Ausgehend von der UN-Behindertenrechtskonvention wirft die Arbeit die Frage auf, ob eine Bestimmung des Menschlichen möglich ist, die ausnahmslos alle menschlichen Wesen umfasst, ohne durch in ihr enthaltene Merkmale einzelne Individuen oder Gruppen auszuschließen. Um eine solche ‚inklusive Anthropologie’ identifizieren zu können, werden als heuristisches Instrument ‚Kriterien inklusiver Anthropologie‘ entwickelt und auf verschiedene anthropologische Theorien angewendet. Im zweiten Teil untersucht die Arbeit, inwiefern anthropologische Theorie zu einer normativen Begründung des Menschenrechts auf Inklusion herangezogen werden kann. Es wird dargelegt, dass Anthropologie zwar für die Konzeption normativer Theorien relevant werden und insofern der Möglichkeit nach zur normativen Begründung von Inklusion beitragen kann. Allerdings zeigt sich auch, dass prominente ethische Theorien, ob mit oder ohne ausgewiesenen anthropologischen Bezügen, größte Schwierigkeiten darin zeigen, Menschenrechte zu begründen. Als Fazit der Überlegungen zur normativen Begründbarkeit von Inklusion wird geschlussfolgert, dass es sich dabei um ein anspruchsvolles Vorhaben handelt, dessen Gelingen am ehesten durch ein Zusammenwirken anthropologischer, ethischer und politischer Perspektiven zu erreichen ist und dabei auf allen Ebenen von Reflexivität und Dialogbereitschaft abhängt. Die hierin schon erkennbar werdenden Bedingungen der Realisierung von Inklusion werden in der Arbeit unter besonderer Berücksichtigung anthropologischer Bezüge an Beispielen inklusiver Pädagogik von Peter Rödler und vor allem Georg Feuser diskutiert.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Fragestellung und Vorhaben
1.2 Methode und Wissenschaftsverständnis
1.3 Forschungsstand und herangezogene Literatur
2. Zentrale Begriffe: Inklusion und Anthropologie
2.1 Inklusion
2.1.1 Inklusion: Genese und Facetten eines Begriffs
2.1.2 Inklusion und Exklusion
2.1.2.1 Inklusion und Exklusion als sich bedingende Prozesse im Medium gesellschaftlicher Praxis
2.1.2.2 Inklusion und Exklusion im Spiegel der Relationalen Soziologie Pierre Bourdieus
2.1.3 Inklusion und Anerkennung
2.1.4 Zusammenfassung: Inklusion
2.2 Anthropologie
3. Anthropologiekritik im Kontext der Wissenschaften
3.1 Philosophische Anthropologiekritik
3.2 Anthropologie und Anthropologiekritik im Kontext von Behindertenpädagogik und Disability Studies
3.2.1 Probleme und Kritikpunkte im Verhältnis von Anthropologie und Behindertenpädagogik
3.2.1.1 Positionen zur Anthropologie im Kontext der Behindertenpädagogik
3.2.2 Anthropologiekritik im Rahmen der Disability Studies
4. Gibt es eine inklusive Anthropologie?
4.1 Kriterien einer inklusiven Anthropologie
4.2 Anthropologie zwischen Inklusion und Exklusion
4.2.1 Begründung der ausgewählten Referenztexte
4.2.2 Vertiefende Diskussion einzelner anthropologischer Theorien
4.2.2.1 Anthropologie bei Aristoteles
4.2.2.2 Anthropologie und Ethik in Singers Praktischer Ethik
4.2.2.3 Der Mensch als ‚exzentrische Positionalität‘ nach Plessner
4.2.2.4 Der Versuch einer synthetischen ‚inklusiven Anthropologie‘ bei Peter Rödler im Kontext der ‚basalen Anthropologie‘ Adolf Portmanns
4.2.3 Fazit: Möglichkeit und Grenzen inklusiver Anthropologie
5. Anthropologie, Normativität und Sittlichkeit
5.1 Versuch einer anthropologie-freien Begründung von Sittlichkeit in der Pflichtethik Immanuel Kants und der Diskursethik von Jürgen Habermas
5.1.1 Immanuel Kants Pflichtethik
5.1.2 Diskursethik von Jürgen Habermas
5.2 Ansätze einer anthropologischen Begründung der Sittlichkeit von Menschenrechten bei Otfried Höffe
5.3 Von der moralischen zur politischen Konzeption der Menschenrechte
5.4 Schlussfolgerungen: Anthropologie und die Begründung von Recht in moralischer und menschenrechtlicher Hinsicht
6. Anthropologie und die Verwirklichung von Inklusion
6.1 Inklusive Anthropologie im Diskurs um die Rechte von Menschen mit einer Behinderung
6.2 Anthropologie und die Forderung nach einem inklusiven Bildungssystem.
6.2.1 Allgemeine Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik Georg Feusers im Kontext inklusiver Anthropologie
6.2.1.1 Allgemeine Pädagogik
6.2.1.2 Entwicklungslogische Didaktik
6.2.1.3 Kooperation am Gemeinsamen Gegenstand
6.2.2 Anthropologie in ihrer Bedeutung für die Konzeption der Allgemeinen Pädagogik und die Möglichkeiten ihrer Realisierung
7. Schlussbetrachtung
7.1 Wesentliche Erkenntnisse der Argumentation
7.2 Zentrale Ergebnisse im Kontext der Forschung
7.3 Möglichkeiten der Weiterführung und Fazit
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Die Einleitung liefert einen Überblick zur Fragestellung und zu den Zielsetzungen dieser Arbeit. Sie geht auf den Forschungsstand ein und erklärt das zugrundeliegende Wissenschaftsverständnis sowie das methodische Vorgehen. Darüber hinaus werden Bezüge zum wissenschaftlichen Kontext der Fragestellung hergestellt und erläutert.
1.1 Fragestellung und Vorhaben
Eine Erkenntnis ist nun dunkel oder klar […]. Dunkel ist ein Begriff, der nicht genügt, die dargestellte Sache wiederzuerkennen, wie z. B., wenn ich […] einen Terminus betrachte, der in den Philosophenschulen unzulänglich erklärt wird […]. Klar ist folglich eine Erkenntnis, wenn ich sie so besitze, daß ich aus ihr das Dargestellte wiedererkennen kann – und diese ist wiederum entweder verworren oder deutlich. Verworren ist sie, wenn ich nicht imstande bin, die Merkmale einzeln aufzuzählen, die zur Unterscheidung einer Sache von anderen ausreichen, obgleich die Sache solche Merkmale und Bestimmungen besitzt, in die ihr Begriff aufgelöst werden könnte: so erkennen wir Farben, Gerüche, Geschmäcke und andere besondere Sinnesobjekte zwar klar genug wieder und unterscheiden sie voneinander, doch durch ein einfaches Zeugnis der Sinne, nicht aber durch angebbare Merkmale. […] Ein deutlicher Begriff aber ist ein solcher, wie ihn die Münzprüfer vom Golde haben, auf Grund von Merkmalen und Untersuchungen, die ausreichen, die Sache von allen anderen Körpern zu unterscheiden (Leibniz 1995, S. 9f.).
Eine Arbeit, die sich mit der Bedeutung der Anthropologie für den Bereich der Inklusion beschäftigen möchte, mit Gedanken aus der über 300 Jahre alten erkenntnistheoretischen Schrift Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen aus dem Jahr 1684 zu beginnen, muss irritieren. Leibniz‘ Unterscheidungen zur begrifflichen Erkenntnis verdeutlichen jedoch sehr gut eine Eigentümlichkeit der UN-Behindertenrechtskonvention (Netzwerk Artikel 3 e.V. 2018)1: Der Begriff des Menschen wird hier mit einer solchen Selbstverständlichkeit verwendet, die vorauszusetzen scheint, dass jeder Leser dieser Erklärung sofort ein ,klares‘ Bild' vom Menschen hat, auch wenn möglicherweise niemand sagen kann, was dieses Bild genau kennzeichnet.2 Es erfolgt keine Bestimmung des Begriffs ‚Mensch‘ im Sinne von ‚Merkmalen und Untersuchungen‘, was ihn zu einem nicht nur klaren, sondern auch deutlichen Begriff werden ließe. Was ‚Mensch‘ bedeutet, wird also nicht distinkt im Sinne einer Nominaldefinition bestimmt (vgl. Leibniz 1995, S. 9f).
Ist vom Menschen also nur eine ‚verworrene‘ Erkenntnis möglich? Oder handelt es sich sogar um einen Begriff, der ‚dunkel‘ bleiben muss, weil die Philosophie und die Wissenschaften in seiner Klärung versagen? Erfolgt der Verzicht der BRK auf eine distinkte Bestimmung bloß aus einem Unvermögen, oder ist es vielleicht auch wohldurchdachte Absicht, dass Menschsein in ihr nicht definiert wird?3
Es muss jedoch gerade im Kontext von Behinderung im höchsten Maße beunruhigen, wenn die Kategorie ‚Mensch‘ nicht begrifflich bestimmt werden kann. Zeigt doch die historische Erfahrung von der Antike bis zur Gegenwart, dass Menschen mit einer Behinderung immer wieder das Menschsein abgesprochen wird, was nicht nur die systematische Vernichtung von Menschen mit Behinderung im Nationalsozialismus umfasst (vgl. Feuser 2016, S. 29-32). Die historisch-kulturelle Perspektive lässt also befürchten, dass jenseits eines distinkten Begriffs offensichtlich nicht einmal eine Erkenntnis vom Menschen möglich ist, die als bloß ‚verworren‘ angesehen werden könnte, da Menschen unterschiedlicher Zeiten und Kulturen ganz verschieden darauf antworten, welches Individuum als Mensch gelten kann und welches vielleicht auch nicht. Ein ‚einfaches Zeugnis der Sinne‘ scheint jedenfalls im Falle des Menschen noch keine klare Erkenntnis zu gewährleisten (vgl. Leibniz 1995, S. 9f.).
Der nun vielleicht einsetzende Ruf, dass die Anthropologie doch sicher und für alle Zeiten verbindlich und gültig bestimmen möge, um was für ein Wesen es sich beim Menschen handelt, geht jedoch mit großen Gefahren einher, denn jede „Absolutsetzung birgt in sich die Gefahr des Ausschlusses von dem, was der absoluten Vorstellung nicht entspricht“ (Lanwer 2013, S. 9).
Ist darüber hinaus nicht sogar zu befürchten, dass Anthropologie durch fragwürdige Begriffsbildungen selber verhindert, dass das Menschliche am Menschen sichtbar wird und dazu beiträgt, dass die Erkenntnis vom Menschen ‚dunkel‘ bleibt?
Die Kapitel 2 bis einschließlich 4 der vorliegenden Arbeit beschäftigen sich, ausgehend von einer Reflexion des Inklusionsbegriffs, mit der Frage, ob eine Anthropologie möglich ist, die es einerseits erlaubt, das Menschliche am Menschen auszuweisen und dabei andererseits tatsächlich alle menschlichen Wesen mit einzuschließen, insbesondere auch Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung.
