Die folgende Arbeit beschäftigt sich mit der Schlacht bei Dünkirchen. Genauer gesagt soll sie die Frage nach der Verantwortung für den sogenannten "Haltbefehl", der während der Schlacht bei Dünkirchen fiel, beantworten.
Kaum ein Ereignis beeinflusste den Verlauf des Zweiten Weltkriegs in Europa so sehr wie die Schlacht um Dünkirchen. Inmitten des deutschen Westfeldzugs 1940 ist das gesamte britische Expeditionskorps und ein beachtlicher Teil der französischen Armee bei Dünkirchen eingekesselt. Deutsche Panzer rollen scheinbar unaufhaltsam auf die Eingeschlossenen zu, doch dann erfolgte etwas, das einige Historiker nicht zu Unrecht einen der schwersten militärischen Fehler des Zweiten Weltkriegs nennen: ein Haltbefehl für die deutschen Panzer.
Dieser sogenannte "Haltbefehl" verzögerte den deutschen Vormarsch und die eingeschlossenen Franzosen und Engländer konnten sich in einer einzigartigen Operation nach England evakuieren. Ein Wendepunkt des Krieges ohne Zweifel. Bis heute sind sich Historiker uneinig, warum dieser Befehl erging. Viele sehr unterschiedliche Theorien stehen zur Debatte. Diese Arbeit versucht die Theorien zu ordnen, zu verstehen und zu beurteilen. Dabei wird primär auch auf Einträge der Generäle in Kriegstagebücher zurückgegriffen.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Einleitung
2. Die militärische Lage in Europa Mitte 1940
2.1 Der „Sichelschnittplan“
2.2 Die militärische Lage in Nordfrankreich Ende Mai 1940
3. Der „Halbefehl“ vom 24. Mai
4. Mögliche Gründe für den „Haltbefehl“
4.1. These: Der sumpfige Boden
4.2. These: Schonung der Panzerverbände
4.3. These: Vertrauen in die Luftwaffe
4.4. These: Absichtliche Schonung der Engländer
4.5. These: Durchsetzung seines Machtanspruchs gegenüber der Generalität
5. Folgen des „Haltbefehls“ für den weiteren Kriegsverlauf
6. Beurteilung der Verantwortung
Literaturverzeichnis
Anhang
Vorwort
Die folgende Arbeit beschäftigt sich mit der Schlacht bei Dünkirchen. Genauer gesagt soll sie die Frage nach der Verantwortung für den sogenannten „Haltbefehl“, der während der Schlacht bei Dünkirchen fiel, beantworten.
Für die Arbeit wurden zwei Werke als Hauptquellen genutzt: Zum einen das Buch „Blitzkrieg-Legende“ von dem Militärhistoriker Karl-Heinz Frieser.1 Zum anderen der Artikel „Der Entschluss zum Anhalten der deutschen Panzertruppen in Flandern 1940“, erschienen 1954 in der Vierteljahreszeitschrift für Zeitgeschichte, von dem Historiker und Zeitzeugen Hans Meier-Welker.2
Bevor ich mein Vorgehen beim Verfassen der Arbeit genauer darlege, möchte ich zunächst erklären, warum ich mich für dieses Thema entschieden habe.
Dabei spielt vor allem meine Faszination für den Wandel der Kriegsführung im 20. Jahrhundert eine große Rolle. Die Entwicklung vom Stellungskrieg im Ersten Weltkrieg zum schnellen Bewegungskrieg im Zweiten Weltkrieg ist ein sehr interessantes Thema, vor allem, wenn man es mit historischen Ereignissen oder bestimmten Schlachten verbindet. So kam ich auch zum Westfeldzug, denn hier sieht man diese Entwicklung außergewöhnlich gut. Besonders die neue Rolle der Panzer im Krieg, beispielsweise beim legendären „Sichelschnittplan“, hat mich in ihren Bann gezogen.
Wenn man sich einmal grob mit Panzern im Westfeldzug beschäftigt, liest man zwangsweise auch etwas über die Schlacht bei Dünkirchen.
Hier verband sich der militärische Teil mit einem meiner anderen historischen Lieblingsthemen: Der Geschichte Großbritanniens.
Der Film „Die dunkelste Stunde“3 über den damaligen Premierminister Winston Churchill handelt zu einem großen Teil von der Schlacht bei Dünkirchen. Dieses Mal aber nicht aus der Sicht der Angreifer, sondern aus der Sicht der Briten, der Verteidiger.
Spätestens hier hat mich die Frage beschäftigt, wie eine solche Evakuierung, wie sie die Briten unter dem Codenamen „Operation Dynamo“ durchgeführt hatten, überhaupt möglich sein konnte. Mit dieser Frage beschäftigt sich in gewisser Weise auch diese Arbeit.
