blut ein, um Bluthusten vorzutäuschen oder ähnliches. Die Bandbreite für mögliche Methoden von heimlicher Selbstschädigung ist groß. Als heimlich wird diese Selbstschädigung deshalb bezeichnet, weil die Betroffenen zwar aktiv Krankheitssymptome vortäuschen oder aufrechterhalten, sich allerdings nicht selbst als Auslöser für diese Symptome bekennen. Betroffen sind von diesen Störungen überwiegend Frauen. Einsamkeit, der Wunsch nach Zuwendung beziehungsweise generell überwiegend soziale Funktionen, die an späterer Stelle nochmal aufgegriffen werden, stellen Motive für dieses Verhalten dar. Die Betroffenen verfügen meist über medizinische Kenntnisse, weshalb es ihnen deutlich leichter fällt, die Symptome überzeugend und glaubhaft bei dem ärztlichen Personal vorzustellen. Dadurch kommt es häufig zu langanhaltenden Krankenhausaufenthalten und teilweise schweren medizinischen Eingriffen, da die Untersuchungsergebnisse nicht zu den glaubhaften Symptomen der Betroffenen passen. (vgl. Eckhardt 1994, S. 45).
Eine Unterkategorie von artifiziellen Störungen stellt das sogenannte Münchhausen-Syndrom dar. Häufig wird bei einer artifiziellen Störung die Diagnose eines Münchhausen-Syndroms auch voreilig gestellt, obwohl diese eben nur eine kleine Unterkategorie darstellt und sich von der eigentlichen artifiziellen Störung abgrenzt. Betroffene von generell artifiziellen Störungen befinden sich meist in einem intakten sozialen Umfeld, entlassen sich selten selbst aus dem Krankenhaus und wechseln das Krankenhaus eher selten. Die Erscheinungsformen gestalten sich von außen gesehen bei den beiden Erkrankungen sehr ähnlich. Betroffene des Münchhausen-Syndroms haben allerdings meist ein gestörtes soziales Umfeld und leiden an Beziehungsstörungen. Sie täuschen ihre Krankheit gegenüber dem ärztlichen Personal vor, glauben allerdings auch selbst daran, dass sie krank sind. Dafür nehmen sie unterschiedliche Identitäten an, entlassen sich vor einer Diagnosestellung im Krankenhaus immer selbst, um so ihre fantastischen Geschichten aufrecht erhalten zu können. Deshalb zeigen Münchhausen-Betroffene auch meist das Bild von sogenannten Krankenhauswanderern. Um sich davor zu schützen, dass ihr Konstrukt zerbricht, wechseln sie häufig das Krankenhaus. Das Münchhausen-Syndrom tritt im Gegensatz zu generellen artifiziellen Störungen überwiegend bei Männern auf (vgl. ebd., S. 63ff.).
Selbstverletzendes Verhalten im engeren Sinn, häufig auch als offene Selbstverletzung bezeichnet, wird dahingehend von artifiziellen Störungen abgegrenzt, dass sich die Betroffenen selbst verletzen, um ihrem Körper bewusst zu schaden. Dabei geht es im Gegensatz zu den artifiziellen Störungen nicht darum eine Krankheit oder ähnliches vorzutäuschen, es geht primär um die Verletzungen an sich und die dadurch resultierenden Funktionen, welche an späterer Stelle genauer aufgegriffen werden. Gemeint sind daher absichtliche Verletzungen des eigenen Körpers, denen keine Suizidabsicht zugrunde liegt, weshalb auch häufig der Begriff des nichtsuizidalen selbstverletzenden Verhaltens gebraucht wird. Dabei schließt selbstverletzendes Verhalten im engeren Sinn indirekte Formen von Selbstverletzungen aus. Damit sind zum Beispiel Suchtmittelkonsum, Verweigerung notwendiger Medikamente oder Nahrungsverweigerung gemeint, also alle Formen von selbstverletzendem Verhalten, die zwar langfristige Konsequenzen, aber keine unmittelbaren Verletzungen hervorrufen. (vgl. Petermann; Nitkowski 2015, S. 18f.). „Zum selbstverletzenden Verhalten im engeren Sinne zählen auch nicht Risikoverhaltensweisen, wie Drogenmissbrauch oder riskantes Sport- oder Fahrverhalten. Hierbei nehmen die Betroffenen zwar eine Selbstverletzung in Kauf, sie wird jedoch im Rahmen der Handlung nicht angestrebt“ (Warschburger; Kröller 2008, S. 210). Direkte Formen bringen demzufolge unmittelbare Verletzungen mit sich, beispielsweise Schnittverletzungen, Wunden von Schlägen oder ähnliches. Weiter wird zwischen sozial akzeptierten und sozial nicht akzeptierten Formen unterschieden, wobei es sich bei sozial akzeptierten Formen um Piercings, Tattoos oder religiös beziehungsweise kulturell bedingte Verletzungen, zum Beispiel Beschneidungen, handelt. Diese sozial akzeptierten Formen werden nicht zu selbstverletzendem Verhalten im engeren Sinn gezählt, da bei diesen die Ästhetik beziehungsweise der Glaube im Vordergrund steht und nicht die Verletzung an sich (vgl. Petermann; Nitkowski 2015, S. 18ff.).