Hierzu werden im Abschnitt 4.1 dieser Arbeit Kriterien einer inklusiven Anthropologie entwickelt, die ihrerseits aus der vorangehenden Untersuchung des Inklusionsbegriffs und der philosophischen und behindertenpädagogischen Anthropologiekritik begründet werden. Der Abschnitt 4.2 überprüft historische und gegenwärtige Anthropologien darauf, ob sie den Kriterien inklusiver Anthropologie gerecht werden können, um Perspektiven für eine Bestimmung der Möglichkeiten und Grenzen inklusiver Anthropologie in Abschnitt 4.2.3 zu eröffnen.
Wichtiges Ergebnis dieser ersten Kapitel, die auf der Grundlage eines sowohl analytisch als auch hermeneutisch und in besonderem Maße dialektisch geprägten Wissenschaftsbegriffs erfolgen, ist die Rekonstruktion des Inklusionsbegriffs als zugleich normative und deskriptive Kategorie.4 Diese Bestimmung erweist sich, neben dem aus dem dialektischen Wissenschaftsbegriff folgenden Anspruch auf Reflexivität, als maßgeblich für die in Abschnitt 4.1 entwickelten Kriterien inklusiver Anthropologie.
Die Ergebnisse des 4. Kapitels werden zwar die These zulassen, dass es Beispiele anthropologischer Theorien gibt, die sich auf der Grundlage der ausgewiesenen Kriterien als inklusiv bezeichnen lassen. Aber was ist damit für die Begründung der Rechte behinderter Menschen, was für die Verwirklichung von Inklusion gewonnen? Handelt es sich hier nicht lediglich um schöne Bilder vom Menschen aus dem Geiste großzügiger und anspruchsvoller Humanität, die dafür zwar Achtung verdienen, aber für eine Begründung von Normativität vollkommen bedeutungslos sind?
Das Kapitel 5 wird deswegen ausloten, inwiefern sich ethische Theorien und Menschenrechte in ihrer Begründung auf Anthropologie beziehen können. Ein wichtiges Ergebnis dieser Reflexion, die auch anhand prominenter Beispiele der Moralphilosophie erfolgt, wird sein,
- dass zwar wissenschaftstheoretische Grenzen der unmittelbaren normativen Begründung anthropologischer Theorien existieren,
- aber dass diese Theorien sehr wohl eine wichtige Funktion in ethischen und menschenrechtlichen Begründungszusammenhängen einnehmen können.
Die Bedingungen, unter denen insbesondere inklusive Anthropologie zur Begründung normativer Forderungen beitragen kann, werden in diesem Kapitel dargelegt werden. Die Überlegungen problematisieren dabei auch das Ergebnis, dass Theorien explizit inklusiver Anthropologie, bedingt durch den Inklusionsbegriff, immer auch einen Bezug zu normativen Aussagen aufweisen. Deutlich soll dabei allerdings werden, dass insbesondere Ethik und Anthropologie in ihrem Verhältnis oftmals durch einen eklatanten Mangel an Reflexivität und Transparenz gekennzeichnet sind, der ein Exklusionsrisiko darstellt. Die in diesem Zusammenhang hervortretenden Grenzen einer moralphilosophischen, auf sittliche Notwendigkeit zielenden Begründung der Rechte behinderter Menschen regen dazu an, das normative Potenzial einer politischen Konzeption der Menschenrechte zu untersuchen, was unter der Berücksichtigung der diesbezüglichen Möglichkeiten anthropologischer Theorie im Abschnitt 5.3 erfolgt.
Die Überlegungen zur normativen Bedeutung anthropologischer Theorien werden im 6. Kapitel ergänzt durch eine Reflexion ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche und insbesondere pädagogische Verwirklichung von Inklusion.
Abschließende Gedanken beschäftigen sich mit den wesentlichen Erkenntnissen aus der Argumentation, ihrem jeweiligen Verhältnis zur Forschungsliteratur sowie mit Perspektiven der Weiterführung und Vertiefung der Fragestellungen dieser Arbeit in Kapitel 7.
1.2 Methode und Wissenschaftsverständnis
Die folgenden Überlegungen dienen dazu, einige zentrale Aspekte des der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegten wissenschaftlichen Selbstverständnisses und der verwendeten Methodik zu verdeutlichen, auch wenn es nicht nur im gesetzten Rahmen bestenfalls in Ansätzen gelingen kann, die vollzogene wissenschaftliche Praxis begrifflich-reflexiv einzuholen.
Grundsätzlich orientieren sich die folgenden Ausführungen am Wissenschaftsbegriff Immanuel Kants, nach dem Wissenschaft auf Erkenntnis zielt und deswegen durch ein methodisches Vorgehen bestimmt ist, das zugleich auch eine argumentative Struktur hat und begründete Aussagen generiert, die in einem Gesamtzusammenhang stehen (vgl. Poser 2001, S. 24):
Eine jede Lehre, wenn sie ein System, d. i. ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis sein soll, heißt Wissenschaft […] (Kant 1911., AA IV, S. 467)).
Diese sehr allgemeine Bestimmung Kants aus seiner Schrift Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786) lässt Spielräume für eine genauere Festlegung des wissenschaftstheoretischen Standpunktes.5 Die vorliegende Darstellung orientiert sich dabei einerseits an einem analytischen Standpunkt, der sich auf die logisch-begriffliche Analyse von Aussageformen bezieht. Die Notwendigkeit dieser Perspektive ergibt sich unter anderem aus der Bedeutung der Analyse von Aussageformen für die Argumentation bei der wichtigen Unterscheidung zwischen normativen und deskriptiven Aussagen im Kontext des Verhältnisses von Ethik und Anthropologie (vgl. Abschnitt 3.1) sowie im Hinblick auf die formale Struktur des Inklusionsbegriffs (vgl. Abschnitt 2.1).
Entscheidend für das methodische Vorgehen dieser Arbeit ist darüber hinaus die Einnahme eines hermeneutischen Standpunktes, der „auf ein methodisches Erfassen des Verstehens in den Wissenschaften im jeweiligen historischen Horizont“ bezogen ist (Poser 2001, S. 27). Ein hermeneutisches Vorgehen bietet sich an, weil die Arbeit versucht, Theoriegebäude ganz unterschiedlicher historischer Epochen (von der Antike bis in die Gegenwart) zu verstehen, die im Sinne Diltheys immer als Objektivationen von Leben anzusehen sind. Dabei nähert sie sich diesen Objektivationen als belastet und begabt durch ein Vorverständnis und versucht im Sinne Gadamers in einen dialogischen Prozess einzutreten (vgl. Poser 2001, S. 227 u. ebd. S. 229). Der hermeneutische Standpunkt führt zu einem methodischen Vorgehen, dessen Umgang mit Texten auch philologisch motiviert ist, was sich neben der Berücksichtigung von Sekundärtexten auch in einer relativ umfassenden Berücksichtigung von Primärquellen ausdrückt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass in unkritischer Weise mit den Kategorien ,Autor‘ und ,Werk' operiert wird.6 Es wird vielmehr versucht, einen Sinn aus den Texten zu rekonstruieren, der den imaginierten Gesprächspartner in angemessener Weise erkennbar werden lässt und darüber hinaus zu einer Reflexion eigener Fragestellungen und Interessen anregt. In diesem Sinne soll hermeneutische Textanalyse hier auch nicht als Selbstzweck betrieben werden, sondern erfolgt immer auch im Kontext übergeordneter Fragestellungen und geleitet durch das spezifische Erkenntnisinteresse der Arbeit.
Die hierin angesprochene Kategorie der Reflexivität verweist auf einen dritten wissenschaftstheoretischen Standpunkt, der als dialektischer Standpunkt die Grenzen des hermeneutischen Standpunktes überschreitet und sich „um ein Erfassen des Erkenntnis- und Wissensprozesses, der den Wissenschaften zugrunde liegt“ bemüht (Poser 2018., S. 27).7 Dieser ist für die vorliegende Arbeit insofern relevant als sie ein „emanzipatorisches Interesse“ verfolgt und deshalb unter anderem auch die Wissenschaft selbst in ihr zum Gegenstand der Reflexion werden kann (vgl. ebd., S. 262). Jürgen Habermas beschreibt den Zusammenhang zwischen Reflexion und emanzipatorischem Interesse, das den Sozialwissenschaften als Wissenschaftstyp zu eigen sei, genauer:
Ich meine die Erfahrung der emanzipativen Kraft der Reflexion, die das Subjekt in dem Maße, als es sich in seiner Entstehungsgeschichte transparent wird, an sich erfährt. […] In der Selbstreflexion gelangt eine Erkenntnis um der Erkenntnis willen mit dem Interesse an Mündigkeit zur Deckung; denn der Vollzug der Reflexion weiß sich als Bewegung der Emanzipation (Habermas 1973, S. 243f.).
Habermas‘ Forderung an die Wissenschaften besteht darin, dass sie ein reflektiertes und undogmatisches Selbstverständnis gewinnen sollen, indem sie unter anderem klären, welchen Orientierungen sie in ihrer jeweiligen Forschungspraxis folgen. Dies führt nach Habermas auch zu einer Verabschiedung der Vorstellung von einer objektiven bzw. neutralen Wissenschaft (vgl. Habermas 1973, S. 242). Die Kategorie der Reflexion ist bei Habermas an die Tätigkeit eines individuellen Subjektes gebunden, das grundsätzlich auch ein Subjekt in den Wissenschaften sein kann, und soll, dessen Emanzipation befördern. Gesellschaftliche Veränderung ist demnach eine Veränderung der Gesellschaft durch das mündige Subjekt.8 Hiervon unterscheidet sich die Konzeption von Reflexivität in der Relationalen Soziologie Pierre Bourdieus, nach der „das Subjekt der Reflexivität in letzter analytischer Instanz das Feld der Sozialwissenschaften selber sein muss“ (Waquant 2017, S. 69.).9 Waquant führt hierzu aus:
So setzt für Bourdieu die Reflexivität nicht eine Reflexion des Subjekts über das Subjekt nach Art des Hegelschen Selbstbewußtseins voraus […]. Was hier der ständigen Prüfung unterzogen und im Akt der Konstruktion des Objekts selbst neutralisiert werden muß, ist das kollektive wissenschaftliche Unbehagen, das in die Theorien, Probleme und (insbesondere nationalen) Kategorien der akademischen Vernunft eingegangen ist […] (ebd., S. 68; Hervorh. im Original).
Bourdieu hat als Subjekt und Objekt der Veränderung also primär die wissenschaftliche Struktur vor Augen, die als ganze reflexiv sein soll. Dennoch ist es entscheidend für eine Veränderung dieser Struktur, dass die Akteure im Feld der Wissenschaft (und auch in anderen Feldern) sich des Gesellschaftlichen in ihnen selbst, das in ihnen als ein Habitus gegeben ist, bewusst werden und auf der Grundlage dieses Bewusstseins Wissenschaft und Gesellschaft als veränderbar begreifen (vgl. Waquant, S. 80f.).
