Meads Versuch, den komplizierten Prozess der Identitätsbildung zu beschreiben und diesen auf die dringenden sozialwissenschaftliche Fragen hin anwendbar zu machen, stellt eine beispiellose Leistung dar.
Ihm gelang damit nicht nur die Verknüpfung von individuellem und sozialem Handeln, sondern auch die Bewusstmachung der Qualitätsstufen dieses Prozesses. Das Individuum steht der Gesellschaft gegenüber wie der Mikro- dem Makrokosmos. Beide sind voneinander abhängig und lassen demzufolge Rückschlüsse aufeinander zu. Indem Mead nun den biologischen Entwicklungsprozess mit dem gesellschaftlichen vergleicht und ersteren damit ergänzt bzw. erweitert, können nun auch allgemeine menschliche individuelle Bedürfnisse und Handlungsmuster mit den gesellschaftlichen verglichen und in Beziehung gesetzt werden. Das qualitative Verständnis gegenüber gesellschaftlichen Prozessen, die durch das Individuum erzeugt werden, aber auch auf selbiges einwirken können, kann so besser vermittelt werden. Wenn es also darum geht, Lösungen für gesellschaftliche Konflikte zu finden, sind genau diese Rückschlüsse wichtig. Denn der Mensch ist aufgrund seiner Intelligenz in der Lage, sein Verhalten nach objektiven und auch subjektiven Gesichtspunkten zu erkennen, zu unterscheiden und schließlich zu reflektieren.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Meads sozialwissenschaftliche Einordnung
2.1. Biographie
2.2. Meads Sozialpsychologie und Zeitphilosophie
2.3. Bedeutung von Meads Arbeit
3. Meads Identitätsbegriff
3.1. Erfahrung
3.2. Sprache - Kommunikation - Kultur
3.3. I-me-Dialektik
3.4. Phasen der Identitätsbildung: Spiel und Wettkampf
3.5. Identität. Ein Spiegel der Gesellschaft?
4. Fazit
Literaturverzeichnis
1. EINLEITUNG
Der Sozialpsychologe und Philosoph George Herbert Mead (1863-1931) repräsentiert auf sehr anschauliche Weise den inneren Konflikt derer, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geboren, nach christlichen Grundsätzen erzogen sowie innerhalb des aufstrebenden Bürgertums aufgewachsen sind und die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit einem gigantisch und rasant ausbreitenden, allgemeinen Fortschritt konfrontiert sahen.
Grundsätzlich jedoch resultiert dieser Konflikt aus einem Ereignis, dessen Schlüsselerlebnis die besagte Generation sowie das allgemeine Weltbild verändern sollte: Darwins Evolutionslehre und sein Buch „Von der Entstehung der Arten". Dieses revolutionäre Buch erschien 1859, vier Jahre vor Meads Geburt, und verwirrte die westliche, christliche Welt bis auf die Grundmauern. Plötzlich hatte sich das Weltbild verändert und damit auch das des Menschen. Dieser, nun von allen Fesseln des christlichen Schöpfungsmythos befreit, erkannte die ihm innewohnende Individualität. Mit dem Verlust der aristokratischen Vormachtstellung und damit auch der von Gott gelangte der Mensch ins absolute Zentrum der wissenschaftlichen Betrachtung. Der wirtschaftliche Aufschwung verschaffte dem aufgeklärten Bürgertum schließlich auch die politische Macht, sich gegen die Doktrin der Kirche zu stellen. Letztlich waren diese historischen Voraussetzungen verantwortlich für die Entstehung des Identitätsbegriffs. Diese fortschreitende Individualisierung und die zum Teil radikalen gesellschaftlichen Veränderungen erforderten dringend neue Sichtweisen und Lösungen. Die Vorherrschaft der Kirche über Bildung und Wissen wurde von den neuen Zentren wissenschaftlicher Forschung abgelöst. Doch genau diese Entwicklung machte vielen Menschen, aber auch Gelehrten und Wissenschaftlern Angst, denn der Mensch stand erst am Anfang eines intensiven und schwierigen Bewusstseinsprozess.
Wie sollte er diesen ohne den Glauben bewerkstelligen? War die Menschheit überhaupt bereit, den Glauben allein aus sich selbst zu schöpfen? Würde der Verstand dann noch in der Lage sein, das Leben in seiner unendlichen Gesamtheit zu begreifen, ohne psychisch daran zugrunde zugehen?
