Warum und wozu soll man eigentlich Sportunterricht in der Schule betreiben? Um fit, trainiert, gesund zu sein? Um soziale Kompetenzen zu schulen? Um am kulturellen Phänomen Sport teilzuhaben? Um Spaß und Ausgleich in der Schule zu haben? – Im Rahmen der vielstimmigen Legitimationsdebatte um den Sport-unterricht tauchen neben diesen durchaus populären Argumenten auch immer wieder bildungstheoretische Überlegungen Bezug zum Körper auf. Statt dem Sport eine Funktion überzustülpen oder seinen Wert kulturell zu begründen, versuchen leibliche Bildungstheorien den Kern des Sportunterrichts zu treffen, nämlich Körper und Bewegung, und ihn in ihrer Bedeutung für den Menschen in seinem Bildungsprozess zu beleuchten. Einen solchen theoretischen Ansatz in seiner Bedeutung für den Sportunterricht zu untersuchen, soll das Ziel dieser Arbeit sein. Hierbei sind folgende Fragen von besonderem Interesse:
(1) Kann man mit Blick auf den Körper überhaupt von Bildung sprechen; und wenn ja: Welche Rolle spielt der Körper bei Bildungsprozessen?
(2) Welche Bedingungen müssen für solche Bildungsprozesse erfüllt werden?
(3) Welche Auswirkungen kann dies für praktische Umsetzung ästhetischer Bildung im Sportunterricht haben?
Die erste Frage bildet den Kern der Arbeit und soll aus zwei Blickwinkeln betrachtet werden: In einem ersten Schritt wird diskutiert, inwieweit sich der Körper in einem allgemeinen Bildungskonzept wiederfinden lässt (I.1.). Ein zweiter Schritt soll ästhetische Bildung als eine besondere Art von Bildung beleuchten (I.2).
Auf Grundlage dieser theoretischen Überlegungen sollen dann im zweiten Teil der Arbeit Bedingungen für ästhetische Bildungsprozesse herausgebildet werden (II.1). Diese werden schließlich am Erfahrungsfeld Gleichgewicht exemplarisch erläutert (II.2).
Allgemeine Perspektiven für den Sportunterricht werden schließlich skizzenhaft im Ausblick formuliert.
Inhalt
Einleitung
I. Leibliche Bildung
1. Allgemeine Bildung
a) Zur Begrifflichkeit
b) Die Rolle des Körpers
c) Zwischenfazit
2. Ästhetische Bildung
a) Die spezifische Differenz ästhetischer Erfahrungen
b) Sinnliche Reflexion
c) Erfahrungskategorien
d) Zwischenfazit
II. Perspektiven für die schulsportliche Umsetzung
1. Inszenierung ästhetischer Erfahrungen
a) Allgemeine Bedingungen für Erfahrungsprozesse
b) Differenzerfahrungen
2. Gleichgewicht als Exempel ästhetischer Bildung
a) Bildungs- und Erfahrungspotential von Gleichgewicht
b) Variationsmöglichkeiten
c) Zwischenfazit
Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
Intellektuelle Erkenntnisse sind Papier.
Vertrauen hat immer nur der, der von Erfahrenem redet.
Hermann Hesse
Einleitung
Warum und wozu soll man eigentlich Sportunterricht in der Schule betreiben? Um fit, trainiert, gesund zu sein? Um soziale Kompetenzen zu schulen? Um am kulturellen Phänomen Sport teilzuhaben? Um Spaß und Ausgleich in der Schule zu haben? – Im Rahmen der vielstimmigen Legitimationsdebatte um den Sportunterricht tauchen neben diesen durchaus populären Argumenten auch immer wieder bildungstheoretische Überlegungen Bezug zum Körper auf. Statt dem Sport eine Funktion überzustülpen oder seinen Wert kulturell zu begründen, versuchen leibliche Bildungstheorien den Kern des Sportunterrichts zu treffen, nämlich Körper und Bewegung, und ihn in ihrer Bedeutung für den Menschen in seinem Bildungsprozess zu beleuchten. Einen solchen theoretischen Ansatz in seiner Bedeutung für den Sportunterricht zu untersuchen, soll das Ziel dieser Arbeit sein. Hierbei sind folgende Fragen von besonderem Interesse:
(1) Kann man mit Blick auf den Körper überhaupt von Bildung sprechen; und wenn ja: Welche Rolle spielt der Körper bei Bildungsprozessen?
(2) Welche Bedingungen müssen für solche Bildungsprozesse erfüllt werden?
