Diese Masterarbeit befasst sich eingehend mit folgender Forschungsfrage: Welchen Stellenwert nimmt die Urteilsbildung im Sozialkundeunterricht in Theorie und Praxis auf dem Weg zur politischen Mündigkeit der Schüler:innen ein und in welcher Art und Weise wird diese Urteilsbildung in Gymnasien und Realschulen Plus von Lehrkräften angebahnt und aktualisiert?
Neben einer ausführlichen Literaturrecherche wurden die Ergebnisse dieser Arbeit durch qualitativ ausgewertete Interviews mit Lehrkräften untermauert. Zu diesem Zwecke wird sich zunächst auf Grundlage einer ausführlichen Literaturrecherche in einem ersten, allgemeinen Teil der Frage nach der theoretischen Bedeutsamkeit der Urteilsbildung in ihrer Anbahnung und Aktualisierung gewidmet.
Die Frage nach der praktischen Bedeutung und Umsetzung findet sodann in einem zweiten, empirischen Teil durch leitfadengestützte Interviews Antwort. Hierfür wurde eine Gruppe von vier aktiv lehrenden Sozialkundelehrer:innen befragt, welche sich zur Hälfte aus ausgebildeten Fachlehrer:innen sowie zur anderen Hälfte aus fachfremden Lehrkräften zusammensetzt. Ebenso zeichnet sich die Expertengruppe aus Lehrer:innen dadurch aus, dass ihre Mitglieder sowohl an deutschen Gymnasien als auch an Realschulen Plus unterrichten. Die Konstellation der Expertengruppe aus ausgebildeten Fachlehrer:innen und fachfremden Lehrkräften sowie Lehrenden an verschiedenen Schularten wurde vorgenommen, um eine einseitige Betrachtung der Thematik auszuschließen und ein möglichst realitätsnahes Bild der Situation, rund um die Urteilsbildung im Sozialkundeunterricht, zu gewinnen.
Die durch die Interviews gewonnenen Daten werden anschließend mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Philipp A.E. Mayring ausgewertet, sodass eine Interpretation der Ergebnisse unter Rückbezug auf den vorangegangenen theoretischen
Teil der Arbeit stattfinden kann. Schließlich erfahren die Ergebnisse eine Einbindung in den aktuellen Forschungsstand, bevor sich die Untersuchung einer Selbstreflexion unterzieht und schließlich im Schlussteil endet.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theorieteil
2.1 Die Ziele der politischen Bildung in der Schule und die Demokratie
2.2 Die politische Mündigkeit als Unterrichtsziel
2.2.1 Die politische Handlungskompetenz
2.2.2 Die politische Urteilskompetenz
2.2.3 Die methodischen Fähigkeiten in der politischen Bildung
2.3 Die Urteilsbildung im Sozialkundeunterricht
2.3.1 Die Kriterien eines Urteils
2.3.2 Die fachdidaktische Bedeutung der Urteilsbildung
2.3.3 Die unterrichtspraktische Bedeutung der Urteilsbildung
2.3.4 Die Anbahnung der Urteilsbildung
2.3.5 Die Aktualisierung der Urteilsbildung
2.4 Die politische Urteilsbildung im Gymnasium und der Realschule Plus
2.4.1 Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Bildungsstandards zwischen Gymnasium und Realschule Plus
2.4.2 Die Konsequenzen der Gemeinsamkeiten und Unterschiede für den Unterricht und dessen Ziele
2.4.3 Die Konsequenzen der Gemeinsamkeiten und Unterschiede für die Anbahnung und Aktualisierung der Urteilsbildung
2.4.4 Die Diskrepanz zwischen der theoretischen Relevanz der Urteilsbildung und der praktischen Umsetzung in Gymnasien und Realschulen Plus
3. Empirischer Teil
3.1 Entwicklung der Forschungsfrage
3.2 Beschreibung der Durchführung der leitfadengestützten Interviews
3.2.1 Feldzugang und Sampling
3.2.2 Aufzeichnungsmethode und Dokumentation
