Die vorliegende Masterarbeit stellt literaturbasiert das Thema Perspektiven zur Inklusion im Sportunterricht dar und gewährt damit einen Einblick in den gegenwärtigen Ist-Stand der aktuellen Inklusionsthematik. Das Thema Inklusion ist dabei nicht nur höchst aktuell, sondern in den aktuellen bildungspolitischen Diskursen auch höchst relevant, da die gegenwärtigen Inklusionsprozesse die Umsetzung und Verwirklichung von Menschenrechten anstreben. Menschenrechte, die auch in Deutschland scheinbar noch nicht als selbstverständlich angenommen werden. Somit ist das Thema nicht nur politisch interessant, sondern auch gesamtgesellschaftlich für jede:n Einzelne:n. In den Ausführungen wird sich dabei folgender Forschungsfrage gewidmet: "Welche Perspektiven zu einem inklusiven Sportunterricht ergeben sich auf empirischer und konzeptioneller Ebene?"
Die Arbeit teilt sich gemäß der Forschungsfrage in zwei Teile und greift die am Inklusionsprozess beteiligten Perspektiven der empirischen und der konzeptionellen Ebene auf. Auf der empirischen Ebene rücken dabei der wissenschaftliche Diskurs um das Verständnis von Inklusion, die Forschungsergebnisse bezüglich der am Inklusionsprozess beteiligten Personen als auch der aktuelle Forschungsstand in den Vordergrund. Auf konzeptioneller Ebene werden explizit der inklusive Sportunterricht und die damit einhergehenden normativen bildungspolitischen Vorgaben aus dem nationalen Bildungsbereich betrachtet. Zudem wird umfänglich auf die inklusive Sportdidaktik eingegangen. Der inklusive Sportunterricht besteht dabei nicht von sich selbst heraus, sondern wird immer aus dem Kontext des Inklusionsdiskurses heraus erschlossen.
Der Begriff Inklusion hat Konjunktur und das bundesdeutsche Schulsystem wird vor die große Herausforderung gestellt, den bildungspolitischen Auftrag der inklusiven Schule umzusetzen. Die Veränderungen der Schulrealität durch die Inklusionsprozesse sind vielschichtig und tiefgreifend, da internationale Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention als auch nationale Vorgaben durch das Schulgesetz und das Kerncurriculum in der Schule und im Unterricht mitberücksichtigt werden müssen. Sowohl Schüler:innen als auch Lehrkräfte, Eltern und weitere am Inklusionsprozess beteiligte Akteur:innen sehen sich mit dem aktuellen Wandel in Schule und Unterricht konfrontiert, der durch die Inklusion hervorgerufen wird.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Inklusion
2.1. Begriffserklärung
2.2. Entwicklungen der Inklusion im Bildungsbereich
2.3. Forschungsstand zur Inklusion
2.3.1. Die Schüler*innenseite
2.3.2. Die Seite der Lehrkräfte
2.3.3. Forschungsstand über die Assistenzkräfte, Eltern und Studierenden
3. Inklusion im Sportunterricht und sportpädagogische Perspektiven
3.1. Ziele
3.2. Vorgaben im Schulgesetz und in Curricula
3.3. Forschungsstand zur Inklusion im Sportunterricht
3.4. Inklusive Sportdidaktik
3.4.1. Konzepte und Modelle
3.4.2. Weitere Ansätze
3.4.3. Blick in die Praxis
4. Forschungslücken
5. Fazit und Ausblick
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Der Begriff Inklusion hat Konjunktur und das bundesdeutsche Schulsystem wird vor die große Herausforderung gestellt, den bildungspolitischen Auftrag der inklusiven Schule umzusetzen. Die Veränderungen der Schulrealität durch die Inklusionsprozesse sind vielschichtig und tiefgreifend, da internationale Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention als auch nationale Vorgaben durch das Schulgesetz und das Kerncurriculum in der Schule und im Unterricht mitberücksichtigt werden müssen. Sowohl Schülerinnen als auch Lehrkräfte, Eltern und weitere am Inklusionsprozess beteiligte Akteurinnen sehen sich mit dem aktuellen Wandel in Schule und Unterricht konfrontiert, der durch die Inklusion hervorgerufen wird. Die vorliegende Masterarbeit stellt literaturbasiert das Thema Perspektiven zur Inklusion im Sportunterricht dar und gewährt damit einen Einblick in den gegenwärtigen Ist-Stand der aktuellen Inklusionsthematik. Das Thema Inklusion ist dabei nicht nur höchst aktuell, sondern in den aktuellen bildungspolitischen Diskursen auch höchst relevant, da die gegenwärtigen Inklusionsprozesse die Umsetzung und Verwirklichung von Menschenrechten anstreben. Menschenrechte, die auch in Deutschland scheinbar noch nicht als selbstverständlich angenommen werden. Somit ist das Thema nicht nur politisch interessant, sondern auch gesamtgesellschaftlich für jede*n Einzelne*n. In den Ausführungen wird sich dabei folgender Forschungsfrage gewidmet:
Welche Perspektiven zu einem inklusiven Sportunterricht ergeben sich auf empirischer und konzeptioneller Ebene?
Die Arbeit teilt sich gemäß der Forschungsfrage in zwei Teile und greift die am Inklusionsprozess beteiligten Perspektiven der empirischen und der konzeptionellen Ebene auf. Auf der empirischen Ebene rücken dabei der wissenschaftliche Diskurs um das Verständnis von Inklusion, die Forschungsergebnisse bezüglich der am Inklusionsprozess beteiligten Personen als auch der aktuelle Forschungsstand in den Vordergrund. Auf konzeptioneller Ebene werden explizit der inklusive Sportunterricht und die damit einhergehenden normativen bildungspolitischen Vorgaben aus dem nationalen Bildungsbereich betrachtet. Zudem wird umfänglich auf die inklusive Sportdidaktik eingegangen. Der inklusive Sportunterricht besteht dabei nicht von sich selbst heraus, sondern wird immer aus dem Kontext des Inklusionsdiskurses heraus erschlossen. Im Zuge der Arbeit bedeutet der Begriff Perspektiven mehr als nur die Sichtweisen einzelner Personengruppen, die am Inklusionsprozess beteiligt sind. Perspektiven bezieht sich in diesem Zusammenhang auch auf die verschiedenen Sichtweisen, die aus der Forschung und Wissenschaft hervorgehen oder auch aus bildungspolitischen Vorgaben erschlossen werden, die es auf Bundes- und Landesebene gibt. Darüber hinaus zielt die Arbeit darauf ab, den Inklusionsdiskurs kritisch zu reflektieren und neue Fragen aufzuwerfen, die den Prozess der Inklusion unterstützen. Des Weiteren wird auf einen handlungsorientierten Erkenntnismehrwert abgezielt, der den Transfer der Inklusionsthematik in die Praxis erleichtern soll und somit einen Beitrag für die Förderung des inklusiven Sportunterrichts leistet.