Jetzt möchte ich im Folgenden kurz mein Vorgehen beim Erstellen dieser Arbeit erklären.
Zuerst habe ich, um mir einen Überblick zu verschaffen, den oben genannten Artikel von Hans Meier-Welker durchgelesen und mir Notizen zu den Namen und den verschiedenen Instanzen (Bsp. OKW, OKH, AOK, etc.) gemacht. Dann habe ich mithilfe des „Lexikon für deutsche Zeitgeschichte“4 die offenen Fragen geklärt.
Besonders hilfreich für das Einarbeiten in das Thema war das Buch „Der Zweite Weltkrieg“ von dem englischen Historiker Anthony Beevor,5 mit Hilfe dessen ich ein großer Teil der ersten Kapitel verfasst habe.
Ebenfalls nützlich, und das empfehle ich jedem Leser dieser Arbeit, war die Benutzung einiger Karten, die zum besseren Verstehen hervorragend geeignet waren und noch immer sind. Diese Karten habe ich mit Absicht in den Anhang getan, damit man sie zu jedem Kapitel nutzen kann und nicht bloß zu dem einen, in dem sie platziert wurden.
Nachdem ich mich grob in dem Thema zurechtfand, schaute ich mir die Dokumentation „Die Blitzkrieg-Legende“ von Spiegel TV an, in der ich gut visualisiert das Thema nochmals kompakt dargestellt bekam.6
Nachdem ich daraufhin den ersten Teil der Arbeit verfasste, beschäftigte ich mich zunehmend mit dem Haltbefehl und den Gründen dafür. Dafür zog ich wieder einmal die Werke von Frieser und Meier-Welker zu Rate. Aber auch andere Bücher (siehe Literaturverzeichnis) haben mir gut weitergeholfen.
Den Hauptteil der Arbeit, die unterschiedlichen Thesen, habe ich, wie ich später noch genauer erklären werde, hauptsächlich mit dem Artikel von Hans Meier-Welker und dem Buch von Karls-Heinz Frieser verfasst. Dabei war es schwierig die unterschiedlichen Meinungen und Argumentationen der Autoren nachzuvollziehen. Dennoch habe ich es nach mehrmaligem Lesen und visualisieren, denke ich, doch ganz gut zusammenfassen können.
Nachdem ich diesen Teil meiner Arbeit abgeschlossen hatte, widmete ich mich den Auswirkungen des Haltbefehls. Auch hier stellte das Buch „Blitzkrieg-Legende“ von Karl-Heinz Frieser wieder eine hervorragende Informationsquelle dar und half mir dabei dieses Kapitel zu schreiben, wobei ich mich jedoch selbstverständlich nicht ausschließlich auf das Werk von Frieser stützte.
Zum Schluss sollte die Leitfrage beantwortet werden, wobei ich kein anderes Werk zu Rate zog, sondern nur meine eigene Meinung, die ich mir im Laufe der Zeit gebildet habe, niederschrieb und mit einigen Belegen stützte, die im Laufe der Arbeit bereits genannt wurden.
Soweit zum Vorgehen zum Verfassen dieser Arbeit.
Zum Schluss möchte ich kurz erklären, weshalb Sie in der Arbeit ungewöhnlich viele Zitate finden. Beim Verfassen dieser Arbeit ist mir häufiger aufgefallen, wie ausschlaggebend kleinere Formulierungen sind. Gleichzeitig finde ich es besonders bei diesem Thema wichtig viele Zitate mit einzubringen, da man das Thema sehr quellenorientiert untersuchen muss. Durch die gute Dokumentation, kann man sich mit den verschiedenen Primärquellen gut ein eigenes Bild der Dinge machen und genau das möchte ich dem Leser hier auch ermöglichen. Außerdem macht es mein Fazit besser nachvollziehbar, was hier besonders wichtig ist, da es auch unter Historikern sehr verschiedene Ansichten gibt.
Bevor Sie jetzt weiterlesen, möchte ich nochmals auf die bereits oben genannten Karten im Anhang hinweisen und empfehle diese beim Lesen der Arbeit zu nutzen.
Baden Baden, November 2019
1. Einleitung
„In den nächsten paar Tagen werden wir praktisch alle unsere ausgebildeten Soldaten verloren haben – es sei denn, ein Wunder rettet uns.“7
Das schrieb der britische General Ironside am 25. Mai 1940 über die Situation der britischen und französischen Streitkräfte in Nordfrankreich.