Die Philosophie hatte bereits mit Beginn der Aufklärung immer wieder versucht, Wissenschaft und Glauben so miteinander zu verknüpfen, um funktionierende christliche Wertvorstellungen in das neue Zeitalter hinüber zu retten. Ob David Hume, George Berkley, Gottfried Wilhelm Leibnitz oder Immanuel Kant, sie alle erkannten die fatale Erkenntnis, dass Gott verschwinden würde, sobald der Verstand das Individuum gesellschaftlich befreit. Doch der Verlust des Glaubens und das damit verbundeneInfragestellen christlicher Werte erschreckte sie mehr als die Vorstellung, dass jeder Einzelne und damit auch eine Gesellschaft für sich selbst verantwortlich ist.
Auch George Herbert Meads wissenschaftlicher Ansatz verfolgt eine Verknüpfung von christlichen Wertvorstellungen und sozialpsychologischen Fakten. So stelle sich laut Joas bei ihm die zentrale Frage: „wie die moralischen Werte eines sozial engagierten amerikanisch-protestantischen Christentums ohne überholte theologische Dogmatik und jenseits der Enge puritanischer Lebensführung bewahrt werden könnten.“1 Soziale Probleme wurden immer öfter in politische Diskussionen miteinbezogen, da man innerhalb dieser Problemkreise nach Ansätzen für langfristige Lösungen suchte. Letztlich entwickelte sich daraus eine der Hauptaufgaben der Sozialwissenschaft: der Rückschluss vom Sozialverhalten des Einzelnen auf das der gesamten Gesellschaft und vice versa.
In Meads Interesse lag es zu beweisen, dass „der sich selbstbewusste Mensch die gesellschaftlichen Haltungen verinnerlicht (habe) und diese zu den aktuellen gesellschaftlichen Problemen in Beziehung setzen bzw. daraus Schlüsse und Lösungen ziehen (könne)“2. Der Mensch ist demnach in der Lage, sein Verhalten der jeweiligen Gesellschaft bzw. Gruppe, derer er angehört, anzupassen. Dies sei nur möglich, „weil es einen gesellschaftlichen Prozess gibt, in dem es („das menschliche Wesen“) verantwortlich funktionieren kann.“3
Doch wie sieht dieser Prozess genau aus? Wie entsteht eine Identität - aus sozialwissenschaftlicher Perspektive gesehen? Und inwieweit muss Meads Identitätsbegriff heute aktualisiert und gegebenenfalls angepasst werden?
2. Meads sozialwissenschaftliche Einordnung
Mead ist in erster Linie Philosoph und Sozialpsychologe. Seine Arbeit stützt sich auf vier wesentliche Strömungen: Darwin, die empirische Psychologie des 19. Jahrhundert, die Mathematik und die Relativitätstheorie. Er selbst gilt als einer der wichtigsten Vertreter des amerikanischen Pragmatismus und der Chicagoer Schule. „Kernbereich seiner wissenschaftlichen Tätigkeit bis zum Krieg war die Erarbeitung einer anthropologischen Kommunikationstheorie und einer darauf fußenden Sozialpsychologie, die Meads klassischen Rang in der Geschichte von Soziologie und Sozialpsychologie begründen.“4 Für die Soziologie ergab sich Anfang des 20. Jahrhunderts neben der Aufgabe, die sozialen und gesellschaftlichen Widersprüchen sowie den damit verbundenen Auseinandersetzungen zu problematisieren, die Kernfrage, wie sich ein autonomes Selbst herausentwickeln könne.5 Meads Arbeiten sollten hierfür nicht nur ein wichtiges Instrument liefern, sondern auch den Identitätsbegriff bis in unsere Zeit hinein prägen.