(3) Welche Auswirkungen kann dies für praktische Umsetzung ästhetischer Bildung im Sportunterricht haben?
Die erste Frage bildet den Kern der Arbeit und soll aus zwei Blickwinkeln betrachtet werden: In einem ersten Schritt wird diskutiert, inwieweit sich der Körper in einem allgemeinen Bildungskonzept wiederfinden lässt (I.1.). Ein zweiter Schritt soll ästhetische Bildung als eine besondere Art von Bildung beleuchten (I.2).
Auf Grundlage dieser theoretischen Überlegungen sollen dann im zweiten Teil der Arbeit Bedingungen für ästhetische Bildungsprozesse herausgebildet werden (II.1). Diese werden schließlich am Erfahrungsfeld Gleichgewicht exemplarisch erläutert (II.2).
Allgemeine Perspektiven für den Sportunterricht werden schließlich skizzenhaft im Ausblick formuliert.
I. Leibliche Bildung
Die Begriffe „leibliche Bildung“ und „ästhetische Bildung“ werden oft synonym verwendet. In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff leiblicher Bildung als Oberbegriff von solchen Bildungsprozessen und -theorien gewählt, in denen der Körper eine Rolle spielt.
Hierbei werden zwei Zugänge gewählt: Der erste überprüft, ob und inwiefern der Körper in der Konzeption allgemeiner Bildung zum Tragen kommt. Hierfür sollen zunächst einige Grundmerkmale allgemeiner Bildung skizziert werden und dann in einem der Arbeit angemessenen Rahmen dazu befragt werden, welche Rolle der Körper in solch einem Konzept haben könnte.
In der zweiten Annäherung soll die ästhetische Bildung als eine besondere Form von Bildung untersucht werden. Das Besondere an ihr wird dabei gegenüber den üblichen eher kognitiven Bildungskonzeptionen abgegrenzt. Das Besondere zeichnet sich dabei durch die Rolle der Sinne beim Erkenntnisgewinn aus (zum Begriff der Ästhetik s. u. I.2.a).
1. Allgemeine Bildung
a) Zur Begrifflichkeit
Der Bildungsbegriff ist höchst komplex und durch Epochen und Denkschulen hindurch verschiedentlich formuliert und interpretiert worden. Diese Entwicklungen auch nur annährend nachzuzeichnen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Um Missverständnisse bei den Begründungslinien leiblicher Bildung zu vermeiden, ist jedoch notwendig, zumindest einige Grundbegriffe der allgemeinen Bildungstheorie einführend zu skizzieren. Hierfür scheint es sinnvoll, sich an eine Bildungstheorie anzulehnen, welche „eine der einflussreichsten Arbeiten zu einem kritisch-konstruktiven Bildungskonzept“ (Gudjons, 208) darstellt: Klakfis Kategorialbildung (1959), und zwar weil sie einerseits eine Fülle historischer Bildungstheorien diskutiert und andererseits diese zu einer Synthese zusammenführt, die in ihrer Grundgestalt bis in die heutige Diskussion Relevanz besitzt.
Beim Bildungsprozess sind grundsätzlich zwei Pole beteiligt (das Folgende in Anlehnung an Klafki 1959, 25–37): das Bildungssubjekt, welches sich durch Bildung formt, und das Bildungsobjekt, an welchem oder durch welches sich das Bildungssubjekt bildet. Es wird bei diesen Polen auch ganz allgemein von Mensch (Bildungssubjekt) und Welt (Bildungsobjekt) gesprochen. Je nach Ausrichtung der jeweiligen Denkschule hat mal die Subjektseite mehr Gewicht, mal die Objektseite. Steht letztere im Zentrum, und zwar als die Dinge, die man sich aneignet – oft Teile wissenschaftlichen Wissens, eines Kanons oder Lehrplans, allerdings prinzipiell jeder mögliche Teil von Welt – so spricht man von materialer Bildung. Steht hingegen der Mensch im Zentrum, der sich im Bildungsprozess formen soll, indem er für sich Methoden, Qualifikationen und Weltzugänge heraus- und weiterbildet – also der Mensch, der in sich selbst wachsen soll, selbstständig und autonom –, so spricht man von formaler Bildung (vgl. auch Franke 2000, 97).
