In dieser Arbeit soll die Möglichkeit einer europäischen Identität im Lichte der neueren Identitätsforschung erörtert werden. Dabei wird zunächst kurz auf den Diskurs der europäischen Identität in Wissenschaft und Öffentlichkeit eingegangen. Anhand eines „klassischen“ Modells kollektiver Identität werden normative Aspekte für das Entstehen einer der nationalen ähnlichen europäischen Identität entwickelt. Die Unmöglichkeit dieser bzw. die Tatsache, dass sie schlicht nicht wünschenswert wäre, macht eine angemessenere Identitätstheorie notwendig, und zwar eine postmoderne. Auf dieser Grundlage entsteht dann eine realistische Option für eine europäische Identität.
INHALT
1 Einleitung
2 Einführung in den Diskurs der europäischen Identität
3 Die Entstehung kollektiver Identität
3.1 Der Begriff der Nation
4 Europa
4.1 Hat die EU unter diesen Voraussetzungen eine kollektive Identität?
4.2 Kann die EU eine derartige kollektive Identität bekommen?
4.3 Braucht die EU eine solche Identität?
5 Ein anderes Identitätsmodell
5.1 Das postmoderne Menschenbild
5.2 Moderne Sozialpsychologie und soziale Identität
6 Schlussfolgerungen für die europäische Identität
7 Quellen
1 Einleitung
Kein europarelevanter Diskurs wird so öffentlichkeitswirksam geführt wie der der europäischen Identität. Aus Anlass der Osterweiterung, des Status der Türkei und ganz aktuell wegen der gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden war und sind die Fragen „Was ist Europa?“ oder „Wie europäisch sind die Europäer?“ in aller Munde. Und jeder hat eine Meinung. Und zwar eine, die am besten zu den gerade anliegenden politischen Ambitionen passt.
Ein konservativer Politiker kann sich im gleichen Atemzug darüber auslassen, dass die nationale Identität immer noch das Wichtigste sei und der Aufweichung durch Europäisierung standhalten wird, und dass die Türkei auf keinen Fall einfach der EU beitreten könne, schließlich sei sie nicht europäisch. Haben wir nun eine europäische Identität oder nicht? Schließen sich europäische und nationale Identität gegenseitig aus und müssen gegeneinander kämpfen?
Dass wir irgendeine Art von europäischer Identität brauchen, liegt auf der Hand. Damit ambitionierte grenzüberschreitende Projekte über die wirtschaftliche Integration hinaus erfolgreich sein können, muss ein Gemeinschaftsgedanke als Voraussetzung für Kommunikations- und Konsenswille gegeben sein. Denn wenn nicht gerade ein utilitaristischer Grund zur Einigung vorliegt, wird es anderweitig unmöglich sein, einen konstruktiven, gemeinsamen Weg zu finden. Wer sich nicht einigen muss, einigt sich nicht. Kompromisse entstehen nur da, wo klar ist, dass die Einzelnen keine Chance haben sich den Konsequenzen zu entziehen, weil sie eben zur Gruppe dazugehören.[1]
Muss man für so eine europäische Identität aber Grundlagen aus dem Mittelalter oder gar der Antike heran zerren? Muss wirklich krampfhaft konstruiert werden? Denn: Welche Art von Menschen soll Träger dieser Identität sein? Auf diese Fragen soll hier versucht werden, eine Antwort zu geben.
2 Einführung in den Diskurs der europäischen Identität
Angesichts von Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union wird die Frage nach einer gemeinsamen Identität essenziell. Der intensive Diskurs geht dabei in zwei Richtungen: Zum einen wird in diversen Erhebungen, vor allem aber der EU-eigenen EUROBAROMETER-Umfrage, immer wieder festgestellt, dass das Europabewusstsein der Bürger noch sehr schwach ausgeprägt ist und dass die Identifizierung mit der nationalen Identität stark überwiegt. Daran anknüpfend steht die Behauptung, dass die Bürger entweder eine starke nationale oder europäische Identität haben, es also einen regelrechten Kampf um die Zuneigung geben muss. Dabei schwingt – häufig nicht nur implizit – die Angst mit, die Nationalstaaten könnten Gesicht und Eigenart in einem europäischen Schmelztiegel verlieren. Daraus folgt dann eine mehr oder weniger kategorische Ablehnung jeglicher Integration von über die Wirtschaft hinausgehenden Bereichen. Euroskeptiker also.
Doch auch so ein Euroskeptiker kann Europa ganz schnell für sich einen, wenn es um die Abgrenzung nach außen geht, v.a. gegen die Türkei, „den Osten“ oder die USA. Dabei stützen sie sich auf die gleichen Argumente wie Befürworter der Europaidee, die auf der Suche nach einer historisch-kulturellen Substanz für eine europäische Selbstbeschreibung sind (Diskursrichtung 2). Gudrun Quenzel hat in ihrem Artikel „Was ist das europäische an der europäischen Identität?“[2] elf verschiedene Grundkonzeptionen derselben zusammengetragen, die in der gängigen Argumentation mehr oder weniger miteinander vermischt verwendet werden. Im Vergleich mit der übrigen Literatur kann Quenzels Liste als repräsentativ angesehen werden, daher sollen die von ihr gefundenen Konzeptionen hier kurz vorgestellt werden.