Unter der Berücksichtigung der oben genannten Fragestellung wird zunächst die Gliederung dieser Arbeit dargestellt. Insgesamt ist sie in fünf Kapitel eingeteilt. Im Anschluss an diese Einleitung wird im 2. Kapitel die allgemeine Thematik der Inklusion aufgegriffen. In Unterkapitel 2.1. werden das grundlegende Verständnis von Inklusion dargestellt und weitere Begrifflichkeiten geklärt. In Unterkapitel 2.2. wird auf die Entwicklungen von Inklusion im Bildungswesen eingegangen und anschließend unter 2.3. der aktuelle Forschungsstand zur Inklusion aufgezeigt, der sich vordergründig aus den Forschungsergebnissen zu den Befragten - der am Inklusionsprozess beteiligten Akteur*innen - ergibt.
Im 3. Kapitel wird auf die Inklusion im Sportunterricht eingegangen. Dabei werden unter 3.1. die Ziele vom inklusiven Sportunterricht dargestellt und unter 3.2. die Vorgaben aus dem Schulgesetz und dem Niedersächsischem Kerncurriculum der Sekundarstufe I aufgegriffen. Das Kapitel 3.3. geht anschließend explizit auf den Forschungsstand des inklusiven Sportunterrichts ein. Im folgenden Kapitel 3.4. wird im Speziellen auf die Sportdidaktik eingegangen und wie inklusive Bestrebungen im Sportunterricht Anklang finden können, indem auf konkrete Konzepte und Modelle (3.4.1.) eingegangen wird, die einen wichtigen Beitrag für didaktische Herangehensweisen an den Sportunterricht liefern. Zudem folgt die Darstellung weiterer Ansätze (3.4.2.), beispielsweise der diagnostische Ansatz einer fairen Benotung. Das 3. Kapitel endet mit einer Problemschilderung (3.4.3.), die anhand zweier Beispiele den Bezug zur Praxis herstellt und das Lehrerhandeln in den Vordergrund stellt.
Das 4. Kapitel geht auf etwaige Forschungsdesiderate ein und gibt Aufschluss darüber, wo künftige Forschung ansetzen kann.
Im abschließenden 5. Kapitel wird ein Fazit gezogen und ein Ausblick gegeben.
2. Inklusion
Mit der Auseinandersetzung des Themas Inklusion im pädagogischen Kontext ging ein Paradigmenwechsel einher. Somit wurde die Heterogenität der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den Vordergrund gestellt und die Autonomie und die Mündigkeit der Schüler*innen als Bildungsziele ausgesprochen. Der reine Betreuungsgedanke sollte zu Gunsten der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen weichen, zudem Formen der Segregation auf konzeptionell-institutioneller Ebene abgebaut werden. Begriffe wie „Gleichstellung, Teilhabe [und] Selbstbestimmung“ (Hölter 2008, S. 100) gelten demnach als charakteristisch für diesen Paradigmenwechsel (vgl. ebd.). Da das Verständnis eines inklusiven Sportunterrichts nur aus der allgemeinen Idee von Inklusion heraus abgeleitet werden kann, wird sich im folgenden Kapitel einer Definition des Inklusionsbegriffes angenähert. Das damit einhergehende Grundverständnis von Inklusion hat leitende Funktion für die in Kapitel 3 folgende Auslegung auf einen inklusiv angelegten Sportunterricht und insgesamt für die Ausführungen der vorliegenden Arbeit.
2.1. Begriffserklärung
Was ist Inklusion? Wenn von Inklusion gesprochen wird, meint es die „Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben“ (Beckerhoff 2018, S. 242). Fest verankert in der UN-Behindertenrechtskonvention (vgl. UN-BRK 2017) von 2006 gehen mit der Ratifizierung von Deutschland im Jahr 2009 große nationale Herausforderungen auf gesellschaftlicher und bildungspolitischer Ebene einher (vgl. United Nations 2006).
Im Rahmen von Schule bedeutet Inklusion „einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung für alle und das Erkennen sowie Überwinden von Barrieren“ (Osnabrück die Friedensstadt o. J.). Von einer Barrierefreiheit spricht man in diesem Zusammenhang, wenn Gegenstände, Medien und Einrichtungen so arrangiert sind, dass diese uneingeschränkt von allen Beteiligten unabhängig von einer vorhandenen Behinderung oder Einschränkung genutzt werden können. Im gemeinsamen Lernen profitieren dabei sowohl die Schülerinnen mit Behinderungen als auch diejenigen ohne Behinderungen (vgl. ebd.).
Inklusion im Bereich des Sports bedeutet dem DBS (Deutscher Behindertensportverband e. V.) zufolge, dass Respekt und Anerkennung gefördert werden sollen. Dies kann durch gemeinsames Sporterleben und die damit verbundene Wahrnehmung von Fähigkeiten realisiert werden (vgl. DBS 2021). Da der Umgang mit Heterogenität und Andersartigkeit aktuell noch keine Selbstverständlichkeit ist, wird an die Notwendigkeit appelliert, traditionelle Denk- und Handlungsmuster abzuändern und im Sport ein Konzept des Sports für alle voranzutreiben (vgl. Wegner, zitiert nach Borchert & Hummel 2013, S. 55). Demnach ist es die Aufgabe vom inklusiven Sportunterricht, dass alle Lernenden gemeinsam - unabhängig von ihren Stärken und Schwächen - am Unterrichtsgeschehen teilhaben können (vgl. Giese & Weigelt 2013, S. 3). Durch die Verankerung des inklusiven Schulsports in der Sekundarstufe I, der im Schwerpunkt das Verstehen und die Wertschätzung von Heterogenität innehat, wird das System Schule allerdings vor die Herausforderung gestellt, diesen Gedanken mit dem des Wettbewerbs- und Leistungskonzepts der Lehrpläne zu vereinen (vgl. Rouse 2012, S. 11).