3.2.3 Interaktion im Interview
3.3 Forschungsdesign
3.3.1 Leitfadengestütztes Interview nach Philipp A.E. Mayring
3.3.2 Konzeption des Kategoriensystems
3.3.3 Konzeption der Leitfragen
3.4 Auswertung der Ergebnisse
3.4.1 Deskriptive Auswertung der Ergebnisse
3.4.2 Analytische Auswertung der Ergebnisse
3.5 Diskussion der Ergebnisse
3.5.1 Verortung der Ergebnisse im aktuellen Forschungsstand
3.5.2 Selbstreflexion und Kritik an der Untersuchung
4. Schluss
5. Literaturverzeichnis
6. Anhang
6.1 Abb. 1: Kompetenzbereiche der Politischen Bildung
6.2 Tab. 1: Urteilsraster nach Peter Massing (1997)
6.3 Abb. 2: Kriterien eines politischen Urteils
6.4 Abb. 3: Schema zum Sampling im Zuge der durchgeführten Erhebung
6.5 Abb. 4: Interview-Vereinbarung
6.6 Abb. 5: Transkriptionsregeln nach Kuckartz (2008)
6.7 Tab. 2: Erstelltes Kategoriensystem als Grundlage der durchgeführten Erhebung
6.8 Tab. 3: Interviewleitfaden auf Basis des zuvor ausgearbeiteten Kategoriensystems
6.9 Tab. 4: Erstelltes Kategoriensystem als Grundlage der durchgeführten Erhebung mit Ankerbeispielen
6.10 Transkript des Interviews mit Lehrperson LP I
6.11 Transkription des Interviews mit Lehrperson LP II
6.12 Transkription des Interviews mit Lehrperson LP III
6.13 Transkription des Interviews mit Lehrperson IV
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildung 1: Kompetenzbereiche der politischen Bildung
Abbildung 2: Kriterien eines politischen Urteils
Abbildung 3: Schema zum Sampling im Zuge der durchgeführten Erhebung
Abbildung 4: Interview-Vereinbarung Hinweis: Wurde aus datenschutzrechtlichen Gründen entfernt
Abbildung 5: Transkriptionsregeln nach Kuckartz (2008)
Tabelle 1: Urteilsraster nach Peter Massing (1997)
Tabelle 2: Erstelltes Kategoriensystem als Grundlage der durchgeführten Erhebung
Tabelle 3: Interviewleitfaden auf Basis des zuvor ausgearbeiteten Kategorien- systems
Tabelle 4: Erstelltes Kategoriensystem als Grundlage der durchgeführten Erhe- bung mit Ankerbeispielen
1. Einleitung
Die Mündigkeit des Menschen gilt in der Gegenwart unbestritten als das höchstrangige Erziehungs- und Bildungsziel der Schule. Alle weiteren Erziehungs- und Bildungsaufgaben müssen mit der Mündigkeit vereinbar sein. Man kann auch sagen, dass diese Aufgaben im Grunde nur Konkretisierungen oder Anwendungen der Mündigkeit sind (Detjen 2007: 211).
Dieser Aussage Joachim Detjens zu Folge muss es ebenso das höchste Ziel des Sozialkundeunterrichts als Teil des Schulwesens sein, die Schüler*innen zur Mündigkeit zu erziehen. Die Didaktik der Sozialkunde unterstreicht dieses Ziel und konkretisiert es noch einen Schritt weiter zur Ausbildung einer politischen Mündigkeit (vgl. Sander et al. 2017: 15). Im Rahmen der einschlägigen politisch-didaktischen Literatur ist zur Ausbildung eben dieser politischen Mündigkeit immer wieder vom Erwerb bestimmter Kompetenzen die Rede, welche en gros die Handlungsfähigkeit, die Urteilsfähigkeit sowie gewisse methodische Fähigkeiten umfassen. Dabei wird vor allem die Kompetenz der Urteilsbildung sowohl innerhalb der didaktischen Literatur als auch der universitären Lehramtsausbildung immer wieder hervorgehoben. Gleichzeitig zeigen bestehende Studien, dass Anbahnung und Aktualisierung einer Urteilsbildung höchst komplexe Unterfangen darstellen, welche in der praktischen Umsetzung oftmals Schwierigkeiten bereiten (vgl. Achour & Wagner 2019: 41ff.).