Das emanzipatorische Interesse Bourdieus liegt dabei insbesondere in der Absicht einer Veränderung der Gesellschaft bezüglich der in ihr wirksamen Prozesse der Etablierung von Ungleichheit, was in Abschnitt 2.1.2.2 näher beschrieben wird.10
Die Forderung nach einer Reflexivität in den Wissenschaften, die den Gedankengängen von Habermas und Bourdieu inhärent ist, bestimmt die folgenden Überlegungen vor allem dadurch, dass sich das verfolgte Erkenntnisinteresse auch als ein emanzipatorisches Interesse zu erkennen gibt. Die mit dem Begriff der Inklusion verbundenen normativen Ansprüche auf Menschenrechte im Allgemeinen und gesellschaftliche Teilhabe im Besonderen werden als berechtigt vorausgesetzt und die Möglichkeiten ihrer Etablierung in der gesellschaftlichen Praxis werden aus einem Interesse an einer Veränderung dieser Praxis untersucht.11 Diese Offenlegung der Interessen bezieht sich vor allem darauf, Dogmatismus und Normativismus der wissenschaftlichen Aussagen im Folgenden zu vermeiden und die eigene Vorgehensweise insgesamt einer kritischen Prüfung zugänglich zu machen.12 Am Anspruch der Reflexivität wird im Kapitel 5 dieser Arbeit das Verhältnis ethischer Theorien zu anthropologischen Theorien gemessen werden. Dabei wird sich dieses Verhältnis insbesondere durch einen Mangel an Reflexivität als problematisch erweisen und als ein Exklusionsrisiko ausgewiesen werden.13
1.3 Forschungsstand und herangezogene Literatur
Einen Eindruck von der wissenschaftlichen Diskussion über die Anthropologie im philosophischen Diskurs sollen die Abschnitte 2.2 und 3.1 vermitteln. Die Annäherung an den Inhalt und die historische Genese des komplexen Begriffs der Anthropologie hat die einführende Darstellung von Christian Thies sehr erleichtert, was auch für dessen Erläuterung der philosophischen Anthropologiekritik gilt (Thies 2013). Die Diskussion der Anthropologie in der Behindertenpädagogik von den 1980er Jahren bis in die Gegenwart wird im Abschnitt 3.2 in den Grundzügen dargestellt. Von besonderer Bedeutung ist hier das Buch Heilpädagogik zwischen Anthropologie und Ethik von Hajo Jakobs gewesen, das behindertenpädagogische Diskurse zu dieser Thematik bis zum Ender der 1990er Jahre umfassend darstellt und auch als eine anspruchsvolle philosophische Einführung lesbar ist (Jakobs 1997). Einen Einblick in die Fortsetzung der entsprechenden Diskurse in der jüngeren Zeit hat der von Vera Moser und Detlef Horster herausgegebene Sammelband Ethik der Behindertenpädagogik gewährt (Moser/Horster 2012).
Ein Bezug auf behindertenpädagogische Diskurse erfolgt auch durch die Diskussion der Überlegungen zu einer ‚inklusiven Anthropologie‘, die von Peter Rödler angestellt werden (Abschnitt 4.2.2.4) und von diesem im Wesentlichen schon früher im Zusammenhang seiner Theorie der Grundlagen einer basalen Pädagogik entwickelt wurden (Rödler 2018; Rödler 2000). In diesem Rahmen setzt die vorliegende Arbeit sich mit bereits bestehenden konzeptionellen Überlegungen zur Frage nach der Möglichkeit einer inklusiven Anthropologie auseinander.
Wesentliche Aspekte der wissenschaftlichen Diskussion um den Inklusionsbegriff sind dem Kapitel 2 zu entnehmen. Für das dort entwickelte Verständnis war insbesondere Willehad Lanwers Aufsatz Rehistorisierende Diagnostik zwischen gesellschaftlicher Teilhabe und Ausschluss – eine methodologische Skizze hilfreich (Lanwer 2012).
Für die Analyse des Verhältnisses von Anthropologie und Ethik, die Fragestellungen der politischen Anthropologie berührt, hat sich die Einführung in die politische Anthropologie von Dirk Jörke als orientierend und insbesondere als Anregung für eine anthropologiekritische Haltung erwiesen (Jörke 2005). Im Kontext der politischen Anthropologie verdankt die vorliegende Darstellung überdies wichtige Hinweise zur Unterscheidung der moralischen von der politischen Konzeption der Menschenrechte der Einführung Philosophie der Menschrechte von Christoph Menke und Arndt Pollmann ( Menke/Pollmann 2007). In welcher Weise sich die gegenwärtige philosophische Diskussion mit dem Verhältnis von Anthropologie und Ethik beschäftigt, konnte der aktuellen Darstellung von Christian Thies Anthropologie auf neuen Wegen und dem von Julian Nida-Rümelin und Jan-Christian Heilinger herausgegebenen Sammelband Anthropologie und Ethik entnommen werden (Thies 2018; Heilinger/Nida-Rümelin 2015).
2 Zentrale Begriffe: Inklusion und Anthropologie
Die Frage nach der Möglichkeit inklusiver Anthropologie setzt eine Bestimmung dessen voraus, was unter Inklusion und Anthropologie im Kontext dieser Darstellung verstanden werden soll, da es sich in beiden Fällen um voraussetzungsreiche Begriffe handelt.
2.1 Inklusion
Sich auf den Begriff der Inklusion im gesellschaftlichen Diskurs oder im wissenschaftlichen Kontext zu beziehen, kann eigentlich nur mit einem gewissen Unbehagen erfolgen, da er sowohl unbestimmt als auch umstritten ist.14 Das, was auf der einen Seite als Mangel erscheint, bietet auf der anderen Seite jedoch auch die Freiheit, sich dem Begriff denkend zu nähern und ihn in möglichst überzeugender Weise zu bestimmen. Die folgenden Überlegungen versuchen deswegen nicht, den Begriff der Inklusion durch die Hervorhebung einiger herausgegriffener Merkmale zu fixieren, es wird vielmehr versucht, konstitutive Elemente der Kategorie aufzuweisen, indem einige ihrer Bezüge vor allem zu Recht, Soziologie und Ethik transparent gemacht werden. Ein besonderes Anliegen ist es dabei, herauszustellen, dass der Begriff der Inklusion in formaler und aussagenlogischer Hinsicht eine besondere Struktur hat, da mit ihm grundsätzlich sowohl normative bzw. präskriptive als auch deskriptive Aussagen verbunden sind.15
Im Folgenden soll also ein Verständnis des mehrdeutigen und unpräzisen Begriffs im Sinne einer Annäherung erschlossen werden. Das daraus resultierende Verständnis von Inklusion wird dann als Voraussetzung verwendet, um über die Möglichkeit einer ‚inklusiven Anthropologie‘ nachzudenken.
2.1.1 Inklusion: Genese und Facetten eines Begriffs
Überlegungen zum Bedeutungsgehalt des Begriffes ,Inklusion‘ schließen sich oftmals an seine Etymologie an, nach der er sich, ausgehend vom lateinischen Verb , includere ‘, einerseits auf das mittellateinische ,inclusivus‘ mit der Bedeutung von ,eingeschlossen‘ bzw. ,versperrt‘ und andererseits auf das neulateinische ,inclusivum‘ mit der Bedeutung von ,eingeschlossen‘ und ,zugehörig‘ zurückführen lässt. Die heutige allgemeinsprachliche Bedeutung im Sinne von ‚eingeschlossen sein‘ bezieht sich vermutlich vor allem auf die zweite Bedeutung (vgl. Giese 2019, S. 6).
Entgegen der häufigen Beschränkung auf den Bildungsbereich lässt sich der Begriff im Sinne eines affirmativ verstandenen sozialen Einschließens auch auf die gesamte Gesellschaft beziehen:16
Als gesamtgesellschaftliche Aufgabe sind grundsätzlich damit alle Lebensbereiche, Lebensaltersphasen und gesellschaftlichen Felder zu berücksichtigen mit dem Ziel, Marginalisierung, Diskriminierung und Stigmatisierung zu erkennen und diesen zu begegnen (Ziemen 2018, S. 7).
Als Ziel dieser Aufgabe lässt sich Inklusion als ein „Zustand“ verstehen, „in dem Personen in sozialen Kontexten berücksichtigt und einbezogen werden, wie z. B. durch Mitgliedschaften in Organisationen oder durch Gewährung von Menschenrechten“ (Lanwer 2013, S.5).
In diesem weiten Sinne sind mit dem Begriff der Inklusion Diskurse in unterschiedlichen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexten verbunden, so im Bereich der Erziehungswissenschaft, der Soziologie und in Bezug auf internationale Konventionen und ihre Umsetzung (vgl. Czarnetzki 2017 S. 63).
Als zentrales Dokument der Inklusion gilt die BRK von 2006, die 2009 von Deutschland ratifiziert wurde. Dadurch hat sich der Begriff der Inklusion im deutschsprachigen Kontext etabliert und ohne eine Berücksichtigung dieses Zusammenhangs droht eine Bestimmung des begrifflichen Gehalts von Inklusion unvollständig zu bleiben (vgl. Ziemen 2017, S. 101). Als Kernforderung der BRK ist die Forderung nach Inklusion anzusehen, die sich auf alle für die Menschenrechte relevanten Bereiche des menschlichen Lebens bezieht, beispielsweise auf das Recht auf gleiche Anerkennung vor dem Gesetz [Artikel 12], auf das Recht auf unabhängige Lebensführung und die Einbeziehung in die Gesellschaft [Artikel 19], auf das Recht auf Arbeit und Beschäftigung [Artikel 27] und eben auch auf das Recht auf Bildung [Artikel 24] (vgl. Lanwer 2013, S. 7). Gemeint ist mit Inklusion im Kontext der BRK, „dass behinderte Menschen künftig in allen Gesellschaftsbereichen freiheitlich und gleichberechtigt mit nicht behinderten Menschen einbezogen sein sollen“ unter besonderer Hervorhebung, dass wirklich „alle behinderten Menschen gemeint sind“ (Graumann 2014, S. 1).17 Die BRK verbindet mit dem Gedanken der Inklusion dabei in normativer Weise die Forderung nach der Verwirklichung von Menschenrechten. Inklusion selbst wird als Menschenrecht gesehen, wobei sich die BRK nicht als Sonderkonvention begreift, sondern als Bekräftigung und Konkretisierung der allgemeinen Menschenrechte, die allerdings aus einer spezifischen Perspektive, nämlich aus den „Erfahrungsperspektiven von Menschen mit Behinderung“ zu sehen sind (Bielefeldt 2012, S. 150).
Der normative Gehalt der Kategorie Inklusion tritt hier formal als Normativität von Recht hervor.18 Darüber hinaus soll im Folgenden die These vertreten werden, dass sich mit dem Begriff der Inklusion in besonderer Weise die Forderung verbindet, dass eine Gesellschaft für Menschen mit einer Behinderung die Bedingungen für ein gelingendes ,gutes Leben‘ schaffen soll. Menschenrechte unter dem Gesichtspunkt der Inklusion setzen zwar die Gesamtheit der Menschenrechte voraus, betonen aber die Möglichkeiten der umfassenden Teilhabe an der Gesellschaft und ihren materiellen und immateriellen Gütern bzw. auch Kapitalformen im Sinne Bourdieus.19 Inklusion ist also ausgehend von der BRK nicht nur eine Forderung nach der Gewährleistung des Überlebens, es geht dabei vielmehr um Ansprüche auf ein qualitativ gutes Leben.20
2.1.2 Inklusion und Exklusion
Auch wenn Inklusion nach der Formulierung von Lanwer idealisierend als ‚Zustand‘ beschrieben werden kann, drückt die BRK eine andere Annahme über Inklusion aus, die ihr zugrunde zu liegen scheint. Es ist die Annahme, dass Inklusion sich angemessen eher als ein Prozess und weniger als ein zu erreichender Zustand beschreiben lässt. Prozessen der Inklusion stehen immer auch Prozesse der Exklusion gegenüber und zwischen beiden besteht ein Zusammenhang. Zentrale Passagen der BRK legen diese Gedanken nahe:
Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern (BRK, Artikel 1).