Laut Giese und Weigelt (vgl. 2013, S. 2) und der Deutschen UNESCO Kommission (vgl. DUK 2014, S. 9) gilt zudem, dass das Konzept der Inklusion als Prozess zu verstehen ist. Erreicht werden- können die damit verbundenen Ziele nur, wenn auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Lernenden eingegangen wird und diese an den Lernprozessen und dem Gemeinwesen partizipieren können. Durch ein frühzeitiges Miteinander können die Lernenden Erfahrungen sammeln, die dazu beitragen, Verständnis und Akzeptanz gegenüber Menschen mit Handicap zu entwickeln (vgl. Beckerhoff 2018, S. 244). Somit meint Inklusion auch, dass das System an die Menschen angepasst wird und nicht die Menschen an das System. Ein derartiges Verständnis steht zudem im Einklang mit dem Begriff der Barrierefreiheit (vgl. Rouse 2012, S. 12).
Insgesamt zeichnen sich hinsichtlich des Begriffs der Inklusion allerdings zwei mögliche Verständnisse ab, was in Diskursen zu Missverständnissen führen kann. Die Rede ist vom engen und vom weiten Inklusionsverständnis: Dem engen Verständnis nach bezieht sich der Ausdruck im Bereich der Schulebene einzig auf Menschen mit Behinderungen und sonderpädagogischen Förderbedarf, die als Zielgruppe fokussiert werden. Dem erweiterten Verständnis von Inklusion nach wird sich darüber hinaus auf die Umsetzung der Menschenrechte und den damit einhergehenden Abbau von Diskriminierung und Benachteiligung bezogen, um die Teilhabe an Bildung und Gesellschaft für alle Menschen zu garantieren und umzusetzen (vgl. Blasse 2015). Die Betonung liegt hierbei auf dem Wort „alle“. In der internationalen Verwendung ist das weite Verständnis von Inklusion gebräuchlich (vgl. Booth 2008, zitiert nach Tiemann 2015, S. 64) und meint damit nicht die eindimensionale Betrachtung von Behinderung, sondern die Betonung der Vielfalt von Menschen. Dabei wird das Augenmerk auf die persönlichen Besonderheiten, die Ressourcen und die Herausforderungen des Individuums gelegt. Angelegte Differenzkategorien wie beispielsweise die soziale Benachteiligung, der Migrationshintergrund, das Geschlecht, die Religion oder eine Behinderung bilden demnach nicht das Hauptaugenmerk, um den Menschen in seiner Individualität zu betrachten (vgl. Tiemann 2015, S. 57). Denn häufig können derartige Kategorisierungen oder auch Generalisierungen die Ursache von Vorurteilen sein, die sich nachteilig und kontraproduktiv auf eine individuelle Wahrnehmung auswirken (vgl. Wocken 2011, zitiert nach Tiemann 2015, S. 53). Diesbezüglich gibt auch der niedersächsische Kultusminister Grant Hendrik Tonne die Linie des erweiterten Verständnisses von Inklusion im Bildungswesen vor, indem er deutlich macht:
„Dabei vertreten wir in Niedersachsen einen erweiterten Begriff von Inklusion: Jede Schülerin und jeder Schüler braucht individuelle Förderung und soll diese erhalten.“ (Niedersächsisches Kultusministerium 2020a)
Der fehlende Konsens des Begriffs der schulischen Inklusion veranlasste Piezunka et al. (2017, S. 207) dazu, aus ihren Forschungsergebnissen vier Definitionen zu formulieren, die der Gemengelage der Forschungsergebnissen begegnet und Handlungsproblemen in der Praxis entgegenwirken soll. An erster Stelle wird demnach das Grundlagendokument der UN-BRK als Richtline angeführt. An die zweite Stelle tritt das Verständnis, dass sich die Schülerinnen grundsätzlich in ihrer Leistung entwickeln können, wobei drittens die Teilhabe, Anerkennung und das Wohlfühlen aller Schülerinnen Berücksichtigung findet. Schließlich geht sie dabei viertens von der Inklusion als Utopie aus, wobei die sozial konstruierten Differenzlinien als Diskriminierungsfaktoren überwunden werden sollen (vgl. ebd. S. 213). Darüber hinaus geht auch aus internationalen Forschungen der Konsens hervor, dass nicht nur Lernende mit Schwächen gefördert werden sollen, sondern auch Lernende die hochbegabt sind und all diejenigen, die mit ihren besonderen Anforderungen und Bedürfnissen mehr bedürfen, als durch eine One-size-fits-all-Pädagogik1 beschult zu werden (vgl. Reich 2016, S. 19).
Im Bereich Inklusion in der Schule kann allen Lernenden, je nach vorhandenem sonderpädagogischen Förderbedarf, einer der insgesamt acht Förderschwerpunkte zugeordnet werden. Im Jahr 2015 wurde in Deutschland für etwa eine halbe Million Kinder und Jugendliche ein sonderpädagogischer Förderschwerpunkt diagnostiziert, die 6 % aller bundesdeutschen Schüler*innen insgesamt ausmachen. Darunter fallen die Förderschwerpunkte Lernen (L), geistige Entwicklung (GE), emotionale und soziale Entwicklung (ESE), körperliche und motorische Entwicklung (KME), Hören (HÖR), Sehen (SEH) Sprache (SPR) und die Übergreifende Zuordnung (vgl. Bertelsmann Stiftung 2015b, S. 31 - 32). Im Kontext der vorliegenden Arbeit bleiben diese Förderschwerpunkte allerdings nur erwähnt und können aufgrund ihres Umfangs nicht ausführlich in ihren Einzelheiten ausgeführt werden. Im Verständnis von Inklusion an Schule und im Kontext dieser Arbeit sind diese Förderschwerpunkte allerdings immer mitzudenken.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Förderquoten, Inklusionsquoten und Exklusionsquoten in den Bundesländern - Schuljahr 2013/14 (entnommen aus: Bertelsmann Stiftung 2015b, S. 31).
Einen Überblick über Umfang und Ausmaß der Inklusionsdebatte verschafft an dieser Stelle die Darstellung einiger Zahlen und Fakten. Laut World-Health-Organization (WHO) lebten im Jahr 2013 ca. eine Milliarde Menschen mit Behinderung auf der Welt (vgl. WHO 2013, zitiert nach DBS 2014, S. 10 - 33). Für Deutschland zeichnete sich im Jahr 2011 ein Anteil von 11,7 % der Gesamtbevölkerung ab, was in etwa 9,6 Millionen Menschen mit Behinderungen entspricht. Davon haben 7,1 Millionen Menschen eine schwere Behinderung mit einem Schweregrad von über 50 % und 2,5 Millionen eine leichte Behinderung. Von den Menschen mit einer Behinderung werden laut dem BMAS (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) allerdings nur 4 - 5 % der Menschen mit ihrer Behinderung geboren, sodass die Mehrzahl der Menschen mit Behinderungen diese erst im Laufe ihres Lebens durch Krankheiten oder Unfälle bekommen (vgl. DBS 2014, S. 11). Dazu gehen aus Abbildung 1 gehen die deutschlandweiten Förder-, Exklusions- und Inklusionsquoten an allgemeinbildenden Schulen zur Zeit der Inklusion in Niedersachsen von 2013 und 2014 hervor.
