Wie ist die aktuelle ambulante Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum Baden-Württembergs? Welche Maßnahmen wurden und müssen noch zusätzlich ergriffen werden, um eine stabile ärztliche Versorgung im ambulanten Sektor zu gestalten? Das sind die Fragestellungen, die diese Hausarbeit untersucht. Zunächst werden als Hintergrundwissen die Aufgaben der verschiedenen Akteure im deutschen Gesundheitswesen allgemein erläutert. Im nächsten Schritt erfolgt eine Analyse über den Status Quo der ambulanten Versorgung im ländlichen Raum Baden-Württembergs. Abschließend werden geeignete Steuerungsinstrumente zur Beseitigung regionaler Disparitäten vorgestellt, erörtert und im Fazit bewertet. Um den Rahmen nicht zu sprengen, befasst sich diese Hausarbeit nur mit den Aspekten der hausärztlichen Versorgung.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Anlagenverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Deutsche Gesundheitssystem
2.1. Die Versicherungs- und Finanzierungsstruktur
2.2. Die sektorale Versorgungsstruktur
3. Die ambulante Versorgung in Baden-Württemberg
3.1. Aktuelle ambulante ärztliche Versorgung im ländlichen Raum
3.2. Herausforderungen der ärztlichen ambulanten Versorgung
3.2.1. Demografischer Wandel bei den Versicherten
3.2.2. Änderung des klassischen Rollenbilds Arzt-Patient
3.2.3. Altersstruktur und Nachwuchsproblematik bei den Ärzten
3.2.4. Anforderungen und Erwartungen der einzelnen Akteure
4. Handlungsansätze zur Sicherung der Versorgung
4.1. Auf- und Ausbau der kommunalen Kompetenzen
4.2. Frühzeitige Nachwuchsförderung und -anwerbung
4.3. Kooperationen für neue Versorgungsstrukturen
4.4. Telemedizin
4.5. Gesundheitsförderung und Prävention in der Kommune
5. Fazit
Literaturverzeichnis
Anlagen
Gender-Erklärung
Ehrenwörtliche Erklärung
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
„Die Gesundheit ist zwar nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts." (Arthur Schopenhauer 1788-1860)
Dieses über 150 Jahre alte Zitat ist heute aktueller denn je, denn Gesundheit bestimmt maßgeblich unsere individuelle Lebensqualität. Wie wichtig dabei eine funktionierende Gesundheitsversorgung ist, zeigt die aktuelle Pandemie. Die Gesundheitskrise hat einige Schwächen des deutschen Gesundheitssystems zu Tage befördert wie zum Beispiel den Fachkräftemangel bei der Ärzteschaft und dem Pflegepersonal oder die unzureichende Digitalisierung im Gesundheitswesen allgemein und im Besonderen im ländlichen Raum.1
Gemäß der Artikel 20 und 28 des Grundgesetzes ist der Staat verpflichtet, entsprechende Leistungen der Daseinsvorsorge für seine Bürger sicherzustellen: Die Schaffung von Rahmenbedingungen für eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung gehört daher zu seinen Aufgaben.2 Diese stellen insbesondere die Kommunen im ländlichen Raum vor großen Herausforderungen. Sie müssen attraktive Lebensbedingungen schaffen, um Nachwuchsärzte für die Region zu gewinnen. Andernfalls würde eventuell eine unzureichende Gesundheitsversorgung eine Abwanderung von arbeitsfähigen Bürgern nach sich ziehen, was wiederum zu einem Attraktivitätsverlust der Gemeinden und folglich zu einer Schwächung der Wirtschaftskraft führen würde. Zurück blieben zumeist wenig mobile Menschen unter anderem aufgrund ihres Gesundheitszustandes oder ihres Alters, die jedoch eine höhere ärztliche Versorgung benötigen würden. Die Folgen: maximale finanzielle Belastungen in der Gesundheitsversorgung bei gleichzeitig schrumpfenden Einnahmen für die Gemeinden.3
