Dieses Essay geht der Frage nach, ob und inwiefern die Covid-19-Pandemie jene Umstände für ein Erstarken der autoritären Persönlichkeit generiert. Hierzu wird zunächst Fromms Theorie der autoritären Persönlichkeit in ihren wesentlichen Aspekten vorgestellt. Im nächsten Schritt werden drei Eigenschaften der Pandemie analysiert, die eine Entwicklung der autoritären Persönlichkeit begünstigen könnten: Bedürfnisunterdrückung, Machtlosigkeit und soziale Entfremdung.
Diese Abhandlung erhebt dabei nicht den Anspruch, die autoritäre Persönlichkeit in der Gesellschaft empirisch zu diagnostizieren. Auch können die einzelnen Argumente aufgrund des begrenzten Rahmens nicht erschöpfend behandelt werden. Vielmehr sollen mögliche Prozesse identifiziert werden, die Fromms Genese der autoritären Persönlichkeit entsprechen könnten, wie auch jene, die dieser Analyse widersprechen.
Die Covid-19-Pandemie als Nährboden für die autoritäre Persönlichkeit
Mit seiner Konzeption der autoritären Persönlichkeit leistet Fromm einen bedeutenden sozialpsychologischen Beitrag zu der Autoritarismusforschung, die in den 1930er Jahren durch das Frankfurter Institut für Sozialforschung angestoßen wurde. Die gesellschaftlichen Umstände, die Fromm für die Entwicklung der autoritären Persönlichkeit verantwortlich macht, sind zeitlos. Sie geben Anlass, auch in der heutigen Gesellschaft dahingehende Tendenzen zu hinterfragen.
Dieses Essay geht der Frage nach, ob und inwiefern die Covid-19-Pandemie jene Umstände für ein Erstarken der autoritären Persönlichkeit generiert. Hierzu wird zunächst Fromms Theorie der autoritären Persönlichkeit in ihren wesentlichen Aspekten vorgestellt. Im nächsten Schritt werden drei Eigenschaften der Pandemie analysiert, die eine Entwicklung der autoritären Persönlichkeit begünstigen könnten: Bedürfnisunterdrückung, Machtlosigkeit und soziale Entfremdung. Diese Abhandlung erhebt dabei nicht den Anspruch, die autoritäre Persönlichkeit in der Gesellschaft empirisch zu diagnostizieren. Auch können die einzelnen Argumente aufgrund des begrenzten Rahmens nicht erschöpfend behandelt werden. Vielmehr sollen mögliche Prozesse identifiziert werden, die Fromms Genese der autoritären Persönlichkeit entsprechen könnten, wie auch jene, die dieser Analyse widersprechen.
Die autoritäre Persönlichkeit stellt laut Fromm eine Charakterstruktur dar, die sich aufgrund der gehemmten Selbstentfaltung eines Menschen ausbildet. Seine Strukturierung der menschlichen Psyche ist dabei an Freuds Drei-Instanzen-Modell angelehnt (vgl. Fromm 1987, S. 81). So ist das Es jener unbewusste Träger der Persönlichkeit, der Triebe, Emotionen und grundlegende Bedürfnisse umfasst. Das Über-Ich verkörpert die moralische Instanz. Die gesellschaftliche Wertestruktur, zunächst von den Eltern nahegelegt, verankert sich im Über-Ich und wird verinnerlicht (vgl. ebd. S. 84). Das Ich hat wiederum die Funktion, die Triebe des Es zu verdrängen oder zu befriedigen und gleichsam die Gebote sowie Verbote des Über-Ichs zu navigieren (vgl. ebd. S. 81). Es dient also zur Bewältigung der Konfrontation zwischen dem Inneren eines Menschen und der gesellschaftlichen Außenwelt (vgl. ebd. S. 94).
Es ist die Entfaltung des Ichs, die darüber entscheidet, ob eine Entwicklung der autoritären Persönlichkeit erforderlich ist oder überwunden werden kann. Eine gesunde Ausprägung des Ichs impliziert, dass ein Mensch angstfrei und ungehemmt in Verbindung mit seiner Gesellschaft steht. Dieser Mensch nimmt aktiv Einfluss auf seine Umwelt und fühlt sich fähig, Herausforderungen eigenständig zu bewältigen (ebd. S. 102 f.). Der sogenannte „reife Mensch“ (Fromm 1968, S. 132) begreift sein Umfeld und weiß sich in dieses einzugliedern. Er steht sowohl gefühlsmäßig als auch geistig im Einklang mit seinem Kontext.