Die Förderquote gibt dabei den Gesamtanteil der Schülerinnen mit sonderpädagogischen Förderbedarf an, die mit Vollzeitschulpflicht an den allgemeinbildenden Schulen des Primarund Sekundarbereiches I beschult werden. Die Exklusionsquote gibt den Anteil der vollzeitschulpflichtigen Schülerinnen mit sonderpädagogischen Förderbedarf an, die separiert an Förderschulen in dem Bereich der Primar- und Sekundarstufe I unterrichtet werden. Die Inklusionsquote gibt schließlich den Anteil der Schülerinnen an, die an allgemeinbildenden Schulen inklusiv beschult werden und ebenso Vollschulzeitpflichtig sind. Die Daten müssen allerdings differenziert betrachtet werden. So weist die Kultusministerkonferenz daraufhin, dass Schulen den spezifischen sonderpädagogischen Status nicht aufgrund des individuell diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarfs der Schülerinnen erhalten, sondern dieser aufgrund der systemischen Zuordnung vergeben wird (vgl. Bertelsmann Stiftung 2015b, S. 28 - 33).
In der Begriffserklärung von Inklusion darf zuletzt nicht unerwähnt bleiben, dass es ferner zu einer Begriffsproblematik kommt. Diese beruht auf der Tatsache, dass der in den internationalen Forschungen und in englischer Sprache verwendete Begriff „inclusion“ stellenweise mit „Integration“ und dann wieder mit „Inklusion“ in das Deutsche übersetzt wird. Da diese beiden Begriffe zudem häufig synonym verwendet werden, gilt es, diese folglich voneinander abzugrenzen, da sie inhaltlich unterschiedliche Bedeutungen tragen (vgl. Frühauf, 2008, S. 11). Um für Klarheit in den Begrifflichkeiten zu sorgen, werden dafür zunächst zwei weitere Begriffe mit in den Diskurs eingebunden, die den Kontrast von Integration zu Inklusion verdeutlichen, nämlich die Begriffe „Exklusion“ und „Separation“. Aus dem nachstehendem Stufenmodell in Abbildung 2 wird die Bedeutung und Abgrenzung der Begrifflichkeiten verdeutlicht.
Anmerkung der Redaktion: Die Abbildung wurde aus urheberrechtlichen Gründen entfernt.
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Abb. 2: Stufenmodell von der Exklusion zur Inklusion (nach: Fertig 2016) Exklusion wird auf der untersten Stufe verortet und bedeutet den Ausschluss der Menschen, die nicht an gesellschaftlichen Angeboten partizipieren können. Der Begriff Separation steht in Abbildung 2 eine Stufe höher und gesteht den Menschen mit Behinderungen zwar ein eigenes System zu - dieses bleibt allerdings ausgegrenzt und hat lediglich für sich allein Bestand. Bei der Integration wird dieses separate System mit in bestehende Strukturen eingebunden - in diesem Fall in die Schulstrukturen. Bei der Inklusion hingegen wird das separate System aus der Stufe der Integration im Gesamtsystem aufgelöst, beziehungsweise das Gesamtsystem für den Menschen angepasst, da von den Fähigkeiten und den Bedürfnissen aller einzelnen Schüler*innen ausgegangen wird, wobei jede*r für sich individuell und bedeutsam ist. Dies bedeutet somit, dass die Menschen mit Behinderungen sich nicht in systemische Strukturen einfinden müssen, sondern von dem System individuell aufgenommen werden und dieses damit mitbestimmen (vgl. Sozialverband VdK Bayern o. J.). Um das Verständnis von Inklusion zu präzisieren, zeigt sich somit, dass die Inklusion als Weiterentwicklung des Integrationsgedanken verstanden werden kann (vgl. Stein 2008, zitiert nach Frühauf 2008, S. 11). Demnach kann Inklusion als ein Konzept gelten, das über den Integrationsdiskurs hinausgeht und Fragen im Sinne einer Entwicklung der Beschulung für alle Schüler*innen auf systemischer, institutioneller und pädagogischer Ebene aufwirft (vgl. Werning 2014, S. 606). Nach Reich (2012, zitiert nach Meier & Ruin 2015, S. 10) geht damit der gesellschaftliche Anspruch einher, eine Chancengleichheit für alle Menschen zu ermöglichen und Diskriminierung abzubauen.
2.2. Entwicklungen der Inklusion im Bildungsbereich
Die Idee „des gleichen Rechts auf Bildung für alle“ (Brügelmann 2019, S. 21) greift historisch auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nation von 1948 zurück und ist seitdem Bestandteil mannigfacher internationaler Konventionen (vgl. ebd.). Diese Idee wird auch hierzulande aufgegriffen, wurde jedoch überwiegend aus der Perspektive der Integration betrachtet, sodass die Kinder und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen sich in etablierte Strukturen einfinden mussten (vgl. Meier & Ruin 2015, S. 5). Bemühungen der ausgehenden 1970er Jahre, dem entgegenzuwirken, traten häufig nur als Einzelfälle beispielsweise durch Elterninitiativen auf (vgl. Hüwe & Roebke 2006, zitiert nach Meier & Ruin 2015, S. 9).
Die tatsächliche Bewegung hin zu einer inklusiven Beschulung lässt sich aus historischinstitutioneller Perspektive allerdings erst an zwei zeitlich nah zurückliegenden Ereignissen festmachen. Dazu zählt zum einen die Salamanca-Erklärung der UNESCO World Conference on Special Needs Education von 1994, die als erste internationale Erklärung eine Vorreiterrolle einnimmt, da diese erstmalig den Begriff der Inklusion aufgreift und eine „Bildung für alle“ (DUK 2014, S. 5) anstrebt. An zweiter Stelle ist die UN-Behindertenrechtskonvention anzuführen (vgl. Giese & Weigelt 2015, S. 21). Diese gilt als richtungsweisendes Grundlagendokument und wurde im Jahre 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet, um die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu stärken. Somit gilt diese als Ausgangslage für schulische Entwicklungen und damit als Orientierung für die Umsetzung eines inklusiven (Sport-)Unterrichts. Die deutsche Bundesregierung unterschrieb beide Dokumente am 30. März 2007 und gehört damit zu den ersten Staaten, die die UNBehindertenrechtskonvention unterzeichnet haben. Das am 31. Dezember 2008 unter Zustimmung des Bundesrates ausgegebene Bundesgesetzesblatt des Bundestages „Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (DBS 2021), gilt dabei als die anerkannte Übersetzung der UN-BRK für die Staaten Deutschland, Lichtenstein, Österreich und die Schweiz. Im Zuge der Ratifizierung erlangte die UNBehindertenrechtskonvention für Deutschland am 26. März 2009 ihre rechtsverbindliche Gültigkeit (vgl. Giese & Weigelt 2015, S. 21).