In der ambulanten Gesundheitsversorgung in Deutschland stellt der Hausarzt im alltäglichen Leben bei gesundheitlichen Beschwerden die erste Anlaufstelle dar. Daher ist eine Praxis vor Ort evident, was sich im ländlichen Raum immer schwieriger gestaltet. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zum einen findet in der hausärztlichen ambulanten Versorgung zunehmend ein Generationenwechsel statt, da viele praktizierende Ärzte der Baby-Boomer-Generation angehören, d.h. zwischen 1959 und 1968 geboren sind. Auf der Suche nach Nachfolgern konkurrieren sie mit den Praxen in städtischen Regionen, die in vielen Fällen attraktivere Rahmenbedingungen bieten. Die zweite große Hürde ist die geänderte Präferenz von Nachwuchsärzten, die bevorzugt ein Angestelltenverhältnis anstreben, um ihre Vorstellungen von work-life-balance besser verwirklichen zu können. Reduzierte und flexible Arbeitszeiten sowie geeignete Rahmenbedingungen für die Integration des berufstätigen Lebenspartners stehen auf der Wunschliste an oberster Stelle.
Hinzu kommen neue wissenschaftliche Erkenntnisse in der Medizin, die mehr Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fachgebieten erfordern, um Patienten umfassender und verantwortungsvoller versorgen zu können.4
Wie ist die aktuelle ambulante Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum Baden-Württembergs? Welche Maßnahmen wurden und müssen noch zusätzlich ergriffen werden, um eine stabile ärztliche Versorgung im ambulanten Sektor zu gestalten? Das sind die Fragestellungen, die diese Hausarbeit untersucht. Zunächst werden als Hintergrundwissen die Aufgaben der verschiedenen Akteure im deutschen Gesundheitswesen allgemein erläutert. Im nächsten Schritt erfolgt eine Analyse über den Status Quo der ambulanten Versorgung im ländlichen Raum Baden-Württembergs. Abschließend werden geeignete Steuerungsinstrumente zur Beseitigung regionaler Disparitäten vorgestellt, erörtert und im Fazit bewertet. Um den Rahmen nicht zu sprengen, befasst sich diese Hausarbeit nur mit den Aspekten der hausärztlichen Versorgung.
2. Das deutsche Gesundheitssystem
Das deutsche Gesundheitssystem hat sich seit dem Mittelalter über Jahrhunderte entwickelt. 1883 führte Otto von Bismarck die weltweit erste gesetzliche Sozialversicherung ein und legte damit den Grundstein für die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland. Das heutige Gesundheitswesen ist historisch gewachsen: Das wirtschaftliche Grundprinzip des deutschen Gesund- heitswesens basiert auf dem Sozialversicherungssystem, d.h. es wird zum großen Teil von den Beiträgen zur gesetzlichen und privaten Krankenversicherung getragen. Andere Formen der Finanzierung erfolgen zum Beispiel über Steuergelder durch den Staat, wie es in Großbritannien und Schweden praktiziert wird, oder über marktwirtschaftlich gestützte Systeme, in denen der Staat nur eine Nebenrolle spielt und das Gesundheitswesen von privaten Akteuren gesteuert wird wie beispielsweise in den USA.
Die Gesundheitspolitik untersteht im Bund dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG), das für die Gesetzesvorgaben, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften zuständig ist. Auch obliegt die Rechtsaufsicht über die verschiedenen Akteure im Gesundheitswesen seinem Verantwortungsbereich. Dabei wird das BMG von verschiedenen Fachinstitutionen unterstützt: das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), das Paul-Ehrlich-Institut als Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel (PEI), das Robert KochInstitut (RKI) und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).