Im Gegensatz dazu tritt die autoritäre Persönlichkeit auf, wenn der Mensch in seiner Entwicklung eingeschränkt wurde und infolgedessen nicht in der Lage ist, ein Leben in Freiheit und Unabhängigkeit selbstständig zu bewältigen (vgl. Fromm 1968, S. 132). Dies geschieht beispielsweise, wenn das gesellschaftliche System so komplex oder unzugänglich erscheint, dass der Mensch seinen Platz innerhalb der Gesellschaft nicht finden kann und sich somit isoliert wähnt (vgl. Fromm 1987, S. 123). Auch wird ihm nicht ermöglicht, seine Bedürfnisse und Triebe zu befriedigen. Dieses Gefühl der Einsamkeit und eigenen Unzulänglichkeit kann dieser Mensch nicht bewusst ertragen. Daher flüchtet er in ein Autoritätsverhältnis, das seine Ich- Schwäche kompensieren soll. Die autoritäre Persönlichkeit setzt sich einerseits durch das masochistische Bedürfnis, sich einer anderen Autorität zu unterwerfen und andererseits durch den sadistischen Wunsch, jemand anderen zu beherrschen, zusammen (vgl. Fromm 1968, S. 132). Während sich der masochistische Charakter einer Autoritätsperson unterwirft und seine eigene Unzulänglichkeit durch die Teilhabe an etwas vermeintlich Größerem kompensiert, verdrängt der sadistische Charakter seine Einsamkeit durch die Vereinnahmung der unterworfenen Person. Diese Dynamik basiert nicht auf der rationalen Einschätzung des anderen, sondern findet auf einer irrationalen und emotionalen Ebene statt (vgl. Fromm 1968, 133 f.). Beide sind gleichermaßen voneinander abhängig. Fromm konzentriert sich im Verlauf seiner Arbeit vor allem auf die Neigung zur Unterwerfung. Im Zuge der Unterwerfung entäußert sich der masochistische Mensch in der Macht der Autorität (vgl. Fromm 1987, S. 123). Das bedeutet, er verinnerlicht die Werte der Autorität in seinem Über-Ich und projiziert gleichsam seine eigenen Ideale auf die Autorität zurück. Das Autoritätsverhältnis kann hiermit nicht allein auf Zwang basieren, sondern trägt vielmehr stets ein freiwilliges Moment in sich. Der*die Unterworfene fürchtet nicht die Strafe der Autorität, sondern den Verlust ihrer Anerkennung (vgl. ebd. S. 96).
Die Familie sieht Fromm dabei als „Sozialisationsagentur“ an, bei der die Eltern durch Erziehung und Vorbildfunktion die gesellschaftlichen Werte verkörpern (vgl. Oesterreich 1996, S. 32). Somit stellt die Familie eine ursprüngliche Form des Autoritätsverhältnisses dar, ist jedoch selbst durch die Gesellschaft geprägt. Aus seiner Konzeption der autoritären Persönlichkeit geht hervor, „daß Fromm einen äußerst engen Zusammenhang von Persönlichkeit und Gesellschaftsform annimmt“ (Parge 1997, S. 60). Er begreift den Menschen letztendlich als Produkt seines Umfeldes (vgl. Fromm 1980, S. 16). So bestimmt die Gesamtgesellschaft stets das Minimum und Maximum der persönlichen Entfaltung (vgl. Fromm 1987, S. 102).
Fromm nimmt an, dass sich die sado-masochistische Triebstruktur in der Gesellschaft mit der steigenden Anzahl von Katastrophen verbreitet (vgl. Fromm 1987, 121 f.). Im Zuge der Covid-19-Pandemie kam es zu tiefgreifenden Einschnitten in das gesellschaftliche Leben.
Wie verhält es sich mit der Entwicklung der autoritären Persönlichkeit in Zeiten einer Krise, die die Alltagsstruktur der gesamten Gesellschaft verändert? Inwiefern tragen diese veränderten Umstände zu einem Erstarken der autoritären Persönlichkeit bei?