Inhaltlich macht die UN-BRK auf die Diversität von Behinderung aufmerksam. In der Präambel geht demnach aus dem Buchstaben (e) und (i) hervor, dass eine Perspektive der Vielfalt und Verschiedenheit aufgezeigt werden soll, „dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigung und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern. (e) [Sowie auch, dass die] Vielfalt der Menschen mit Behinderungen (i)“ (UN-BRK 2017, S. 5 - 6) anerkannt werden soll. Im Artikel 1 Satz 2 wird dazu die Begrifflichkeit „Menschen mit Behinderungen“ definiert. Demnach bezeichnet der Begriff die langfristige körperliche, seelische, geistige oder weitere Beeinträchtigungen der Sinne, die die betroffenen Menschen „in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“ (UN- BRK 2017, S. 8).
Demnach geht aus dem Artikel 1 Satz 2 die Personengruppe hervor, die unter den Schutz des Übereinkommens der UN-BRK gestellt wird. Aus dieser Erläuterung soll zudem klar hervorgehen, dass das Verständnis von „Behinderung“ kein festgeschriebenes Konzept ist, sondern fortwährend auf neue gesellschaftliche Aushandlungsprozesse angewiesen ist. Auf innerstaatlicher Ebene muss dabei allerdings immer auch die rechtsbindenden Definitionen von „Behinderungen“ in den Blick genommen werden, die für die innerstaatliche Rechtsordnung maßgebend sind (vgl. UN-BRK o. J.).
Auf Grundlage der Ratifizierung der UN-BRK verpflichtete sich Deutschland ein inklusives Bildungssystem aufzubauen (vgl. Rouse 2012, S. 12). Der Artikel 24 der UN-BRK bezieht sich dabei auf den Bildungsbereich und hat in gesellschaftlicher und bildungspolitischer Hinsicht bereits seine Wirksamkeit entfaltet (KMK o. J.). Dieser 24. Artikel fußt darauf, dass die UN- BRK auf Grundlage der Chancengleichheit, ohne Diskriminierung und zudem auf allen Ebenen des Bildungssystem umgesetzt wird (vgl. Beckerhoff 2018, S. 244). Darüber hinaus ist der 8. Artikel fundamental. Aus diesem geht unter anderem hervor, dass die Unterzeichnerstaaten dazu verpflichtet sind, „sofortige, wirksame und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um [...] in der gesamten Gesellschaft [...] das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde zu fördern.“ (UN-BRK 2017, S. 12).
Demnach müssen Menschen mit Behinderung in der alltäglichen und öffentlichen Wahrnehmung sichtbar gemacht werden, um das öffentliche Bewusstsein diesbezüglich zu fördern und die Rechte und Würde der Menschen mit Behinderungen voranzubringen (vgl. Rouse 2012, S. 13). Laut Beckerhoff (vgl. 2018, S. 259 - 260) birgt der Sport dazu das Potenzial, einen Beitrag zu leisten, dass negative Einstellungen hinsichtlich der Menschen mit Behinderungen aufgeklärt und beseitigt werden können.
Als bemerkenswerte Besonderheit der Konvention gilt, dass diese unter dem Motto „Nicht über und ohne uns“ ausgearbeitet wurde (vgl. DBS 2021) und damit in ihrer Erarbeitung zentral auf den Erfahrungshintergrund von Menschen mit Behinderungen gesetzt hat, die in ihrem Leben Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen erfahren haben. Die Konvention beruft sich dabei in ihrer gültigen Fassung darauf, dass Behinderungen von Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen als ein Bestandteil des normalen Zusammenlebens betrachtet und akzeptiert werden. Der Geltungsbereich vollzieht sich demnach vom Arbeitsmarkt über die Familie, die Kultur, die Politik, das Gesundheitssystem, vom Kindergarten bis hin zum Hochschulabschluss quer durch die gesamte Gesellschaft (vgl. Bielefeldt 2010, S. 66 - 67). Zudem ging mit der UN-BRK ein vielfältiger Perspektivwechsel einher, der Behinderungen fortan nicht mehr unter medizinischen oder sozialen Gesichtspunkten betrachtet, sondern die unveräußerlichen Menschenrechte in den Mittelpunkt stellt. In diesem Sinne steht die Autonomie zur Selbsthilfe anstatt der Fürsorge im Vordergrund. In diesem Perspektivwandel werden Menschen mit Behinderungen als Bürgerinnen und nicht mehr als Patientinnen betrachtet, und von Problemfällen werden sie zu Trägerinnen von Rechten (vgl. DBS 2021).
Laut der Niedersächsischen Landesregierung wird seit der Einführung von Inklusion das erweiterte Begriffsverständnis von Inklusion im Bildungswesen vertreten. Dabei wird dem Artikel 24 der UN-BRK entsprochen, sodass jedem Menschen mit einer Behinderung ein diskriminierungsfreier Zugang zum Bildungssystem zugesichert wird. Jede niedersächsische Schule ist demnach eine inklusive Schule. Seit dem Beginn des Schuljahres 2013/2014 wurde die inklusive Schule für den 1. und den 5. Schuljahrgang verbindlich eingeführt. Seitdem wird dieser Entwicklungsgang fortgeführt und hat mit dem Schuljahr 2019/2020 an den inklusiven Schulen alle Schuljahrgänge von Klasse 1 bis 11 der öffentlichen allgemeinbildenden Schulen erreicht (vgl. Niedersächsisches Kultusministerium 2020c). Zudem hat die inklusive Schule seit dem Schuljahr 2018/2019 auch Eingang an den berufsbildenden Schulen in Niedersachsen erhalten. Dazu wird allen Kindern und Jugendlichen in Niedersachsen, unabhängig von Einschränkungen oder Behinderungen, die Auswahl der Schulform selbst überlassen (vgl. Niedersächsisches Kultusministerium 2020a).