Für die bundesweit agierenden Krankenkassen ist das Bundesamt für Soziale Sicherheit (BAS) zuständig. Die Aufsicht über die regionalen Krankenkassen liegt jedoch bei den Bundesländern: Sie sind für die Umsetzung der Bundesvorgaben verantwortlich sowie für die Planung der stationären Versorgung, die sie zum Teil mitfinanzieren. Die Kommunen schließen als kleinste politische Instanz den Kreis der Gesundheitsversorgung vor Ort. Sie leiten wichtige Entwicklungsprozesse ein und schaffen damit die Rahmenbedingungen für eine funktionierende medizinische Versorgung. Vielfach sind sie auch Träger von stationären Einrichtungen.5
2.1. Die Versicherungs- und Finanzierungsstruktur
Wie eingangs bereits erwähnt, wird in Deutschland die medizinische Versorgung über das Sozialversicherungssystem im Wesentlichen durch Beiträge finanziert und basiert auf diesen fünf Grundprinzipien.6
1. Versicherungspflicht
Die Krankenversicherungspflicht gilt für alle Bürger, die in Deutschland leben. Sie müssen sich über die gesetzliche Krankenkasse (GKV) versichern oder freiwillig privat, wenn ihr Einkommen einen bestimmten Betrag überschreitet: Aktuell liegt diese monatliche Bemessungsgrenze bei 5.362,50 €. Ausnahmen bilden dabei einige wenige Bevölkerungsgruppen, deren Brutto-Einkommen zwar unterhalb dieser Grenze liegen wie z.B. bei Beamten, Selbstständigen oder Studenten, die sich jedoch trotzdem über eine private Krankenkasse (PKV) versichern dürfen. Der Großteil der deutschen Bevölkerung ist jedoch gesetzlich versichert: Im Jahre 2020 waren es mit 73,36 Millionen Menschen über 88%. Die PKV zählte 8,73 Millionen Versicherte (s. Anlage 1).7
2. Beitragsfinanzierung
Sowohl die GKV wie auch die PKV finanzieren sich über die Versichertenbeiträge. Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung basiert auf dem solidarischen Prinzip: Eingezahlte Beiträge sind unabhängig von individueller Inanspruchnahme, alle Versicherten erhalten die gleichen Leistungen. Die Bemessungsgrundlage ist das Bruttogehalt aus nicht-selbstständiger Arbeit. Zum allgemeinen Beitragssatz von momentan 14,6 % kommt ein individueller Zusatzbetrag von derzeit etwa 1,3 % der Krankenkassen hinzu: Beide Beträge werden zur Hälfte vom Arbeitgeber oder Rentenversicherungsträger übernommen. Zusätzlich sind Familienmitglieder ohne oder mit nur geringem Einkommen in der GKV mitversichert. Dem Umlageverfahren der GKV steht das Äquivalenzprinzip der PKV gegenüber. Die Höhe der Prämie richtet sich hier nach dem Gesundheitszustand, dem Eintrittsalter, individuellem Krankheitsrisiko, den gewünschten Leistungen sowie den vereinbarten Selbstbeteiligungen.8
3. Solidaritätsprinzip
Die Gesamtheit aller gesetzlich Versicherten kann als Solidargemeinschaft angesehen werden, da jeder Versicherte einkommensunabhängig Anspruch auf die Leistungen im Pflichtleistungskatalog hat, wobei diese je nach Krankenkassen und Regionen variieren können. Allgemeine Leistungsarten beinhalten unter anderem Maßnahmen zur Primärprävention, Gesundheitsförderung, Krankheitsfrüherkennung, zahnärztliche Leistungen sowie Behandlungen im Krankenhaus und in Kur- und Spezialeinrichtungen. Auch zählen häusliche Krankenpflege, psychotherapeutische Behandlungen, Geldleistungen in Form von Mutterschaftsgeld, Unterstützung durch eine Haushaltshilfe oder Krankengeld zu den ergänzenden Angeboten des Pflichtleistungskatalogs.9
4. Sachleistungsprinzip