Mit den zur Eindämmung der Ansteckung vorgesehenen Lockdowns ging eine unweigerliche Einschränkung des öffentlichen wie privaten Lebens einher. Fromm zufolge wird Autorität allerdings umso relevanter, je größer die Bedürfnisunterdrückung ist (vgl. Fromm 1987, S. 97). Während manche Bedürfnisse im Zuge der Abstimmung mit dem sozialen Umfeld abkömmlich sind, gibt es andere, die als „unentbehrliche Teile der menschlichen Natur“ (Parge 1997, S. 68) gelten. Diese umfassen Essen, Schlaf, Selbsterhalt sowie die Vermeidung von Einsamkeit. Im Rahmen der Pandemie wurde von den Bürger*innen gefordert, zwei dieser Grundbedürfnisse miteinander zu konfrontieren: Die Vermeidung von Einsamkeit und das Bedürfnis, sich selbst zu erhalten. Unter den neuen Umständen musste plötzlich das Risiko abgewogen werden, die eigene Familie zu sehen oder sich einer potenziellen Ansteckung auszusetzen. Darüber hinaus verstärken sich beide Bedürfnisse gegenseitig. Das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit vergrößert den Wunsch nach Zugehörigkeit (vgl. Parge 1997, S. 69). Auch ist die Selbstentfaltung innerhalb der Gesellschaft nur möglich, wenn die elementaren Bedürfnisse ihrer Mitglieder weitestgehend erfüllt sind (vgl. Inglehart und Welzel 2005, S. 139). Selbstentfaltung, und damit die Stärkung des Ichs, konnte demnach während der Restriktionen nicht im gleichen Maße ausgeübt werden, wie es normalerweise möglich gewesen wäre. Die Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse sowie die eingeschränkten Entfaltungsmöglichkeiten des Ichs in der Krise können daher als erste Aktivatoren der autoritären Persönlichkeit agieren.
Zur Ausbildung und zum Erhalt eines starken Ichs ist es ebenso wichtig, auf seine Umgebung aktiv Einfluss üben zu können. Fromm bezeichnet es als „aktive Solidarität mit allen Mitmenschen und sein spontanes Tätigsein, Liebe und Arbeit, die ihn wieder mit der Welt einen“ (Fromm 1980, S. 35). Auch dies war durch die Beschränkungen während der Pandemie nur bedingt möglich. Gefordert waren vielmehr ein passives Verhalten, ein Sich-Zurücknehmen sowie die Abgrenzung von dem persönlichen Umfeld, um eine Ansteckung zu vermeiden. Darüber hinaus ist die Pandemie ein Prozess, in dem das Individuum sich zwar selbst weitestgehend schützt, jedoch nur sehr begrenzt auf die Verbreitung der Krankheit Einfluss üben kann. Auch sind staatlichen Regierungen sowie der Medizin selbst Grenzen bei der Gewährleistung von Schutz vor dem Virus gesetzt (vgl. Demirovic et al. 2021, S. 17). Fromm schrieb: „Je geringer die Macht der Gesellschaft einer gefährlichen und bedrohenden Natur gegenüber ist, desto größer ist die Angst vor dieser“ (Fromm 1987, S. 103). Eine gewisse Angst ist in der Coronakrise notwendig, um die Bürger*innen zur Vorsicht zu bewegen. Gerade diese Angst birgt jedoch das Potenzial, die Entfaltung des Ichs zu hemmen. Die Unkontrollierbarkeit der Ausbreitung des Virus sowie die eigene Unwirksamkeit können zuweilen zu Gefühlen der Ohnmacht und Machtlosigkeit führen, aus denen ein Mensch mit einem schwach ausgebildeten Ich zu fliehen versucht. Um ein Gefühl der Kontrolle zu erlangen, scheint es naheliegend, die eigene Machtlosigkeit durch die Teilhabe an einem Autoritätsverhältnis zu kompensieren.
