Die vorliegende Arbeit zielt auf die Analyse des gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Brasilien und Kolumbien und den daraus resultierenden außenpolitischen Optionen für die beiden Staaten ab. Die behandelten Forschungsfragen lauten: Welche Bedeutung hat eine strategische Partnerschaft mit der kolumbianischen Sekundärmacht für die Konsolidierung und Legitimierung des brasilianischen Führungsanspruchs in der Region? Inwieweit vermag Kolumbien diese Rolle für den eigenen regionalen und globalen Aufstieg im Schatten Brasiliens zu nutzen?
Diese Arbeit gliedert sich in sechs Kapitel plus Fazit. Dabei basiert das methodische Vorgehen auf der Recherche in Primär- und Sekundärquellen, sowie der Verwendung des Regionalmachtkonzepts (regionale Ebene: Regional- und Sekundärmächte) und des
Mittelmachtkonzepts (globale Ebene: Groß- und Mittelmächte).
Das erste Kapitel dient der Einführung in die Thematik, der Relevanz des Themas und der Vorstellung der Fragestellung. Nachdem in diesem Kapitel 2 der Aufbau der Arbeit und das methodische Vorgehen skizziert werden, folgt eine Vorstellung des verwendeten theoretischen und konzeptionellen Rahmens in Kapitel 3. Nach einer Erklärung der hier signifikanten Begriffe "Region", "Macht" und "Führung" bzw. "Leadership" werden die Konzepte der Regional- und Sekundärmächte, für die regionale Ebene, und der Groß- und Mittelmächte für die globale Ebene vorgestellt. Dabei wird u.a. eine von Detlef NOLTE (2006) entwickelte Kriterienliste verwendet, die im Rahmen eines recht umfassenden, analytischen Konzepts zur Identifikation, Analyse und zum Vergleich von Staaten, die den Status einer regionalen Führungsmacht anstreben, entstand.
Der theoretische und konzeptionelle Rahmen dient den darauffolgenden Kapiteln 4 und 5 als Fundament. Dort werden die beiden südamerikanischen Staaten Brasilien und Kolumbien konzeptionell eingeordnet. So fokussiert Kapitel 4 den aufstrebenden Staat Brasilien als Regionalmacht mit Großmachtambitionen. Brasilien wird als regionaler und als globaler Akteur beleuchtet und es wird auf die Frage eingegangen, inwieweit das Land in seiner Rolle innerhalb der Region unter einem Legitimitätsdefizit leidet, welche Gründe dafür bestehen und ob Brasilien eventuell Legitimation durch extraregionale Akteure
hinzugewinnen kann. Anschließend wird die Bedeutung Kolumbiens für die brasilianische Außenpolitik bewertet, bevor in Kapitel 5 Kolumbien selbst als Sekundärmacht mit Mittelmachtambitionen fokussiert wird.
Gliederung
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung, Relevanz des Themas und Fragestellung
2. Methodisches Vorgehen und Aufbau der Arbeit
3. Theoretischer und konzeptioneller Rahmen
3.1 Region, Macht und Leadership in den IB
3.2 Regionale Ebene: Regional- und Sekundärmächte
3.3 Globale Ebene: Groß- und Mittelmächte
4. Brasilien: Regionalmacht mit Großmachtambitionen?
4.1 Konzeptionelle Einordnung Brasiliens
4.2 Brasilien als regionaler Akteur: Regionalmacht mit Legitimitätsdefizit
4.3 Brasilien als globaler Akteur: Legitimation durch extraregionale Akteure?
4.4 Bedeutung Kolumbiens für die brasilianische Außenpolitik
5. Kolumbien: Sekundärmacht mit Mittelmachtambitionen?
5.1 Konzeptionelle Einordnung Kolumbiens
5.2 Entwicklung und Status quo der kolumbianischen Außenpolitik
5.3 Außenpolitische Zielsetzungen der Regierung Juan Manuel Santos
5.4 Bedeutung Brasiliens für die kolumbianische Außenpolitik
6. Strategische Partnerschaft: Kolumbiens Einflussgewinn und Brasiliens Legitimationszuwächse
6.1 Sicherheit: Transnationale Kriminalität und Verteidigungskooperation
6.2 Umweltschutz im Amazonasbecken und internationale Klimapolitik
7. Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abkürzungesverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung, Relevanz des Themas und Fragestellung
Begriffe wie Transnationalisierung, Regionalisierung oder Multipolarisierung haben in den vergangenen Dekaden in akademischen, politischen und medialen Diskursen stetig an Bedeutung gewonnen. Schon vor der Jahrhundertwende hatten einzelne Wissenschaftler eine sich multipolarisierende Weltordnung vorausgesagt - wie z.B. Samuel Huntington (1999:37):
„Global politics has [...] moved from the bipolar system of the Cold War through a unipolar moment [...] and is now passing through one or two uni-multipolar decades before it enters a truly multipolar 21st century."
Die sich abzeichnenden Verschiebungen regionaler oder globaler Machtverhältnisse, der Bedeutungszuwachs einzelner Regionen und Akteure in der Weltwirtschaft und internationalen Politik sowie die Erwartung, dass Konflikte um die Durchsetzung oder Verhinderung regionaler Vorherrschaft in der Zukunft an Virulenz zunehmen, erfordern zunehmend ein umfangreiches Wissen und Verständnis, z.B. für die Entwicklung von außenpolitischen Handlungsstrategien oder für die Identifikation neuer Kooperationsmöglichkeiten (Flemes et al. 2012:11, Flemes/Habib 2009:137).
Nach Fuchs und Gaugele (2010) gab es in der Disziplin der internationalen Beziehungen bisher wenige Themen, die derart im Zentrum intensiv und kontrovers geführter Auseinandersetzungen standen. Verschiedene Autoren beobachten bereits seit einigen Jahren eine stattfindende Multipolarisierung des internationalen Systems (z.B. Birdsall/Fukuyama 2011:52, Flemes 2007, Grimm et al. 2008:7, Nolte 2006, Subacci 2008:1). So werden nicht nur traditionelle Themengebiete, wie Krieg und Frieden, internationale institutionen oder Entwicklungspolitik beeinflusst, sondern auch ganz neue Gegenstandsbereiche erschlossen (vgl. Fuchs/Gaugele 2010, Reinicke/Witte 1999).
Gegenwärtig erfährt dabei insbesondere der Aufstieg sogenannter aufstrebender Staaten (emerging powers) oder neuer Mächte zunehmende Beachtung, da dies nicht nur eine Verschiebung der regionalen und globalen Machtverhältnisse impliziert, sondern, wie einige Experten vermuten, damit einhergehend einen Bedeutungsverlust etablierter Mächte darstellt (vgl. Kappel 2010:15, Subacci 2008:4). Wenn auch in der wissenschaftlichen Diskussion weniger umstritten ist, welche staaten regional und international signifikant an Bedeutung gewonnen haben - nämlich die „üblichen Verdächtigen“ China, Brasilien, Indien, Südafrika und je nach Autor auch Russland1 - konnte bisher kein Konsens über die Bezeichnung und Verortung dieser Staaten gefunden werden. Mit Begrifflichkeiten wie Regionalmächte 2, regionale Führungsmächte bzw. regional great powers, regional powers, Sekundärmächte oder auch secondary regional powers, Ankerländer, Schwellenländer, Großmächte oder Mittelmächte wird versucht, diese Staaten zu benennen und einzuordnen (Flemes et al. 2012:11, Nolte 2006:19).