Die erste Selbstbeschreibung der Europäer ist die als Kontinent (geographische und kulturelle Einheit). Die hier konstatierte europäische Kultur und gemeinsame Geschichte grenzt Europa nach Asien, dem Orient, der Türkei und „dem Osten“ gegenüber ab. Als zweites werden Zivilisation und technischer Fortschritt für Europa proklamiert, „der Rest“[3] kann da nicht mithalten. Die Idee des christlichen Abendlandes (3.), die die Trennung von Staat und Kirche beinhaltet, unterscheidet uns vom Islam, den USA und der Türkei. Außerdem soll in Europa „ästhetische Einheit“ herrschen (4.), die Kunstgeschichte habe sich in parallelen Epochen entwickelt – eine Behauptung, die nach Quenzel mit Vorsicht zu genießen ist. Fünftens soll in Europa ein reflexive Wissensgemeinschaft beheimatet sein, die in öffentlichen Diskursräumen Konflikt- und Kritikfähigkeit zeigt. Sechstens haben wir durch die Gemeinschaft der europäischen Staaten ein „Europa der „Vaterländer““, das zu den Nicht-EU-Staaten abgrenzend wirkt. Siebtens wird die soziale Schichtung mit Mittelstand und Bürgertum als europa-typisch angesehen, ebenso wie die Arbeitsethik und der Wohlfahrtsstaat (8.). Darüber hinaus ist Europa eine Werte-, Kommunikations- und negative Erinnerungsgemeinschaft (9.-11.).
Die Selbstbeschreibung ist also zunächst eine Ab- und Ausgrenzung, die Behauptung, Vereinnahmung und oft mühsame Konstruktion einer kaum einheitlich definierbaren europäischen Identität.
3 Die Entstehung kollektiver Identität
Kollektive Identitäten entstehen durch einen gleichzeitigen Prozess der Inklusion und Exklusion. Im Rahmen der Inklusion werden die Zugehörigkeitskriterien festgelegt, die Gemeinsamkeiten, die ein Mitglied erfüllen muss, um zur Gruppe zu gehören. Diese Kriterien sind dabei weder überhistorisch noch objektiv.[4] Die Exklusion beschäftigt sich mit der Konstruktion des Gegenpols, des „Anderen“. Kollektiven Identitäten ist also ein gewisser Grad an Xenophobie immanent, da sie für ihre Selbstdefinition unverzichtbar ist. Eine Gruppe ist nur besonders im Vergleich mit anderen.
Man kann kollektive Identitäten also als symbolische Konstrukte beschreiben, die in einem kommunikativen Prozess entstanden sind.[5] Dabei muss allerdings noch zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung unterschieden werden. Denn kollektive Identitäten können nicht nur durch Eigenkonstruktion entstehen: Auch wenn bestimmte Menschen von anderen außerhalb immer als Gruppe gesehen und benannt werden, tritt über kurz oder lang ein Wir-Gefühl ein („die Ausländer“).
Dieses Wir-Gefühl ist das soziale Kapital der Gemeinschaft. Es ist die Quelle von Solidarität selbst in schwierigen Situationen.[6] Deshalb ist kollektive Identität auch von enormer politischer Bedeutung. Für die Mitglieder hat die Gruppe zudem eine Orientierungsfunktion; widerstreitende moralische Ansprüche werden normativ koordiniert.[7] In verschiedenen sozialen Sphären erfolgt eine Homogenisierung, die aber nie absolut sein kann. Kollektive Identitäten bleiben veränderlich und plural, selbst wenn ihre Konstruktion irgend wann zur Tatsache geworden ist.
3.1 Der Begriff der Nation
Die Nation ist wohl die kollektive Identität, die die vergangenen zweihundert Jahre entscheidend geprägt hat. Für die meisten deutschen Staatsbürger steht heute außer Frage, dass sie Mitglieder der deutschen Nation sind, dass es „die Deutschen“ schon immer gegeben hat. Dennoch ist auch die Nation nur eine groß angelegte Konstruktion, eine „imagined community“[8]. Ist für Benedict Anderson die Entwicklung einer gemeinsamen Drucksprache ausschlaggebend für Entstehung von Nation, Sprache also der entscheidende Inklusionsfaktor, so muss heute die Nation mehr durch einen gemeinsamen Diskurs geeinigt gesehen werden (Hall). Land, Ethnie oder Sprache treten zurück hinter einer identitätsstiftenden gemeinsamen Vergangenheit, die gerne auch konstruiert sein darf. Die Idee der Schicksalsgemeinschaft, Tradition und ein Gründungsmythos machen die Illusion perfekt.[9] Dennoch glaubt man gemeinhin, eine Nation müsse von vorneherein eine gemeinsame Sprache und Kultur haben.
[...]
[1] Vergleiche hierzu Sandels Kritik an John Rawls‘ „Theorie der Gerechtigkeit“.
[2] Erschienen in: Schobert, Alfred; Jäger, Siegfried: Mythos Identität. Fiktion mit Folgen. Münster: Unrast, 2004.
[3] Originalbeschreibung Quenzel ebd., S.82.
[4] Saurwein: Die Konstruktion kollektiver Identitäten und die Realität der Konstruktion. S.10.
[5] Saurwein: Die Konstruktion kollektiver Identitäten und die Realität der Konstruktion. S.9.
[6] Reiterer: Soziale Identität. S.76.
[7] Em>
[8] Anderson: Imagined Communities. S.5ff.
[9] Eickelpasch/Rademacher: Identität. S.69f.
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