Der hier angeführte Artikel 1 der BRK fordert ein, dass Menschen mit einer Behinderung im vollen Umfang die gleichen Menschen- und Bürgerrechte zu stehen, weil sie unterschiedslos für alle Menschen gelten. Gleichzeitig verweist die BRK in ihrer Präambel jedoch darauf, dass Menschen mit einer Behinderung „in allen Teilen der Welt nach wie vor Hindernissen für ihre Teilhabe als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft sowie Verletzungen ihrer Menschenrechte“ gegenüberstehen. Die Konvention hebt explizit die Rechte behinderter Menschen hervor und bekräftigt insbesondere ihre Teilhabe an allen Bereichen der Gesellschaft, sie macht dadurch aber auch deutlich, dass dem Ideal der Akzeptanz von Rechten und der Forderung nach Teilhabe auch eine Realität der Negation dieser Rechte und dieser Forderung nach Teilhabe entgegensteht. Die BRK verweist also nicht nur auf die zu verwirklichende Teilhabe, sondern auch auf eine existierende Praxis des Ausschlusses, allerdings ohne die Beschaffenheit dieses Verhältnisses näher zu erläutern. Eine solche Deutung des Verhältnisses von Inklusion und Exklusion kann anhand soziologischer Theorien erfolgen, was im Folgenden an Beispielen gezeigt werden soll.
2.1.2.1 Inklusion und Exklusion als sich bedingende Prozesse im Medium gesellschaftlicher Praxis
Inklusion und Exklusion sind nicht nur Phänomene oder Prozesse, die nebeneinander existieren und weitgehend unvermittelt bestehen, sie sind vielmehr wechselseitig aufeinander bezogen, was über die BRK hinaus in der wissenschaftlichen Literatur zur Inklusion betont wird. Georg Feuser beispielsweise formuliert in diesem Sinne zuspitzend: „Die Begriffe Inklusion und Exklusion stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis: Jede Inklusion ist gleichzeitig auch Exklusion!“ Weiterhin stellt er die These auf, dass „in Gesellschaften kontinuierlich Inklusions- und Exklusionsprozesse stattfinden“ (Feuser 2016, S. 18).21 Aus dieser Sicht erscheint das, was gemeinhin als Inklusion bezeichnet wird, tatsächlich das Verhältnis von Inklusion und Exklusion zu bezeichnen.
Die These von der Relation zwischen Teilhabe, Ausschluss und gesellschaftlicher Praxis lässt sich durch eine soziologischen Analyse auf die Qualität der Organisation des gesellschaftlichen Lebens zurückzuführen, was sich auch auf die Produktion und Reproduktion von Lebensbedingungen bezieht.22 Teilhabe und Ausschluss beziehen sich auf diesen Aspekt gesellschaftlicher Praxis. Wenn in den Produktions- bzw. Reproduktionsprozessen unüberwindbare Probleme und Widersprüche auftreten, führt dies zu Konflikten in der Prozessualität von Teilhabe und Ausschluss.23 Solche Probleme sind generell auflösbar, wenn es zu Prozessen der Verständigung kommt, die in ihrem Gelingen jedoch an den Status sozialer Gleichheit geknüpft sind. Als eigentliche Ursache gesellschaftlicher Konflikte, die das Verhältnis von Teilhabe und Ausschluss berühren, ist deswegen soziale Ungleichheit auszumachen (vgl. Lanwer 2012, S. 101-103). Teilhabe und Ausschluss sind aus diesem Grund sozial bedingt und nicht in der Natur des Menschen begründet (vgl. ebd., S. 105). Zusammenfassend und erneut auf den Prozesscharakter gesellschaftlicher Praxis Bezug nehmend kann man mit Lanwer sagen:
Teilhabe und Ausschluss sind Prozesse in der Prozessualität des sozialen Raumes, die sich aus den real existierenden sozialen Ungleichheiten zwischen den gesellschaftlichen Akteuren begründen. Hinter ihnen verbergen sich die durch die sozialen Ungleichheiten bedingten Macht/Ohnmacht-Verhältnisse, d. h. die diesen innewohnenden Interessensgegensätze, die sich zu Widersprüchen verdichten und als Konflikte zur Wirkung kommen (Lanwer 2012, ebd.).
In Bezug auf die angenommene aussagenlogische Grundstruktur des Inklusionsbegriffs verweist die soziologische Betrachtung des Prozessgeschehens von Inklusion zunächst auf die Ebene der deskriptiven Aussagen, die sich mit der Kategorie verbinden: Inklusion und Exklusion sind in dieser Perspektive Prozesse, die sich beschreiben lassen, ohne dass damit zunächst eine Wertung oder Forderung verbunden ist. Insofern Soziologie Gesellschaft jedoch nicht nur beschreibt, sondern auch ein emanzipatorisches Interesse verfolgt, verweist eine soziologische Betrachtung inklusiver und exklusiver Prozesse jedoch wiederum auf den normativen Gehalt des Inklusionsbegriffs, was insbesondere für die Relationale Soziologie Bourdieus gilt.
2.1.2.2 Inklusion und Exklusion im Spiegel der Relationalen Soziologie Pierre Bourdieus
Der bisher herausgearbeitete Prozesscharakter von Inklusion und Exklusion lässt sich auch mit Begriffen des Soziologen Pierre Bourdieu beschreiben und präzisieren, was im Folgenden anhand der Kategorien des ‚Habitus‘ des ‚sozialen Raumes‘ und des ‚Kapitals‘ erfolgen soll.
2.1.2.2.1 Grundzüge Bourdieus Relationaler Soziologie
Bourdieus soziologischer Ansatz ist dadurch gekennzeichnet, dass er sich einerseits von der Subjektphilosophie abgrenzt, wie sie durch Descartes begründet wurde und noch bei Sartre vorkommt, und sich andererseits einem strukturalistischen Verständnis von Mensch und Gesellschaft zuwendet. Dabei betont er aber auch die Geschichtlichkeit der als Struktur aufgefassten Gesellschaft, die durch die handelnden Akteure bestimmt wird (vgl. Jurt 2008, S. 11). Bourdieu ist um eine Vermittlung konträrer Auffassungen bemüht, weil er zum einen zusammen mit den Strukturalisten von der Existenz einer Struktur als System von Relationen ausgeht, die dem Subjekt vorgeordnet sind und dessen Konstitution bestimmen. Zum anderen berücksichtigt er aber auch das historische Geworden-Sein dieser Struktur (vgl. Jurt 2008, S. 35). Die Gesellschaft als Struktur ist für Bourdieu nicht durch starre mechanische Regeln gekennzeichnet, sondern durch strategisch handelnde Akteure. Auf wissenschaftstheoretischer Ebene bestimmt er die Aufgabe der Soziologie, die er als eine ‚Praxeologie‘ versteht, dadurch, die Gesellschaft in ihrem Doppelcharakter als System objektiver Relationen und zugleich als Rahmen spontan handelnder Akteure zu untersuchen (vgl. ebd., S. 63f.).
Der Gedanke, dass Individuen zwar durch gesellschaftliche Verhältnisse geprägt sind, aber nicht gänzlich durch diese Verhältnisse determiniert werden und in diesem Sinne Akteure mit einer gewissen Freiheit bleiben, drückt sich bei Bourdieu im Begriff des ‚Habitus‘ aus. Der Begriff fungiert bei ihm als Vermittlungsinstanz zwischen sozialer Struktur und Subjekt, er erfasst die sozialen Prägungen der Subjekte und ihre individuelle Freiheit und ermöglicht eine Bestimmung der im Individuum verkörperten Eigenschaften des Sozialen (Jurt 2008, S. 87). Bourdieu versucht dabei das Missverständnis, den Habitus als vollkommene Determination der Subjekte anzusehen, auszuräumen und stellt deswegen fest:
Nur eine mechanistische Auffassung des Verhältnisses, das zwischen jenen Beziehungen und den durch diese Beziehungen definierten Akteuren besteht, könnte vergessen lassen, daß der Habitus, obwohl Erzeugnis konditionierter Bedingungen, die Bedingung der Erzeugung von Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen ist, die selbst nicht eben das unmittelbare Produkt eben dieser Bedingungen sind, wenngleich sie, haben sie einmal Realität gewonnen, nur aufgrund der Kenntnis dieser konditionierten Bedingungen, genauer gesagt, des Erzeugungsprinzips, das sie erzeugt haben, erkennbar sind (Bourdieu 1997, S. 40).
Die Doppelbedeutung des Habitus kann im Anschluss an dieses Zitat auch dadurch bestimmt werden, dass der Habitus einerseits gesellschaftliche Praxis ist und gesellschaftliche Praxis andererseits durch den Habitus produziert wird. Der Habitus, der individuell inkorporiert wird, hat zwar in der gesellschaftlichen Praxis seinen Ursprung, er wirkt aber zugleich auch verändernd auf diese Praxis zurück. Deshalb kann der Habitus auch als ein Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen angesehen werden, wie sie sich etwa in der Politik und im Recht finden (vgl. Lanwer 2018, S. 4).
2.1.2.2.2 Die Konzepte des ‚Habitus‘, des ‚sozialen Raumes‘ und des ‚Kapitals‘ bei Bourdieu
Insbesondere die Konzepte des sozialen Raumes bzw. der sozialen Felder und des Kapitals innerhalb von Bourdieus Relationaler Soziologie liefern einen Hintergrund zur Erklärung der Prozesse von Inklusion und Exklusion. Die Individuen in einer Gesellschaft sind von einem Ausschluss bereits dadurch bedroht, dass sie sich immer in Verhältnissen zueinander und Interaktionen miteinander befinden und ihre Position im sozialen Raum als die Summe dieser Wechselverhältnisse behaupten müssen.24
Die unterschiedlichen sozialen Felder sind als Kräftefelder anzusehen, die durch den Kampf der Akteure um eine Verbesserung ihrer Position bzw. um Macht geprägt sind, wobei das ihnen zur Verfügung stehende Kapital eine wichtige Rolle spielt (ebd., S. 56f.) Kapital wird von Bourdieu in Abgrenzung zum Marxschen Kapitalbegriff nicht nur auf den Warenaustausch begrenzt, sondern bezeichnet in einem umfassenden Sinne die „Summe aller effektiv aufwendbaren Ressourcen und Machtpotentiale“ (Bourdieu 1987, S. 196). Das Kapital in seiner Verteilungsstruktur bestimmt nun die Prozesse des gesellschaftlichen Lebens und damit auch die Erfolgschancen der Individuen in der Praxis. Die Kapitalsorten25 als ‚Mittel der Macht‘ bestimmen insbesondere die Position der Akteure in den einzelnen gesellschaftlichen ‚Feldern der Macht‘ über ihre Fähigkeit, dort Konflikte für sich entscheiden zu können. Die soziale Ungleichheit, die sich in der unterschiedlichen Verfügbarkeit von Kapitalsorten für Individuen und Gruppen ausdrückt, bedingt wiederum Teilhabe und Ausschluss in Bezug auf gesellschaftliche Güter und soziale Positionen in den Feldern des sozialen Raumes (vgl. Lanwer 2012, S. 105). Veranschaulichen lässt sich die Bezogenheit von Teilhabe und Ausschluss auf das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein von Kapital beispielsweise gut am inkorporierten kulturellen Kapital, das sich in Bildungstiteln manifestiert, von denen in ganz anschaulicher Weise die Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlichen Bereichen und auch zu ökonomischem Kapital abhängen.