Je nach Autor, Perspektive und Forschungsansatz werden bei der Bewertung und Einordnung dieser Staaten verschiedene Charakteristika und Merkmale einbezogen. Übereinstimmung gibt es nur in Hinblick auf die Bedeutung von Macht als zentralen zu untersuchenden Faktor. Denn obgleich Macht im internationalen System nun zunehmend weiter gestreut ist, ist sie noch lange nicht gleich verteilt (Subacci 2008:1). In Bezug auf militärische Macht sind die USA weiterhin die einzig verbliebene Supermacht und mithin um eine unipolare Weltordnung bemüht. Erweitert man den Blickwinkel um weitere Dimensionen wie ökonomische, technologische, ideologische oder kulturelle Faktoren, so wird das internationale Machtgefüge wesentlich komplexer und vielschichtiger (Nolte 2006:16). Einige Länder, die zuvor lediglich eine marginale Rolle gespielt haben, sind nun zu wichtigen regionalen und internationalen Akteuren geworden. Dies liegt nicht nur am rasanten wirtschaftlichen Wachstum der vergangenen Jahre dieser ursprünglich als Entwicklungsländer definierter Staaten (Chaturvedi 2010:31). Auch ihre Koalitionsfähigkeit und ihre Bemühungen im Bereich Netzwerkbildung haben dazu beigetragen (Cooper/Mo 2013:1, Evans 2011:7, Flemes 2007b:11). Einigen aufstrebenden Staaten wird zunehmend das Potenzial und die Ambitionen zugeschrieben, die globale ordnung zu beeinflussen und zu verändern. So konnten China oder Brasilien nicht nur innerhalb ihrer Region, sondern auch in weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Fragen an Einfluss gewinnen (vgl. Chaturvedi 2010:29, Kappel 2010:6, Subacci 2008:4). Dies hat sich insbesondere seit dem Ausbruch der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 bemerkbar gemacht, aus der diese Staaten offensichtlich profitieren konnten (Nolte 2012:19). Des Weiteren beteiligen sie sich heute aktiv an der Entwicklung von Normen und Standards der internationalen Sicherheits-, Klima-, Energie- und Entwicklungspolitik. Ihre Ausgaben für Forschung und Entwicklung haben sich in den vergangenen Jahren deutlich erhöht und bewegen sich gegenwärtig nahezu auf globalem Durchschnittsniveau (Costa Vaz/Aoki Inoue 2007a, Kappel 2012b:1f). So übersetzt sich ihr „[...] Zuwachs an ökonomischer und finanzieller Macht [...] auch zunehmend in weltpolitische Handlungsfähigkeit, wie am Bedeutungszuwachs der G20, oder an bereits eingeleiteten Reformen bei Weltbank und beim Internationalen Währungsfonds (IWF) zu erkennen ist“ (epo 2011). Neben der G20 haben verschiedene intergouvernementale Netzwerke aufstrebender Staaten (wie z.B. IBSA, BRICS oder BASIC) in der internationalen Politik an Bedeutung gewonnen. Auch damit haben sich „neue Rahmenbedingungen für die Entwicklung außenpolitischer Strategien zur Einflussnahme auf regionale und globale Verhandlungsprozesse“ entwickelt (GIGA 2014). Auch werden die Forderungen nach mehr (und einem den heutigen globalen Verhältnissen angemessenen) Mitspracherecht in internationalen Institutionen und Regierungsorganisationen beständig lauter und damit einhergehend die Kritik an den oft als veraltet bezeichneten Strukturen in den wichtigsten internationalen organisationen wie im UN-Sicherheitsrat und den Bretton-Woods-Institutionen, Weltbank und Internationaler Währungsfond (IWF) (Destradi 2010:6, Effenberger 2013, Flemes et al. 2011:3).
Unter den genannten Akteuren sticht Brasilien besonders hervor, da das Land heute einerseits innerhalb der Region Lateinamerika und in regionalen Kooperationsbündnissen eine bedeutende Rolle spielt, verstärkt auf seine regionale Führungsrolle besteht und offensichtlich bemüht ist, diese weiter auszubauen. Und andererseits spätestens seit dem Amtsantritt von Luiz Inacio Lula da Silva im Jahr 2003 verstärkt Ambitionen zeigt, seinen globalen Einfluss auszuweiten und als internationaler Akteur anerkannt zu werden. Das Land verfügt zwar nur über begrenzte materielle Ressourcen, schafft es aber zunehmend, nicht nur auf regionaler, sondern auch auf internationaler Ebene Einfluss zu üben (Flemes 2007b:8, Flemes 2009:4). Daher wird Brasilien von einigen Experten auch als sogenannte Mittelmacht bezeichnet.
Der Begriff Mittelmacht beschreibt in den IB Staaten, die aufgrund ihrer begrenzten materiellen Macht (ökonomische und militärische Macht) nicht als Supermacht oder Großmacht eingeordnet werden können, aber dennoch auf regionaler und internationaler Ebene signifikanten Einfluss ausüben. Dies kann u. a. durch Institutionen, Netzwerkbildung und Kooperationen geschehen (vgl. Cooper/Mo 2013:1, Evans 2011:7, Flemes 2007b:11, Nolte 2006:26). Als Mitglied der BRICS, IBSA und BASIC konnte Brasilien in internationalen Zusammenschlüssen, in der G20 und bei der Förderung der Süd-SüdKoordination eine Führungsrolle übernehmen und erhebt Anspruch auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Dieser Spagat zwischen regionaler Führungsrolle und dem Auftreten als Sprachrohr Südamerikas auf globaler Ebene ist besonders interessant und verdient eine nähere Beleuchtung.
Als besondere Herausforderung stellt sich allerdings die fehlende Anerkennung und Akzeptanz der brasilianischen Führungsrolle von Seiten mehrerer Nachbarstaaten heraus (vgl. Ziller/Harig 2012:12f, Hausmann 2008:08f). Fraglich ist, inwieweit das Land den Grad der regionalen Anerkennung und Legitimation durch die Ausgestaltung der eigenen Außenpolitik beeinflussen kann. Beispielsweise könnte die Art und das Maß der Bereitstellung öffentlicher Güter von Seiten der Regionalmacht hier eine wichtige Rolle spielen (SUBACCI 2008). Bisher engagiert sich Brasilien nur in begrenztem Maße: Es wird nur dort investiert, wo es der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung nützt (regionale Infrastruktur, Sicherheit, Stabilität). Die Übernahme wirtschaftlicher Kooperationskosten, z.B. in Form einer Öffnung des eigenen Binnenmarktes, wurde dagegen bisher weitgehend abgelehnt. Anders gestaltet sich die Lage jedoch auf der Diskursebene. Diese zielt auf Konsensbildung und es wird versucht, die Region in bestimmte Entscheidungen einzubinden. So fungiert Brasilien als Agendasetter und Moderator auf regionaler Ebene und ist gleichzeitig darum bemüht, sich als Repräsentant seiner Nachbarstaaten auf globaler Ebene zu etablieren.
„Permanente Dialoge, Konsultationen, Treffen und Absprachen mit den lateinamerikanischen Nachbarn im Rahmen der neuen regionalen Architektur haben Brasilien so zu einem primus inter pares und damit, trotz nach wie vor vorhandener Eifersüchteleien etwa mit Argentinien oder Venezuela, zu einem legitimen Sprecher der Region gemacht“ (Brand et al. 2014:408).
So propagiert Brasilien zunehmend ein lateinamerikanisches Gemeinschaftsgefühl, Demokratie, Menschenrechte und soziale Marktwirtschaft als gemeinsame Werte der südamerikanischen Staaten. Damit kann es nicht nur auf regionaler, sondern auch auf globaler Ebene an Legitimität gewinnen (Flemes 2007b, Flemes/Wehner 2012a:3). Die Beziehungen zwischen den sogenannten regionalen Sekundärmächten Argentinien, Chile, Venezuela und Kolumbien sowie der brasilianischen Regionalmacht bewegen sich auf einem Kontinuum zwischen Konkurrenz und Kooperation (Flemes 2007a:1f, Flemes/Wehner 2012a:3). Sekundärmächte, als neben der Führungsmacht einflussreichste Staaten der Region, spielen eine zentrale Rolle, wenn es um die Anerkennung und Legitimierung des regionalen Führungsanspruchs geht. Auch können diese sektorale oder subregionale Führungsansprüche stellen oder mit der Regionalmacht konkurrierenden Großmächten als Kooperationspartner dienen. Inwieweit ein Land als Sekundärmacht eingeordnet wird, hängt, im Vergleich zu den übrigen Staaten der Region, in erster Linie von seinen Machtressourcen (materiell, institutionell, ideell) ab.