Es lohnt sich, beide Pole nicht als konkurrierende Theorien zu begreifen, sondern letztlich als zwei Perspektiven ein und desselben Vorgangs – und hier setzt Klafkis Synthese an: Denn ein Bildungsobjekt formt sich nicht ohne einen Gegenstand; und das Bildungsobjekt hat auch immer Einfluss auf den sich damit auseinandersetzenden Menschen. Bildung ist daher die wechselseitige Erschließung von Mensch und Welt – das bedeutet,
dass sich der Lernende durch letztlich selbsttätige Aneignung Wirklichkeit erschlossen hat und dass er sich in eben diesem Prozess selbst für das Verstehen und die Gestaltung von Wirklichkeit befähigt hat (Klafki 2003, 13–14).
b) Die Rolle des Körpers
Auch wenn dieses Konzept offenbar sehr grundlegend ist, so kritisiert Franke (2000, 97–99) die Einseitigkeit im Umgang mit solchen Bildungstheorien zugunsten verbal-reflexiver Tätigkeiten, die sich hauptsächlich in den Bereichen Sprache, Mathematik und Geschichte abspielen. Schule und Pädagogik haben dem Körper lange Zeit wenig oder nur niedere Bedeutung zugemessen. Allerdings, so räumt Franke ein, können solche Theorien nicht leugnen, dass der Körper wesentlicher Bestandteil des Menschen ist, und daher im Sinne einer Menschenbildung auch bildungswürdig.[1] Welchen Platz der Körper in einem ganzheitlichen Bildungskonzept haben kann, ist somit die Leitfrage, der sich im Folgenden genähert wird.
Der Körper als Bildungsobjekt
Spielt der Körper also in der Bildung kaum eine Rolle? Im Normalunterricht – ein Denkunterricht, bei dem Schüler möglichst still sitzen soll – wird der Körper zumeist ausgeblendet (das Folgende nach Alkemeyer 2003, 39–43). Das Geistige steht im Zentrum von Schule und Bildungsdiskussion. Der Körper soll dabei nicht stören. Er wird buchstäblich auf einen Stuhl gesetzt und ruhig gestellt. Allerdings würde wohl keiner bezweifeln, dass man sich gar nicht mit ihm beschäftigen sollte. Um also diesem „zivilisatorisch distanzierten Körper wieder zu seinem ‚Recht’“ zu verhelfen,
ohne dass die pädagogische Ordnung dadurch gefährdet würde […] übernimmt der Sportunterricht die Aufgabe, den still gestellten Körper wieder in Bewegung zu versetzen, um so die mannigfaltigen, körperlichen, geistigen und seelischen Folgen von Bewegungsmangel auszugleichen (Alkemeyer 2003, 40).
Dieser kompensatorische Denkansatz ist in der Pädagogik weit verbreitet. Dem Körper kommt dabei nach wie vor eine niedere Bedeutung zu. Dieser Auffassung wiederspricht Alkemeyer, indem er im Verlauf der Argumentation eine bedeutsamere Gesamtrolle des Körpers in der Schule aufzeigt.
Gerade indem der Körper im Normalunterricht ruhig gestellt wird, kommt ihm demnach eine besondere Bedeutung zuteil. Er wird damit nämlich geformt und nach den Körperbildern unserer Gesellschaft diszipliniert, welche den Körper als „Unruheherd und Störenfried“ (ebd., 40) fürchtet. Analoges gilt für den Sportunterricht:
In den Formungsprozessen des Sportunterrichts geht es nicht zuletzt darum, den Körper in praktischen pädagogischen Akten zu sozialisieren und zu habitualisieren, ihn entsprechend körperlicher Leitbilder zu formen und die Beziehung zum Körper sowie den Gebrauch, den man gewöhnlich von diesem macht, so zu modifizieren, dass damit zugleich ein ganzer Komplex mentaler und psychischer Dispositionen verinnerlicht wird (ebd., 40).
Es finden also ständig Körperformungsprozesse statt. Was schön ist, welche Haltung man hat, wie man sozial interagiert, welche Spiele man wie spielt – all das läuft unterschwellig in der Schule und im Sportunterricht ab. Diese Analyse geht wesentlich tiefer als die populäre Legitimationslinie, man solle im Sport in erster Linie seine konditionellen und koordinativen Fähigkeiten ‚bilden’ (vgl. Laging 2005, 161).