Obwohl er es, als er es schrieb, wohl nicht glaubte geschah das „Wunder“ und knapp 330.000 Soldaten (darunter 85% des britischen Expeditionskorps)8 wurden Ende Mai und Anfang Juni 1940 über den Kanal gebracht, obwohl die deutschen Truppen sowohl zahlenmäßig als auch ausrüstungstechnisch weit überlegen waren.
Mitentscheidend für dieses „Wunder“ war ein Befehl, der später als „Haltbefehl“ in die Geschichte eingehen sollte. Von vielen wurde dieser Befehl als taktischer Fehler oder „widersinniger Befehl“9 bezeichnet, dennoch könnte es einige Gründe gegeben haben, die damals für einen Befehl zum Anhalten gesprochen haben könnten.
Ziel dieser Arbeit ist es die Frage der Verantwortung für diesen Befehl zu klären, das heißt zu schauen, wer wann Ratschläge gegeben hat und wie diese Ratschläge die Entscheidung Hitlers möglicherweise beeinflusst haben. Dabei wird es vor allem um die Frage gehen, was die Gründe für die Ratschläge bzw. Entscheidungen waren und inwieweit die Gründe berechtigt waren. Auch soll der Aspekt einer persönlich motivierten Entscheidung Hitlers nicht außer Acht gelassen werden.
Bevor allerdings diese Fragen behandelt werden, soll zuerst die allgemeine Lage in Europa und besonders Nordfrankreich im Jahr 1940 kurz dargestellt werden, um die genauen Zusammenhänge zu verstehen. Danach wird kurz der „Haltbefehl“ an sich erklärt, das heißt, was war die Vorgeschichte, von wem kam er, wer führte ihn aus und was waren die Folgen. Nach dieser Einleitung werden die oben bereits erwähnten Fragen geklärt, was die Gründe für die Ratschläge bzw. Entscheidungen waren und inwieweit die Gründe berechtigt waren, bevor die Auswirkungen des Befehls für den weiteren Kriegsverlauf dargestellt werden. Abschließend wird ein Fazit formuliert, dass die Frage der Verantwortung im großen Zusammenhang klären soll.
2. Die militärische Lage in Europa Mitte 1940
Mit dem Überfall Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg in Europa. Als Folge dessen erklärten Frankreich und Großbritannien Deutschland am 3. September den Krieg, ohne aber entscheidend einzugreifen. Bis auf kleinere Kämpfe blieb es an der Grenze des Großdeutschen Reiches zu Frankreich deshalb auch vorerst ruhig. Mit einem unerwarteten Angriff jedoch begann am 10. Mai 1940 der sogenannte Westfeldzug. In der Proklamation an die Armeen der Westfront vom 10. Mai hieß es: „Der heute beginnende Kampf entscheidet das Schicksal der deutschen Nation für die nächsten tausend Jahre.“10
Während im Westen der Vormarsch der deutschen Truppen begann, herrschte an der Ostfront kein Krieg. Polen war nach gut einem Monat gefallen und der Überfall auf die Sowjetunion sollte erst etwa ein Jahr später folgen.
Obwohl der Überfall auf die Sowjetunion, die sogenannte „Operation Barbarossa“, noch ein Jahr entfernt war, darf man nicht vergessen, dass bereits damals zumindest der Gedanke schon in den Köpfen des Oberkommandos der Wehrmacht heranreifte.11 Das könnte möglicherweise auch ein Grund für den Haltbefehl gewesen sein. Dazu aber im Hauptteil der Arbeit mehr.
Zunächst einmal soll noch eine andere Front genannt werden.
Am 9. April 1940 landeten sieben deutsche Divisionen an der norwegischen Küste. Grund für diesen Angriff war, dass die deutsche Industrie von den Rohstoffen aus Norwegen abhängig war und man unbedingt verhindern wollte, dass die Alliierten Norwegen besetzten.12 Tatsächlich war die Sorge begründet, denn mit dem Angriff auf Norwegen kam das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) einer möglichen britischen Invasion nur um wenige Stunden zuvor.13 Um den Nachschub zu sichern, marschierten zeitgleich deutsche Truppen in Dänemark ein, wobei die dänische Armee fast ohne Widerstand kapitulierte. In Norwegen sah die ganze Situation etwas anders aus. Britische, französische und exilpolnische Verbände leisteten mit sechs norwegischen Divisionen erbitterten Widerstand und fügten deutschen Truppen erheblichen Schaden zu. Bestes Beispiel dafür ist die Schlacht um Narvik.
Erst am 10. Juni erfolgte die Kapitulation Norwegens, und das auch nur, da britische und französische Truppen zunehmend an heimischer Front in Bedrängnis gerieten.