In Südamerika herrscht eine relative Machtsymmetrie zwischen den genannten Sekundärmächten - je nachdem, welche Art von Macht fokussiert wird, kann die Einordnung eines Landes als Sekundärmacht variieren (Flemes/Wehner 2012a:3f). Kolumbien wird bisher, vor allem aufgrund seiner militärischen Macht und seiner Bevölkerungszahl, als südamerikanische Sekundärmacht eingestuft. Im Vergleich mit Brasiliens militärischer Macht ist die Kolumbiens allerdings eher unbedeutend. Brasiliens Militärhaushalt entspricht der Summe der Militärhaushalte aller lateinamerikanischen Sekundärmächte (Argentinien, Chile, Venezuela und Kolumbien). Kolumbien folgt mit erheblichem Abstand auf dem zweiten Rang. Da Südamerika als Friedenszone gilt und militärische Mittel zur Verfolgung außenpolitischer Ziele oder zur Konfliktlösung nicht als legitim angesehen werden, muss die kolumbianische Regierung zur Erreichung ihrer Ziele vor allem auf institutionelle bzw. diplomatische Strategien setzen (Flemes/Wehner 2012b:2). In diesem Zusammenhang strebt Kolumbien heute eine strategische Partnerschaft mit Brasilien an und es stellt sich die Frage, welche Rolle die Beziehungen zur brasilianischen Regionalmacht in der außenpolitischen Strategie Kolumbiens spielen. Die Außenpolitik unter der Regierung von Präsident Juan Manuel Santos deutet darauf hin, dass Bogota zum einen eine regionale Schlüsselrolle anstrebt und zum anderen bereits globale Ambitionen hegt. Dabei wird sich auf bestimmte Politikfelder in besonderem Maße konzentriert - wie z.B. Sicherheits- und Umweltpolitik. Gleichzeitig unterstützt Santos multilaterale Organisationen und Institutionen, wie die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR), den Südamerikanischen Verteidigungsrat (CDS) oder die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), aber auch die International Labour Organization (ILO) und die Weltbank. Daneben werden zunehmend bilaterale Abkommen geschlossen. So weisen mehrere Faktoren darauf hin, dass auch Kolumbien Mittelmachtambitionen hegt (vgl. Flemes 2007b:11, Nolte 2006:26).
Aus brasilianischer Sicht kommt der kolumbianischen Sekundärmacht aus verschiedenen Gründen eine zentrale Rolle bei der Konsolidierung der eigenen Regionalmachtstellung inklusive der Generierung fehlender regionaler Legitimation zu.Das konservativ und wirtschaftsliberal regierte Kolumbien galt in der letzten Dekade als größtes Hindernis der brasilianisch geführten und von einer Politik des dritten Weges inspirierten Kooperationsprozesse in Südamerika, denn:
1. Die engen sicherheitspolitischen Beziehungen Bogotas zu Washington und mithin die US-amerikanische Militärpräsenz in Kolumbien haben lange Brasiliens Status als militärische Vormacht und Stabilitätsgarant Südamerikas untergraben,
2. Kolumbien gilt als treibende Kraft der Andengemeinschaft CAN (Comunidad Andina de Naciones - Kolumbien, Bolivien, Ecuador, Peru) und der Pazifikallianz (Kolumbien, Mexiko, Chile und Peru) und damit einerseits als potenzielles Einfallstor in die konkurrierenden Regionalbündnisse und andererseits als strategisches Bindeglied zu den wachsenden asiatischen Volkswirtschaften (Flemes/Wehner 2012:5).
Aus kolumbianischer Sicht kommt Brasilien heute aus mehreren Gründen eine zentrale Rolle zu. In Bezug auf den eigenen regionalen und globalen Einflussgewinn ist die Regionalmacht für die kolumbianische Regierung ein zunehmend wichtiger strategischer Partner. Zwar können Sekundärmächte wie Kolumbien Einfluss auf die regionale Polarität nehmen, doch ist Brasilien der einzige Staat der Region mit umfangreicher Präsenz auf globaler Ebene und mit der Möglichkeit, die globale Agenda zu beeinflussen. Dies zeigt sich ebenso im sicherheitspolitischen Bereich, wie auch bei Themen wie Umweltschutz und der Klimapolitik, in denen die kolumbianische Regierung zunehmend bemüht ist, auf regionaler und globaler Ebene eine Vorreiterrolle zu übernehmen. Tatsächlich waren bereits einige Erfolge Kolumbiens in diesen Bereichen an die Zusammenarbeit und die Unterstützung von Seiten der brasilianischen Regierung gekoppelt.
So zielt die vorliegende Arbeit auf die Analyse des gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Brasilien und Kolumbien und den daraus resultierenden außenpolitischen Optionen für die beiden Staaten ab, sodass die in dieser Arbeit behandelten Forschungsfragen lauten:
1. Welche Bedeutung hat eine strategische Partnerschaft mit der kolumbianischen Sekundärmacht für die Konsolidierung und Legitimierung des brasilianischen Führungsanspruchs in der Region?
2. Inwieweit vermag Kolumbien diese Rolle für den eigenen regionalen und globalen Aufstieg im Schatten Brasiliens zu nutzen?
2. Methodisches Vorgehen und Aufbau der Arbeit
Diese Arbeit gliedert sich in sechs Kapitel plus Fazit. Dabei basiert das methodische Vorgehen auf der Recherche in Primär- und Sekundärquellen, sowie der Verwendung des Regionalmachtkonzepts (regionale Ebene: Regional- und Sekundärmächte) und des Mittelmachtkonzepts (globale Ebene: Groß- und Mittelmächte).
Das erste Kapitel dient der Einführung in die Thematik, der Relevanz des Themas und der Vorstellung der Fragestellung. Nachdem in diesem Kapitel 2 der Aufbau der Arbeit und das methodische Vorgehen skizziert werden, folgt eine Vorstellung des verwendeten theoretischen und konzeptionellen Rahmens in Kapitel 3. Nach einer Erklärung der hier signifikanten Begriffe „Region“, „Macht“ und „Führung“ bzw. „Leadership“, werden die Konzepte der Regional- und Sekundärmächte, für die regionale Ebene, und der Groß- und Mittelmächte für die globale Ebene vorgestellt. Dabei wird u.a. eine von Detlef NOLTE (2006) entwickelte Kriterienliste verwendet, die im Rahmen eines recht umfassenden, analytischen Konzepts zur Identifikation, Analyse und zum Vergleich von Staaten, die den Status einer regionalen Führungsmacht anstreben, entstand (vgl. NOLTE 2006, FLEMES et al. 2012:11).
Der theoretische und konzeptionelle Rahmen dient den darauffolgenden Kapiteln 4 und 5 als Fundament. Dort werden die beiden südamerikanischen Staaten Brasilien und Kolumbien konzeptionell eingeordnet. So fokussiert Kapitel 4 den aufstrebenden Staat Brasilien als Regionalmacht mit Großmachtambitionen. Brasilien wird als regionaler und als globaler Akteur beleuchtet und es wird auf die Frage eingegangen, inwieweit das Land in seiner Rolle innerhalb der Region unter einem Legitimitätsdefizit leidet, welche Gründe dafür bestehen und ob Brasilien eventuell Legitimation durch extraregionale Akteure hinzugewinnen kann. Anschließend wird die Bedeutung Kolumbiens für die brasilianische Außenpolitik bewertet, bevor in Kapitel 5 Kolumbien selbst als Sekundärmacht mit Mittelmachtambitionen fokussiert wird. An dieser Stelle wird auch Kolumbien konzeptionell eingeordnet, die Entwicklung und der Status quo der kolumbianischen Außenpolitik beleuchtet, sowie die außenpolitische Zielsetzungen der Regierung Juan Manuel Santos identifiziert. Es folgt ein Blick auf die Bedeutung Brasiliens in der kolumbianischen Außenpolitik, um eine Vorstellung über das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis der beiden Staaten zu erhalten.
Die Beziehung zwischen der brasilianischen Regional- und der kolumbianischen Sekundärmacht wird im darauf folgenden Kapitel 6 anhand von zwei Beispielen analysiert. Zunächst werden die Positionen und die Aktivitäten der beiden Staaten im Politikfeld Sicherheit beschrieben, sowie ihr Verhältnis zueinander in Hinblick auf eine mögliche strategische Partnerschaft. Konkret geht es hier um Verteidigungskooperation und den Kampf gegen transnationale Kriminalität, insbesondere im brasilianisch-kolumbianischen Grenzgebiet. Als zweites wird selbiges im Politikfeld Umweltschutz und Klimapolitik beleuchtet. Fokussiert wird hier der Schutz des Amazonasbeckens, Brasiliens und Kolumbiens Engagement in diesem Bereich sowie ihr Verhältnis zueinander in Hinblick auf eine mögliche strategische Partnerschaft.