Ebenso könnte dieses Verlangen nach Kontrolle bei Demonstrationen gegen den Status quo befriedigt werden (vgl. Pantenburg et al. 2021). Die Entwicklung der „Querdenker“-Bewe- gung lässt vermuten, dass es eine Gruppe von Menschen gibt, die sich von der öffentlichen Meinung der Gesellschaft abwenden und gegenläufig aktiv werden möchte. Anstelle eine legitime, also im Sinne Fromms, rationale Autorität beispielsweise in der Wissenschaft zu finden, wenden sich einige Anhänger der Bewegung an vermeintliche Gegenexpert*innen (vgl. ebd.). Außerdem spielt die gefühlsmäßige Dimension bei der Beurteilung der Coronamaßnahmen eine den wissenschaftlichen Fakten übergeordnete Rolle (vgl. ebd.). Daraus folgt, dass die Mehrheit der Bevölkerung seitens der „Querdenker“ als fehlinformiert erachtet wird. Gerade dies führt jedoch zu einem sozialen Graben innerhalb der Gesellschaft, der die für die Entwicklung des Ichs notwendige Verbundenheit mit seinen Mitmenschen erschwert. Das gegenseitige Misstrauen, das sich aus dem Potenzial der gegenseitigen Ansteckung ergibt, wird nun durch die Uneinigkeit über das grundlegende Verständnis der pandemischen Realität ergänzt (vgl. Lindemann 2020, S. 257). Nicht zuletzt verstärkt die Pandemie selbst die sozialen Unterschiede. So verursacht die Ansteckung mit dem Virus zwar eine körperliche Egalität, die aus den Beschränkungen resultierenden Schäden betreffen die Bürger*innen allerdings in sehr unterschiedlichem Ausmaß (vgl. Brand et al. 2021, S. 5). Personen mit niedrigem Einkommen litten beispielsweise besonderes stark unter wirtschaftlichen Einbußen (vgl. Corona verstärkt die Ungleichheit). So ergeben sich große Unterschiede nicht nur in der Bewältigung, sondern auch in der Wahrnehmung der Krise.
Die Covid-19-Pandemie sowie die Maßnahmen zu deren Eindämmung schaffen also ein Umfeld, in dem die Entstehung der autoritären Persönlichkeit begünstigt zu werden scheint. Die mangelnden Mitgestaltungsmöglichkeiten sowie die erforderliche Bedürfnisunterdrückung treffen vor allem jene, die auch von der sozialen Spaltung besonders beeinflusst sind. Um dieser Einsamkeit und Ohnmacht zu entkommen, könnten jene ihre Zugehörigkeit in einer Person oder Bewegung suchen, die sie als Revolte gegen die vermeintlich unzugängliche Gesellschaft idealisieren.
Allerdings ist die physische Isolation nicht automatisch der Grund für eine seelische Einsamkeit. Fromm hebt hervor, dass selbst ein isolierter Mensch sich mit der Gesellschaft verbunden fühlen kann (vgl. Fromm 1980, S. 22). Die neuen Möglichkeiten medialer Kommunikation gewährleisten es zudem, dass sich das „kommunikative Geschehen [...] immer mehr von der körperlichen Anwesenheit [entkoppelt]“ (Dickel 2020, S. 81). Wenn sie auch nicht in gleichem Maße wirksam ist, so kann die Vernetzung, die sich während der Pandemie avanciert hat, das Gefühl der Einsamkeit zumindest eindämmen. Der Zugehörigkeits- und Gemeinschaftssinn wird zudem verstärkt, wenn die Gesellschaft gegen einen gemeinsamen Feind beziehungsweise eine Naturgewalt kämpft (vgl. Fromm 1980, S. 23). Es besteht demnach die Möglichkeit, dass die gemeinschaftliche Aufgabe der Eindämmung des Virus‘ ein Gefühl der Solidarität entstehen lässt, die ohnehin regelmäßig als Stichwort in der Pandemie galt. Dass auch die Zivilgesellschaft weiterhin gestalterisch aktiv war, zeigt sich durch die sofortige Mobilisation ehrenamtlicher Initiativen, Vereine und Nachbarschaftshilfen (vgl. Springer 2020, S. 168). Eben diese „Aktive Solidarität“ mit den Mitmenschen führt zu einem neuen Gemeinschaftssinn und somit zu einer Miteinbeziehung in die Gesellschaft (vgl. Parge 1997, S. 71). Unabhängig gegenläufiger Tendenzen hat sich der Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft durch die Pandemie hinweg als konstant erwiesen (vgl. Brand et al. 2021, S. 5). So hat die Pandemie „durchaus das Potenzial, das Vertrauen der Menschen in ihre gemeinsame Handlungsfähigkeit zu stärken“ (Krause et al. 2020, S. 23). Eben dies sind wichtige Voraussetzungen für das aktive Tätigsein aus Liebe und Verbundenheit, das Fromm als die Essenz des reifen Menschen begreift.
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- Citation du texte
- Anonyme,, 2022, Die Covid-19-Pandemie als Nährboden für die autoritäre Persönlichkeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1312832
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