Dabei handelte es sich um den bereits oben erwähnten Beginn des Westfeldzugs.14
2.1 Der „Sichelschnittplan“
Für den Erfolg des Westfeldzugs entscheidend war der sogenannte „Sichelschnittplan“, entworfen von Generalleutnant Erich von Manstein.
Bevor allerdings auf den Plan genauer eingegangen wird, muss zuerst die Verteidigungssituation Frankreichs geklärt werden. Die wichtigste und am Besten verteidigte Linie war die „Maginot-Linie“, die besonders an der deutsch-französischen Grenze mit Artillerie ausgestattet war. Weiter nördlich, an der luxemburgisch-französischen und belgisch- französischen Grenze, gab es zwar auch Verteidigungswerke, diese waren aber ohne Artillerie, da man an dieser Seite nicht den Plan hatte sich zu verteidigen, sondern vielmehr anzugreifen.
Aufgrund der „Maginot-Linie“ konnte man einen Angriff an der deutsch-französischen Grenze praktisch ausschließen. Im ersten Weltkrieg hatten man einen „rechten Haken“ über Belgien versucht, dieser war jedoch an der Somme gescheitert. 1940 rechneten die französischen und britischen Generäle wieder mit einem solchen „rechten Haken“, wie die Deutschen ihn bereits im Ersten Weltkrieg durchgeführt hatten.15 (siehe Anhang Abbildung 3) Deshalb stationierten sie ihre Truppen an der belgisch-französischen Grenze, damit sie, falls die Deutschen in Belgien einmarschieren sollten, ihre Truppen wie eine Tür nach Westen schieben konnten.16
Mit diesem Wissen lässt sich Mansteins Plan besser verstehen.
Der „Sichelschnittplan“ sah nämlich einen „linken Haken“ vor, durch den man die französischen und britischen Truppen einschließen wollte. (siehe Anhang Abbildung 2) Genauer gesagt sollten schnelle Panzerverbände durch die belgischen Ardennen bis an die Mündung der Somme vordringen und den Feind dann im Rücken angreifen, während die deutsche 18. und 6. Armee durch Belgien und Holland marschiert und den Feind von vorne angreift.17 18 (siehe Anhang Abbildung 1 und 2)
Trotz großer Bedenken des Oberkommandos des Heeres (OKH)19 unterstützte Hitler den Plan und ließ ihn schließlich am 10. Mai auch durchführen. Nach dem britischen Historiker Anthony Beevor lag Hitlers Optimismus hinsichtlich des „Sichelschnittplans“ auch an den Erfolgen des Norwegenfeldzugs (siehe Kapitel 2).20
Am 10. Mai 1940 stoßen also deutsche Truppen in den Niederlanden und Belgien vor, darunter die 18. Armee in Holland, die 6. Armee südlich und die 4. Armee in Belgien. Der Gedanke hinter diesen vielen Einfällen in den Niederlanden und Belgien war es, die britischen und französischen Truppen denken zu lassen, dass der Angriff wie erwartet im Norden stattfinden würde, und sie sich deshalb nach Norden bzw. Westen21 bewegen müssten. Währenddessen sollten Panzerdivisionen über den Norden Luxemburgs und die belgischen Ardennen vorstoßen und die Maas überqueren. Nach der Überquerung sollte eine Panzergruppe unter dem Befehl von Ewald von Kleist nach Nordwesten in Richtung Amiens ziehen. Hier wäre ein geeigneter Zeitpunkt sich das geplante Vorgehen auf einer der angehängten Karten zu visualisieren.
2.2 Die militärische Lage in Nordfrankreich Ende Mai 1940
Wenige Tage nach Beginn des Westfeldzugs zeigte sich die eigentliche Wirkung von Generalleutnant von Mansteins Plan. Eine Panzergruppe unter General der Kavallerie Ewald von Kleist konnte bis zur Kanalküste vordringen, während die 18., 6., 4., 12. und 16. Armee (von Norden nach Süden) durch die Benelux-Staaten vordrangen. Als Folge dessen verkündeten die Niederlande am 14. Mai um 20:30 Uhr die Gesamtkapitulation ihrer Streitkräfte. Belgien folgte am 28. Mai um 04:00 Uhr.22
Die jetzt folgende Beschreibung ist die vom 24. Mai 1940, dem Tag des „Haltbefehls“.
Die Panzerverbände unter v. Kleist und Hoth sind bis an die Linie Lens-Bethune-Lillers-Aire-St. Omer- Gravelines (Kanallinie) vorgedrungen und halten mehrere Brückenköpfe. Die östliche Seite wird bei Gravelines- St. Omer von französischen Truppen verteidigt, bei St. Omer-Aire-Lillers-Bethune-Lens von wenigen britischen Soldaten.