Aus diesen Motiven und Funktionen für selbstverletzendes Verhalten im engeren Sinn ergibt sich die Definition, dass „selbstverletzendes Verhalten [...] gleichbedeutend mit einer funktionell motivierten Verletzung oder Beschädigung des eigenen Körpers [ist], die in direkter und offener Form geschieht, sozial nicht akzeptiert ist und nicht mit suizidalen Absichten einhergeht“ (ebd., S. 22).
Bei dieser Definition handelt es sich nicht um eine einheitlich anerkannte Definition. Da sie allerdings die wichtigsten Kritikpunkte präzise genug umfasst und sich dadurch von anderen selbstschädigenden Verhaltensweisen abgrenzt, wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit mit dieser Definition konform gegangen. Dabei werde ich vereinfachend den Begriff des selbstverletzenden Verhaltens verwenden und nicht ständig darauf hinweisen, dass es sich um selbstverletzendes Verhalten im engeren Sinn beziehungsweise offenes nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten handelt. Sollten im Verlauf der Arbeit suizidale Formen oder artifizielle Störungen gemeint sein, werden diese explizit erwähnt.
8. Klassifikation und Erscheinungsformen selbstverletzender Verhaltensweisen
Hinsichtlich der selbstverletzenden Verhaltensweisen gibt es noch weitere Klassifikationsmöglichkeiten, die an dieser Stelle vorgestellt werden sollen. Differenziert werden kann dabei zwischen Häufigkeit, Verletzungsgrad, Dauer, Automatisierung und Stereotypisierung.
Die stereotype Selbstverletzung meint dabei sich häufig wiederholende, monoton ablaufende Verhaltensweisen. Diese treten häufig bei geistig beeinträchtigten Menschen auf und treten in Form von Sich-Beißen, Sich-Kratzen, Nasen- und Ohrenbohren oder mit Schlägen gegen den Kopf beziehungsweise Schlagen des Kopfes gegen andere Gegenstände. Dabei kann diese Form in unterschiedlichen Schweregraden auftreten (vgl. Simeon; Favazza 2001, S.3ff. / Petermann; Nitkowski 2015, S. 30f. / Warschburger; Kröller 2008, S. 212f.).
Schwere Selbstverletzung schließt besonders schwere Verletzungen wie Amputation, Kastration oder ähnliches ein. Dieses Verhalten tritt meist in Fällen von psychischen Erkrankungen auf, zum Beispiel im Fall von Schizophrenie. Aber auch Intoxikationen oder neurologische Erkrankungen können zu dieser Form von selbstverletzendem Verhalten führen. Meist sind solche Fälle sporadisch und episodisch, sie können vorausgeplant oder auch impulsiv eintreten. Überwiegend sind männliche Personen von dieser Art betroffen (vgl. ebd.).
Zwanghaftes beziehungsweise kompulsives selbstverletzendes Verhalten beschreibt mit Haareausreißen, Nägelbeißen, Skin-Picking beziehungsweise Ski-Scratching, also das Quetschen, Kratzen, übermäßige Berühren der Haut eher leichtere Verletzungen. Diese haben eine hohe Wiederholungstendenz und können einen zwanghaften Charakter annehmen, sodass Betroffene sich häufig mehrmals am Tag auf diese Weise verletzen (vgl. ebd.).
Impulsives selbstverletzendes Verhalten schließt leichte bis mittelschwere, aber nicht unmittelbar lebensbedrohliche Verletzungen ein. Dabei handelt es sich überwiegend um Schneiden, Verbrennen, sich selbst schlagen oder ähnliches. Impulsives selbstverletzendes Verhalten ist dabei die bei Jugendlichen am meisten verbreitete Form, sie tritt episodisch oder auch repetitiv auf, wobei ein episodisches Verhalten auch leicht in ein repetitives Verhalten übergehen kann (vgl. ebd.).
Auch Klosinski unterteilt bei den Dimensionen des Schweregerades ähnlich in leichte, schwere und extreme Selbstverletzungen. Leichte Formen meinen dabei zum Beispiel „das Schlagen mit der Hand oder der Faust an den Kopf, Sich-selbst-Beißen oder -Kneifen, Sich- selbst-blutig-Kratzen und das Ausreißen von Haaren. Schwere Formen liegen vor, wenn mit dem Kopf gegen Wände oder Türbogen geschlagen wird, wenn sich die Betreffenden Teile der Lippe oder der Zunge abbeißen oder wenn mit den Fingern ein heftiges Augenbohren erfolgt. Auch tiefe Schnittverletzungen oder Verbrennungen sind hier zu nennen. Extreme Selbstverletzungen, die u.U. tödlich enden, sind Selbstenukleation (Entfernung des Auges), Selbstverstümmelung der Genitalien, selbstvollzogene Amputationen ganzer Körperteile und Autokannibalismus“ (Klosinski 1999, S. 16).
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- Citation du texte
- Vanessa Schneider (Auteur), Selbstverletzendes Verhalten in der Adoleszenz. Welche pädagogischen Interventionsmöglichkeiten gibt es?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1331409
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