Bourdieu bewertet die Institution Schule bzw. das Schulsystem sehr kritisch, wenn er ihm vorwirft, dass es so scheint „als bestände seine Funktion nicht darin, auszubilden, sondern zu eliminieren“ (Bourdieu 2005, S. 11). Im Sinne von Bourdieus Kategorien trägt das Schulsystem zu einer Verfestigung und Legitimation gesellschaftlicher Ungleichheit bei, indem es in den Herkunftsfamilien bestehendes ökonomisches und soziales Kapital in kulturelles und symbolisches Kapital transformiert oder dies eben nicht tut, wenn das Kapital nicht bereits vorhanden ist. Die legitimatorische Funktion des Transformationsprozesses bezieht sich auf eine scheinbare Gerechtigkeit, die alle Individuen gleichbehandelt (vgl. Feuser 2016, S. 19f.). Teilhabe und Ausschluss lassen sich ebenfalls gut durch die Dimension des sozialen Kapitals als „der Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind“ veranschaulichen (Bourdieu 2005, S. 63). Die Teilhabe im Sinne der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist an diese Ressource gebunden, die „auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe“ beruht (ebd., S. 61). Das Fehlen sozialen Kapitals bedingt insofern eine Nicht-Teilhabe an sozialen Gruppen.
2.1.3 Inklusion und Anerkennung
Der Begriff der Anerkennung ist geeignet, um Kriterien dafür zu präzisieren, wann eine gesellschaftliche Situation als inklusiv bezeichnet werden kann. Deshalb soll er in Grundzügen vorgestellt und in die Argumentation dieser Arbeit einbezogen werden. Anerkennung als ein Begriff der Sozialphilosophie, der maßgeblich durch Axel Honneth auf der Grundlage einer Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie des Geistes geprägt wurde, „bedeutet im weitesten Sinn, jemanden als jemand Bestimmtes wahrzunehmen und ihm oder ihr zugleich einen positiven Wert zuzuerkennen“ (Dederich 2017, S. 11).
Das Konzept der Anerkennung spiegelt sich als Postulat auch in der BRK, was auf seine Relevanz für den Inklusionsdiskurs verweist. Die BRK als eine Ergänzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 wurde nicht deshalb formuliert, weil die Menschenrechtserklärung noch nicht wirklich umgesetzt war, sondern weil es Probleme bei der Anerkennung der Rechte von Menschen mit einer Behinderung gegeben habe, dem die BRK abhelfen solle. Die BRK fordert vor diesem Hintergrund, dass behinderten Menschen die formal gleichen Rechte nicht vorenthalten werden dürfen, dass Dienste und Leistungen zu gewährleisten sind, damit sie diese gleichen Rechte auch wahrnehmen können und sie verpflichtet dazu, negative Einstellungen gegenüber Menschen mit einer Behinderung zu bekämpfen bzw. positive Einstellungen zu fördern. Da diese Forderungen der BRK den drei Dimensionen der Anerkennung nach Axel Honneth entsprechen, scheinen anhand der sozialphilosophischen Kategorie der Anerkennung die Voraussetzungen für eine Umsetzung von Inklusion präzisiert werden zu können (vgl. Graumann 2014, S. 1f.).
Nach Honneth lassen sich in der Liebe, dem Recht und der Solidarität drei positive Anerkennungsformen unterscheiden, denen die Missachtungsformen der Misshandlung, der Ausschließung (Exklusion) und der Beleidigung (Entwürdigung) gegenüberstehen und denen jeweils durch Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung eine eigentümliche Form der Selbstbezüglichkeit entspricht (Horster 2009, S. 154). Honneth führt zu den einzelnen Anerkennungsebenen aus: „[…] im affektiven Anerkennungsverhältnis der Familie wird das menschliche Individuum als konkretes Bedürfniswesen, im kognitiv-formellen Anerkennungsverhältnis des Rechts wird es als abstrakte Rechtsperson und im emotional aufgeklärten Anerkennungsverhältnis des Staates wird es schließlich als konkret Allgemeines, nämlich als in seiner Einzigartigkeit vergesellschaftetes Subjekt anerkannt“ (Honneth 1992, S. 45). Anerkennung ist dabei für jeden Menschen von fundamentaler Bedeutung, weil ein jeder auf die Anerkennung durch andere Menschen angewiesen ist, was wiederum zur Folge hat, dass in die Anerkennungsbeziehung „gewissermaßen ein Zwang zur Reziprozität eingebaut ist“ (Honneth 1992, 64). Die Reziprozität der Anerkennung begründet wiederum den normativen Gehalt des Begriffs, „denn alle moralischen Normen implizieren die Anerkennung des anderen als Person“ (Horster 2009, S. 153).
Dabei ist es entscheidend, dass die Herausbildung und Wahrung personaler Integrität nur unter Berücksichtigung aller drei Ebenen von Anerkennung denkbar ist. In der inklusiven Pädagogik wird Anerkennung bisweilen als „Antidot gegen die Erfahrung der Missachtung, Stigmatisierung und Ausgrenzung, als Garant für das Gelingen sozialer Integrationsprozesse auf der Basis einer Wertschätzung von Vielfalt sowie als Ressource für die Ausbildung einer positiven Selbstbeziehung“ gewürdigt, wobei fraglich ist, ob die Kategorie der Anerkennung diesen hochgesteckten Erwartungen tatsächlich gerecht werden kann (Dederich 2017, S. 11).
Da Anerkennung jedoch eine grundsätzliche Voraussetzung für Inklusion darzustellen scheint bzw. das Anliegen der Inklusion sich zumindest mit dem Terminus der Anerkennung differenziert beschreiben lässt, soll im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit reflektiert werden, inwiefern die zu untersuchenden anthropologischen Theorien mit den einzelnen Ebenen des Anerkennungsbegriffs im Sinne Honneths vereinbar sind, der somit einen Beitrag zur Bestimmung der Kriterien für eine inklusive Anthropologie leisten kann. Dabei wird jedoch nur die deskriptive Ebene von Honneths Anerkennungstheorie vorausgesetzt und nicht ihre normative Begründung.26
2.1.4 Zusammenfassung: Inklusion
Aus den bisherigen Überlegungen werden die folgenden Schlussfolgerungen für das Verständnis von Inklusion gezogen, das dieser Arbeit zugrunde gelegt wird:
- Der Begriff der Inklusion vereint normative und deskriptive Aussagen.27
- Inklusion sollte vor allem als Prozess und nicht als Zustand verstanden werden.
- Inklusive Prozesse sind mit exklusiven Prozessen verknüpft und stehen in einem Wechselverhältnis.
- Inklusion und Exklusion entsprechen den Prozessen von Teilhabe und Ausschluss.
- Inklusion und Exklusion spiegeln Ungleichheitsverhältnisse in Gesellschaften wider, die wiederum ihre tiefere Ursache in der Teilhabe bzw. Nicht-Teilhabe an materiellem und ideellem Kapital haben.
- Inklusion wird nur als eine formale Kategorie zur Beschreibung von sozialen Prozessen verstanden, sondern als ein politischer und juristischer Begriff mit normativem Gehalt, wie er zum Beispiel in der Behindertenkonvention sichtbar wird. Er zielt auf die Anerkennung von Menschen mit Behinderung als Trägern von unteilbaren Menschenrechten ab und grundsätzlich auf die Anerkennung menschlicher Vielfalt.
- Die mit dem Begriff der Inklusion verbundenen Forderungen nach Anerkennung, die sich zum Beispiel in den Kategorien Honneths beschreiben lassen, weisen Inklusion als eine normative Kategorie aus, die über eine reine Beschreibung gesellschaftlicher Prozessualität hinausgeht und Werte wie Menschenrechte, Gerechtigkeit und Vielfalt bereits voraussetzt.28
- Aus dem Begriff der Inklusion ergibt sich die Forderung der Verwirklichung allgemeiner Menschenrechte auch für Menschen mit einer Behinderung. Wegen der zentralen Bedeutung der Kategorien ,Teilhabe‘ und ,Ausschluss‘ für die Konstitution des Begriffs ergibt sich jedoch im besonderen Maße die Forderung nach einer Realisierung von Menschenrechten im Sinne eines guten Lebens, das über die Absicherung des bloßen Daseins hinausgeht und neben der Bedeutung der Sozialität insbesondere die Zugänglichkeit dessen meint, was sich im weitesten Sinne als ,Güter‘ einer Gesellschaft bestimmen lässt.29
- Die Qualität sozialer Teilhabe, die der Inklusionsbegriff einfordert, lässt sich, ähnlich wie die Dynamik von Teilhabe und Ausschluss, anhand der unterschiedlichen Ebenen von Bourdieus Kapitalbegriffs bestimmen und beschreiben.
Der auf diese Weise umrissene weite Inklusionsbegriff wird in den Kapiteln 3 und 4 verwendet, in denen es auch um die Frage nach der Möglichkeit einer inklusiven Anthropologie geht. Im Kapitel 6, in dem es um den Bildungsbereich geht, soll hingegen auch in einem spezifischeren Sinne von Inklusion gesprochen werden.
2.2 Anthropologie
Es lässt sich in unterschiedlicher Hinsicht vom Begriff der Anthropologie sprechen, der in jedem Falle in einem weiten Sinne die Lehre vom Menschen und das Nachdenken über den Menschen bezeichnet.30 Außerhalb des wissenschaftlichen Kontextes zeigt sich ein solches Nachdenken u. a. auch im Vorhandensein impliziter anthropologischer Annahmen, die unser alltägliches soziales Handeln in der Form nicht reflektierter Weltbilder beeinflussen. Sie bilden eine Grundlage dafür, wie sich Menschen selbst deuten und etwa mit Fremdsein oder Behinderung umgehen. In systematisierter Form lässt sich hier von Theorien der Menschenkenntnis sprechen, die eine lebensweltliche Anthropologie darstellen (vgl. Thies 2013, S.12).