Die Umstellung auf ein inklusiv gestaltetes Schulsystem zieht weitreichende strukturelle Veränderungen nach sich, die fortwährendes Umdenken der Akteurinnen erfordern. Denn durch die Umstellung sehen sich die Lehrkräfte an Regelschulen zunehmend mit weit ausdifferenzierten heterogenen Lerngruppen konfrontiert, müssen offen für neue Konzepte und Sichtweisen sein und stehen im wachsenden Maße mit ihrer Arbeit im Austausch mit sonderpädagogischen Lehrkräften. Ein weiterer Aspekt von Bedeutung ist der, dass die Lehrkräfte und Mitarbeiterinnen ihre Sozialisierung in einem nicht-inklusiven Umfeld erfahren haben und dies in der tertiären Sozialisationsinstanz - ihrer Berufssozialisation - kompensieren müssen. Ferner muss in diesem Kontext die Frage gestellt werden, wie die Ausbildung von Lehrkräften gestaltet werden kann. Denn nach wie vor sind die primäre und sekundäre Sozialisationsinstanz durch nicht-inklusive Settings geprägt. Für weitere Bildungsstrategien und -pläne für die Fortführung und Unterstützung des Inklusionsprozesses wird an dieser Stelle auf die Publikation „Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik“ der Deutschen UNESCO-Kommission e. V. verwiesen, worin unter anderem Lehrkräften, Führungskräften und zivilen Akteur*innen Hilfsmittel zur Verfügung gestellt werden, die eine Analyse von inklusiv gestalteten Bildungsplänen ermöglichen (vgl. DUK 2014, S. 6).
Und auch weiterhin tauchen Fragen auf, beispielsweise nach der didaktischen Gestaltung eines inklusiven (Sport-)Unterrichts. Nicht zuletzt bleibt in diesem Kontext auch die Frage nach der Kompetenzorientierung offen, die aktuell durch die Richtlinien und Lehrpläne nicht umfänglich beantwortet wird (vgl. Meier & Ruin 2015, S. 11). Diese grundlegenden Fragen zeigen, dass wir immer noch kein inklusives Schulsystem haben, das den Ansprüchen von Inklusion aktuell auf struktureller, didaktischer oder auch materieller Ebene gerecht wird (vgl. BPB 2019).
2.3. Forschungsstand zur Inklusion
Seit mittlerweile über zehn Jahren sind alle Schulen in Deutschland dazu verpflichtet, Inklusion zu ermöglichen. Die Transformation in ein inklusives Schulsystem gestaltet sich allerdings nicht so einfach und umfänglich, wie dies zum Beispiel in anderen Staaten der Fall ist. Das größtenteils segregierende und aussondernde deutsche Schulsystem hemmt Bildungseinrichtungen häufig darin, den vollständigen Schritt hin zu einem inklusiven Schulsystem zu vollziehen. Aus dem Staatenbericht des UN-Ausschusses geht hervor, dass das segregierende Schulsystem in Deutschland als ein Problembereich für die Umsetzung der Inklusion ausgemacht wurde und, dass für die Umsetzung des Inklusionsgedankens das segregierende Schulwesen in Deutschland zurückgebaut werden müsse (vgl. UN-Ausschuss 2015, zitiert nach Tiemann 2016).
An dieser Stelle folgt ein Überblick über die Verbreitung inklusiver Strukturen an Schulen auf internationaler Ebene, ehe in den folgenden Unterkapiteln auf die am Inklusionsprozess beteiligten Akteur*innen eingegangen wird, die einen exemplarischen Einblick über den großen Fundus an Ergebnissen zur Inklusion im Schulbereich aus dem internationalen Forschungsfeld geben.
Als Vorreiter mit den diesbezüglich meisten Studien wird Nordamerika identifiziert (vgl. Qi & Ha 2012, zitiert nach Reuker et al. 2016, S. 89). Einen möglichen Grund sieht Bürli (2009, S. 37 - 38) darin, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in den USA bereits seit den 1970er-Jahren und in Kanada seit den 1980er-Jahren in das allgemeine Schulsystem eingegliedert wurden. Und auch in anderen Ländern zeigt es sich, dass eine inklusive Behindertenpädagogik bereits viele Jahre vor der UN-BRK entwickelt und ausgestaltet wurde. So besteht in Italien die Umsetzung einer inklusiven Beschulung bereits seit den 1970er-Jahren und der gemeinsame Unterricht von Schüler*innen mit und ohne Behinderungen gilt als gesetzlich vorgeschrieben. Ebenso begannen in Spanien seit den 1980er-Jahren die Bestrebungen der Inklusion, sodass ein Großteil der Lernenden mit sonderpädagogischen Förderbedarf bereits an einer Regelschule beschult wird. Auch in Israel werden große Anstrengungen dazu betrieben, die Inklusion und die Barrierefreiheit für Kinder mit Behinderungen umzusetzen, sodass bereits ein entsprechendes Denken in der Gesellschaft eingesetzt hat (vgl. Beckerhoff 2018, S. 246). Zudem gelten die skandinavischen Länder immer wieder als Vorbildmodell, in denen das gemeinsame Lernen als anerkannt gilt (vgl. Schumann 2010). Die Salamanca-Erklärung der UNESCO von 1994 stieß dabei insgesamt ein weltweites Gesetzgebungsverfahren an, das die Beschulung für Menschen mit Behinderungen an allgemeinbildenden Schulen sicherstellen und segregierende Förderschulsysteme auslaufen lassen sollte (vgl. Pecora et al. 2012, zitiert nach Giese et al. 2017, S. 234). Demnach folgte Brasilien bereits seit Mitte der 1990er-Jahre der Auffassung der gemeinsamen Beschulung aller Schüler*innen (vgl. Brasil 1996, zitiert nach Giese et al. 2017, S. 234). Auch in Portugal wird seit 1986 eine inklusive Beschulung in den Schulgesetzen vorangetrieben (vgl. Campos et al. 2014, zitiert nach Giese et al. 2017, S. 234). Zu den Ländern aus Europa und Nordamerika kommen auch einige asiatische Länder, wie beispielsweise Südkorea, die auf dem Weg sind, eine gemeinsame Beschulung in dem allgemeinen Schulsystem zu etablieren. So besuchten in Südkorea 2010 bereits 70 % der Schüler*innen mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf eine allgemeinbildende Schule (vgl. Ministry of Education, Science and Technology 2011, zitiert nach Giese et al. 2017, S. 235). Länder wie Deutschland, Lettland oder Belgien halten hingegen nach wie vor an einem segregativ ausgelegten Schulsystem fest (European Commission 2012, zitiert nach Giese et al. 2017, S. 235). Zu den Kontinenten wie Afrika oder Südamerika fehlt es hingegen an verlässlichen Informationen (vgl. Giese et al. 2017, S. 235). Staaten wie Kenia und China pflegen traditionelle Ansichten, in denen die Menschen mit Behinderungen keine Berücksichtigung finden und die ideologisch geprägt sind, sodass Menschen mit Behinderungen in diesen Ländern wiederum von negativen wirtschaftlichen und sozialen Folgen betroffen sind (vgl. Beckerhoff 2018, S. 248).