2.1. Biographie
George Herbert Mead wurde am 27.August 1863 in South Hadley, Massachusetts geboren. Er wuchs in einem philosophisch interessierten und gebildeten Pfarrhaus auf. „Meads Ausbildung fällt in eine Zeit, in der naturwissenschaftliche Inhalte sich einem größeren Platz im religiös dominierten Unterricht amerikanischer Colleges verschaffen konnten, dabei aber in Konflikt mit demagogischen Welterklärungsansprüchen der Religion gerieten.“6 Wie sein Vater, ein Professor für Homilektik7, strebte Mead nach der Schule ebenfalls eine akademische Laufbahn an. Er begann sein Studium an der Harvard University, wo er sich auf physiologische Psychologie spezialisierte. Sein besonderes Interesse für „die Psychologie der frühen moralischen Entwicklung des Kindes und für eine über Kant hinausgehende Erforschung von Raumwahrnehmung und Raumkonstitution“8 führte ihn schließlich für einen Studienaufenthalt nach Leipzig. Von 1888 bis 1889 studierte er unter anderem bei Wilhelm Wundt (1832-1920), bevor er nach Berlin wechselte.
In Deutschland hatte Mead die Gelegenheit, sich mit der Arbeit verschiedenster wichtiger Vertreter der sich im Entstehen befindenden wissenschaftlichen Disziplin Soziologie wie Wilhelm Dilthey (1833-1911), Hermann Ebbinghaus (1850-1909), Gustav Schmoller (1838-1917) auseinanderzusetzen und hier konnte er sich auch mit jener klassisch deutschen Philosophie und Literatur befassen, die sich im Zuge der Aufklärung zunehmend mit dem einzelnen Menschen, dessen individuellen Bedürfnissen und sozialen Handlungen beschäftigt hatte. „Die deutsche Reaktion auf die Aufklärung führte bei Herder, Humboldt und in der Romantik zu einer Anthropologie des Ausdrucks, die zunächst Sprache und Kunst, dann aber alles menschliche Handeln als Selbstausdruck einer Person zu deuten erlaubt.“9
1891 kehrte Mead in die USA zurück, wo er den amerikanischen Philosophen John Dewey (1859-1952) kennen lernte und in der von ihm gegründeten Chicagoer Schule mitwirkte. Als der Student Charles W. Morris (1903-1979) Meads theoretischen Ansatz auf der Basis von Vorlesungsmitschriften 1934 als Buch (Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist) herausbrachte, konnte Mead dazu leider nichts mehr beitragen oder sich der Diskussion stellen. Er war bereits am 26. April 1931 verstorben.
2.2. Meads Sozialpsychologie und Zeitphilosophie
Bevor wir auf Meads Theorie der Entstehung von Identität genauer eingehen können, muss zunächst ein wesentlicher Aspekt seiner Arbeit vorausgestellt werden: nämlich die Zeit. „Meads Philosophie der Zeit ist demnach eine Philosophie der Gegenwart (Philosophy of the present), die in der zentralen These kulminiert, „daß Realität in einer Gegenwart existiert“.“10
Die Zeit spielt jedoch nicht nur in Meads wissenschaftlichen Arbeiten eine große Rolle, sondern in der gesamten wissenschaftlichen Welt und gilt als Schlüssel zum Verständnis über das Leben, den Menschen und die Welt. Nachdem das durch Galileo Galilei (1564- 1642) und Isaac Newton (1642-1727) geprägte Weltbild, wonach Raum und Zeit ewig, absolut und unveränderlich seien, lange Zeit als unumstößlich galt, veränderte sich alles ab dem Moment, als Albert Einstein 1905 seine Relativitätstheorie veröffentlichte. Diese fasst seine revolutionäre Entdeckung in einer ’relativ’ kurzen Formel zusammen: E mc , deren Aussage die Zeit als veränderlich beschreibt. Nicht nur das: Einstein fügte die Zeit als vierte Dimension des Raumes hinzu und erkannte, dass deren Wahrnehmung vom Bewegungszustand des Wahrnehmenden abhängig ist. Dies „hatte zur Folge, dass nicht mehr von einem absoluten Raum und einer absoluten Zeit, sondern von einem vier-dimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum auszugehen war.“11