Im wissenschaftlichen Kontext außerhalb der Philosophie wird die Anthropologie als eine naturwissenschaftliche Disziplin verstanden, die sich unter biologischen Gesichtspunkten, etwa in der Zoologie und der Ethologie, mit dem Menschen beschäftigt (vgl. Habermas 1973a, S. 89). Darüber hinaus ist die Anthropologie eine Teildisziplin verschiedener Wissenschaften wie zum Beispiel als medizinische, theologische, soziologische oder pädagogische Anthropologie. Auch die „Humanwissenschaften“, wenn man darunter alle empirischen Wissenschaften versteht, die sich hauptsächlich oder zumindest teilweise mit dem Menschen beschäftigen, lassen sich im Bereich der Wissenschaft einer nicht philosophisch verstandenen Anthropologie zuordnen (Thies 2013, S. 14).
Als Bereich der Philosophie hat die Anthropologie demgegenüber eine erweiterte Fragestellung, indem sie abweichend von einer rein empirischen Betrachtungsweise nach dem ,Wesen‘ des Menschen fragt. Dass dieses Wesen des Menschen der philosophischen Anthropologie nicht einfach als Gegenstand verfügbar ist, macht Kants Unterscheidung in seiner Schrift Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) deutlich: „Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erscheinung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als handelndes Wesen aus sich selbst macht oder machen kann und soll“ (Kant 1907/17, S. 119). In diesem Sinne ist es eine Aufgabe der philosophischen Anthropologie, die naturwissenschaftliche Kenntnisse über den Menschen sinnverstehend zu deuten (vgl. Habermas 1973a, S. 91). Eine solche philosophische Anthropologie grenzt sich von den Humanwissenschaften auch dadurch ab, dass der Mensch auch aus der Innenperspektive und nicht nur aus der Außenperspektive betrachtet wird. Während in den Wissenschaften die Anthropologie nur ein Teilbereich unterschiedlicher Disziplinen ist, bezieht sich die philosophische Anthropologie auf das Ganze des Menschen und versucht dabei zwischen unterschiedlichen Fächern zu vermitteln und integrierend zu wirken (vgl. Thies 2013, S. 14f.).
Die ganzheitliche Betrachtungsweise des Menschen und die Berücksichtigung der Innenperspektive können also als allgemeine Merkmale einer philosophischen Betrachtung des Menschen gelten. Im besonderen Maße werden diese Aspekte in der modernen Philosophischen Anthropologie betont, die seit den 1920er Jahren besonders in Deutschland als philosophische Strömung in Erscheinung tritt und vor allem durch ihre Hauptvertretern Scheler, Gehlen und Plessner verkörpert wird. Die Besonderheit dieser Ausprägung der philosophischen Anthropologie ist darin zu sehen, dass sie eine Reaktion auf die im 20. Jahrhundert erfolgende Ausdifferenzierung der Wissenschaften vom Menschen darstellt, wie sie sich etwa in der Biologie, Psychologie und Soziologie vom Menschen zeigt. Die Vertreter der Philosophischen Anthropologie betonen die Bedeutung einer philosophischen Interpretation wissenschaftlicher Resultate und nehmen dadurch eine besondere Stellung im Verhältnis zwischen Theorie und Empirie ein (vgl. Habermas 1972, S. 91f.).31 Darüber hinaus nimmt erst die Philosophische Anthropologie den Anspruch ein, eine eigene zentrale Teildisziplin der Philosophie zu sein, während alle älteren Anthropologien anthropologische Fragestellungen im Rahmen übergeordneter ontologischer Fragestellungen behandelt haben (vgl. Thies 2013, S. 15; vgl. Jakobs 1997 S. 22).
In besonders enger Beziehung zur Fragestellung der philosophischen Anthropologie nach dem „Wesen“ des Menschen steht die Tradition der pädagogischen Anthropologie, die die Wesensfrage mit der philosophischen Anthropologie teilt und darüber hinaus auch die Frage nach der Bestimmung des Menschen fokussiert (vgl. Jakobs 1997, S. 23).
Für die folgenden Ausführungen wird ein weit gefasstes Verständnis philosophischer Anthropologie zugrunde gelegt, bei dem die Anthropologie die Frage nach dem Wesen des Menschen stellt und dabei auch Ergebnisse einzelner Wissenschaften interpretiert und deutet. Anhand eines solchen Verständnisses soll untersucht werden, ob es eine anthropologische Theorie gibt, die auch das Menschsein behinderter Menschen begründen kann. Da anthropologische Reflexionen bei zahlreichen Autoren im Kontext der Entwicklung ethischer und politischer Theorien erfolgen, sollen im Folgenden auch Anthropologien berücksichtigt werden, die für Begründungszusammenhänge funktionalisiert werden, die zunächst außerhalb der Anthropologie selbst liegen. Dabei wird sich zeigen, dass gerade solche Anthropologien, die das Nachdenken über den Menschen ethisch zu funktionalisieren versuchen, auf eine grundsätzliche Problematik der philosophischen Anthropologie verweisen.32
3 Anthropologiekritik im Kontext der Wissenschaften
Da es sich bei Anthropologie nicht nur um einen komplexen und vielgestaltigen Begriff, sondern auch um eine in den Wissenschaften umstrittene Disziplin handelt, sollen im Folgenden Aspekte philosophischer und behindertenpädagogischer Anthropologiekritik zusammengefasst und diskutiert werden.
3.1 Philosophische Anthropologiekritik
Die formulierte Fragestellung, ob eine inklusive Anthropologie möglich sei, kann nicht zufriedenstellend beantwortet werden, ohne die teilweise grundsätzliche und eindringlich vorgetragene Kritik an der philosophischen Anthropologie als solcher vorzustellen. Wie zu zeigen sein wird, ist die kritische Betrachtung philosophischer Anthropologie im Hinblick auf die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer inklusiven Anthropologie im Wesentlichen mit einer kritischen Prüfung der Disziplin als solcher gleichzusetzen. Deshalb wird zunächst die Anthropologiekritik aus dem philosophischen Diskurs vorgestellt, um dann auf die Anthropologiekritik aus dem Bereich der Behindertenpädagogik und der Disability Studies einzugehen und sie in den Rahmen der allgemeinen Anthropologiekritik einzuordnen.
Anthropologische Forschung stößt in gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskursen teilweise auf Ablehnung, da sie „überholt“ und als „philosophische Disziplin erledigt“ sei, weil sie sich „nicht mehr seriös betreiben“ lasse (Nida-Rümelin 2015, S. 16). Dieses vernichtende Urteil bezieht sich einerseits auf die traditionelle philosophische Anthropologie, die durch das Naturrechtsdenken geprägt ist und aus vermeintlich natürlichen und gegebenen anthropologischen Grundlagen deduktiv schlussfolgert, etwa auf die dem Menschen angemessenen Gesellschaftsformen, wie bei Hobbes oder Rousseau oder auf die „natürlichen Rechte“ einzelner Bevölkerungsgruppen, wie z. B. die Rechte von Frauen und Männern (vgl. ebd. S. 21f.). Andererseits bezieht sich die Kritik auch auf die Philosophische Anthropologie als Erneuerungsbewegung des 20. Jahrhunderts, die „quasi-naturalistisch“ versucht habe, empirisch zu ermittelnde Essentialia der menschlichen Natur festzulegen, wie zum Beispiel das Nicht-Festgelegt-Sein oder die Anpassungsfähigkeit des Menschen, dabei aber willkürlich und letztlich dogmatisch verfahren sei (vgl. ebd., S. 22f. u. 31). Im Fokus der philosophischen Kritik steht der „Anthropologismus“, der die Anthropologie als zentrale Teildisziplin der Philosophie und der Wissenschaften insgesamt zu begründen versucht, wie es auch bei den Vertretern der Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert der Fall war (vgl.Thies 2013, S. 15).
Im Folgenden sollen mögliche grundsätzliche Einwände zusammengefasst werden, die sich gegen den Gegenstand und die Methoden philosophischer Anthropologie in der Form unterschiedlicher Reduktionsansätze richten (vgl. Thies 2013, S. 16-32):
In einer szientistischen Kritik der philosophischen Anthropologie wird dieser vorgeworfen, dass sie nicht zu brauchbaren Ergebnisse komme und sich letztlich in Metaphysik verliere. Nur naturwissenschaftlich gestützte Theorien könnten sinnvolle und überprüfbare Aussagen über den Menschen liefern. Mit dieser Kritik ist eine begriffliche Reduktion verbunden, da der Mensch sich nur in naturwissenschaftlichen Begriffen angemessen beschreiben lasse und implizit auch eine ontologische Reduktion, da vorausgesetzt wird, dass der Mensch ausschließlich als Organismus und biologischer Körper zu begreifen sei. Aus dieser Perspektive heraus werden metaphysisch geprägte Konzepte wie „Vernunft“, „Geist“ und „Subjekt“ als unwissenschaftlich abgelehnt (vgl. Thies 2013, S. 18f.).33
Partikularistische Einwände gegen die philosophische Anthropologie, wie sie vor allem in den Sozialwissenschaften formuliert werden, werfen ihr vertikal reduzierend vor, dass sie einen Allgemeinbegriff vom Menschen voraussetze, der der Pluralität unterschiedlicher menschlicher Einzelwesen nicht gerecht wird und für den es keine empirische Entsprechung gebe. Auf wissenschaftstheoretischer Ebene führt dies zur Forderung, dass die Anthropologie durch die Humanwissenschaften zu ersetzen seien, die eher in der Lage sind, das soziale Bedingtsein der Menschen zu erfassen. Der Vorwurf eines fehlenden Erfassens und einer mangelnden Anerkennung menschlicher Mannigfaltigkeit führt auch zum Vorwurf des Normativismus, der einen spezifischen Menschentypus übergeneralisiert und zur Leitlinie erklärt, wodurch das Besondere ausgeschlossen würde und die Gefahr der Förderung inhumaner Ideologien gegeben sei. Der Normativismus-Vorwurf bezieht sich damit auch auf den allgemeineren Vorwurf eines Fehlschlusses hinsichtlich Sein und Sollen, da aus deskriptiven Prämissen normative Folgerungen abgeleitet werden (vgl. ebd., S. 17 und 22f.).34 Der Vorwurf des Normativismus ist seinerseits eng verbunden mit dem Essentialismus-Vorwurf:
Der Hauptgegner der Kritiker ist ein aristotelisch oder naturrechtlich aufgezäumter Essentialismus, der ein universales, ahistorisches und invariantes Wesen von Entitäten postuliert, welches sich deskriptiv erfassen lässt und zugleich normativ aufgeladen ist. Es liegt auf der Hand, dass ein solcher Essentialismus in einer plural verfassten und an Autonomie orientierten Gesellschaft überaus problematisch sein muss (Quante 2015, S. 173f.).