Die gesetzlichen Krankenkassen agieren nach dem Sachleistungsprinzip, da sie keine eigenen medizinischen Einrichtungen für die Behandlung von Krankheiten unterhalten. Diese rechtliche Möglichkeit ist nur in Ausnahmefällen gemäß § 140 SGB V möglich. Die Krankenkassen schließen Verträge mit den Leistungserbringern wie Ärzte, Krankenhäuser, Apotheken, Therapeuten verschiedener Fachbereiche und stellen dem Versicherten diese medizinischen Sach- und Dienstleistungen zur Verfügung: Die Behandlung erfährt der Versicherte von den zuständigen Leistungserbringern. Die Verrechnung erfolgt dann direkt zwischen den Leistungsanbietern und Krankenkassen. Dem gegenüber steht das Kostenerstattungsprinzip der privaten Krankenkassen. Hier muss der Versicherte in Vorleistung gehen, da die Versicherungen die Kosten für ambulante ärztliche Behandlungen erst nachträglich erstatten. Seit Januar 2004 können GKV-Versicherte ebenfalls diese Erstattungsform wählen.10
5. Selbstverwaltungsprinzip
Die Organisation und Ausgestaltung des deutschen Gesundheitswesens erfolgt nach dem Selbstverwaltungsprinzip. Der Staat schafft die Rahmenbedingungen mit dem Erlass von Verordnungen und Gesetzen: Für die Umsetzung der medizinischen Versorgung kümmern sich die Versicherten, Vertreter der Leistungserbringer und Krankenkassen gemeinsam. Durch Verträge regeln sie die Art, den Umfang und den Preis der medizinischen Leistungen, wobei diese dem Gebot der Wirtschaftlichkeit unterworfen sind: Alle Maßnahmen müssen ausreichend, wirtschaftlich und zweckmäßig sein und dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.11
Der gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), bestehend aus dem GKV- Spitzenverband, der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), der Kassenärztlichen (KBV) und Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), vermittelt zwischen den unterschiedlichen Interessensgruppen und konkretisiert mit verbindlichen Richtlinien die Versorgung.12 Vertreter von Patienten- und Behindertenorganisationen haben ein Mitberatungs- und Antragsrecht, jedoch kein Stimmrecht.13
2.2. Die sektorale Versorgungsstruktur
Das deutsche Gesundheitssystem unterscheidet in der Versorgung klassisch zwischen dem ambulanten und stationären Sektor. Historisch betrachtet umfasst der stationäre Sektor die Versorgung in Krankenhäusern, Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, während die Praxen von Haus- und Fachärzten, Apotheken, Polikliniken und Versorgungszentren die zweite wichtige Säule bilden.14 Die strikte Trennung zwischen ambulant und stationär kann jedoch in Ausnahmefällen zugunsten einer besseren Patientenbehandlung aufgegeben werden, wenn zum Beispiel die Betreuung des zuständigen Facharztes nach einer Operation im Krankenhaus weiterhin erforderlich ist.15
Im Jahre 2019 betrugen die Gesundheitsausgaben in Deutschland 410,8 Milliarden Euro, was einen Anteil von 11,9% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) entspricht.16 Damit war Deutschland im EU-Vergleich Spitzenreiter: Im Durchschnitt lagen die EU-Gesundheitsausgaben bei 9,9% des BIP (s. Anlage 2).17 Für ambulante Einrichtungen wurden 204,5 Milliarden Euro aufgewendet. Dies war mit ca. 50% der kostenintensivste Bereich. An zweiter Stelle folgten stationäre und teilstationäre Einrichtungen mit 37%. Die restlichen 13% der gesamten Gesundheitsausgaben entfielen auf Rettungsdienste, Verwaltung, Gesundheitsschutz und sonstige Einrichtungen (s. Anlage 3).18
Stationärer Sektor:
