Im Folgenden werde ich näher auf das Krankheitsbild Nathanaels eingehen und es aus psychoanalytischer Sicht erläutern. Um den Wahnsinn, welchem Nathanael verfallen ist, richtig deuten zu können, muss man dies anhand von bestimmten Textstellen tun.
Nathanael ist selbst derjenige, der von seinem Leiden berichtet. Das erscheint zunächst hilfreich, da auf diese Weise die Schilderungen, die dem Leser als einzige Quelle dienen, mehr Authentizität aufweisen, als die Aussagen anderer Charaktere, doch zugleich ist zu bedenken, dass das alles, was Nathanael erlitten hat, ihn zu einer teilweise unglaubwürdigen Informationsquelle macht.
Nathanael: Charakterisierung aus psychoanalytischer Sicht
Im Folgenden werde ich näher auf das Krankheitsbild Nathanaels eingehen und es aus psychoanalytischer Sicht erläutern. Um den Wahnsinn, welchem Nathanael verfallen ist, richtig deuten zu können, muss man dies anhand von bestimmten Textstellen tun. Nathanael ist selbst derjenige, der von seinem Leiden berichtet. Das erscheint zunächst hilfreich, da auf diese Weise die Schilderungen, die dem Leser als einzige Quelle dienen, mehr Authentizität aufweisen, als die Aussagen anderer Charaktere, doch zugleich ist zu bedenken, dass das alles, was Nathanael erlitten hat, ihn zu einer teilweise unglaubwürdigen Informationsquelle macht. Nathanael spürt die Absurdität seiner Erinnerungen an die traumatischen Kindheitserlebnisse, doch befürchtet er, keinen Glauben geschenkt zu bekommen, wenn er diese, für ihn wirklichen, Ereignisse seinem Freund Lothar in einem Brief schildert: „Wärst du nur hier, so könntest du selbst schauen; aber jetzt hältst du mich gewiss für einen aberwitzigen Geistesseher.“ (Sandmann, S. 3)1 Der Brief stellt Nathanaels Versuch dar, die Ursachen seiner Angst zu ergründen. Wie er selbst erkennt, sind seine Kindheitserlebnisse prägend: „Mit aller Kraft fasse ich mich zusammen, um ruhig und geduldig dir aus meiner frühen Jugendzeit so viel zu erzählen, dass deinem regen Sinn aller klar und deutlich in leuchtenden Bildern aufgehen wird.“ (Sandmann, S. 4) In seinem Brief an Lothar berichtet er nun von diesen traumatischen Erlebnissen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die mysteriöse Kreatur des Sandmanns. Die Mutter Nathanaels schickt die Kinder oft ins Bett, unter dem Vorwand, dass nun der Sandmann komme. Seine Mutter gibt ihm auch nach ausdrücklicher Bitte zudem keine weiteren Informationen, was den Sandmann für Nathanael besonders interessant wirken lässt, bis ihm die Amme eine Geschichte des Sandmannes erzählt, die ihn zutiefst verstört: “ So wie er abends die Treppe hinaufpolterete, zitterte ich vor Angst und entsetzten.“ (Sandmann, S. 5) Der Sohn Nathanael spürt, dass beim nächtlichen Erscheinen des Sandmanns seine Mutter in eine für ihn unerklärliche Erregung gerät, die nicht nur von Angst geprägt ist. Aus dem gesamten situativen Zusammenhang heraus wird Nathanael auch klar, dass der Sandmann irgendetwas Geheimes mit Nathanaels Vater zu tun hat und außerdem erfährt er, dass die Kinder (und er dabei an erster Stelle) nicht dabei sein dürfen. Jahre nachdem Nathanael den Sandmann nur durch seine schweren Schritte hören und erkennen kann, beginnt er schließlich auch, ihn mit einem feinem, seltsam riechendem Dampf (Sandmann, S. 6) in Verbindung zu bringen. Bis zu diesem Zeitpunkt wirkt Nathanael als Informationsquelle glaubwürdig. Dann aber werden die Schilderungen allzu fantastisch, nämlich ab der Szene, in der Nathanael das erste Mal den Sandmann erblickt.