Demzufolge sollte die Urteilsbildung ein Forschungsfeld von durchgängigem Interesse seitens der Fachdidaktik der Sozialkunde darstellen, um den genannten Schwierigkeiten entgegenzuwirken. Tatsächlich ist das Wissen über die Art und Weise der Ausbildung der Urteilsfähigkeit aber immer noch relativ lückenhaft und mit Blick auf bestehende Forschungen scheint es, dass sich in der Vergangenheit innerhalb der Fachdidaktik zu wenig mit diesem zentralen Anliegen beschäftigt wurde (vgl. Breit & Weisseno 1997: 295). Den beiden Politikdidaktikern Gotthard Breit und Georg Weisseno zufolge hat dies Auswirkungen für die Unterrichtspraxis. Ihren Ausführungen nach sähen sich Lehrer*innen zwar in allen Richtlinien aufgefordert, ihren Schüler*innen Urteilskompetenz zu vermitteln, jedoch könnten Lehrende über die Art und Weise des Prozesses der Urteilsbildung zumeist weder in den Rahmenrichtlinien noch in Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien ausreichende Gradmesser finden (vgl. ebd.: 295). Joachim Detjen sieht dies ähnlich und äußert über die politische Urteilsfähigkeit, „dass ihre begriffliche Entfaltung auf dem Stand der neunziger Jahre stehen geblieben ist“ (Detjen 2013: 6).
Aus diesen Beobachtungen heraus ergab sich das Forschungsinteresse dieser Arbeit, welche den Versuch anstellen möchte, die Urteilsbildung in ihrem theoretischen und praktischen Stellenwert sowie ihrer Umsetzung im Unterricht näher zu beleuchten. Hierzu ersucht die Arbeit folgende Forschungsfrage zu beantworten: Welchen Stellenwert nimmt die Urteilsbildung im Sozialkundeunterricht in Theorie und Praxis auf dem Weg zur politischen Mündigkeit der Schüler*innen ein und in welcher Art und Weise wird diese Urteilsbildung in Gymnasien und Realschulen Plus von Lehrkräften angebahnt und aktualisiert?
Zu diesem Zwecke wird sich zunächst auf Grundlage einer ausführlichen Literaturrecherche in einem ersten, allgemeinen Teil der Frage nach der theoretischen Bedeutsamkeit der Urteilsbildung in ihrer Anbahnung und Aktualisierung gewidmet (Kapitel 2). Die Frage nach der praktischen Bedeutung und Umsetzung findet sodann in einem zweiten, empirischen Teil durch leitfadengestützte Interviews Antwort (Kapitel 3). Hierfür wurde eine Gruppe von vier aktiv lehrende Sozialkundelehrer*innen befragt, welche sich zur Hälfte aus ausgebildeten Fachlehrer*innen sowie zur anderen Hälfte aus fachfremden Lehrkräften zusammensetzt. Ebenso zeichnet sich die Expertengruppe aus Lehrer*innen dadurch aus, dass ihre Mitglieder*innen sowohl an deutschen Gymnasien als auch an Realschulen Plus unterrichten. Die Konstellation der Expertengruppe aus ausgebildeten Fachlehrer*innen und fachfremden Lehrkräften sowie Lehrenden an Gymnasien und Realschulen Plus wurde vorgenommen, um eine einseitige Betrachtung der Thematik auszuschließen und ein möglichst realitätsnahes Bild der Situation rund um die Urteilsbildung im Sozialkundeunterricht zu gewinnen.
Die durch die Interviews gewonnenen Daten werden anschließend mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Philipp A.E. Mayring ausgewertet, sodass eine Interpretation der Ergebnisse unter Rückbezug auf den vorangegangenen theoretischen Teil der Arbeit stattfinden kann. Schließlich erfahren die Ergebnisse eine Einbindung in den aktuellen Forschungsstand, bevor sich die Untersuchung einer Selbstreflexion unterzieht und schließlich im Schlussteil endet (Kapitel 4).