Stationär behandeln lassen können Patienten sich nur mit der Einweisung eines Arztes, außer es handelt sich um einen Notfall. Dabei können Patienten die Krankenhäuser frei aussuchen. 2020 versorgten deutschlandweit rund 1.900 Krankenhäuser die Patienten: dazu gehören Einrichtungen, die entweder einen Versorgungsvertrag mit den gesetzlichen oder privaten Krankenkassen haben oder gemäß den Landesvorschriften über die nötigen Zertifikate als Hochschulklinik anerkannt werden oder ein sogenanntes Plankrankenhaus sind.19
Ambulanter Sektor:
Eine Besonderheit des deutschen Gesundheitssystems besteht darin, dass die ambulante medizinische Versorgung zum größten Teil über die Arztpraxen organisiert ist. Bei Erkrankung ist der Hausarzt der erste Ansprechpartner, wobei der Patient hier die freie Arztwahl hat. Alle niedergelassenen Ärzte benötigen eine Kassenzulassung, um an der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung teilnehmen zu können. Bedingung hierfür ist die Mitgliedschaft in einer Kassenärztlichen Vereinigung (KV) bzw. Kassenzahnärztlichen Vereinigung (KZV). Sie dürfen somit gesetzlich versicherten Patienten behandeln und über die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) die Leistungen abrechnen.20
Die Dichte der ambulanten Versorgung in den jeweiligen Niederlassungsbezirken wird über die Bedarfsplanung geregelt, in die Aspekte wie Bevölkerungsdichte und -struktur, Arztgruppen und Einrichtungen der Krankenversorgung einfließen. Ursprünglich wurde die Bedarfsplanung Anfang der 1990er Jahre eingeführt, um eine ärztliche Überversorgung aufgrund der hohen Ärztezahl zu vermeiden. Diese Situation hat sich jedoch gewandelt: Auch bei insgesamt ausreichenden Arztzahlen können strukturschwache Regionen Leerstellen nicht besetzen. Aus diesem Grunde wurde zum 01. Januar 2012 das GKV-Versor- gungsstrukturgesetz dahingehend angepasst, dass die regionalen Gegebenheiten vor Ort stärker in die Vorgaben der Bedarfsplanung einfließen. Zusätzlich wird die Verhältniszahl nach der Bedarfsplanungsreform ab dem 30.06.2019 alle zwei Jahre durch den Morbiditätsfaktor aufgrund der demografischen Entwicklung angeglichen. Der Morbiditätsfaktor ersetzt den bis dahin geltenden Demografiefaktor und entwickelt den Ansatz zur Berücksichtigung von Morbidität in der Planung weiter. Neben den zwei Geschlechtsgruppen und dem Morbiditätsgrad (insgesamt 16 Morbiditätsgruppen) werden vier Altersgruppen (unter 20, 20 bis unter 45, 45 bis unter 75, 75 und älter) anstelle von ursprünglich zwei Altersgruppen unterschieden. Neu ist auch, dass der Morbiditätsfaktor bei allen Arztgruppen angewendet wird.21
An der Bedarfsplanung orientieren sich alle Akteure im Gesundheitswesen. Die gesetzlichen und vertraglichen Rahmenbedingungen werden auf der politischen Ebene vom Bund über das BMG vorgegeben und auf Landesebene von den jeweiligen KV bzw. KZV unter Berücksichtigung der aktuellen Versorgungssituation umgesetzt. Der dritte Akteur sind die gesetzlichen Krankenkassen, die Verhandlungspartner auf Seiten der Versicherten.22