Deutsche Infanterie zieht östlich von Arras weiter nach Nordwesten und soll in Zusammenarbeit mit dem linken Flügel der Heeresgruppe B die französischen, britischen und belgischen Truppen, die die Heeresgruppe B aus Osten (Linie Brügge-Lille-Valenciennes) kommend vor sich hertreibt, abfangen.
Des Weiteren ist Calais von deutschen Truppen umzingelt und um Boulogne wird gekämpft.
3. Der „Halbefehl“ vom 24. Mai
Bevor auf den „Haltbefehl“ vom 24. Mai genauer eingegangen werden kann, muss man die Vorgeschichte erläutern.
Dem eigentlichen „Haltbefehl“ bei Dünkirchen waren nämlich einige folgenschwere Entscheidungen vorausgegangen. Zunächst einmal muss gesagt werden, dass es Ende Mai 1940 im Heer eine regelrechte Führungskrise zwischen den eher konservativen und den progressiven Militärs gab. Anlass für Konfrontation bot immer wieder der Einsatz der Panzerwaffe, die im Zweiten Weltkrieg und vor allem im Frankreichfeldzug das erste Mal in der Kriegsgeschichte im großen Stil zum Einsatz kam.
Das Oberkommando der Heeresgruppe A23 unter v. Rundstedt und seinem Generalstabschef Sodenstern war sehr konservativ eingestellt und ihre Militärs eher die der „alten Schule“. Sie standen bereits dem „Sichelschnittplan“ kritisch gegenüber und hegten Vorbehalte gegen den „neuen Bewegungskrieg“ mit seinen schnellen Panzerverbänden.
Das ihnen übergeordnete Oberkommando des Heeres24 unter Brauchitsch25 und Halder sah dagegen in der neuen Panzerwaffe eine Chance und plädierte meist dafür, die Truppen so beweglich wie möglich zu halten. Soweit zu den zwei unterschiedlichen Ansichten.
Beispielhaft für eine solche Konfrontation war der sogenannten „Aufschließ-Befehl“, der dem „Haltbefehl“ unmittelbar vorausging. Auslöser des Konflikts war unter anderem General v. Kleist26, der sich nicht in der Lage sah, einen möglichen Gegenangriff der Alliierten abzufangen. Er erklärte deshalb:
„Nach den Ausfällen der vorausgehenden 14tägigen Kämpfe, besonders an den Panzern, die über 50 Prozent betragen, ist die Gruppe zum Angriff mach Osten gegen starken Feind nicht kampfkräftig genug. Greift der Feind in großer Stärke an, so mache ich darauf aufmerksam, daß die Panzerdivisionen zu Verteidigung wenig geeignet sind“27
Diese Meldung stieß bei Halder28 auf Unverständnis, da er die Lage weniger brisant einstufte, doch bei Generaloberst v. Kluge29 fanden die Warnungen Gehör. Das anschließende Gespräch mit v. Rundstedt am 23. Mai um 16.40 Uhr sollte ausschlaggebend sein für viele folgende Befehle. Gegenüber Rundstedt äußerte v. Kluge seine Bedenken und plädierte für ein Anhalten des schnellen linken Flügels, um die restlichen Infanterie Divisionen aufschließen zu lassen.
Nach diesem Gespräch erließ das Oberkommando der 4. Armee um 20.00 Uhr einen „Aufschließ-Befehl“, demzufolge die Panzergruppen v. Kleist und Hoth den Vormarsch für einen Tag lang ruhen lassen sollten, um „alle Vorbereitungen zur Fortsetzung des Angriffs am 25.5 zu treffen.“30
Der Befehl zum Aufschließen, den die Heeresgruppe A gab, stand, wie oben bereits erwähnt, für eine eher konservative Haltung gegenüber den Panzerverbänden. Dementsprechend stieß der Befehl bei den progressiveren Militärs des OKH auf Unverständnis.
Jetzt kam die Hierarchie innerhalb des Heeres zur Geltung. Die Heeresgruppe A mit v. Rundstedt unterstand als Bestandteil des Heeres dem Oberkommando des Heeres unter Brauchitsch und Halder.
Diese Hierarchie erklärt den fernmündlichen Befehl des OKH an das Oberkommando der Heeresgruppe A vom 23. auf den 24. Mai, wonach die 4. Armee mit ihren Panzerverbänden ab dem 24. Mai um 20.00 Uhr der Heeresgruppe B unterstellt werden sollte.