2. Theorieteil
2.1 Die Ziele der politischen Bildung in der Schule und die Demokratie
Die politische Bildung verfolgt in der Schule eine ganze Reihe von Zielen. Das Hauptziel ist jedoch unumstritten das Ausbilden der Mündigkeit von Schüler*innen. Im Bezugsrahmen der politischen Bildung „umfasst Mündigkeit mindestens soziale, politische und ökonomische Mündigkeit; man kann sie gesellschaftliche Mündigkeit nennen“ (Sander et al. 2017: 15). Dabei „bezeichnet [sie] die Fähigkeit, sich mit Gesellschaft, Politik und Wirtschaft eigenständig und sachkompetent sowie interessengeleitet auseinanderzusetzen, dort selbstbestimmt und selbstwirksam zu handeln und dies nachvollziehbar rechtfertigen zu können“ (ebd.: 15). Hierbei stehen Schule und Demokratie stets in Wechselwirkung zueinander. Theodor W. Adorno betonte in seinen Ausführungen über Erziehung zur Mündigkeit diesbezüglich: [Eine Demokratie,] die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen. Wer innerhalb der Demokratie Erziehungsideale verficht, die gegen Mündigkeit, also gegen die selbständige bewusste Entscheidung jedes einzelnen Menschen, gerichtet sind, der ist anti-demokratisch, auch wenn er seine Wunschvorstellungen im formalen Rahmen der Demokratie propagiert (Adorno 1970: 112).
Um das Ziel der Mündigkeit zu erreichen, hat sich die politische Bildung gleichwohl viele kleinere Ziele und Aufgaben gesetzt, die in ihrer Summe sodann zur Mündigkeit führen sollen. Man könnte die Summe dieser Ziele auch unter dem Begriff Politikbewusstsein zusammenfassen (vgl. Detjen 2007: 211). Dies bedeutet, dass die Schüler*innen nicht bloß ein Interesse für Politik entwickeln sollen, sondern die politische Bildung sie vor allem auch dazu befähigen soll, selbständig politische Prozesse analysieren und beurteilen zu können. Zudem soll eine Identifikation mit den Werten der Menschenwürde und der Demokratie angebahnt werden (vgl. Ackermann et al. 1994: 9). Ist eine Identifikation mit diesen Werten gegeben, kann davon ausgegangen werden, dass ein Erhalt eben jener angestrebt und Handlungen daran ausgerichtet werden.
Durch die Unterstützung der politischen Bildung zur Ausbildung der Mündigkeit ist gleichzeitig auch immer die Möglichkeit miteingeschlossen, dass die mündigen Bürger*innen das politische System verändern möchten, womit sie nach Massing einen sogenannten ‘normativen Überschuss‘ produzieren (vgl. Pohl 2022: 143). Das Bedürfnis, das politische System verändern zu wollen, darf man jedoch nicht als Indikator für eine erfolgreiche politische Bildung verstehen. Ebenso kann es sein, dass Schüler*innen durch politische Bildung zu dem Entschluss kommen, sich selbstbestimmt und gut begründet politischen Handlungen zu enthalten. Auch dann gilt politische Bildung als erfolgreich, denn es ist ebenso ein Zeichen von Mündigkeit, eine fundierte Entscheidung gegen etwas treffen zu können (vgl. Oberle 2013: 159).
Nichtsdestotrotz sind Demokratien […] auf [einen] normativen Überschuss angewiesen, denn sie müssen sich beständig fortentwickeln, um ihren Verfassungsnormen auch in der Verfassungswirklichkeit gerecht zu werden und um angesichts neu auftretender Herausforderungen auch die Verfassungsnormen selbst weiterzuentwickeln. Dafür brauchen Demokratien urteils- und handlungsfähige Bürgerinnen und Bürger. […] Politische Bildung leistet demnach einen Beitrag zur politischen Mündigkeit der Individuen und zur Weiterentwicklung der Demokratie (Pohl 2022: 143).