Das Ziel ist eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung in allen Planungsbereichen. Bei einem Versorgungsgrad von unter 110% ist der Planungsbereich geöffnet und neue Ärzte können sich niederlassen. Ist jedoch die allgemeine Verhältniszahl bei Fachärzten um 50% bzw. bei Hausärzten um 25% unterschritten, spricht man von einer Unterversorgung. In dem Fall sind die KVen angehalten, Maßnahmen zur Beseitigung der Unterversorgung zu initiieren.23 Eine Überversorgung liegt dann vor, wenn die vorgeschriebenen ArztEinwohner-Relation um mindestens 10% überschritten wird und zieht eine örtliche Zulassungsbeschränkung für Ärzte nach sich. Zusätzliche Zulassungen sind nur unter besonderen Voraussetzungen wie Sonderbedarf oder Jobsharing möglich.24 Mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) aus 2015 unterstehen die Kassenärztlichen Vereinigungen der Soll-Regelung, freiwerdende Vertragsarztsitze ab einem Versorgungsgrad von 140% aufzukaufen. Da die KV durch den Sicherungsauftrag an die morbiditätsorientierte Gesamtvergütung gebunden sind, müssen sie im Interesse ihrer Mitglieder die Zahl der Vertragsärzte möglichst eng an die Vorgaben einer bedarfsgerechten Versorgung koppeln: Mit jeder weiteren Zulassung würde sich sonst der Anteil der Vertragsärzte an der Gesamtvergütung verringern.25
3. Die ambulante Versorgung in Baden-Württemberg
Im nationalen Vergleich steht die ambulante ärztliche Versorgung in Baden- Württemberg gemäß den Aussagen des Forums Gesundheitsstandort BW gut da, weil das Land durch die Vielzahl an Universitäten, Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen zu den Top-Wissenschaftsstandorten im globalen Wettbewerb zählt. Insbesondere in der Gesundheitsforschung kann Baden-Württemberg mit 8 Universitäten, 14 Hochschulen für angewandte Wissenschaften und 5 Universitätskliniken des Landes eine hohe Kompetenz vorweisen und bietet eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung (siehe Anlage 4).26
3.1. Aktuelle ambulante ärztliche Versorgung im ländlichen Raum
Anhand der Fakten und Zahlen liegt die ambulante ärztliche Versorgung in Baden-Württemberg im Bundesdurchschnitt. Die bundesweite Verhältniszahl für die Hausärztliche Versorgung betrug im April diesen Jahres 1.607 (s. Anlage 5). Im bundesweiten Vergleich gibt es in Baden-Württemberg nur sehr wenige Mittelbereiche, in denen die Anzahl der Ärzte unter 1.437 Einwohnern liegt (s. Anlage 6).27 Baden-Württemberg wies Anfang 2021 durchschnittlich eine Verhältniszahl von 1.573 Einwohnern pro Hausarzt aus.28 Gemäß den Zahlen müsste sich Baden-Württemberg keine Sorge um die gesundheitliche Versorgung machen, doch dieser Eindruck täuscht. Auch hier gibt es ein ausgeprägtes StadtLand-Gefälle und die Probleme treten wie überall im ländlichen Raum auf.
In der ambulanten ärztlichen Versorgung unterteilt die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) in ihrem Versorgungsbericht in 43 Planungsbereiche mit 1.101 Gemeinden.29 Als Körperschaft des öffentlichen Rechts ist die KVBW mit dem Sicherstellungsauftrag betraut, die flächendeckende medizinische Versorgung der Menschen in Wohnortnähe zu gestalten und abzusichern. Diese Aufgaben erledigt sie mit Unterstützung ihrer Mitglieder: Aktuell sind es mehr als 23.000 Ärzte und Psychotherapeuten.30
In 21 Planungsbereichen gibt es mehr Hausärzte als gemäß Bedarfsplanung erforderlich wäre. Allerdings fehlen diese in 147 Gemeinden verteilt auf 27 Planungsbereiche. In fünf Planungsbereichen liegt der Anteil der Gemeinde ohne hausärztliche Versorgung sogar über 30%. Problematisch ist ebenfalls das hohe Alter der Ärzte, da diese mit großer Wahrscheinlichkeit im nächsten Jahrzehnt in den Ruhestand gehen werden. Der landesweite Mittelwert der Ärzte mit einem Alter über 60 Jahren liegt bei 37%. In 22 Planungsbereichen übersteigt der prozentuale Anteil diesen Mittelwert. In den beiden Regionen Waldshut und Zollernalbkreis sind sogar über 50% der Ärzte davon betroffen.31 Alle Details hierzu siehe Anlage 7.