Im Fazit werden die gewonnenen Erkenntnisse nochmals aufgegriffen und bewertet, inwieweit eine strategische Partnerschaft zwischen den beiden Amazonasstaaten der kolumbianischen Seite Einflussgewinn und der brasilianischen Seite Legitimationszuwächse bescheren kann.
3. Theoretischer und konzeptioneller Rahmen
Bevor die in dieser Arbeit verwendeten Konzepte vorgestellt werden, wird auf die Begriffe Region, Macht und Führung bzw. Leadership eingegangen. Diese sind hier von besonderer Bedeutung, gleichzeitig bergen sie aber auch signifikante Schwierigkeiten, da sie im Bereich der IB sehr unterschiedlich definiert werden (vgl. Nolte 2012:19ff, Glodschei 2011). So führen die verschiedenen konzeptionellen Vorstellungen letztendlich auch zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen empirischer Untersuchungen (ebd.).
3.1 Region, Macht und Leadership in den IB
Während die Untersuchung von Regionen und regionaler Ordnung lange Zeit nur einen relativ kleinen (wenn auch nie unbedeutenden) Part in Theorie und Wissenschaft der IB einnahm, hat diese in den vergangenen Jahren stetig an Bedeutung gewonnen (vgl. Acharia 2007:629, Buzan/W^ver 2003:4, Katzenstein 2005:24). Allerdings gibt es, wie bereits angemerkt, bis heute kein einheitlich anerkanntes Konzept von 'Region'. Wie schon Barry Buzan 1998 feststellte, wird der Begriff bzw. das Konzept der Region zwar häufig genutzt, dafür allerdings nur selten klar definiert (Buzan 1998:68). Auch Louise Fawcett (2004:431), Andrew Hurrell (1995:333), Detlef Nolte und Daniel Flemes (Flemes 2010a:2) weisen auf den fehlenden Konsens und die daraus resultierenden Schwierigkeiten hin. So ist der Begriff der Region für einige Autoren „no more than a geographical reality, usually a cluster of states sharing a common space on the globe” (Fawcett 2004:432). Andere definieren Regionen „in an abstract way without a clear geographic delineation, or their definition is very restrictive, based on the power projection capabilities of states [...]“ (Flemes 2010a:2). T. V. Paul (2012:4) definiert den Begriff Region als „cluster of states that are proximate to each other and are interconnected in spatial, cultural, and ideational terms in a significant and distinguishable manner.” Taliaferro (2012:74) greift diese Definition auf und schlussfolgert, dass eine Region als ein Subsystem innerhalb eines breiteren internationalen (oder zwischenstaatlichen) Systems zu verstehen sei. Nadine Godehardt (2012:53) weist in ihrem Artikel „Regionen und regionale Ordnungen in den Internationalen Beziehungen“ darauf hin, dass auch Louis Cantori und Steven Spiegel bereits im Jahr 1970 Region als ein „Subsystem zwischen dem Nationalstaat und dem dominanten System“ konzeptualisieren. Daniel Flemes und Thorsten Wojczewski (2010:3) stellen die These auf, dass Regionen, vor dem Hintergrund eines sich zunehmend multipolarisierenden internationalen System, „are increasingly constructed more from within than from without, mainly through intraregional interaction.“
Heute steht fest, dass die ausschließliche Betrachtung der geographischen Region für das Regionalmächtekonzept keineswegs ausreichend ist. Es geht vielmehr um einen Handlungsspielraum bzw. das Einflussgebiet, in dem ein Staat Macht ausüben kann, als darum, ein einheitliches Konzept von Region zu finden. politik, Sicherheit und wirtschaftlicher Handel sind wichtige Aspekte, die den Handlungsrahmen und damit das Einflussgebiet einer Regionalmacht signifikant beeinflussen können. So unterstreicht auch Detlef Nolte in seinem Artikel „Regionale Führungsmächte: Analysekonzepte und Forschungsfragen“, dass es bei der Analyse von regionalen Führungsmächten vor allem um die Machtkomponente geht. Machthierarchien und die Ausübung von Macht bzw. von Einfluss stehen dabei im Fokus (Nolte 2012:20). Das Adjektiv regional führt dabei die räumliche Dimension in den Forschungskontext ein, welche vor allem für den Machtbegriff relevant ist. So weist auch Melanie Hanif (2012:115) auf den Begriff Einflussregion hin, da dieser das reflexive Verhältnis von Region und Macht verdeutlicht: „Je größer die Macht (einer regionalen Führungsmacht), desto größer ist 'ihre' Region. Und umgekehrt: Je größer die Region einer regionalen Führungsmacht ist, desto größer ist ihre Macht.“
Der Machtbegriff ist für die Analyse internationaler politik seit jeher zentral. Dennoch besteht auch bezüglich des Konzeptes von Macht wenig Konsens in den IB (Nolte 2006:10). Realistische Ansätze sind „[...] dem zentralen Anspruch verhaftet, dass das Verhalten individueller Staaten im Kern kompetitiv ist und sich am besten in Bezug auf deren gegenseitige Machtverhältnisse erklären lässt“ (Dupré 2013:178). So wird Macht hier weitgehend als Verfügung über materielle Ressourcen definiert (Nolte 2006:10). Zu den materiellen Ressourcen werden neben ökonomischer Stärke und Bevölkerungszahl oft auch Faktoren wie Infrastruktur, Technologie und Energie gezählt. Diese Ressourcen können wiederum in militärische Macht umgewandelt werden (Flemes/Wojczewski 2010:4f). Militärische Stärke stellt in der realistischen Schule die entscheidende Machtressource dar, denn das internationale system wird als anarchisch vorausgesetzt, wonach jeder Staat bei der Wahrung seiner Interessen auf die eigenen Ressourcen bzw. auf Machtakkumulation angewiesen ist (Dupré 2013:178). So prägt Thomas Hobbes' Machtverständnis bis heute weitgehend das Denken über internationale Politik, so HANIF (2012:101). Die Fähigkeit eines Staates/Akteurs, das Verhalten anderer Staaten/Akteure mithilfe seiner militärischen und wirtschaftlichen Ressourcen zu beeinflussen, wird auch als hard power bezeichnet. Hard power setzt auf eine Kombination aus Drohungen, Nötigung und Anreiz. Dies wird oft auch als 'zuckerbrot und Peitsche'- Ansatz bezeichnet (Casanova/Kassum 2013:3).
Dagegen wird die Fähigkeit von Staaten/Akteuren, die Präferenzen anderer Staaten/Akteure durch Anziehungs- und Überzeugungskraft signifikant zu beeinflussen, als soft power bezeichnet. Das Konzept der Soft Power wurde vom amerikanischen Politikwissenschaftler Joseph Nye in Abgrenzung zur Hard Power entwickelt (vgl. Nye 1990, 2004). Dabei grenzt er „soft power nicht nur von militärischer sondern auch von wirtschaftlicher Macht ab, womit wirtschaftliche Macht eine eigenständige Machtkategorie darstellt“ (Nolte 2012:12). So definiert er soft power als „the ability to get what you want through attraction rather than coercion or payments. [...] Soft power [...] co-opts peoples rather than coerces them. Soft power rests on the ability to shape the preferences of others. [...] Simply put, into behavioural terms soft power is attractive power” (Nye 2004:x, 5). Die soft power eines Staates basiert nach Nye (1990:167, 2004:x) ergo vor allem auf der Anziehungs- und Überzeugungskraft seiner Politik, politischen Werte und Kultur. Er versuchte damit, unterschiedliche Formen der Machtausübung zu erfassen und brachte diese in den öffentlichen Diskurs ein (Nolte 2006:12). Damit steht dem Ansatz, Macht nur über Machtressourcen zu definieren, ein Ansatz gegenüber, der „Macht als Beziehung zwischen zwei Akteuren“ definiert (ebd.). Wobei materielle Machtressourcen bei letzterem nur als Rohmaterial betrachtet werden und es stärker auf die Machtbeziehungen ankommt (ebd.:10f). Nyes Konzept der Soft Power ist allerdings bis heute umstritten (vgl. Nolte 2006:12).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Insgesamt kann sich die Anwendung von Macht auf einem Kontinuum zwischen Zwang und Anziehung/Überzeugung bewegen: „State power is the power to coerce with threats, to induce with payments, or to attract or co-opt to do what the persuader wants“ (Treverton/Jones 2005:10).