Die Progressiven im OKH hatten also durch einen einzigen Befehl den konservativen Rundstedt entmachtet, indem man ihm alle Panzer weggenommen hatte. Stattdessen gab man ihm die Aufgabe für einen sicheren Flankenschutz an der Somme zu sorgen. Mit dieser Verschiebung der 4. Armee sollte laut Brauchitsch sichergestellt werden, dass es eine einheitliche Führung des letzten Aktes der Einkreisungsschlacht gab. Diese Führung sollte die Heeresgruppe B mit ihren eher progressiven Militärs übernehmen.
Jetzt kommt Hitler ins Spiel. Als dieser nämlich am Vormittag des 24. Mai das Hauptquartier der Heeresgruppe A in Charleville besuchte, fand er v. Rundstedt praktisch entmachtet vor. Jodl31 schreibt zu dem Besuch in sein Tagebuch:
„Führer fliegt mit mir und Schmundt z. H.Gr. A nach Charleville. Ist sehr erfreut über die Maßnahmen der H.Gr., die sich ganz mit seinen Gedanken decken.“32
Mit diesen „Gedanken“ meint er die Auffassung, dass die Panzertruppen an der sogenannten Kanallinie (Linie Lens-Bethune-Lillers-Aire-St. Omer- Gravelines) angehalten werden müssten, um den Feind, der von der Heeresgruppe B aus dem Osten herangetrieben wird, abzufangen.33
Nach dem Besuch Hitlers gab die Heeresgruppe A um 12:45 Uhr am 24. Mai folgende Weisung heraus:
„Auf Befehl des Führers […] ist nordwestlich Arras die allgemeine Linie Lens-Bethune-Aire-St.Omer-Gravelines nicht zu überschreiten“34
Und eben dieser Befehl ist es, den wir heute den „Haltbefehl“ bei Dünkirchen nennen.
Die Generäle waren mehrheitlich gegen den „Haltbefehl“ gewesen und brachten dies auch außergewöhnlich deutlich zur Geltung. Hitlers Chefadjutant Oberst Schmundt soll folgendes über die Reaktion der Generäle gesagt haben:
„Sie glichen einer Meute Jagdhunde, die in vollem Lauf dicht vor dem Wild angehalten wird und ihre Beute entrinnen sieht“
Generalmajor List bezeichnete den Befehl als „völlig unverständliche Maßnahme“36
Auch General Halder äußerte sich zu der seiner Meinung nach katastrophalen Situation:
„Ich hatte die Schlacht so angelegt, daß die frontal gegenüber einem sich planmäßig absetzenden Feind zu schwerem Angriff antretende HGr. B den Feind lediglich binden, die HGr. A, die einen geschlagenen Feind trifft und auf den Rücken des Feindes losgeht, die Entscheidung bringen sollte. Das Mittel dazu waren die schnellen Truppen. […]
Es tritt also eine völlige Verkehrung ein. Ich wollte HGr. A zum Hammer und HGr. B zum Amboß machen. Nun macht man HGr. B zum Hammer, HGr. A zum Amboß. Da HGr. B eine festgefügige Front sich gegenüber hat, wird das nur sehr viel Blut kosten und sehr lange dauern.“36 37
Anhand dieser Zitate kann man also erkennen, dass der Befehl, sowohl bei der Truppe38, als auch bei den Generälen, auf wenig Zustimmung stieß. Aber warum gab Hitler dennoch diesen Befehl? Verließ er sich wirklich nur auf die Einschätzung des Oberbefehlshaber der HGr. A v. Rundstedt? Und wenn ja, warum? Diese Fragen sollen im noch folgenden Hauptteil der Arbeit geklärt werden.
Jetzt soll allerdings zunächst auf die unmittelbaren Folgen des „Haltbefehls“ eingegangen werden. Am 24. Mai gegen Nachmittag wird v. Brauchitsch zu Hitler zitiert. Jedoch konnte v. Brauchitsch nicht, wie er es sich erhofft hatte, seine Ansicht über den „Haltbefehl“ äußern, sondern Hitler machte ihm stattdessen heftige Vorwürfe, wegen seines Verhalten gegenüber v. Rundstedt. Im Tagebuch von Halder heißt es zu dem Gespräch zwischen Hitler und v. Brauchitsch:
„20:00 (Uhr) ObdH (v. Brauchitsch) kommt vom O.K.W. Anscheinend wieder recht unerfreuliche Aussprache mit dem Führer […]“39
Während v. Brauchitsch nach dem Gespräch mit Hitler seinen Widerstand aufgab, entwarfen Halder und v. Greiffenberg einen Plan, mit dem sie den „Haltbefehl umgehen wollten.40 Folgenden Befehl schickten sie an die Heeresgruppe A und Heeresgruppe B.