Den Ausführungen Pohls zufolge versteht sich die Norm der Demokratie also als konflikthaftes Handeln (vgl. Reinhardt 2016: o.S.). Die Demokratie und ihr Fortbestehen sind demnach auf die politische Bildung in der Schule angewiesen, und zwar sowohl hinsichtlich der Ausbildung handlungsfähiger als auch urteilsfähiger Schüler*innen.
Aus der eben genannten Normativität heraus ergeben sich jedoch noch weitere Ziele für die politische Bildung, welche sich gebündelt im Beutelsbacher Konsens wiederfinden. Hier sind vor allem die Kontroversität und das Überwältigungsverbot zu achten. Unterschiedliche Lebens- und Denkweisen in einer pluralen Gesellschaft müssen sich wechselseitig respektieren können. Infolgedessen müssen auch eben diese kontrovers präsentiert und diskutiert werden. Dabei liefern die obersten und unbestrittenen Normen wie etwa die Grund- und Menschenrechte einen gemeinsamen Maßstab für alle Beteiligten (vgl. ebd.: o.S.).
Die kontroverse Repräsentation unterschiedlicher Lebens- und Denkweisen stellt gleichzeitig eine Abbildung politischer Realität dar, denn plurale Denkweisen sowie deren Vereinigung und Co-Existenz in einem politischen System sind essentielle Indikatoren einer Demokratie. Ebenso sind die offene Gesellschaft der Demokratie sowie die vielfältigen Teilnahmemöglichkeiten am politischen Prozess, die den Bürger*innen zur Verfügung stehen, auf die Mündigkeit der Bürger*innen angewiesen. Gerade „[d]ie offene Gesellschaft verlangt vom Bürger die kognitive Anstrengung, sich in der Fülle der Positionen und Auffassungen zu orientieren, kritisch abzuwägen [und] sich begründet zu entscheiden“ (Detjen 2007: 213).
Für den Bestand der Demokratie gilt: Sie verträgt es nicht, wenn breite Volksschichten auf Dauer abseitsstehen. Sie verträgt es auch nicht, wenn das politische Wissen und die politische Urteilskraft der Bürger zu gering ausgeprägt sind. Der Anspruch der Demokratie, politische Mitwirkungsfreiheit zu gewähren, ist nur sinnvoll, wenn die Bürger dieser Freiheit in politischer Mündigkeit und Reife gegenüberstehen. Deshalb ist die Erziehung zur politischen Mündigkeit zwar nicht identisch mit der Erziehung zur Demokratie, aber doch ein wichtiger Beitrag dazu (ebd.: 213).
Die gegenseitige Abhängigkeit von Demokratie und politischer Bildung mit ihrem Hauptziel der Mündigkeit spiegelt sich demzufolge nicht bloß in den Bedürfnissen der Menschen wider, sondern auch in den Charakteristika eines demokratischen politischen Systems und dessen Dependenz von politisch partizipierenden Bürger*innen.
Es können und müssen jedoch nicht alle Bürger*innen gleichermaßen politisch aktiv sein. Eine Vielzahl von Bürger*innen hat bloß ein geringes Interesse an Politik. Dabei „schaden [sie] sich [jedoch] selbst, weil sie für ihre Interessen nicht sachgerecht und kompetent eintreten können“ (Breit 1996, zitiert nach Breit & Weisseno 2010: 52). Zudem stellt eine zu große Gruppe desinteressierter Bürger*innen wiederum eine Gefahr für die Demokratie dar, da diese, wie bereits erwähnt, auf partizipierende Bürger*innen angewiesen ist. Der „Politikunterricht muss sich daher zunächst einmal darum bemühen, das Interesse der Jugendlichen an Politik zu wecken und so zu festigen, dass es möglichst ein Leben lang anhält“ (Breit & Weisseno 2010: 52). Die politische Bildung muss es in Konsequenz als Aufgabe ansehen, den Schüler*innen einen Zugang zu Politik schaffen, bei dem Kenntnisse vermittelt, Denkfähigkeiten (politische Analyse-, Urteils- und Handlungsfähigkeiten) ausgebildet und so auch die Bereitschaft und ferner der Wille zum politischen Denken und gegebenenfalls Handeln geweckt werden (vgl. ebd.: 52).