Nathanael begeht also die folgenreiche Tat, sich der elterlichen Anordnung, ins Bett zu gehen zu widersetzen, indem er sich wieder aus dem Bett schleicht und sich hinter der Gardine im Wohnzimmer versteckt. So wird er Augenzeuge der heimlichen-unheimlichen Geschehnisse, die mit dem Erscheinen des Sandmanns verbunden sind. Tatsächlich sieht der Junge nicht den Sandmann, sondern den Advokaten Coppellius, den er allerdings sofort mit dem Sandmann gleichsetzt. Der erwachsene Nathanael schildert, was er, versteckt hinter der Gardine, (angeblich) wahrnahm. Der Wandschrank (den er aus seinem Versteck heraus erblickt) wird zu einer dunklen Höhlung und selbst das Gesicht seines geliebten Vaters veränderst sich drastisch, „(…) zum hässlichen widerwärtigen Teufelsbilde verzogen (…)“ (Sandmann, S.9) Außerdem beschreibt Nathanael das Erscheinen von augenlosen Menschengesichtern in dem Rauch des Herdes. (Sandmann, S.9) Am eindeutigsten aber spricht Nathanaels Schilderung der Gewaltszene mit Coppellius, nachdem dieser Nathanael in seinem Versteck entdeckt hat, gegen eine realistische Schilderung. So berichtet er, dass Coppellius ihm als Strafe Hände und Füße abschraube. Das Motiv des Abschraubens stellt klarerweise bereits hier einen Bezug zu Olympia her, ohne, dass allerdings einsichtig wäre, wie genau dieser Bezug zu deuten ist. Es lässt sich insgesamt festhalten, dass durch die übertriebene Darstellung ein Realitätsverlust von Nathanael offen zutage tritt, welcher folglich auch seine Glaubwürdigkeit mehr als fragwürdig erscheinen lässt. Dieser Realitätsverlust deutet auf eine Persönlichkeitsstörung hin. In psychoanalytischer Perspektive füllen Narzissten die Aspekte des realen Geschehens, die nicht in ihr überhöhtes Selbstbild passen, mit ihren Fantasien. Diese realitätsfernen Schilderungen weisen auf eine psychische Erkrankung hin.
Im nächsten Schritt werde ich eine psychoanalytische Interpretation dieser Ereignisse im Horizont des später ausbrechenden Wahnsinns Nathanaels entwickeln. Um die folgenden Ausführungen besser verstehen zu können, ist es wichtig zu wissen, dass Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, einen Essay mit dem Titel „Das Unheimlich“2 verfasst hat, in welchem sich eine psychoanalytische Interpretation von Nathanael und dessen Krankheitsbild findet. Hierbei steht das Unheimlich ganz allgemein für das infantil Verdrängte, also Erlebnisse und Triebwünsche aus der Kindheit, die verdrängt wurden. In dieser Schrift stellt Freud die These auf, dass der Verlust der Augäpfel mit dem Verlust des Phallus gleichzusetzen sei und dass die Angst, die Augäpfel zu verlieren, folglich identisch mit der Kastrationsangst sei. Im Folgenden soll die Handlung im Sandmann vor dem Hintergrund von „Das Unheimliche“ und folglich in psychoanalytischer Perspektive rekonstruiert werden. Der Sohn hat den unerlaubten Wunsch, in ein Geheimnis einzudringen, das mit dem Vater zu tun hat und die Mutter in eine nicht nur ängstlich gefärbte Erregung versetzt und er muss es mit einer zumindest symbolischen Kastration bezahlen. Es ist hier einerlei, ob die Kastration tatsächlich durchgeführt oder ob sie im letzten Moment durch die Bitten des Vaters (Sandmann, S.9) verhindert wird. Die psychologische Wirkung ist allemal eingetreten. Der Sohn reagiert entsprechend, die psychische Erschütterung drückt sich durch eine schwere körperliche Krankheit, nämlich Fieber, aus. Eine besonders große Bedeutung erhält die erlebte ‚Kastration‘ durch den Umstand dass sein Vater wenig später stirbt und dass dieser Tod offenbar etwas mit der Geschichte zu tun hat, in die der Sohn Nathanael einzudringen versuchte. Insgesamt lässt sich also sagen, dass Nathanael unter dem Eindruck steht, dass sein Eindringen in die Sphäre der mütterlichen Erregung und der nun entdeckten geheimbündnerischen Aktivitäten des Vaters mit dem Tod des Vaters in Verbindung steht. Durch das Eindringen ist der Sohn hierbei nicht nur der Beobachtende, sondern auch selbst der Handelnde und damit Schuldige. Nun erklärt Freud die extreme Angst und den Hass gegen den Sandmann mit einem Abwehrmechanismus der kindlichen Seele. Nicht Nathanael ist für den Tod seines Vaters verantwortlich, sondern Coppellius, der Sandmann, welcher für die Erregung der Mutter verantwortlich ist. Nach Freud spaltet Nathanael seinen Vater in zwei Instanzen auf: einmal in die Instanz des guten Vaters, welche durch den wirklichen Vater repräsentiert wird - und die böse Vater-Instanz, welche dem Sandmann zugeschrieben wird. In psychoanalytischer Perspektive ist das deswegen notwendig, weil Nathanael sonst die für die Überwindung des Ödipuskomplexes notwendige Identifikation mit dem Vater nicht vollziehen kann. (Freilich bleibt dann unverständlich, inwiefern Nathanael eigentlich die ödipale Phase nicht oder nur unvollständig vollzieht und dadurch psychisch krank wird.) Das tut Nathanaels unbewusst, zu dem Zweck, seine erlebte symbolische Kastration, während der nächtlichen Alchimistenszene mit Coppellius und dem Vater, nicht dem Vater zuzuschreiben zu müssen. Er schreibt seine Kastration einer unheimlichen, abgespaltenen Vater-Instanz zu, welche durch Coppellius repräsentiert wird, um den Vater von dessen eigenen Aggression gleichsam reinzuwaschen.