Was jedoch beiden Ansätzen gemein ist, ist die Objektbezogenheit des Körpers. Der Körper wird zum Gegenstand, zum Gebrauchsobjekt. Er ist Teil der Welt, den der Mensch für sich zu nutzen und gestalten lernt. Schönheitsideale, Fitnessbewegung, Körperbilder, Gesundheitsvorstellungen und Sportkultur sind Elemente sozio-kultureller Wirklichkeit und somit Bildungsobjekte, mit denen sich der Schüler an dieser Stelle auseinandersetzt, und zwar bewusst oder – wie es Alkemeyer (2003, 39–43) für die unterschwelligen Körperformungsprozesse in der Schule konstatiert – sogar unbewusst.
Der Körper als Mittler
Eine weitere Möglichkeit, den Körper in der allgemeinen Bildungstheorie zu verorten, zeigt Meinberg (2003, 208–210, vgl. auch Alkemeyer 2003, 46–53). Für ihn ist der Körper deshalb nicht aus der Bildungsdiskussion wegzudenken, weil er bei jedem Bildungsprozess beteiligt ist.
Da der Mensch „unaufhebbar mit seinem Leib verschränkt“ (Meinberg 2003, 208) ist, ist er bei jeder Begegnung mit der Welt dabei – mal unscheinbar im Hintergrund, mal mit einer „aufsässigen, lässigen Permanenz“ (ebd., 208). Letztlich ist der Körper der Mittler zwischen Mensch und Welt. Ohne ihn würde der Mensch gar nicht auf die Welt stoßen und die Welt könnte auch nicht auf ihn wirken.
Bevor diese Mittlerfunktion im Zwischenfazit zusammengefasst wird, soll zunächst noch ein Blick auf den Körper als Teil des Bildungssubjekts geworfen werden.
Der Körper als Bildungssubjekt im Dialog mit der Welt
Alkemeyer (2003) argumentiert, „dass Körper und Bewegung nicht nur Mittler zwischen Mensch und Welt sind, sondern in der sozialen Praxis zu fundamentalen Existenzweisen des Sozialen und Trägern kultureller Bedeutung werden.“ (ebd., 53). Unter Berufung auf kultur- und sozialwissenschaftliche Theorien behauptet er, dass sich die Formung des Ich nur im Prozess sozialen und kulturellen Handelns mit dem Körper bildet. So werden Sozialisationsprozesse in anderen theoretischen Auffassungen oft als passiv betrachtet; der Mensch wird sozusagen von der Gesellschaft zu kulturellen, sozialen Handlungsformen gebracht, sie werden – wie es oben schon angeklungen ist – „eingeschleift“[2].
In Alkemeyers Argumentation hingegen erwirbt das Subjekt selbst diese Formen in der Auseinandersetzung mit sozialer Wirklichkeit – im Vollzug, also aktiv und körperlich. Der Körper ist also die Konstituierung des Ich in der sozialen, kulturellen Welt. Als ein Beispiel hierfür nennt Meinberg (2003, 208) den Bereich nonverbaler Kommunikation. Indem wir uns zuwenden, abwenden, jemanden anfassen oder uns aufrecht vor einer Gruppe positionieren, handeln wir leiblich, nicht nur durch den Mittler Körper, sondern als Leib.
[...]
[1] Es sei an dieser Stelle bemerkt, dass Franke nicht explizit Klafki kritisiert. Dies wäre auch ungerechtfertigt, denn bei Klafki selbst klingt das in der vorliegenden Arbeit zu belegende Elemente ästhetischer Erfahrung im Kontext von Bildung an: „Bildung ist kategoriale Bildung in dem Doppelsinn, daß sich dem Menschen eine Wirklichkeit ‚kategorial’ erschlossen hat und daß eben damit er selbst – dank der selbstvollzogenen Einsichten, Erfahrungen, Erlebnisse – für diese Wirklichkeit erschlossen worden ist“ (Klafki 1959, 44, meine Hervorhebung). Es geht also nicht bloß um kognitive Vorgänge, sondern auch um Erfahrungen.
[2] An dieser Stelle wird die Unterscheidung zwischen Erziehung und Bildung deutlich, auf welche in der vorliegenden Arbeit jedoch nicht näher eingegangen werden soll. Es sei als Perspektive nur die Frage gestellt, ob der Begriff des Einschleifens nicht eher auf ein Erziehungskonzept hinweisen könnte, dass im Gegensatz zu Bildung nicht in erster Linie autonom und selbstgesteuert abläuft, sondern als mehr oder minder vermittelte Gewöhnung (vgl. Schwenk 1989, 208–209).
- Arbeit zitieren
- Michael Koehler (Autor:in), 2005, Leibliche Bildung und Sportunterricht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/132014
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