Den partikularistischen Einwänden verwandt sind die gesellschaftskritischen Einwänd e gegen die Anthropologie, die ebenfalls skeptisch gegenüber der Annahme eines Allgemeinbegriffs vom Menschen sind und darüber hinaus davon ausgehen, dass ein solcher Allgemeinbegriff, selbst wenn er zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte gewonnen werden könnte, nur etwas über das gesellschaftliche Geworden-Sein der Menschen im Hinblick auf soziale Rollen, Anpassungsleistungen, Charaktermasken und Ähnliches aussagen würde, nicht aber über menschliche Eigenschaften an sich.35 Der gesellschaftskritische Einwand gegen die Anthropologie entspricht einer externen Reduktion, weil der Mensch in seinem Wesen als Gegenstand der Anthropologie in den Hintergrund tritt zugunsten externer Faktoren wie Strukturen, Systeme und Macht- oder Diskursformationen als äußeren Einflüssen, als deren Produkt der Mensch anzusehen sei. Die so entstandene Welt des Menschen und der Mensch selbst seien als Ausdruck einer Entfremdung anzusehen, da die Objektivationen menschlichen Handelns nicht mehr in der Verfügungsgewalt des Menschen stünden, der sie hervorgebracht hat, und als verselbstständigte Strukturen auf ihn zurückwirken würden. Diese Kritik, die innerhalb der Frankfurter Schule pointiert von Adorno und Horkheimer formuliert wurde, verweist darauf, dass der Ansatz der Anthropologie nicht zielführend ist, weil sie fälschlicherweise ein invariantes Wesen des Menschen annimmt und weil sie darüber hinaus immer Gefahr laufe, sich politisch instrumentalisieren zu lassen, indem sie die negativen Folgen unserer Vergesellschaftung dem Menschen selbst zuschreibe und nicht den gesellschaftlichen Strukturen als den eigentlich entscheidenden Faktoren (vgl. Thies 2013, S. 26f.).
Aus Perspektiven der Phänomenologie und der Existenzphilosophie heraus wird die klassische philosophische Anthropologie kritisch beurteilt, weil sie den Menschen auf Eigenschaften fixiere, ihn zum Gegenstand mache bzw. zum Gegenstand degradiere und nur aus der Perspektive der dritten Person betrachte, wodurch die in der Innenperspektive des Individuum bestehende Subjektivität und die mit dieser verknüpften Eigenschaften wie Leiblichkeit, Selbstbewusstsein und Willensfreiheit nicht erfasst würden. Insofern das Wesen des Menschen vor allem in seinem Inneren gesehen wird, erfolgt hier eine interne Reduktion der Perspektive auf den Menschen. Wenn der Mensch in der Existenzphilosophie als absolut freies Wesen und Zentrum seiner Welt angesehen wird, steht dies unweigerlich im Gegensatz zur Fragestellung der klassischen Anthropologie, die auf das Allgemeinmenschliche ausgerichtet ist (vgl. Thies 2013, S. 29-31).
[...]
1 Im Folgenden als BRK abgekürzt. Zitiert wird nach der Schattenübersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, die durch Netzwerk Artikel 3 e.V. herausgegeben wird.
2 In Kontexten in denen nicht allgemein von ‚Menschen‘ bzw. ‚Menschen mit einer Behinderung‘ gesprochen werden kann, bemüht sich die Arbeit um eine geschlechtergerechte Schreibweise, die bisweilen durch die Verwendung eines Gendersterns erreicht werden soll.
3 Wenn in der Präambel der BRK, entsprechend der allgemeinen Menschenrechtserklärung, alle Mitglieder der Menschenfamilie als Träger von Würde bezeichnet werden, könnte man dies als Ausdruck der Annahme verstehen, dass allein die biologische Zugehörigkeit zur Spezies Mensch schon wesentlich normativ bedeutsam ist [vgl. BRK, Präambel, Absatz a)]. Im Folgenden wird diese Interpretation jedoch nicht geteilt, sondern vielmehr davon ausgegangen werden, dass die Würde des Menschen noch nicht allein aus einem biologischen Faktum hinreichende begründet werden kann. Orientierend ist dabei unter anderem die Überlegung, dass sich die hervorgehobene Bedeutung dieses einen Kriteriums gegenüber anderen, z. B. Haarfarbe oder Größe, die für gewöhnlich in ethischer Hinsicht als nicht normativ angesehen werden, nicht schlüssig begründen lässt (vgl. Schaber 2012, S. 142).
4 Vgl. Abschnitt 1.22.1.4).
5 Eine Übersicht über unterschiedliche Standpunkte der Wissenschaftstheorie bietet die Darstellung von Hans Poser (vgl. Poser 2001, S. 26-29).
6 Der Begriff der ‚Kategorie‘ wird in der vorliegenden Arbeit häufig verwendet. Mit ihm werden jeweils Begriffe bezeichnet, die in ihrer Bedeutung sowohl allgemein als auch komplex sind und mit denen sich theoretische Zusammenhänge verbinden. Nicht gemeint ist die Bedeutung von Kategorie als Begriff der Logik (vgl. Eisler 2008, S. 282f.).
7 Die Kategorie der Reflexivität in der wissenschaftstheoretischen Ausrichtung dieser Arbeit so hervorzuheben, verdankt sich einer Anregung Kerstin Ziemens, deren Lehrstuhl für Pädagogik und Didaktik bei Menschen mit geistiger Behinderung in besonderer Weise wissenschaftlicher Reflexivität im Sinne Pierre Bourdieus verpflichtet ist (vgl. Ziemen 2020).
8 Vgl. zu den gesellschaftskritischen Zielen der Frankfurter Schule Abschnitt 5.1.2 dieser Arbeit.
9 Vgl. zur Relationalen Soziologie Abschnitt 2.1.2.2.
10 Der Inklusionsbegriff, der in Abschnitt 2.1 entwickelt wird, betont nachdrücklich den prozesshaften Charakter von Inklusion und Exklusion innerhalb der Gesellschaft, die als Struktur aufgefasst wird. Da es also bei der Realisierung von Inklusion um eine Veränderung gesellschaftlicher Strukturen geht, die den Wirkungskreis eines reflexiven Subjekts als Akteur überschreitet bzw. für diesen nicht greifbar wird, entspricht der Begriff der Reflexivität im Sinne Bourdieus mehr dem Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit als derjenige von Habermas, wobei beide Konzeptionen von Reflexivität nicht gegeneinander ausgespielt werden sollen.
11 Insofern werden in dieser Arbeit grundsätzliche normative Bestimmungen des Inklusionsbegriffs rekonstruiert, nicht um sie auf ihre Berechtigung hin zu überprüfen, sondern um Möglichkeiten ihrer Begründbarkeit und gesellschaftlichen Realisierung auszuloten. Dabei geht es vor allem um das Potenzial, das anthropologische Theorien für dieses Anliegen entfalten können. Dieses Vorgehen ist jedoch auch geeignet, Missverständnisse zu provozieren: Wenn man aus der vermeintlichen normativen Notwendigkeit des Inklusionsbegriffs seine Berechtigung begründen wollte, dann wäre dieses Schließen fehlerhaft im Sinne eines Zirkelschlusses, was es zu vermeiden gilt. Eine ähnliche Problematik ergibt sich für die Kriterien ‚inklusiver Anthropologie‘, die im Abschnitt 4.1 entwickelt werden. Anthropologische Theorie wird hier an Kriterien gemessen, die teilweise normativ sind, wie die Kategorie der Anerkennung, die Idee der Menschenrechte oder die Ansprüche, die sich aus dem Gedanken des guten Lebens ergeben. Ein Einwand könnte an dieser Stelle lauten, dass ‚inklusive Anthropologie‘ schon aus ihrer Konzeption heraus Sein- und Sollens-Aussagen unvermeidbar miteinander vermischt und diese aus jenen in unzulässiger Weise begründet. Eine solche Vorgehensweise wäre genau durch den Mangel an Reflexivität bestimmt, der in der vorliegenden Arbeit anthropologischen und ethischen Theorien jenseits inklusiver Anthropologie vorgehalten wird. Dass dieser Einwand die Konzeption inklusiver Anthropologie, wie sie die vorliegende Arbeit vorschlägt, nicht trifft, lässt sich damit begründen, dass eine anthropologische Theorie nur an den Kriterien inklusiver Anthropologie gemessen werden sollte, um sich selbst als inklusiv zu erweisen. Es wird also nicht vorausgesetzt, dass sie diese Kriterien selbst hervorbringt. Ein weiteres entlastendes Argument ergibt sich aus den Ergebnissen des 5. Kapitels, die darauf verweisen, dass anthropologische und ethische Theorien im Sinne einer Informiertheit, die der Orientierung der jeweiligen Theorie dient, durchaus voneinander wissen dürfen, ohne dass dies die Form eines fehlerhaften Schließens annehmen muss. Eine solche Informiertheit kann ganz im Gegenteil als Ausdruck begrüßenswerter Reflexivität im Sinne des entwickelten dialektischen Wissenschaftsverständnisses gewertet werden.
12 Normativismus wird im Folgenden verstanden in einem weiten Sinne als das Behaupten von Normativität ohne Angabe oder das Vorhandensein eines transparenten und berechtigten Grundes und bezeichnet insbesondere auch die unmittelbare Begründung von Sollensaussagen aus Seinsaussagen im Sinne eines naturalistischen Fehlschlusses (vgl. Abschnitt 3.1). Damit weicht die Verwendung des Begriffes hier von seinem rechtstheoretischen Kontext ab, in dem es um das Verhältnis von Normen und Recht geht (vgl. Böckenförde 1984, Sp. 932).
13 Die Problematik einer mangelhaften Reflexivität anthropologischer Theorien wird auch schon in Kapitel 4 dieser Arbeit behandelt.
14 Die Polemik in Teilen der deutschen Öffentlichkeit gegen Inklusion und den ihr zugrundeliegenden Inklusionsbegriff z. B. als „Ideologie“ oder auch im Sinne von „Halbheiten und Widersprüchen“, die auf einen „Menschenversuch“ hinauslaufen, fasst Hans Wocken zusammen (Wocken 2018, S. 194f.). Für den deutschsprachigen Inklusionsdiskurs ist dabei die Diskussion um die Abgrenzung der Begriffe ‚Inklusion‘ und ‚Integration‘ als prägend anzuführen. Die von einem Aufsatz von Andreas Hinz entfachte Kontroverse berührt vor allem die Fragestellung, ob sich mit dem Inklusionsbegriff eine konzeptionelle Weiterentwicklung gegenüber dem älteren Integrationsbegriff verbindet oder ob es sich lediglich um eine Veränderung der Terminologie handelt. Ohne diese Frage letztlich entscheiden zu wollen, geht die vorliegende Darstellung einerseits von der Annahme aus, dass zum Beispiel Georg Feusers Allgemeine Pädagogik bereits wesentliche Aspekte des zeitgenössischen Inklusionsbegriffs formuliert hat, dass der Inklusionsbegriff aber andererseits dennoch in sinnvoller Weise verwendet werden kann, um die Idealität einer Situation gelungener integrativer Prozesse zu bezeichnen (vgl. Feuser 2016, S. 21; vgl. Czarnetzki 2017, S. 66-68).
15 Vgl. Abschnitte 3.1 und Kapitel 5 dieser Arbeit sowie Poser 2001, S. 37f.
16 In Bezug auf den Bildungsbereich lässt sich Inklusion beispielsweise grundsätzlich bestimmen als „Forderung nach einem Bildungssystem, das kein Kind, keinen Jugendlichen ausschließt“ (Ziemen 2018, S. 3).
17 Trotz dieser unmissverständlichen Ausdehnung der Inklusionsforderung in der BRK auf alle Menschen mit einer Behinderung gibt es beispielsweise in Bezug auf die Teilhabe im Bildungswesen die Diskussion, ob es tatsächlich auch einen ,Rest‘ nicht inkludierbarer Schüler geben dürfe, was auf die Problematik der Anerkennung des menschenrechtlichen Anspruches der BRK verweist (vgl. Rödler 2011, S. 346).