Coppellius stellt aber nicht nur eine abgespaltete Vater-Instanz dar, sondern auch eine Abspaltung des Jungen. Um das nachzuvollziehen können, ist es wichtig, Freuds Theorie des Ödipuskomplexes kurz zu erläutern. In der ödipalen Phase der Kindheitsentwicklung kommt es zu Liebesgefühlen und sexuellen Wünschen gegenüber dem gegengeschlechtlichen Elternteil. Das Kind möchte das ihm gegengeschlechtliche Elternteil sozusagen voll und ganz in Besitz nehmen und macht damit das gleichgeschlechtliche Elternteil zugleich zum Rivalen bzw. Konkurrenten. Bei Jungen haben die ambivalenten Gefühle dem Vater gegenüber Angst vor ihm zur Folge, welche dann zur Kastrationsangst transformiert wird. Durch den starken Konflikt zwischen den drei Instanzen der menschlichen Psyche nach Freud kommt es zu einer Verdrängung. Nach dieser (erfolgreichen) Verdrängung identifiziert sich das Kind sogar mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. Da Nathanael nun den Ödipuskomplex durchläuft, sieht er den Vater als Rivalen und will ihn durch den Tod ungefährlich machen. Anstatt einer erfolgreichen Abwehr durch Verdrängung, wie sie in einer gesunden Entwicklung eintritt, findet in Nathanael eine unvollständige Verdrängung und Verschiebung statt. Coppellius stellt so eine abgespaltete Instanz des Kindes dar, weil diesem der Wunsch des Kindes nach dem väterlichen Tod zugeschrieben wird. Nun sind also aggressive Persönlichkeitsanteile des Vaters sowie des Sohnes in Coppellius identisch und dadurch gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Sohn und Vater, der infantilen und der elterlichen Instanz, obwohl letztere Nathanael eigentlich führen und beschützen soll. Es kann in Nathanael also zu keinem korrekten Abschluss des Ödipuskomplexes kommen, da durch die Abspaltung des Vaters in zwei Instanzen keine vollständige Identifizierung stattfindet.
Auf der Grundlage dieser Ausführungen zu Freuds Sandmann-Interpretation werde ich als nächstes erklären, wie es dazu kommt, dass Nathanael Jahre später vollständig vom Wahnsinn ergriffen wird. Der vollständige Wahnsinn bricht bei ihm in einer Szene aus, in welcher eine Wiederholung der traumatischen Kindheitserinnerung stattfindet. In dieser Szene kommt es zu einem Kampf zwischen Professor Spalanzani und dem Wetterglashändler Coppellius, welchen Nathanael beobachtet. Diese Situation ist, was den seelisch-symbolischen Gehalt betrifft, identisch mit derjenigen des Kindheitstraumas, da Spalanzani die gute Vaterinstanz einnimmt und Coppola die böse. Statt an einem Herd zu arbeiten, wie in Nathanaels Kindheitserinnerungen, haben die beiden ‚Väter‘ nun die Puppe Olimpia erschaffen und streiten sich um diese.