In den IB gibt es bis heute zahlreiche Versuche, Macht in Zahlen zu messen und zu vergleichen (Dinkel/Muntschick 2009:5, Hanif 2012:103). Dabei ist es wesentlich einfacher, die materielle Macht eines Staates zu messen, als z.B. seine politische, ideologische oder kulturelle Macht. In Bezug auf das Konzept regionaler Führungsmächte hat der Machtbegriff „sowohl eine Erweiterung als auch eine Vertiefung erfahren“ (ebd.:109f). So besteht heute die Erkenntnis, dass für die Analyse und Bewertung regionaler Führungsmächte ein umfassenderes Verständnis von Macht vonnöten ist, denn die Empirie zeigt, dass diese staaten Macht in der Regel durch eine Kombination aus hard power und soft power ausüben (Flemes 2007a).
Hier wird zwischen verschiedenen Strategien der Machtausübung unterschieden, welche beispielsweise als imperial, hegemonic oder leading bezeichnet werden (vgl. Destradi 2010, Flemes/Wojczewski 2011). Doch auch bezüglich dieser Begrifflichkeiten herrscht wenig Konsens unter den verschiedenen Autoren, denn der Übergang ist i.d.R. fließend und die Einordnung der strategie eines staates (z.B einer potenziellen regionalen Führungsmacht oder einer Mittelmacht) kann je nach Indikatoren unterschiedlich ausfallen. So betont Destradi (2010:904) die Notwendigkeit, potenzielle Regionalmächte und ihre Strategien zu untersuchen:
„[...] regional powers’ strategies as being placed on a continuum reaching from a unilateral, highly aggressive and coercive strategy, which I call ‘imperial’, to an extremely cooperative one, aimed at reaching common goals, which I call 'leading’. In the middle of this continuum, I argue, there are different kinds of 'hegemonic’ strategies.”
Destradi und mehrere andere Autoren wie Schirm (2010), Flemes und Wojczewski (2010) identifizieren Leadership als häufigste Strategie von regionalen Führungsmächten. Doch was macht Leadership aus und was unterscheidet es z.B. von Hegemonie? An erster Stelle sollte zwischen Leadership, also Führerschaft, und einer Leading power, also einer Führungsmacht, differenziert werden (Nolte 2006:26). Eine Führungsmacht wird u.a. über Machtressourcen und Selbstverständnis definiert, dagegen bezieht sich Leadership stärker auf politischen Einfluss v.a. in diplomatischen Foren. Während Leadership auch von Mittelmächten ausgeübt werden kann, kombinieren regionale Führungsmächte in der Regel beides (vgl. Nolte 2006:26, 2007:10).
So kann Leadership nach Richard Higgott (2007:95) nicht einfach auf ökonomische und militärische Vorherrschaft reduziert werden, denn diese könne auch „intellectual and inspirational" sein (vgl. Higgott 2007:95, Malamud 2011:4). Allerdings weisen Flemes und Wojczewski (2010:4) darauf hin, dass materielle Ressourcen bzw. materielle Vorherrschaft oft als Voraussetzung für Leadership gesehen werden. Insgesamt zeichnet sich Leadership jedoch vor allem durch eine kooperative Natur aus. Es werden gemeinsame Interessen und Ziele (die des Leaders und der Followers) verfolgt: „Leadership as being characterised by the pursuit of common objectives and, therefore, by a commonality of interests3 between leader and followers" (Destradi 2010:908, 920ff). So definiert Malamud (2011:3) Leadership kurz als „capacity to win and influence followers." Allerdings wird die Rolle der Followers als zentrale Analysekategorie von manchen Autoren unterschätzt und folglich vernachlässigt (Nabers 2012:125). Andere Autoren definieren Leadership vor allem über die Beziehung zwischen dem Leader und seinen (potenziellen) Followers. Leadership ist die Beziehung „between a leader and those who follow the leader [...]. This relationship cannot be understood by focusing on the leader alone" (Cooper et al. 1991:396). Dabei haben potenzielle Followers drei Optionen auf den Führungsanspruch eines staates zu reagieren: bandwagoning, balancing oder resistance (vgl. Flemes/Wojczewski 2010:6, Malamud 2011:3). Der Begriff bandwagoning bedeutet „[...] auf den fahrenden Zug aufspringen" - Bandwagoning der Follower passt sich an die Politik der Führungsmacht an, um eigene Interessen ohne das Risiko einer Konfrontation durchzusetzen. So können von schwächeren Staaten unilateral mögliche Konfliktpunkte beseitigt werden (Nolte 2006:34). Hierzu kommentiert Malamud (2011:3): „Only bandwagoning nurtures leadership."Balancing steht dagegen in etwa für eine Art „Gleichgewichtspolitik" - der Follower schafft durch Kooperation mit anderen schwächeren staaten eine Gegenmacht zur Regionalmacht.
Auf regionaler Ebene kann zwischen zwei Initiatoren von Leadership unterschieden werden, denn Leadership kann nicht nur von seiten der regionalen Führungsmacht angestrebt werden, sondern auch aus der Initiative der Followers hervorgehen, „which are in need of a leader in order to achieve their common goals" (Destradi 2010:925).
Nicht nur der Status einer regionalen Führungsmacht hängt stark davon ab, ob andere Staaten diesen (und die damit verbundene Hierarchie) anerkennen (Nolte 2006:27). Anerkennung ist ein äußerst wichtiger Faktor - auch in Bezug auf die Debatte um putative Großmächte und Mittelmächte. Obwohl diese Konzepte bis heute umstritten sind und „attempts at rigorous theorization have led to a dead end" (Malamud 2011:3), werden sie von einer Vielzahl an Wissenschaftlern und Autoren genutzt. So konnte die Debatte und der Erkenntnisstand über die in der Einleitung erwähnten globalen Machtverschiebungen zugunsten einzelner Regionen und Akteure und ihrem damit verbundenen Bedeutungszuwachs durch die intensive Beschäftigung einiger Autoren mit diesen Konzepten wesentlich bereichert werden (ebd.).
3.2 Regionale Ebene: Regional- und Sekundärmächte
Diverse Autoren und Experten wie Andrew Hurrell (2000), Stefan Schirm (2005), Detlef Nolte (2006), Andrés Malamud (2011), Robert Kappel (2012a) oder Daniel Flemes und Leslie Wehner (2012a,b) haben sich in den vergangenen Jahren mit aufstrebenden Staaten, regionaler Hierarchiebildung, Regionalmächten und Leadership beschäftigt und verschiedene ideen, Konzepte und indikatoren hierzu entwickelt. Dabei findet das Konzept der regionalen Führungsmacht in Wissenschaft und politik zunehmende Verwendung. Dennoch gibt es bis heute kein einheitliches Regionalmächtekonzept. Auch herrscht kein Konsens darüber, wie man ihre Macht und ihren Einfluss optimal misst oder bewertet - so wird je nach Autor unterschiedlichen Indikatoren der Vorzug gegeben (vgl. Dinkel/Muntschick 2009:5).
Kappel (2012b:253ff) zieht aus eigenen empirischen Beobachtungen zu (potenziellen) regionalen Führungsmächten interessante Schlussfolgerungen, die sich allerdings primär auf das ökonomische potenzial dieser Länder beziehen. Demnach verfügten regionale Führungsmächte, wie China, Indien und Brasilien, in der Regel über eine große Landfläche und im Vergleich zur Region über eine besonders hohe Bevölkerungszahl. Des Weiteren, so Kappel, läge das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen (PKE) und die Wachstumsquote meist über dem Durchschnitt der Region. Ersteres traf beispielsweise in den vergangenen Jahren auf Brasilien, Indien und Südafrika zu. Das chinesische pKE liegt bis heute nicht über dem Durchschnitt der Region. Dagegen übertrifft die Wachstumsquote chinas, aber über längere Zeit auch die Brasiliens, den Durchschnitt der jeweiligen Region. Hier fällt Indien wiederum heraus; die durchschnittliche Wachstumsquote Indiens konnte in den vergangenen Jahren nicht immer den regionalen Durchschnitt übertreffen.
Als weiteres wichtiges Merkmal regionaler Führungsmächte führt Kappel ein, im regionalen Vergleich, besonders starkes Wachstum des Bruttonationaleinkommens (BNE) auf. Tatsächlich kann vor allem china als Wachstumsmotor der eigenen Region bezeichnet werden. Aber auch Indien trägt mittlerweile stark zum Weltwachstum und zum regionalen Wachstum bei (ebd.:254). Auf Brasilien und Südafrika trifft dies jedoch nur in begrenztem Maße zu.