„In Erweiterung der Anordnung des OKH-Befehls vom 24.5.40 […] wird die Fortsetzung des Angriffs bis zur Linie Dünkirchen-Cassel-Estaires-Armentieres-Ypern-Ostende freigegeben […]“41
Nach dem Militärhistoriker Karl-Heinz Frieser war die Idee dahinter, dass der Befehl den üblichen Weg über die Heeresgruppen A bzw. B geht und dann an die Panzerverbände weitergeleitet werden würde. Diese hatten dann die Möglichkeit den sehr vagen formulierten Befehl für sich selbst zu interpretieren. Bei der Heeresgruppe B funktionierte dieser Plan auch genau wie erhofft. Bei der Heeresgruppe A allerdings ereignete sich ein „Wunder“, was nach dem Historiker Hans-Adolf Jacobsen „fast beispiellos in der neueren deutschen Kriegsgeschichte“ ist.42
Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe A, v. Rundstedt, weigerte sich den Befehl an die Panzerverbände weiterzuleiten und widersetzte sich damit den Befehlen seiner Vorgesetzten. Als Verteidigung seiner Handlung nutzte er eine Entscheidung Hitlers, die das OKW in ihrem KTB festhielt:
„Führer […] überlässt Entscheidung d. H.Gr. A“43 44
Statt den Befehl des OKH also weiterzugeben, wiederholte er stattdessen den „Haltbefehl“:
„Auf Befehl des Führers hat der […] Nordwestflügel (Gruppe Hoth und Kleist) […] die günstige Abwehrlinie Lens-Bethune-Aire-St.Omer-Gravelines zu halten […]“
Nach einem erneuten Gespräch zwischen Brauchitsch und Hitler, in dem Brauchitsch wieder für einen Vormarsch der Panzergruppen plädierte, schrieb Jodl über Hitlers Reaktion auf den Vorschlag:
„Führer ist dagegen, überläßt Entscheidung d. H.Gr. A. Diese lehnt es vorerst ab, da Panzer sich erholen sollen, um für Aufgaben im Süden bereit zu sein“45 46
[...]
1 Frieser, Karl-Heinz: Blitzkrieg-Legende, (4. Ausgabe,) München, 2012.
2 Meier-Welker, Hans: Der Entschluss zum Anhalten der Deutschen Panzertruppen in Flandern 1940, Vierteljahresheft für Zeitgeschichte, (Heft 3,) München 1954
3 Film
4 Lexikon der deutschen Geschichte: Personen, Ereignisse, Institutionen; von d. Zeitenwende bis zum Ausgang d. 2. Weltkriegs / unter Mitarb. von Historikern und Archivaren hrsg. Von Gerhard Taddey.- Stuttgart: Kröner, 1883
5 Beevor, Anthony: Der Zweite Weltkrieg, (1. Auflage,) München (C. Bertelsmann Verlag) 2012.
6 Spiegel TV DVD Nr. 24, 2010
7 Zit. n. Frieser, Karl-Heinz: Blitzkrieg-Legende, (4. Ausgabe,) München, 2012. S.363
8 Overesch, Manfred: Das Dritte Reich [unter Mitarbeit von Wolfgang Herda und York Artelt] Düsseldorf (Droste Verlag) (Chronik deutscher Zeitgeschichte; Bd. 2) 1983.
9 Interview der „Welt“ mit dem Militärhistoriker Karl- Heinz Frieser vom 1. Mai 2016 https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article116290059/Duenkirchen-Warum-Hitler-seinen-Sieg-verschenkte.html Abgerufen am 09.10.2019
10 Zit. n. Beevor, Anthony: Der Zweite Weltkrieg, (1. Auflage,) München (C. Bertelsmann Verlag) 2012. S. 98
11 Kershaw, Ian: Hitler 1936-1945, (4. Auflage,) Stuttgart (Deutsche Verlagsanstalt) 2000. S. 387
12 Hildebrand, Klaus: Das Dritte Reich, (6. Auflage,) München (Oldenbourg Wissenschaftsverlag) 2003. S. 96
13 https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/kriegsverlauf.html Abgerufen am 11.10.2019
14 Kershaw, Ian: Hitler 1936-1945, (4. Auflage,) Stuttgart (Deutsche Verlagsanstalt) 2000. S. 392
15 Siehe Abb. 3 im Anhang
16 Grund für den Plan, bei einem Angriff die Truppen nach Westen zu verschieben, war, dass man den Kampf, man rechnete mit einem ähnlich langen Kampf, wie im ersten Weltkrieg, nach Belgien verlagern konnte damit nicht mehr auf französischem Staatsgebiet gekämpft werden würde.