Olimpia steht zu Nathanael in einem besonderen Verhältnis. Denn auf seelisch-symbolischer Ebene sind beide Figuren im Grunde eine und dieselbe. Diese Gleichsetzung ist mit Nathanaels Narzissmus zu begründen, welcher wiederum eine Folge des falsch oder nicht gänzlich abgeschlossenen Ödipuskomplexes ist, wodurch keine reine Identifikation mit dem Vater stattfinden kann. Der Narzissmus stellt aus psychoanalytischer Sicht eine primäre Stufe in der Entwicklung einer Psychose dar. Bei Nathanael ist sein Narzissmus in verschiedenen Situationen gut zu erkennen. Nathanael fühlt wohl, dass in Olimpia kein Leben ist, was ihn auch mit Grausen erfüllt, er nimmt aber umso glücklicher wahr, dass seine Begeisterung Olimpia Leben einhaucht (Sandmann, S.34 und 35). Im seelenlosen Spiegel erkennt Nathanael bloß sich selbst und die „herrliche Zuhörerin“ Olimpia dient als reine Projektionsfläche. Die fanatische Besessenheit von ihr repräsentiert die extreme Eigenliebe und die Selbstbezogenheit. Wie bereits genannt könnten auch die Realitätsfernen Schilderungen aus der Kindheit im Nathanaels Narzissmus begründet sein, da ein Symptom von Narzissmus eben im Ersetzen von Realitätsaspekten durch (Größen-) Fantasie liegt, wenn diese nicht den eigenen (grandiosen) Standards genügen. Narzissten sind nicht in der Lage, Kritik anzunehmen und zeigen eine Gier nach Bewunderung, wobei andere Menschen erniedrigt oder in der Wahrnehmung des Narzisten in ihrem Wert herangesetzt werden. Diese Eigenschaft findet man ebenfalls bei Nathanael, als er Clara seine Dichtungen Vorliest, die diese als langweilig empfindet („Nathanaels Dichtungen waren in der Tat sehr langweilig. Sein Verdruss über Claras kaltes prosaisches Gemüt stieg höher.“, Sandmann, S.23) („[…] da sprang Nathanael entrüstet auf und rief, Clara von sich stoßend : „Du lebloses verdammtes Automat.“, Sandmann, S.24)3
Zurück zu der Wiederholung des Kindheitstraumas. Da Olimpia, wie erwähnt, mit Nathanael gleichzusetzen ist (sie ist eben reine Projektionsfläche), bricht in dem Moment der Wahnsinn in ihm aus, in welchem Olympia stellvertretend die Augen entnommen werden. Die Bestrafung durch Kastration, welcher Nathanael in der Kindheit gerade noch entgangen war, wird nun gänzlich vollzogen. Hinzu kommt, dass Nathanael in diesem Moment erkennt, dass Olimpia eine Puppe ist (Sandmann, S.38). Nathanael kann nun nicht anders als seinen narzisstischen Realitätsverlust zu erkennen, was eine umso heftigere Abwehrreaktion hervorruft, die nur noch in gänzlicher Umnachtung bestehen kann. Außerdem führt die starke Ähnlichkeit zu dem traumatischen Kindheitserlebnis dazu, dass sie mit zu hoher psychischer Energie besetzt ist, wodurch die Erinnerung mit voller emotionaler Wucht wieder hervorbrechen.4
Nachdem ich Nathanaels Wahnsinn aus psychoanalytischer Sicht analysiert habe, werde ich nun einige Kritikpunkte an dieser Deutung kenntlich machen. Ein Kritikpunkt besteht in der vernachlässigten Ambivalenz der guten Vaterfigur. Trotz dieser angeblichen Trennung in zwei Instanzen, gut und böse, wird der echte Vater, welchem doch die gute Vaterinstanz zugeschrieben werden soll, in mindestens einer Szene als ‚böse‘ dargestellt: „[…] ein grässlicher krampfhafter Schmerz schien seine ehrlichen Züge zum hässlichen widerwärtigem Teufelsbilde verzogen zu haben. Er sah dem Coppellius ähnlich.“ (S9) Auch Spalanzani, der laut psychoanalytischer Deutung den guten Vater darstellt, werden negative Merkmale zugeschrieben: “Der Professor Spalanzani schritt langsam durch den leeren Saal, seine Schritte klangen hohl wieder, seiner Figur von flackernden Schlagschatten umspielt, hatte ein gräuliches Aussehen.“ (Sandmann S. 31)
Ein weiterer und besonders schwerwiegender Kritikpunkt bzw. Vorwurf kann darin gesehen werden, dass Freuds Deutung z. T. direkt der Textgrundlage widerspricht. Ein großer Teil von Freuds Auslegungen basiert auf der abschließenden Szene, in welcher sich Nathanael vom Turm stürzt. So schreibt Freud über die Schlussszene: „Oben zieht eine merkwürdige Erscheinung von etwas, was sich auf der Straße heranbewegt, die Aufmerksamkeit Claras auf sich. Nathanael betrachtete dasselbe ding durch Coppolas Perspektiv, das er in seiner Tasche findet, wird neuerlich vom Wahnsinn ergriffen […]“und weiter: „Unter den Menschen, die sich unten ansammeln, ragt der Advokat Coppellius hervor, der plötzlich wieder erschienen ist. Wir dürfen annehmen, dass es der Anblick seiner Annäherung war, der den Wahnsinn bei Nathanael zum Ausbruch brachte.“ 5Es trifft aber nicht zu, dass Nathanael dasselbe wie Clara erblickt: “Nathanael fasste mechanisch nach der Seitentasche; er fand Coppolas Perspektiv, er schaute seitwärts - Clara stand vor dem Glase.“ Wenn Clara vor dem Glas, also dem Perspektiv steht, sieht Nathanael zunächst also Clara und nicht Coppellius. Folglich muss man davon ausgehen, dass es nicht der Anblick Coppellius‘ ist, der Nathanael in den Wahnsinn treibt, sondern vielmehr die Erscheinung Claras. Wäre dies wirklich der Fall, wäre ein großer Teil von Freuds Deutung hinfällig.