3.2. Herausforderungen der ärztlichen ambulanten Versorgung
Für die Kommunen wird die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung in ländlich geprägten Regionen zu einem immer wichtigeren Handlungsfeld. Im ländlichen Raum Baden-Württembergs leben 3.743.628 Menschen, was einen Anteil von über 33,7% ausmacht (s. Anlage 8).32 Je früher sich die Kommunen diesen Herausforderungen stellen, desto besser können sie gegensteuern und mit Maßnahmen den veränderten Rahmenbedingungen begegnen wie am Beispiel der Landkreise Schwarzwald-Baar-Heuberg zu sehen ist. Von September 2016 bis August 2018 wurde das „Modellprojekt zur ambulanten Versorgung in der Region Schwarzwald-Baar-Heuberg“ mit Unterstützung des Ministeriums für Soziales und Integration Baden-Württemberg ins Leben gerufen. In diesem Modellprojekt wurde die aktuelle Versorgungssituation im Dialog mit allen relevanten Akteuren umfassend analysiert und in Anlehnung an die unterschiedlichen Bedürfnisse und regionalen Besonderheiten Maßnahmen für eine zukunftsfähige Sicherung der Versorgung erarbeitet. Nach Abschluss dieses Projekts sollen die gewonnenen Erkenntnisse und daraus entwickelten Handlungsansätze auch auf andere Regionen mit vergleichbaren Ausgangslagen in Baden- Württemberg adaptiert werden.33
3.2.1. Demografischer Wandel bei den Versicherten
Eine der Hauptherausforderungen ist der demografische Wandel in der Gesellschaft. Der Begriff demografischer Wandel beschreibt alle Prozesse in Verbindung mit Bevölkerungszahl und -struktur. In Deutschland wird insbesondere die demografische Alterung und damit verbunden der Bevölkerungsrückgang mit Sorge beobachtet. Der niedrigen Geburtenraten auf der einen Seite stehen höheren Lebenserwartungen gegenüber.34 Das Robert Koch-Institut rechnet bis 2060 mit einer Erhöhung der Lebenserwartung bei Frauen um durchschnittlich 6 Jahre und bei den Männern sogar um 7 Jahre.35 Die Folge ist eine zunehmend älter werdende Gesellschaft. Stand 2020 sind im ländlichen Raum Baden- Württemberg 791.376 Menschen älter als 65 Jahre: Das ist ein Anteil von 21,1%, Tendenz steigend.36 Der Höhepunkt wird für die Jahre um 2030 erwartet, wenn die Menschen der Baby-Boomer-Generation (Geburtsjahrgänge zwischen 1959 - 1968) 70 Jahre und älter werden.37 Mit der Alterung nehmen die Defekte durch biologische Wachstums- und Reifungsprozesse auf zellulärer Ebene zu, die langfristig zu altersbedingten Funktionseinschränkungen und chronischen Krankheiten wie Diabetes mellitus, Demenz, Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, Krebserkrankungen und Multimorbidität (mehrere Erkrankungen gleichzeitig) führen. Die Zunahme an Erkrankungen führt unweigerlich zu vermehrten Konsultationen und folglich zu einem Anstieg des hausärztlichen Behandlungsbedarfs.38
3.2.2. Änderung des klassischen Rollenbilds Arzt-Patient
Die zunehmende Digitalisierung verändert das klassische Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Da der Patient heutzutage die Möglichkeit hat, anhand moderner Medien sich Fachwissen über unterschiedliche Themenbereiche zu beschaffen, hat der Arzt ein bisschen von seinem Mythos „Gott in Weiß“ eingebüßt. Mit dem Wissen erhöht sich nicht nur die Kenntnis über Erkrankungen, sondern auch über eventuelle Behandlungsmethoden und Techniken im Rahmen des medizinischen Fortschritts. Die Patienten sind selbstbestimmter und wollen bei den Behandlungsformen aktiv bei Entscheidungen eingebunden werden.39 Dieser Anspruch auf Mitbestimmung erhöht den Druck auf den Arzt, was bei begrenztem Zeitbudget und engen Behandlungsplänen zu einer Belastung führen kann. Kontinuierliche Weiterbildung und Austausch mit Fachkollegen sind hier unerlässlich, um den Erwartungen des Patienten nach einer qualitativ hochwertigen Versorgung zu entsprechen. Dies wiederum kostet Zeit und Geld für die Ausstattung mit modernen technischen Spezialgeräten.