Des Weiteren hätten die untersuchten Staaten lange einen bedeutend hohen Anteil am Außenhandel der jeweiligen Region verzeichnet, allerdings sei dieser (mit Ausnahme Chinas) in den letzten Jahren wieder etwas gesunken. Daneben übertreffe das Exportwachstum dieser Länder das der Nachbarstaaten in der Regel weit und sei durch höherwertige Produkte bestimmt, obwohl die Außenhandelsorientierung einiger regionaler Führungsmächte relativ gering sei (ebd.:255). Zudem seien regionale Führungsmächte nur wenig im regionalen Handel verankert und zeichneten sich durch eine differenziertere Wirtschaftsstruktur aus. Die Wertschöpfung der jeweiligen verarbeitenden Industrie läge im Vergleich höher als die der anderen Staaten der Region. So könne die regionale Führungsmacht „durch diese technologisch bedingte Entwicklung, die auf der Basis großer Märkte mit Economies of Scale ensteht“, Leadership ausüben und die Entwicklung in der Region begünstigen (ebd.:257). Die Beobachtungen von Kappel zeigen, dass es zwar möglich ist, generelle Merkmale und Indikatoren zu regionalen Führungsmächten zu entwickeln, doch trifft ein Merkmal selten auf alle regionale Führungsmächte zu.
Dennoch ist die Entwicklung derartiger Kriterien sinnvoll um Staaten als regionale Führungsmacht einzuschätzen und zu bewerten. So legen andere Autoren ihren Fokus stärker auf die Machtbeziehungen zwischen einer Regionalmacht und ihren regionalen Nachbarn. Auch sie weisen darauf hin, dass ökonomische und militärische Ressourcen allein nicht zu einer Definition als Führungsmacht ausreichen. Diese „müssen sich in Einfluss/Machtbeziehungen innerhalb der Region widerspiegeln“ (Nolte 2006:32).
Ein recht umfassendes Konzept der regionalen Führungsmacht wurde im Rahmen des German Institute of Global and Area Studies (GIGA) (weiter-)entwickelt und maßgeblich geprägt. Hier entwickelt Detlef Nolte (2006) in seinem Working Paper „Macht und Machthierarchien in den internationalen Beziehungen: Ein Analysekonzept für die Forschung über regionale Führungsmächte“ ein analytisches Konzept zur Identifikation, Analyse und zum Vergleich von Staaten, die den Status einer regionalen Führungsmacht anstreben (Flemes et al. 2012:11). Es beinhaltet eine umfassende Kriterienliste, die ebenso ökonomische, militärische, wie auch politische und ideelle Faktoren einbezieht.
Nach Nolte (2006:28) ist eine regionale Führungsmacht ein Staat, der
- Teil einer geographisch, wirtschaftlich und nach ihrem politischen Selbstverständnis abgegrenzten Region ist;
- den Anspruch auf eine Führungsrolle in der Region erhebt (Selbstverständnis);
- entscheidenden Einfluss auf die geopolitische Abgrenzung und politisch-ideelle Konstruktion der Region ausübt;
- die materiellen (militärischen, wirtschaftlichen, demographischen), organisatorischen (politischen) und ideologischen Ressourcen für eine regionale Machtprojektion besitzt;
- mit der Region vernetzt ist, d. h. der relative Anteil am regionalen BIP reicht als Indikator nicht aus, notwendig ist auch die wirtschaftliche, politische und kulturelle Vernetzung mit der Region;
- tatsächlich großen Einfluss in regionalen Fragen/Angelegenheiten ausübt (Aktivitäten und Ergebnisse),
- diesen Einfluss auch und verstärkt über regionale Gouvernanz-Strukturen ausübt,
- die regionale Sicherheitsagenda maßgeblich definiert;
- dessen regionale Führungsrolle durch andere Akteure/Staaten innerhalb und außerhalb der Region, vor allem auch durch andere regionale Führungsmächte, anerkannt oder zumindest respektiert wird;
- in interregionale und globale Foren und Institutionen eingebunden ist und dort neben der Vertretung eigener Interessen zumindest ansatzweise auch als Sachwalter regionaler Interessen agiert.
Es wird also nach vier Haupt-Indikatoren gefragt: nach dem Anspruch bzw. dem Selbstverständnis eines Staates als regionale Führungsmacht, dem Potenzial bzw. dem Vorhandensein von Machtressourcen (bzw. hard power und soft power) um diesem Führungsanspruch gerecht zu werden, dem tatsächlichen (außenpolitischen) Handeln bzw. den Führungsaktivitäten in der Region und letztendlich der Anerkennung des Führungsanspruches von Seiten anderer Staaten. So beschreiben auch Daniel Flemes und Adam Habib (2009:137f) regionale Führungsmächte als „states in the global system that are part of a geographically delimited region of which they are ready to assume leadership; they display the necessary capabilities for regional power projection and are highly influential in regional affairs.“ Außerdem führen sie ähnliche Unterscheidungsmerkmale an, wie „the economic, political and cultural interconnectedness of the state to its region“, oder „its provision of collective goods to members of the region“, sowie „its demonstration of an ideational leadership“, welche hier als „the ability to bring about reforms based on regional values and normative perspective“ definiert wird (Flemes/Habib 2009:137f). Schließlich führen sie ebenfalls „the acceptance of its leadership among potential followers“ als wichtiges Kriterium zur Identifikation einer regionalen Führungsmacht an (ebd.). Auch Schirm (2010:199) weist auf die Bedeutung von Followership bzw. der Anerkennung der Regionalmacht als Führungsmacht durch andere Staaten der Region hin: „in order to perform successfully, their leadership must be accepted by followers, especially by neighbouring countries since gains in power affect the respective region directly. Followership by neighbouring countries is a necessary condition to give these countries the power base for both regional and global power projection.“
Unter den potenziellen Followers sind sogenannte Sekundärmächte (Secondary powers) von besonderer Bedeutung. Als Sekundärmächte werden die neben der Führungsmacht einflussreichsten Staaten der Region bezeichnet. Diese spielen eine zentrale Rolle, wenn es um die Anerkennung und Legitimierung des regionalen Führungsanspruchs geht, denn sie können selbst sektorale oder subregionale Führungsansprüche stellen oder mit der Regionalmacht konkurrierenden Großmächten als Kooperationspartner dienen (Flemes/Wojczewski 2010:1).
Inwieweit ein Land als Sekundärmacht eingeordnet wird, hängt in erster Linie von seinen Machtressourcen (vor allem materiell, aber auch institutionell, ideell) im Vergleich zu den übrigen Staaten der Region ab. In Südamerika gelten, gemessen an ihren materiellen Ressourcen und ihrem außenpolitischen Einfluss, die Staaten Argentinien, Chile, Venezuela und Kolumbien als regionale Sekundärmächte (vgl. Flemes 2012a:19, Flemes/Wehner 2012b:1). Die außenpolitischen Optionen von Seiten der einzelnen Sekundärmächte gegenüber einer (potenziellen) regionalen Führungsmacht wie z.B. Brasilien reichen, wie zuvor dargelegt, von bandwagoning über balancing bis resistance. Allerdings sind ihre Möglichkeiten vor allem aufgrund der (materiellen) Überlegenheit von Regionalmächten begrenzt:
„Thus, secondary powers are the second top-tier of states in a regional hierarchy. Their secondary position is determined by their relative material and social dimensions, which make possible their self-perception (and others’ recognition) as being part of a group of secondary states vis- a-vis a regional and minor powers” (Wehner 2014:2).
Flemes und Wojczewski (2010:6) weisen darauf hin, dass „[...] the two most common concepts in the theoretical literature on international relations are balancing and bandwagoning.“ Dabei wird zwischen soft- und hard-balancing unterschieden. Als hard- balancing wird die Bildung von defensiven Militärbündnissen oder auch eine Erhöhung der Militärausgaben eingeordnet. Auf diese Weise wird versucht, mit der regionalen Führungsmacht auf militärischer Ebene zu konkurrieren.