Im Folgenden werden Perspektiven von verschiedenen Akteur*innen aufgezeigt, die unmittelbar am Inklusionsprozess mitbeteiligt sind und damit den nationalen sowie internationalen Forschungsstand zur Inklusion wesentlich prägen.
2.3.1. Die Schüler* innenseite
Insgesamt weisen die Untersuchungen der Einstellungen von Schüler*innen mit und ohne Behinderungen auffallend ambivalente Ergebnisse auf. Im Bereich der quantitativen Schülerbefragungen von Atkinson und Black (vgl. 2006, zitiert nach Reuker 2016, S. 92 - 93) und Coates und Vickerman (2010, zitiert nach Reuker 2016, S. 92 - 93) sowie anhand qualitativer Studien von Seymour et al. (vgl. 2019, zitiert nach Reuker 2016, S. 92 - 93) zeigt sich, dass dem Großteil der Schüler*innen mit Behinderungen ein inklusiver Sportunterricht gefällt. Diese Schüler*innen berichten dabei von neu geschlossenen Freundschaften und der Befriedigung sozialer Motive im Feld der sozialen Interaktion. Ergebnisse der Prä-PostBefragungen legen offen, dass Lernende mit Behinderungen durch einen kooperativ angelegten Sportunterricht eher akzeptiert werden als in individuellen Lernsettings (vgl. André et al. 2011; André et al. 2013, zitiert nach Reuker et al. 2016, S. 93). Ein Argument für eine gemeinsame Beschulung geht aus den Forschungen von Berktas et al. (vgl. 2011, zitiert nach Reuker 2016, S. 93) hervor. Nach der Auswertung von Fitnesstests von Schüler*innen mit kognitiver Beeinträchtigung geht hervor, dass diese aus dem inklusiven Sportunterricht deutlich höhere Fitnesswerte aufweisen als diejenigen Schüler*innen die eine Förderschule besuchen. Nach Befunden von Kodish et al. und Jin und Yun (vgl. 2006; 2013, zitiert nach Reuker 2016, S. 93) spielt allerdings auch die eigene Überzeugung der Schüler*innen mit Behinderungen eine zentrale Rolle, im Sport erfolgreich sein zu können.
Im Gegensatz dazu ergab sich allerdings im Zuge von zumeist qualitativen Studien auch ein gegenteiliges Bild, das negative Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen aufzeigt. Die unzulängliche Integration in die Klassengemeinschaft und Versagensängste in Bezug auf die Bewältigung von sportmotorischen Anforderungen sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Auch die Erfahrung, von der Lehrkraft nicht genügend Aufmerksamkeit zu bekommen, geht damit einher (vgl. Atkinson & Black 2006; Bredahl 2013; Fitzgerald 2005, 2012; Fitzgerald & Stride 2012; Healy et al. 2013, zitiert nach Reuker 2016, S. 93). Studien aus Norwegen, Großbritannien, Israel und Kanada (vgl. Bredahl 2013; Fitzgerald & Stride 2012; Hutzler et al. 2002; Spencer-Cavaliere & Watkinson 2010, zitiert nach Giese et al. 2017, S. 236) berichten über Erfahrungen von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die sich im gemeinsam beschulten Sportunterricht häufig andersartig fühlen. Das Gefühl der Andersartigkeit äußert sich demnach dadurch, dass Schüler*innen mit sonderpädagogischer Förderung häufig Individual- anstatt Klassenaktivitäten ausüben, Aufgaben an einem anderen Ort als die anderen in der Klasse durchführen oder auch durch die Zuteilung von vorgefertigten, individuellen Rollen - wie Zeitwächter*in, Schiedsrichter*in oder Zuschauer*in, ebenso durch eine benachteiligte oder bevorzugte Sonderbehandlung, sowie durch die Abhängigkeit von einer Assistenzkraft und dem fehlenden Verständnis für die eigene Körperlichkeit. Zudem wird dem pädagogischen Umfeld insgesamt häufig eine mangelnde Expertise in Bezug auf das Handlungswissen und geeigneter Methoden vorgeworfen (vgl. Giese et al. 2017, S. 236). Es zeigt sich, dass es nicht immer förderlich ist, Veränderungen im Sportunterricht für die Lernenden mit Behinderungen vorzunehmen. Studienergebnisse im Rahmen von Lernenden mit Sehbehinderungen von Lieberman et al. (vgl. 2006, zitiert nach Reuker et al. 2016, S. 95) stellen heraus, dass es ein sensibler Balanceakt für die Lehrkräfte darstellt, Regelveränderungen in den Unterricht zu implementieren. Aus Angst vor Bloßstellungen oder eines negativen Ansehens in der Klassengemeinschaft stehen angepasste Regelveränderungen nicht immer im Sinne der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen (vgl. Reuker et al. 2016, S. 97). Zudem stellte Bredahl (vgl. 2013, zitiert nach Reuker et al. 2016, S. 93) heraus, dass bei auftretenden Schwierigkeiten in der Umsetzung von motorischen Aufgaben Gefühle von Scham, Inkompetenz oder auch Unzulänglichkeiten auftreten können.
International werden neben den Erfahrungen von Lernenden mit Behinderungen auch die Einstellungen von Lernenden ohne Behinderungen im inklusiven Sportunterricht erforscht. Diesbezügliche Studienergebnisse (vgl. André et al. 2013; Obrusnikova 2011; Spencer- Cavaliere & Watkinson 2010, zitiert nach Giese et al. 2017, S. 236) geben Aufschluss darüber, dass die Einstellungen der Schüler*innen ohne Behinderungen eine bedeutende Rolle dabei spielen, „ob bei Schüler[*inne]n mit Behinderungen Gefühle von Akzeptanz, gegenseitigem Respekt und Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten gestärkt werden“ (Giese et al. 2017, S. 236). Der Großteil der Lernenden ohne Behinderungen ist einem inklusiven Sportunterricht positiv gegenüber eingestellt (vgl. Campos et al. 2014; Obrusnikova et al. 2011; Obrusnikova & Dillon 2012; Papaioannou et al. 2014; Verderber et al. 2003, zitiert nach Giese et al. 2017, S. 236). Zudem zeigt sich, dass dies vordergründig Schüler*innen betrifft, die sich ohnehin der sozialen Verantwortung stellen und eher das Bewusstsein der Problemlösung als den unbedingten Willen zu Siegen anvisieren (vgl. Obrusnikova et al. 2011; Obrusnikova & Dillon 2012; Verderber et al. 2003, zitiert nach Giese et al. 2017, S. 236 - 237).