18 Vgl. zum Begriff der Normativität Kapitel 5.
19 Vgl. Abschnitte 2.1.2.1 und 1.2.
20 Es wird an dieser Stelle nicht versucht, näher zu bestimmen, worin ein ‚gutes‘ Leben besteht, es wird aber davon ausgegangen, dass ein bloßes Überleben grundsätzlich noch nicht als ‚gutes‘ Leben anzusehen ist. Hingewiesen wird jedoch darauf, dass ‚gut‘ hier nicht im moralischen Sinne als gut verstanden wird, sondern als eine qualitative Bestimmung. In diesem Verständnis von ,gut‘ beziehe ich mich einerseits auf Überlegungen Martha Nussbaums (vgl. die Anmerkung im Abschnitt 5.2) und andererseits auf qualitative Bestimmungen des guten Lebens in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles im Kontext seiner Theorie der ‚eudaimonia‘ (vgl. Abschnitt 4.2.2.1).
21 Feuser erklärt „Exklusionen“ aus soziologischer Perspektive unter Bezugnahme auf die Systemtheorie Luhmanns als „Teilsystem Inklusionen“ anhand bestimmter Merkmale bzw. „auf der Basis einer Unterscheidung (Differenz)“ (Feuser 2016, S. 18). Aus dieser Perspektive heraus verlieren die Begriffe die positiven oder negativen Konnotationen, die sich im nicht-wissenschaftlichen Verständnis mit ihnen verbinden, da sowohl die Exklusion aus einem wichtigen gesellschaftlichen Teilsystem wie auch die totale Inklusion zum Beispiel in eine separierende Institution abzulehnen sind (vgl. ebd., S. 21.) Weiterführende Informationen zum Diskurs um den Exklusionsbegriff und auch zur Kritik der von Luhmann vollzogenen Interpretation gesellschaftlicher Teilsysteme im Sinne eines ‚Drinnen‘ oder ,Draußen‘ finden sich in Alexander Czarnetzkis Studie zum Begriff der Inklusion (vgl. Czarnetzki 2017, S. 40-46, hier S. 41).
22 Die Begriffe ‚Teilhabe und Ausschluss‘ anstelle von ‚Inklusion und Exklusion‘ drücken hier das Bemühen von Lanwer aus, von der historisch gegebenen Inklusion die zugrundeliegenden soziologischen Mechanismen, Verhältnisse und Prozesse zu abstrahieren. Diese Verwendung der Begriffe wird im Folgenden dann genutzt, wenn es darum geht, die Mechanismen sozialer Prozesse zu betrachten.
23 Dass Ungleichheit zu sozialen Konflikten führen muss, gründet auf der Prämisse, „dass alle Menschen ein Interesse daran haben, dass ihnen der gleichberechtigte Zugang zu den in ihrer sozialen Welt verfügbaren und allgemein begehrten Gütern nicht verwehrt ist und dass sie keinen einseitigen Abhängigkeiten oder Diskriminierungen ausgeliefert sind“ (Kreckel 2004, S. 22).
24 Der Begriff der ‚Position‘ ist bei Bourdieu vor dem Hintergrund des Begriffs der ‚Positionalität‘ bei Plessner zu verstehen, der die raumbehauptende Eigenschaft organischer Körper hervorhebt (vgl. Abschnitt 4.2.2.3). Gleichzeitig spiegelt sich im Begriff der Position auch Ernst Cassirers dialektisches Verständnis menschlicher Praxis, das menschliches Sein als Koexistenz von Gegensätzen begreift (vgl. Lanwer 2018, S. 41 u. 46f.).
25 Bourdieu bestimmt im Einzelnen soziales, ökonomisches, kulturelles und symbolisches Kapital, von denen das kulturelle Kapital sich seinerseits in drei Unterformen gliedert und das symbolische Kapital das Zusammenwirken der Kapitalsorten bezeichnet, in ihrer Eigenschaft Prestige auszudrücken (vgl. Bourdieu 1987, S. 196f.).
26 Dies geschieht aus dem Bewusstsein heraus, dass der Anerkennungsbegriff nach Honneth selber Probleme hinsichtlich der normativen Begründung von Inklusion aufwirft. Zu ihnen gehört beispielsweise die Abhängigkeit der Anerkennung von Reziprozität, was Menschen mit schweren Behinderungen von Anerkennungsverhältnissen auszuschließen droht. Um den Anerkennungsbegriff für eine moralphilosophische bzw. normative Begründung von Inklusion nutzen zu können, bedürfte es in jedem Falle einer theoretischen Weiterentwicklung von Honneths Anerkennungstheorie (vgl. Dederich 2017, S. 12). Darüber hinaus enthält die Anerkennungstheorie auf der Ebene ihrer normativen Begründung selbst anthropologische Bezüge, die in ihrer Berechtigung überprüft werden müssten, was im Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch nicht geleistet werden kann (vgl. Jörke 2005, S. 17). Allerdings werden in Abschnitt 5.3 im Kontext einer politischen Konzeption der Menschenrechte Perspektiven aufgezeigt für eine Begründung der Anerkennungskategorie unter Verzicht auf die problematische Theorie der Reziprozität.
27 Diese besonderen aussagenlogische Struktur unterscheidet den Inklusionsbegriff dabei von anderen Begriffen: Der Begriff ,Apfel‘ ist beispielsweise hinreichend durch deskriptive Aussagen (z. B. Geschmack, Vitamingehalt u.a.) bestimmbar, präskriptive Aussagen können darüber hinaus mit ihm verbunden werden (‚Man soll einen Apfel essen, weil dies der Gesundheit zuträglich ist‘) müssen es aber nicht. Der Inklusionsbegriff hingegen ist durch deskriptive Aussagen nicht hinreichend bestimmt, weil er durch die Reflexion auf Werte und Rechte die Veränderung gesellschaftlicher Prozesse, die er in deskriptiven Aussagen beschreibt, auch gleichzeitig einfordert. Dadurch wird er zu einem (auch) normativen Begriff. Auf normativer Ebene sind mit ihm sowohl moralische als auch außermoralische Handlungsnormen verbunden, was sich an der BRK veranschaulichen lässt: Die Würde des Menschen anzuerkennen, wie es die Präambel der BRK fordert, ist in diesem Sinne eine moralische Handlungsnorm, die kategorischer Natur ist und Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erhebt. Inklusion bezieht sich über die BRK als Vertragswerk aber auch auf Normen positiven Rechts, deren Gültigkeit nicht allgemeingültig ist, sondern sich lediglich auf die Unterzeichner erstreckt und die somit außermoralische Handlungsnormen darstellen (vgl. Hoerster 1976, S. 16f.).
28 Der normative Gehalt des Inklusionsbegriffs wird im Kontext inklusiver Pädagogik beispielsweise auch in der Annahme ‚inklusiver Werte‘ (z. B. Teilhabe, Respekt für Vielfalt, Gemeinschaft, Liebe) deutlich, die es im Prozess der Inklusion zu verwirklichen gelte (vgl. Booth/Ainscow 2017, S. 17). Allerdings wird im Index für Inklusion weder eine moralphilosophische Bestimmung dafür angegeben in welchem Sinne von ‚Wert‘ gesprochen wird, was durchaus nicht trivial wäre, noch wie sich die ‚inklusiven Werte‘ herleiten und begründen lassen. Die angebotene Bestimmung von Werten als „tiefsitzende Überzeugungen, die unser Handeln leiten“ ist im Sinne einer Axiologie als Wertelehre zumindest noch nicht zufriedenstellend.
29 Würde der Begriff der Inklusion im Kontext von Behinderung einfach nur die Universalität der Menschenrechte ohne jegliche Schwerpunktsetzung einfordern, wäre nicht verständlich, warum er sich mit seiner spezifischen Semantik herausgebildet hat.
30 Im Folgenden soll der Begriff des ‚Menschenbildes‘ vermieden und stattdessen von ‚anthropologischen Theorien‘ gesprochen werden. Der Terminus Menschenbild greift auf den vieldeutigen Bildbegriff zurück, der unter anderem die Bedeutung von ‚Abbild‘ hat (vgl. Thies 2009, S. 22f.). Dies würde suggerieren, dass mit einem Menschenbild ein Seiendes bezeichnet wird und das mit ihm eine Aussage über die Wirklichkeit gemacht werden kann. Der Begriff der anthropologischen Theorie bezieht sich einerseits auf die Pluralität von Perspektiven auf den Menschen und anderseits auf eine Abgrenzung von einer umgangssprachlichen Ausdrucksweise. Der Begriff wird als eine wissenschaftliche Konstruktion verstanden, die begrifflich reflektiert ist.
31 Die von Max Scheler begründete Strömung wird in der Literatur für eine Abgrenzung vom Verständnis der Anthropologie als philosophischer Disziplin im Sinne Kants durch eine Großschreibung als „Philosophische Anthropologie“ bezeichnet. Diese Bezeichnung wird in der vorliegenden Arbeit nur verwendet, wenn es im engeren Sinne um diese besondere Ausprägung der philosophischen Anthropologie geht.
32 Von den analysierten Positionen sind vor allem Rödler, Portmann, Plessner und mit einigen Einschränkungen Aristoteles als Vertreter von Anthropologien im eigentlichen Sinne anzusehen. In der praktischen Philosophie Peter Singers zeigen sich anthropologische Bezüge in den Zusammenhängen seiner ethischen Argumentation. Aus diesen Unterschieden heraus werden anthropologische Theorien im Folgenden als ‚implizit‘ bzw. ‚explizit‘ eingestuft.
33 Thies beschreibt die begriffliche und ontologische Reduktion der Anthropologie durch die Naturwissenschaften veranschaulichend auch als „vertikale Reduktion“, da sich die komplexen, aber empirisch nicht belegbaren Sätze der philosophischen Anthropologie der szientistischen Kritik folgend auf einfache, aber empirisch überprüfbare Sätze zurückführen lassen, wobei quasi ,von oben nach unten‘ reduziert werde (Thies 2013, S. 19).
34 Auf formallogischer Ebene lässt sich in der Anthropologiekritik neben dem „Sein-Sollens-Fehlschluss“, der meistens synonym mit dem Begriff des „naturalistischen Fehlschluss“ gebraucht wird, auch der „genetische Fehlschluss“ anführen, der darin besteht, dass man die Überprüfung der Wahrheit einer Aussage mit dem Erklären ihres Zustandekommens verwechselt. Versuche, eine bestimmte Weltsicht z. B. auf evolutionäre Anpassungsakte zurückzuführen und damit einen Geltungsanspruch zu begründen, sind in der Folge abzulehnen (Thies 2013, S. 16); Poser 2001, S. 37.)
35 Verwandt ist dem gesellschaftskritischen Einwand der Einwand des ‚ethnozentristischen Fehlschlusses‘ (vgl. Jörke 2005, S.57).
- Citar trabajo
- Toni-Ludwig Zierer (Autor), 2020, Gibt es eine inklusive Anthropologie? Die Bedeutung anthropologischer Theorie für die normative Begründung und Verwirklichung von Inklusion, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1320931
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