Wenn es nun darum geht, eine Handlung zu definieren und deren Struktur aufzuzeigen, geschieht dies im Zusammenhang mit der Zeit. Der Mensch nimmt seine Umwelt zunächst einmal in Raum und Zeit wahr. Da diese Wahrnehmung ihm angeboren und noch vor jeglicher Bewusstmachung einzelner Erfahrungen gegeben ist, ist eine spezifische Handlung nur aufgrund ihres Ablaufes in Zeit und Raum als solche zu erkennen. Ohne die Wahrnehmung von Zeit und Raum, die allen Menschen gleich ist, wäre Kommunikation und damit die Entwicklung von Sprache nicht möglich. „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehören zu einem Ablauf, welcher durch das Ereignis zeitliche Struktur erhält (...).“ Diese konkrete Wahrnehmung von Zeit ließ für Mead nur einen Schluss zu, dass das Verhalten des Menschen bewusst sei. Demnach seien auch die menschlichen Erfahrungen zeitlich strukturiert, „denn die reine Kontinuität bedarf eines Bruches, damit sie als Kontinuität überhaupt erfahrbar wird“12. „Meads Auffassung vom „Bewusstsein“ als „Leben“, das dem Sozialen im Sinne vom Gegebenen in der Vergangenheit wieder neu abgerungen wird, ist gleichzeitig ein Plädoyer für die Biologie als Grundlage für die Wissenschaft vom Individuum in Abgrenzung zur Newtonschen Mechanik.“13
Dieser Grundgedanke setzt eine Erläuterung des Begriffs der Perspektive voraus. In der Wissenschaft besonders der Erkenntnistheorie unterscheidet man zwischen der Erste- Person-Perspektive (EPP) und der Dritte-Person-Perspektive (DPP). Die EPP ermöglicht die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und entgegen der objektiven Außenposition der DPP kann nur aus ihr heraus die Frage nach der individuellen Handlungsabsicht vollständig analysiert werden.14 Aber nicht nur das Individuum kann unterschiedliche Perspektiven einnehmen, auch die Umwelt als Raum-Zeit-Erfahrung besteht aus verschiedenen Perspektiven. „Die Natur ist in Perspektiven gegliedert; sie ist nach Entdeckung der Relativitätstheorie „in Begriffen von überschneidenden Zeitsystemen“ zu denken.“15 Die „unbegrenzte Anzahl möglicher Gleichzeitigkeiten jedes Ereignisses mit anderen Ereignissen“ habe „unbegrenzt viele zeitliche Ordnungen derselben Ereignisse“ zur Folge, wodurch die „Gesamtheit der Ereignisse in unendlich viele verschiedene Perspektiven“16 eingeordnet sei. Perspektive als objektives Strukturgebilde ist ein wesentlicher Teil der Sozialität, die laut Mead die Fähigkeit darstelle, mehrere Dinge gleichzeitig zu sein.
2.3. Bedeutung von Meads Arbeit
Dass Mead zu Lebzeiten weder ein Buch zu seinem theoretischen Ansatz geschrieben, noch sich selbst als Soziologe betrachtete, ist entscheidend für seine heutige Bedeutung. Über den Kreis seiner Schüler hinaus war er praktisch nicht bekannt und er hat auch nie systematisch eine Theorie als solche entwickelt17. Jedoch nach Veröffentlichung seiner Aufzeichnungen, da war die Chicagoer Schule auf dem Höhepunkt ihres Einflusses, wurden seine Ausführungen zum Identitätsbegriff immer wichtiger für weiterführende soziologische Betrachtungen.
Seine These über die Entstehung von Identität stützt sich auf die Annahme, dass durch Sprache, Kommunikation und der Wechselbeziehung von Spiel (play) und Wettkampf (game) in der frühzeitlichen Entwicklung des Kindes einen Denkprozess in Gang gesetzt wird, der über einen zeitlichen Ablauf hinweg die Identität formt. Mead versuchte damit auch einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung individueller Identität und sozialer Gesellschaftsstrukturen herzustellen.
[...]
1 Joas, 2000/ S.172
2 Mead, 1978
3 ebd./ S. 233
4 Joas In: Kaessler, 2006/S. 173 174
5 Jungwirt, 2007/ S. 103
6 Joas In: Kaessler, 2006/ S.172
7 Theorie und Geschichte der Predigt
8 ebd.
9 Joas, 1993/S. 293
10 Wagner, 1993/S. 63
11 ebd./S. 53
12 ebd./S. 60
13 Jungwirt, 2007/ S. 108
14 Freud, 1923
15 Wagner, 1993/S. 69
16 ebd./S. 69
17 Jungwirt, 2007/ S. 105
- Quote paper
- Susanne Röver (Author), 2008, Die Kunst, eine Identität zu entwickeln , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/131245
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