[...]
1 Vgl. Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (19. Juni 2022).
2 Vgl. Art. 20, Abs. 1 und Art. 28, Abs. 1 des GGvgl. Kersten, J.; Neu, C. und Vogel, B. (2015).
3 Vgl. Neeltje van den Berg, Steffen Fleßa, Wolfgang Hoffmann (28. Januar 2022).
4 Vgl. Ministerium für Soziales und Integration, S. 7.
5 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, S. 13-20.
6 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, S. 10.
7 Vgl. Statista (8. Juli 2022).
8 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, S. 11.
9 Vgl. Bundesgesundheitsministerium (10. Juli 2022).
10 Vgl. Prof. Dr. Herbert Wassmann (2021)., S. 18-19
11 Vgl. Rosenbrock, R. und Gerlinger, T. (2004), S. 103-105
12 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, S. 12.
13 Vgl. www.g-ba.de (8. Juli 2022).
14 Vgl. Neumeyer, H. (2018), S. 7.
15 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, S. 33.
16 Vgl. Statistisches Bundesamt (6. April 2021).
17 Vgl. www.destatis.de (3. Juli 2022).
18 Vgl. Statistisches Bundesamt (8. April 2022).
19 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, S. 33.
20 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, S. 33.
21 Vgl. Bundesgesundheitsministerium (3. Juli 2022).
22 Vgl. Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) (3. Juli 2022).
23 Vgl. Büchner/ Merk/ Rahmel (2017), S. 30
24 Vgl. Bundesgesundheitsministerium (3. Juli 2022).
25 Vgl. Marc Bataille; Friedrich Breyer; Stefan Greß; Klaus Jacobs; Melanie Schnee; Jonas Schreyögg; Yauheniya Varabyova; Philip Wahlster und Achim Wambach (2018).
26 Vgl. Forum Gesundheitsstandort Baden-Württemberg (Juli 2019), S. 8 - 15.
27 Vgl. Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) (16. August 2022).
28 Vgl. Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (19. Juni 2022), S. 57 - 135.
29 Vgl. Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (19. Juni 2022), S. 57-135.
30 Vgl. Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (19. Juni 2022), S. 33.
31 Vgl. Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (19. Juni 2022), S. 57-135).
32 Vgl. www.statistik-bw.de (18. August 2022).
33 Vgl. Ministerium für Soziales und Integration, S. 7-8.
34 Vgl. Robert Koch-Institut (2015), S. 435.
35 Vgl. Robert Koch-Institut (2015), S. 20.
36 Vgl. www.statistik-bw.de (18. August 2022).
37 Vgl. Robert Koch-Institut (2015), S. 411 ff.
38 Vgl. Ministerium für Soziales und Integration, S. 16.
39 Vgl. Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (18. August 2022).
- Citar trabajo
- Thi Nga Nguyen (Autor), 2022, Die ambulante Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum Baden-Württembergs, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1326057
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