17 Siehe Abb. n. Beevoor, Anthony: Der Zweite Weltkrieg, (1. Auflage,) München, 2012. S.100 (Auch im Anhang Abb. 2)
18 Overesch, Manfred: Das Dritte Reich [unter Mitarbeit von Wolfgang Herda und York Artelt] Düsseldorf (Droste Verlag) (Chronik deutscher Zeitgeschichte; Bd. 2) 1983. S. 80
19 Zum einen lag die Skepsis darin, dass die Panzerwaffe sehr neu war und die alten Generäle ihr anfangs wenig Beachtung schenkten. Zum anderen lag es an dem unwegsamen Gelände der belgischen Ardennen, durch die die Panzer vorstoßen sollten.
20 Beevor, Anthony: Der Zweite Weltkrieg, (1. Auflage,) München, 2012.
21 Dabei handelte es sich um die geplante „Türbewegung“ (siehe auch Fußnote 16)
22 Kershaw, Ian: Hitler 1936-1945, (4. Auflage,) Stuttgart (Deutsche Verlagsanstalt) 2000. S. 400
23 Das Oberkommando der Heeresgruppe A unterstand dem Oberkommando des Heeres, welches wiederum nur dem Oberkommando der Wehrmacht unterstellt war. Das OKW unterstand direkt Adolf Hitler.
24 Siehe vorherige Fußnote
25 Brauchitsch war Generaloberst und Oberbefehlshaber des Heeres.
26 General v. Kleist war Anführer der Panzerverbände v. Kleist und bis auf eine kurze Ausnahme der Heeresgruppe A unterstellt.
27 Zit. n. Frieser, Karl-Heinz: Blitzkrieg-Legende, (4. Auflage,) München 2012. S.366
28 Stabschef des Oberbefehlshaber des Heeres (siehe Fußnote 25)
29 Günther v. Kluge war Oberbefehlshaber der 4. Armee, die der Heeresgruppe A unterstand.
30 Zit. n. Frieser, Karl-Heinz: Blitzkrieg-Legende, (4. Auflage,) München 2012. S.366
31 Alfred Jodl war Chef des Wehrmachtsführungsstabes
32 Zit. n. Meier-Welker, Hans: Der Entschluss zum Anhalten der Deutschen Panzertruppen in Flandern 1940, Vierteljahresheft für Zeitgeschichte, (Heft 3,) München 1954. S. 278
33 Siehe auch Kapitel 2.2 „Die militärische Lage in Nordfrankreich Ende Mai 1940“
34 Zit. n. Frieser, Karl Heinz: Blitzkrieg-Legende, (4. Auflage,) München, 2012. S. 369
35 Zit. n. Frieser, Karl Heinz: Blitzkrieg-Legende, (4. Auflage,) München, 2012. S. 370
36 Zit. n. Meier-Welker, Hans: Der Entschluss zum Anhalten der Deutschen Panzertruppen in Flandern 1940, Vierteljahresheft für Zeitgeschichte, (Heft 3,) München 1954. S.285
37 Siehe auch Abbildung in Kapitel 2.2 „Die militärische Lage in Nordfrankreich Ende Mai 1940“
38 Siehe: Welker, Hans Meier: Der Entschluss zum Anhalten der Deutschen Panzertruppen in Flandern 1940, Vierteljahresheft für Zeitgeschichte, (Heft 3,) München 1954. S. 282
39 Zit. n. Meier-Welker, Hans: Der Entschluss zum Anhalten der Deutschen Panzertruppen in Flandern 1940, Vierteljahresheft für Zeitgeschichte, (Heft 3,) München 1954. S. 280
40 Oberst im Generalstab; Hans von Greiffenberg war Chef der Operationsabteilung
41 Zit. n. Frieser, Karl-Heinz: Blitzkrieg-Legende, (4. Auflage,) München, 2012. S. 372
42 Zit. n. Frieser, Karl-Heinz: Blitzkrieg-Legende, (4. Auflage,) München, 2012. S. 372
43 Zit. n. Frieser, Karl-Heinz: Blitzkrieg-Legende, (4. Auflage,) München, 2012. S. 369
44 Hitler überlässt v. Rundstedt damit die Entscheidung, wann die Panzerverbände weiter vorrücken dürfen.
45 Zit. n. Frieser, Karl-Heinz: Blitzkrieg-Legende, (4. Auflage,) München, 2012. S. 372
46 Dabei muss erwähnt werden, dass zwar große Teile der franz. Armee bei Dünkirchen eingekesselt war, aber dennoch noch ein beträchtlicher Teil sich im Süden auf eine Verteidigung von Paris vorbereitete.
- Citar trabajo
- Maximilian Strobel (Autor), 2020, Die Schlacht von Dünkirchen. Wer trägt die Verantwortung für den "Haltbefehl"?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1317907
-
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X.