In der „Friedenszone“ Südamerika ist dies jedoch keine praktikable Option, da hier militärische Mittel zur Verfolgung außenpolitischer Ziele oder zur Konfliktlösung nicht als legitim angesehen werden (Flemes/Wehner 2012a:2). Dagegen setzt soft-balancing auf Diskurse und institutionelle Ressourcen. „Soft balancing, as a foreign policy strategy, is a rational decision for a secondary power in its relations with the regional power in those regions where rivalry is replaced by competitive patterns, as in South America“ (ebd.). So umfasst soft-balancing z.B. die Bildung von Koalitionen und Bündnissen, welche letztendlich zu einem Ausgleich der bestehenden asymmetrischen Machtverteilung führen sollen, bzw. das Ziel haben, „to frustrate the powerful actor’s achievement of foreign policy goals by increasing its costs of action“ (ebd.). Während hard-balancing auch als revisionistische Strategie bezeichnet werden kann, da hiermit teilweise auch eine Umgestaltung der bestehenden regionalen Ordnung verfolgt wird, zielt soft-balancing vor allem darauf ab, den weiteren Aufstieg der regionalen Führungsmacht zu behindern bzw. zu erschweren (ebd.). Bandwagoning setzt als außenpolitische Strategie auf Anpassung und somit auf die Vermeidung von Konflikten. Es wird sich weitgehend an die Außenpolitik der regionalen Führungsmacht angepasst, um eigene Ziele zu erreichen, ohne das Risiko einer Konfrontation eingehen zu müssen. So können schwächere Staaten unilateral mögliche Konfliktpunkte beseitigen (Nolte 2006:34).
Der regionale Führungsanspruch ist in der Regel vor allem innerhalb der jeweiligen Region umstritten. „Konflikte über die Durchsetzung und Verhinderung regionaler Führung werden einen nachhaltigen Einfluss auf die künftige globale Ordnung haben“ (Flemes/Wojczewski 2012:155). Staaten wie Brasilien, Indien oder Südafrika befinden sich an der „Schnittstelle zwischen internationaler und regionaler Politik“, was entsprechend komplexe und ausgeklügelte außenpolitische Strategien erfordert (ebd.).
Einige dieser Staaten konnten zwar weitgehend auf regionaler Ebene eine Führungsrolle übernehmen oder streben diese an, doch im globalen Vergleich sind ihre materiellen Ressourcen eher unbedeutend. Schaffen sie es dennoch, auch auf globaler Ebene Einfluss zu üben, werden diese Staaten hier als Mittelmächte bezeichnet (vgl. Flemes/Nolte 2012:5, Flemes 2007b:8, 2009:4).
Die unterschiedlichen Machthierarchien schließen sich gegenseitig nicht aus sondern überlappen sich, wie Abbildung 1 verdeutlicht (Dinkel/Muntschick 2010:5). So nehmen einige Staaten, die in der jeweiligen regionalen Hierarchie die dominante Macht darstellen, auf der globalen Ebene die Position einer Mittelmacht oder auch nur eines schwachen Staates ein (ebd.).
Abbildung 1: Regionale Führungsmächte auf regionaler und globaler Ebene
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Dinkel/Muntschick 2010:5 (modifizert)
3.3 Globale Ebene: Groß- und Mittelmächte
Auf der globalen Ebene werden vor allem Groß- und Mittelmächte unterschieden. Auch hier herrscht bezüglich ihrer Definition kein grundlegender Konsens in den IB (Nolte 2006:19). „By the traditional definition, great powers were states strong enough to successfully wage war without calling on allies. But that distinction is now outdated [...]“, so Edward N. Luttwak (1994) vor zwei Dekaden in der Online-Ausgabe Foreign Affairs des US-amerikanischen Council on Foreign Relations. Die Bereitschaft, zum eigenen Vorteil Gewalt anzuwenden, sowie die Hinnahme der hieraus resultierenden Opfer, wurde lange als Voraussetzung für den Großmachtstatus eines Staates angesehen (ebd.). Dieses Verständnis einer Großmacht ist weitgehend der (neo-)realistischen Perspektive zuzuordnen, wonach militärische Macht und Krieg zentrale Faktoren sind, um zu verstehen, wie Macht verteilt ist und welcher Staat als Großmacht einzuordnen ist (Hurrell 2006:5). Demnach werden diese Staaten auf der Grundlage ihrer relativen militärischen Machtressourcen bestimmt: „To qualify as a great power, a state must have sufficient military assets to put up a serious fight in an all-out conventional war against the most powerful state in the world“ (ebd.).
Jedoch bestand nie Konsens bezüglich der Einordnung von Staaten als Großmacht. Dies stellt auch Jon Rynn (2001) in seiner Dissertation „The Power to Create Wealth: A systems- based theory of the rise and decline of the Great Powers in the 20th century“ fest, indem er Ergebnisse von zahlreichen Experten wie Abramo F. K. Organski (1968), Martin Wight (1978), Kenneth N. Waltz (1979), Paul Kennedy (1987), Jack Levy (1983) und J. David Singer (1966, 1972, 1993) zur Definition und Einordnung von putativen Großmächten analysiert und vergleicht. So werden für den Zeitraum 1870-1970, je nach Autor und Jahr, die USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, Russland (bzw. die UDSSR) und China unterschiedlich bewertet und eingeordnet (ebd.:2ff). Dabei wird China beispielsweise erst ab 1950 (von Levy 1983, Singer 1972 und Wight 1978) als Großmacht eingeordnet. Deutschland, Italien, Japan und Großbritannien werden dagegen ab 1945/1950 kaum noch der Großmachtstatus zugewiesen. Nur in den Fällen USA und Russland besteht hier Konsens, was die einheitliche Einordnung dieser Länder als Großmacht nach 1945 betrifft (ebd.:4). insgesamt verschwimmt seit jeher bei vielen Autoren die Definitionen von Großmacht, Supermacht, Mittelmacht oder regionaler Führungsmacht: Während David Lake Ende der 1990 Jahre Großmächte als Staaten mit globaler militärischer Reichweite definierte, welche somit über die Fähigkeit verfügen, ihre Macht global und ohne Einschränkung auszuüben (Heise 2008:47f), weisen Barry Buzan und Ole Waever (2003) darauf hin, dass eine Großmacht nicht in allen Sektoren übermäßige Kapazitäten vorzuweisen habe und somit auch nicht immer aktiv auf globaler Ebene präsent sein müsse - was eine Großmacht von einer Supermacht unterscheide. Dennoch definieren sie Großmächte als Aufsteiger, „welche über die klaren ökonomischen, militärischen und politischen Potenziale [verfügen, um] über kurz oder lang den Rang einer Supermacht einzufordern“ (Heise 2008:47f).
Schließlich hat sich das Verständnis von Großmächten innerhalb der vergangenen Dekaden stetig gewandelt. Daher stellt die Einordnung bzw. Abgrenzung von Großmächten, regionalen Führungsmächten, Mittelmächten oder auch Supermächten auch heute noch eine Schwierigkeit dar. So schreibt Paul Kennedy (2013) in einem Artikel der New York Times: „With our criteria for national effectiveness and global influence in such a state of flux, it is difficult to say which nations are simply 'large regional powers' and which are 'Great Powers'“. In der vorliegenden Arbeit wird das Konzept der Großmacht (und der Mittelmacht) für die globale Ebene verwendet, denn „die Interessen von Großmächten sind global. [...] So scheint eine sinnvolle Definition von Großmacht diejenige zu sein, die auf die Fähigkeit zur globalen Machtprojektion abstellt [...]“ (Zimmer 2010:65). Allerdings basiert der Großmachtstatus eines Staates nach heutigem Stand nicht ausschließlich auf dem Besitz von materiellen Ressourcen zur globalen Machtprojektion, sondern ist zudem eng mit der Vorstellung von Legitimität und Autorität verbunden. So weist auch Sir Anthony Brenton (2013:541), britischer Diplomat und Botschafter, darauf hin, dass das Großmächtekonzept im Laufe der Zeit signifikant ausgeweitet wurde und sich die Liste der Großmächte damit einhergehend verändert hat.
Letztendlich kann ein Staat zwar den Anspruch stellen, eine Großmacht zu sein, aber:
„ [...] membership of the club of great power is a social category that depends on recognition by others: by your peers in the club, but also by smaller and weaker states willing to accept the legitimacy and authority of those at the top of the international hierarchy“ (Hurrell 2006:4).