Abschließend noch ein Gedanke zur Legitimität einer psychoanalytischen Deutung literarischer Texte. Man könnte meinen, dass eine korrekte Deutung von Nathanaels Wahnsinn nicht möglich sei, weil Nathanael eine fiktive Figur und somit ein fiktiver Krankheitsverlauf hat, , und somit mache Geschehnisse nicht psychologisch zu erklären sind, da sie eventuell so niemals beim Menschen auftreten würden. Das kann man so aber nicht sagen, da die Psychoanalyse einen Schlüssel zum gesamten oder allgemein menschlichen symbolischen Erleben und der – gesunden oder kranken – Symbolbildung von Menschen in der Hand zu halten meint. Dabei spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob diese Symbolbildung nur im Kopf geschieht, in einer Psychoanalyse oder eben in einem literarischen Text.5
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1 Der Sandmann wird zitiert nach: E. T. A. Hofmann: Der Sandmann, Ditzingen: Reclam 2010. Im Folgend abgekürzt als Sandmann.
2 Das Unheimliche wird zitiert nach: Siegmund Freund: Das Unheimliche Ditzingen: Reclam 2020
3 Der Begriff des Narzissmus bezieht sich auf Narcissus, welcher die Liebe anderer ablehnte und sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte. E.T.A. Hoffmann repräsentiert witziger Weise fast die Entstehungsgeschichte des Namengebers des Narzissmus, da auch Nathanael sich Übermaßen in sein Spiegelbild, nämlich Olimpia verliebt.
4 Folgt man der, vielleicht etwas sehr konstruierten, Interpretation des bedeutenden Psychoanalytikers Jacques Lacan, ist für den aufkommenden Wahnsinn in Nathanael am ausschlaggebendsten, dass Olimpia ihre Augen entnommen werden und Professor Spalanzani diese Natanael an die Brust wirft. (Vgl. S.38 Z.7) Genau in diesem Moment wird Nathanael wahnsinnig. Wie bereits erwähnt sind die Augäpfel mit dem Phallus gleichzusetzten. Die Augäpfel ‚dringen in Nathanael ein‘ (Vgl. S.23Z.21) und er wird sozusagen selbst zum Phallus. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob Nathanael einen Phallus besitzt, mit welchem er die Mutter begehren kann und der ihm zur Strafe als Kastration wieder vom Vater entfernt wird - oder ob er der Phallus ist. Der Sohn hat nicht nur einen Phallus, mit dem er die Mutter begehren und sexuell beglücken kann, worauf möglicherweise als Strafe eine Kastration folgen könnte. Er ist der Phallus, welcher der Mutter fehlt. Somit kann er keine eigenen seelische Positionen mehr einnehmen, geht vielmehr völlig in der Mutter auf, als eine Funktion ihrer Triebwünsche.
5 Stockinger, Prof. Dr. Ludwig: „Der Sandmann“ und der Freudsche Verleser. Über das Verhältnis der Erzählfiguren und erzählten Geschichten
- Citation du texte
- Anonyme,, 2022, Charakterisierung der Figur Nathanael aus psychoanalytischer Sicht. "Der Sandmann" von E. T. A. Hofmann, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1324223
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