Um dieses Ziel besser fokussieren zu können, werden in der Didaktik der politischen Bildung, zum Zweck der differenzierten Zuordnung von Zielen des Sozialkundeunterrichts, drei unterschiedliche Bürgerleitbilder unterschieden, die alle drei mündige Bürger*innen darstellen:
- Der Aktivbürger
- Der reflektierende Zuschauer
- Der interventionsfähige Bürger (vgl. ebd.:52).
Der Aktivbürger stellt dabei ein idealisiertes Bild der politisch partizipierenden Bürger*innen dar, welches eher einer Utopie gleicht. Denn so verlockend die Idee auch sein mag, Schüler*innen durch den Politikunterricht zu Bürger*innen werden zu lassen, die nicht bloß am Wahlsonntag pflichtbewusst ihren Wahlschein ausfüllen, sondern sich zudem auch in ihrer Freizeit aktiv am politischen Leben beteiligen, so unrealistisch gestaltet sich das Erreichen einer solchen Zielsetzung allein durch den Politikunterricht. Sich aktiv an Politik zu beteiligen erfordert eine Menge Zeit, Energie und Sachverstand (vgl. Himmelmann 1996: 87ff.). Diese Erfordernisse sind nach realistischer Betrachtung jedoch nur bedingt durch Bürger*innen aufbringbar, wenn man bedenkt, dass es neben der Politik auch noch viele weitere Verpflichtungen im Leben eines jeden Menschen gibt. Eine solch enthusiastische Beteiligung ist wohl nur dann zu erwarten, wenn sich jemand bewusst dazu entscheidet, Berufspolitiker*in zu werden (vgl. Breit & Weisseno 2010: 52).
Eine weitaus realistischere Zielsetzung ist die der Ausbildung des reflektierenden Zuschauers. Bei diesem Bürgerleitbild stehen für den Politikunterricht die politische Analysefähigkeit und die Urteilsbildung im Vordergrund. Durch die Fähigkeiten der Schüler*innen, mit politischen Nachrichten und Informationen umzugehen, ein politisches Grundverständnis zu haben und sich auf deren Basis ein eigenes Urteil zu bilden, sind sie in der Lage, Politik kritisch mitzuverfolgen. Der deutsche Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg lässt sich vor diesem Hintergrund folgendermaßen zitieren: „Keinesfalls kann es die Aufgabe der Schule sein, Politiker zu entlassen. Sie hat schon Großes geleistet, wenn aus ihr Zeitungsleser mit kritischem Verstand hervorgehen, weder mit Verstand ohne Kritik noch mit Kritik ohne Verstand“ (Eschenburg 1985: 243).
Eine Art Kompromiss aus Aktivbürger und reflektierendem Zuschauer stellt der interventionsfähige Bürger dar. Gemäß dieses Bürgerleitbildes sollen die Schüler*innen einerseits in der Lage sein, ähnlich dem reflektierenden Zuschauer, Politik kritisch zu verfolgen, andererseits jedoch, wann immer sie es für notwendig erachten, auch selbst aktiv zu werden und in das politische Geschehen einzugreifen (vgl. Breit & Weisseno 2010: 53).
Diese Bürgerleitbilder haben in der Didaktik der politischen Bildung für Diskussionen gesorgt, aus denen heraus sich folgende allgemeine Zielstellung ergibt:
Politikunterricht soll die Schülerinnen und Schüler zur politischen Kritik und zur politischen Beteiligung befähigen. Dazu sollen
- ihnen Kenntnisse vermittelt werden
- ihre Denkfähigkeiten ausgebildet werden und
- ihre Bereitschaft und ihr Willen zum politischen Denken und Han- deln geweckt werden (ebd.: 53).
Somit wird auch an dieser Stelle nochmals deutlich, wie interdependent zueinander politische Bildung in der Schule und Demokratie sind. Auch zeigt sich hieraus hervorgehend, wie bedeutsam die Mündigkeit der Schüler*innen nicht bloß für die Demokratie, sondern auch für die didaktische Perspektive der Unterrichtsplanung ist.