Zu negativen Wahrnehmungen seitens der Schüler*innen ohne Behinderungen kommt es dann, wenn die Lernenden mit Behinderungen „andere Interessen verfolgen und über eine niedrigere motorische Kompetenz verfügen“ (André et al. 2013; Kalymon et al. 2010; Obrusnikova et al. 2010; Seymour et al. 2009, zitiert nach Giese et al. 2017, S. 237), kaum außerschulische Zeit miteinander verbracht wird (vgl. Kalymon et al. 2010; Seymour et al. 2009, zitiert nach Giese et al. 2017, S. 237), es zu Gefährdungen in der Sicherheit kommt (vgl. Obrusnikova et al. 2010; Verderber et al. 2003, zitiert nach Giese et al. 2017, S. 237), ein niedriger sozialer Status vorliegt (vgl. Kalymon et al. 2010; Obrusnikova et al. 2010, zitiert nach Giese et al. 2017, S. 237) oder Menschen mit Behinderungen sich durch eine Sonderbehandlung durch Lehr- und Assistenzkräfte abgesondert fühlen (vgl. Giese et al. 2017, S. 237).
Studienergebnisse belegen, dass Inklusion gelingen kann und alle von einem inklusiven Sportunterricht profitieren können. Demnach wurde festgestellt, dass befragte Schüler*innen ohne Behinderungen im Setting eines inklusiven Unterrichts von wertvollen Erfahrungen berichten. Beispielsweise erlernten sie durch einen gemeinsamen Umgang, eigenen Problemen konstruktiver zu begegnen (vgl. Lieberman et al. 2004, zitiert nach Rouse 2012, S. 13). Im Zuge dessen ist die Rede von einem gesteigerten Selbstwertgefühl, erhöhter Toleranz und dem verbesserten Verständnis gegenüber anderen. Dabei ermöglicht es der Sport, ethische Werte von Respekt und Fairness spielerisch zu erlernen.
2.3.2. Die Seite der Lehrkräfte
Im Folgenden wird aufgezeigt, was die (Sport-)Lehrkräfte im Umgang mit Inklusion bewegt. Dabei zeigt sich auch hier, dass das Forschungsfeld überaus durch den internationalen Diskurs bestimmt wird, der eine weitaus größere Fülle aufweist und demnach deutlich fortgeschrittener ist als der nationale Diskurs in Deutschland. Dazu werden die Sichtweisen der Lehrkräfte aus sechs Perspektiven dargestellt, die sich aus den Bereichen (1) Geschlecht und Alter, (2) den Rahmenbedingungen, (3) der Lehrer*innenausbildung, (4) den Einstellungen und Haltungen, (5) der Berufs- und Vorerfahrungen und (6) der Leistungsbeurteilung von Lehrkräften erschließen.
Die Einflussvariablen von (1) Geschlecht und Alter zeigen den Studien nach im Großen und Ganzen keine auffälligen Effekte und gelten damit als eher unbedeutend (vgl. Hodge et al. 2002; Kudlacek et al. 2002; Özer et al. 2013; Rizzo & Vispoel 1991; Tripp & Rizzo 2006, zitiert nach Reuker 2016, S. 94). Allerdings tendieren jüngere Lehrkräfte mit geringer Berufserfahrung im Gegensatz zu erfahrenen Lehrkräften zu einer etwas positiveren Einstellung bezüglich eines inklusiven Sportunterrichts.
Im Bereich der schulischen (2) Rahmenbedingungen kann auf Studien verwiesen werden, die zu den Ergebnissen kommen, dass sich die Lehrkräfte grundsätzlich bedenklich bezüglich der unzulänglichen schulischen Rahmenbedingungen zeigen (vgl. Ammah & Hodge 2005; Casebolt & Hodge 2010; Klavina et al. 2007; Mangope et al. 2013; Morley et al. 2005; Sato & Hodge 2009; Sato et al. 2007, zitiert nach Reuker 2016, S. 94). Die Lehrkräfte bemängeln demnach nicht nur die mangelhafte Ausstattung, sondern auch die fehlende Unterstützung, um inklusiven Unterricht umsetzen zu können (vgl. Morley et al. 2005, zitiert nach Reuker 2016, S. 94). Die vielfachen strukturellen Umstellungen im inklusiven Schulsystem verlangen den Lehrkräften zudem ein Umdenken ab. Für die Praxis bedeutet das, dass die Lehrkräfte an Regelschulen vermehrt mit sonderpädagogischen Fachkräften zusammenarbeiten werden und sich offen gegenüber neuen Sichtweisen zeigen müssen, heterogenen Lerngruppen zu begegnen (vgl. Klauß 2014, S. 18 - 19). Zudem beschreiben die Lehrkräfte ihren inklusiven Unterricht als „experimentell“ (Morley et al. 2005, zitiert nach Reuker 2016, S. 94) mit der fortwährenden Suche nach neuen Umsetzungsmöglichkeiten und vergleichen den Unterricht mit einer Reise, die zwar spannend ist und viele Möglichkeiten eröffnet, allerdings auch offen und damit teilweise Unklarheit über das Ziel herrscht (vgl. Morley et al. 2005, zitiert nach Reuker 2016, S. 94). Zusammenfassend zeigt sich, dass im Bereich der Rahmenbedingungen ein enormes Aufholpotenzial besteht, ein inklusiv gestaltetes Umfeld zu schaffen, das den Anforderungen der Lehrkräften gerecht wird.
[...]
1 Nach Reich ist mit einer One-size-fits-all-Pädagogik eine Beschulung zu verstehen, die für inklusive Settings nur ungeeignete, generalisierende und unflexible Ansätze bietet und damit nicht nach Maßstäben der inklusiven Vielfalt arbeitet.
- Citation du texte
- Gerrit Grote (Auteur), 2021, Inklusion im Sportunterricht. Perspektiven auf empirischer und konzeptioneller Ebene, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1324503
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