Daher ist die erkennbare formale Anerkennung dieses Status durch andere Staaten, bzw. andere Großmächte, sowie die „Rückwirkungen auf die Funktionsweise des internationalen Systems von Bedeutung, d.h. die putativen Großmächte müssen das Verhalten anderer Großmächte/Supermächte beeinflussen“ (Nolte 2012:5). Flemes und Nolte (2012:5) definieren Großmächte als „[...] states that, through their great economic, political and military strength, are able to exert power over world diplomacy“ und weisen darauf hin dass ihr Wille bezüglich politischen oder militärischen Aktionen von Seiten anderer Staaten in Entscheidungen mit einbezogen werden muss.
Nicht nur das Konzept der Großmacht wurde in den vergangenen Dekaden modifiziert und weiterentwickelt. Viele Experten und Autoren haben auch versucht, ein umfassendes Konzept zu Mittelmächten zu entwickeln - lange ohne deutlichen Erfolg (vgl. Hurrell 2000:1, Yamasaki 2009:36).
„On the one hand, it has proved very hard to decide what the shared attributes of middle powers should be and which states are to be included in the category. On the other, it has proved harder still to associate a set of plausible shared attributes (GNP, military resources etc.) with common patterns of foreign policy behaviour“ (Hurrell 2000:1).
Zudem muss heute zwischen traditionellen und neuen (oder auch „emerging“) Mittelmächten unterschieden werden (Jordaan 2003:165ff). „[...] emerging and traditional middle powers can be distinguished in terms of their mutually-influencing constitutive and behavioural differences“ (ebd.:165). Nach Jordaan sind traditionelle Mittelmächte, deren Hervortreten er auf die Zeit des Kalten Krieges terminiert, in der Regel wohlhabend, politisch stabil, egalitär und sozialdemokratisch. Sie zeigen eine schwache und ambivalente regionale Ausrichtung und besitzen nur wenig (oder keinen) Einfluss in ihrer Region. Bezüglich der Liste der traditionellen Mittelmächte besteht nach Jordaan Konsens. Genannt werden Australien, Kanada, Norwegen und Schweden. Dagegen seien „emerging“ oder neue Mittelmächte in der Regel „semi-peripheral, materially inegalitarian and recently democratised states that demonstrate much regional influence and self-association.“
Sie zeichnen sich durch eine starke regionale Ausrichtung aus, haben oft eine Führungsrolle in der Region inne und begünstigen regionale Integration (ebd.). So können Staaten sowohl als regionale Führungsmächte als auch als Mittelmächte eingeordnet werden (Nolte 2006:23f).
Diese Staaten streben aber auch danach, sich von den schwächeren Staaten in ihrer Region abzuheben. Jordaan nennt hier u.a. Argentinien, Brasilien, Nigeria, Malaysia, Südafrika oder auch die Türkei als potenzielle „emerging middle powers“ (Jordaan 2003:165ff). Damit stellt sich die Gruppe der Mittelmächte insgesamt als ebenso heterogen heraus, wie die der regionalen Führungsmächte (vgl. Hurrell 2000:3).
Generell sind Mittelmächte aufgrund ihrer materiellen Defizite besonders stark auf ihre ideellen Ressourcen und Netzwerkbildung angewiesen. Robert O. Keohane definierte Mittelmächte bereits Ende der 1960 Jahre als „states whose leaders recognise that they cannot act effectively alone but may be able to have a systemic impact in a small group or through an international institution“ (Keohane in Flemes 2009:4). Weil Mittelmächte allein also nur begrenzten Einfluss auf internationaler Ebene ausüben können, unterstützen und nutzen diese in der Regel für ihre Ziele vor allem multilaterale organisationen, Institutionen und setzen auf Kooperationen und Netzwerkbildung (vgl. Jordaan 2003:1, Flemes/Habib 2009:137). Der Begriff Mittelmacht beschreibt daher „a state that has influence internationally and which has systemic impact either though the alliance of a small group of states or an international institution“ (Flemes/Habib 2009:137). So schreiben Flemes und Habib (2009:137) zu Recht: „As such, middle power leadership is, in essence, multilateralist in approach. Middle powers seek to build consensus on the resolution of global problems.” Mittelmächte werden heutzutage primär über ihr Verhalten auf internationaler Ebene definiert (statt über ihre materiellen Ressourcen) (Flemes 2009:4). Ihnen wird die Tendenz zugesprochen, vor allem multilaterale Lösungen für internationale Probleme zu verfolgen, sich bei internationalen Streitfragen besonders kompromissbereit zu zeigen und die Vorstellung von „good international citizenship“ vertreten (Flemes 2007b:8). Dieses Verhaltensmuster wird auch als „middlepowermanship“ bezeichnet (vgl. ebd., Yamasaki 2009:iv). Zudem wird in mehreren studien auf die besondere Koalitionsfähigkeit von Mittelmächten mit NGos und internationalen humanitären organisationen hingewiesen, vor allem in Bezug auf die Durchsetzung von Zielen menschlicher Sicherheit (Nolte 2006:26).
Das Konzept der Mittelmacht wird aus diesen Gründen häufig mit dem soft power Ansatz in Verbindung gebracht. Flemes (2007c) führt allerdings an, dass es hier sinnvoller ist, anstelle von hard und soft power, zwischen materiellen (z.B. Militär, Wirtschaft, Energie) und ideellen (Legitimität, Prestige, ideelle Projekte etc.) Ressourcen zu unterscheiden. Dies ließe eine genauere Analyse und Unterscheidung der eingesetzten außenpolitischen Ressourcen und Instrumente von Mittelmächten zu. Materielle und ideelle Ressourcen eignen sich für unterschiedliche Arten der Interessenverfolgung bzw. Machtausübung. So werden erstere eher dafür genutzt, Druck oder Zwang auf andere Staaten auszuüben, während ideelle Mittel dazu dienen können, andere Staaten u.a durch Legitimität und Glaubwürdigkeit zu überzeugen bzw. ihre Präferenzen zu beeinflussen: Flemes (2007b,c) unterscheidet dabei zwischen „Material instruments of interest-assertion“, „Institutional instruments of interest-assertion“ und „Discursive instruments of interest-assertion.“ „Material instruments of interest-assertion“ bezieht sich auf den Einsatz von wirtschaftlichen und militärischen Mitteln (hard power), welcher von (wirtschaftlichen) Anreizen über sanktionen bis zu (militärischen) Zwang variieren kann. Auf wirtschaftlicher Ebene kann dies konkret z.B. die Erhöhung oder Verringerung von (subventionierten) Direktinvestitionen, die Aufstellung von Handelssanktionen oder die streichung/Erhöhung von Finanzhilfen sein. Auf militärischer Ebene kann dies von der Teilnahme an UNMissionen, militärischen Zwangsmaßnahmen und Interventionen, bis zur Bildung von Bedrohungs- und Abschreckungsszenarien durch Rüstungspolitik oder Militärbündnisse reichen (Flemes 2007b,c).
Zu den „Institutional instruments of interest-assertion” gehört z.B. die Anwendung von formellen und informellen Verfahren und Regeln (Institutionen) zur Beeinflussung des Verhaltens von staaten (ebd.). Dies ist eine indirekte Form der Machtausübung (Nolte 2006:15). „[...] power can be exercised in the formation and maintenance of institutions, through institutions, within and among institutions“ (Baldwin 2002:187).
Dabei gewinnt diese Art der Machtausübung kontinuierlich an Bedeutung, denn heute wird die souveränität eine staates immer stärker über seine Fähigkeit definiert, sich effektiv an internationalen Institutionen zu beteiligen und mitzuwirken (Hurrell 2000:3f).
[...]
1 Außerdem werden von verschiedenen Autoren Australien, Ägypten, Iran, Indonesien, Mexiko, Nigeria, Pakistan, Venezuela als aufstrebende Staaten oder auch als (aufstrebende) Regionalmächte bezeichnet (Flemes et al 2012:11).
2 In der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe Regionalmacht und regionale Führungsmacht bedeutungskonform verwendet.
3 Dies unterscheidet Leadership von Hegemonie, denn „the end of hegemonic behaviour [...] is always primarily the realisation of the hegemon’s own goals" (Destradi 2010:913).
- Citation du texte
- Ana Julia Kuschmierz (Auteur), 2015, Kolumbianischer Aufstieg im Schatten Brasiliens. Regionale Legitimation für globalen Einfluss?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1312101
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