Um diesen Umstände Rechnung zu tragen, soll im folgenden Kapitel die politische Mündigkeit als Unterrichtsziel eingehender betrachtet werden.
2.2 Die politische Mündigkeit als Unterrichtsziel
Aus den bisherigen Ausführungen wurde bereits deutlich, dass die Mündigkeit nicht bloß das Hauptziel politischer Bildung ist, sondern auch aus welchen Gründen sie für das Fortbestehen eines demokratischen Systems so unabdinglich ist. Somit steht außer Frage, dass die Mündigkeit auch für die schulische politische Bildung das oberste Ziel darstellen muss, ist sie es letztendlich, die den Schüler*innen im Umkehrschluss eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Dabei verlangt politische Mündigkeit „die eigenständige und ergebnisoffene Auseinandersetzung mit dem Wirklichkeitsbereich Politik, in der sich die Meinungen, Leitideen, Überzeugungen und Urteile der Lernenden frei sowie unabhängig von denen der Lehrenden entwickeln können“ (Sander 2014: 28).
Im vorangegangenen Kapitel wurde bereits erwähnt, dass mündige Bürger*innen im Allgemeinen als handlungs- und urteilsfähige Personen definiert werden. Aber auch methodische Fähigkeiten wie die Analysefähigkeit spielen im Zuge dessen eine fundamentale Rolle. Dieser Umstand führt zu der Annahme, dass die politische Urteilsfähigkeit, die politische Handlungsfähigkeit sowie ferner methodische Fähigkeiten für den Sozialkundeunterricht von großer Bedeutung zu sein scheinen. Beim Anstreben der Mündigkeit der Schüler*innen im Kontext Schule soll gezielt darauf geachtet werden, nicht nur eine politische Handlungskompetenz der Schüler*innen, sondern auch eine politische Urteilskompetenz auszubilden, die wiederum durch die im Unterricht erworbenen methodischen Fähigkeiten gestützt werden.
Aufgrund der bei den Schüler*innen bereits vorhandenen Einstellungen und Denkweisen, die durch Interaktion mit ihrem sozialen Umfeld entstanden sind, beginnt der schulische Politikunterricht jedoch nie beim sogenannten Nullpunkt. Kompetenzentwicklung knüpft immer an die bereits vorhandenen Fähigkeiten an, zielt aber auf deren Förderung und qualitativen Verbesserung ab. Außerdem dürfen die Kompetenzbereiche der politischen Urteils- und Handlungsfähigkeit sowie die methodischen Fähigkeiten nicht als voneinander unabhängige Kompetenzen verstanden werden. Vielmehr sind sie interdependent zueinander und dadurch aufeinander angewiesen (vgl. GPJE 2004: 13). Was unter den Kompetenzen, der Handlungs- und Urteilskompetenz sowie den methodischen Fähigkeiten zu verstehen ist und wie sie sich im Rahmen des Sozialkundeunterrichts ausbilden lassen, soll im Folgenden geklärt werden.
2.2.1 Die politische Handlungskompetenz
Wie der Name bereits erahnen lässt, zielt die politische Handlungskompetenz darauf ab, die Schüler*innen dazu zu befähigen, souverän politisch handeln zu können. Dabei stellt sich zunächst unweigerlich die Frage, was unter einer politischen Handlung zu verstehen ist. Politische Handlungen sind nämlich nicht bloß solche, die innerhalb politischer Settings stattfinden, wie beispielsweise das Abgeben der eigenen Stimme in einem Wahllokal oder das Mitgestalten der Gemeinde im Rahmen einer Parteimitgliedschaft; Vielmehr schließt politisch zu handeln auch die Gewohnheit mit ein, sich sozial zu verhalten und somit „den anderen wahr[zu]nehmen, dem anderen gegenüber soziale Tugenden [zu] beweisen (Höflichkeit, Pünktlich-keit, Zuverlässigkeit, Rücksichtnahme, Fairness) [und] sich für den anderen aus Anteilnahme oder Gerechtigkeitsempfinden ein[zu]setzen“ (Breit & Weisseno 2010: 55). Sich demokratisch zu verhalten, indem man sich „in Diskussionen abweichende Meinungen anhört, im eigenen Umkreis die Menschenwürde und die Menschen- und Grundrechte achte[t] und schütz[t], für Gewaltlosigkeit eintr[itt] oder Mehrheitsbeschlüsse in Familie, Schule und Arbeitsplatz anerkenn[t]“ (ebd.: 55) lassen sich ebenso als politische Handlung definieren. Aber auch die Informationsaufnahme durch das Lesen von Zeitungen, das Verfolgen politischer Rundfunk- und Fernsehsendungen oder das Lesen von Büchern und die daraus resultierende Fähigkeit, die eigene Meinung angemessen und begründet vertreten zu können, indem man mit Mitmenschen über Politik diskutiert, einen Leserbrief schreibt oder sich mit Politiker*innen sachlich unterhält, stellen allesamt Formen des politischen Handelns dar (vgl. ebd.: 55).
Es wird mithin deutlich, dass auch augenscheinlich kleine Handlungen politisch motiviert sind und als Handlungsmöglichkeiten für die Schüler*innen als sehr praktikabel erscheinen, insofern sie wissen, wie sie diese Handlungen richtig und angemessen ausführen können. An dieser Stelle wird es zur Aufgabe des Sozialkundeunterrichts, im Rahmen seiner Möglichkeiten die Schüler*innen darin zu schulen, wie sie sich beispielsweise richtig informieren und ihre Meinung adäquat vertreten können, sodass sie Kompetenzen im politischen Handeln erwerben.
Die Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) hat hierzu in ihrem Entwurf über die Anforderungen an nationale Bildungsstandards für den Fachunterricht in der politischen Bildung an Schulen folgende Fähigkeiten aufgelistet, die besonders im Fachunterricht gefördert werden sollen:
- eigene politische Meinungen und Urteile – auch aus einer Minderheitenposition heraus – sachlich und überzeugend vertreten
- in politischen Kontroversen konfliktfähig sein, aber auch Kompromisse schließen können
- Beiträge zu politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Fragen für Medien realisieren, vom Leserbrief über die Website bis zu komplexeren Medienprodukten
- sich als Konsument im Hinblick auf eigene ökonomische Entscheidungen reflektiert verhalten
- sich im Sinne von Perspektivenwechseln in die Situation, Interessen und Denkweisen anderer Menschen versetzen
- mit kulturellen, sozialen und geschlechtsspezifischen Differenzen reflektiert umgehen, was Toleranz und Offenheit, aber auch kritische Auseinandersetzungen einschließen kann
- eigene berufliche Perspektiven auch von dem Hintergrund gesamtwirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen planen
- Möglichkeiten der Interessenwahrnehmung in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen kennen und seine Interessen vor allem in schulischen Zusammenhängen wahrnehmen
- sich in unterschiedlichen sozialen Situationen und in der Öffentlichkeit angemessen und wirkungsvoll verhalten (GPJE 2004: 17).
Es gibt jedoch auch Politikdidaktiker*innen, die die Haltung vertreten, die Institution Schule sei der falsche Ort, um politische Handlungskompetenzen zu erwerben. So sagt Joachim Detjen hierzu: „[Die] zum politischen Handwerk gehörenden Handlungen lernt man in Parteien, Verbänden und Bürgerinitiativen, also im realen politischen Leben. Was die Schule hingegen tun kann, ist, kognitive Voraussetzungen für späteres politisches Handeln zu schaffen“ (Detjen 2012: 235). Bei dieser Kritik, welche durch Aussagen der Politikdidaktikerin Monika Oberle unterstützt wird (vgl. Oberle 2013: 159), ist jedoch klar zu erkennen, dass es sich um eine von der GPJE abweichende Auffassung von Handlungskompetenz handelt. Handlungskompetenz in der Schule meint keinesfalls die Ausbildung zukünftiger Politiker*innen, sondern die Ausbildung mündiger Bürger*innen.
[...]
- Arbeit zitieren
- Nathalie Peter (Autor:in), 2022, Politische Urteilsbildung im Sozialkundeunterricht durch Leherer:innen. Betrachtung von Gymnasien und Realschulen Plus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1319717
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