Die Sonderlinge bei Wilhelm Raabe werden oft in einem abwertenden Kontext behandelt. In dieser Studie soll gezeigt werden, dass sie als moralisch Handelnde durchaus "Alltagsphilosophen" sein können, denn sie haben etwas zu sagen. Konsequenter Weise werden sie daher als Lebenskünstler dargestellt, die in ihrem Handeln stets auch den anderen Menschen berücksichtigen. Insofern sind sie keine weltfremde Fantasten, die sich in irgendetwas verrennen oder gar verirren. Sie stehen mit beiden Beinen im unmittelbaren Umfeld.
Durch diese Eigenschaften werden sie auch für die Lebenskunstphilosophie interessant und zeigt die vorliegende Arbeit Anknüpfungspunkte zwischen dieser Richtung und dem literarischen Schaffen Wilhelm Raabes.
Der Sonderling als philosophierender Lebenskünstler in Wilhelm Raabes Werk
Einleitung
Sonderlinge und Lebenskünstler mögen sich auf den ersten Blick nicht groß unterscheiden, sind die ersteren einfach sonderbare, oftmals auch kauzige, urige Menschen und grobe Außenseiter, so sind die zweiten Lebenskünstler, die ohne viel zu tun durchs Leben schreiten, kurz Faulenzer, die sich ein gemütliches Leben bereiten – so jedenfalls sieht es die allgemeine Wahrnehmung. Von solchen oberflächlichen Behauptungen soll hier deutlich Abstand genommen werden, denn die fein herausgearbeiteten Figuren, die Wilhelm Raabe in seinen Romanen agieren lässt, sind weit von diesen Klischees entfernt. Natürlich werden auch Kauze und Außenseiter in seinem Schreiben dargestellt, aber sie haben auch etwas zu sagen. Raabe nutzt hier geschickt Humor und Ironie, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann. Aber ihre Intentionen gehen meist darüber hinaus zu etwas Gelassenem über; sie lassen eine Welt links liegen, die durch Bosheit und Unfreiheit, durch Dogmen und Schikane am einzelnen gekennzeichnet ist. Sie stehen quasi über den Dingen ohne die reale Welt und ihre Nöte aus den Augen zu verlieren. Obwohl die so charakterisierten Protagonisten nicht weit aus ihrer Heimat heraus kommen, haben sie doch einen breiten Einblick in das Weltgetriebe und ihrer unmittelbar zugänglichen Mitmenschen. Und so ist es auch kein weiter Weg zu der vorliegenden Untersuchung, die die Frage stellt, ob diese Protagonisten im Lichte der Lebenskunstphilosophie gesehen werden können. Der Standpunkt, die Sonderlinge Raabes ernst zu nehmen, wurde von Raabe-Forschern oft nicht beachtet. Zwei Arbeiten, die zu diesem Thema seitens der Literaturwissenschaft erstellt wurden, scheinen diese Frage zu diesem Aspekt besser zu beantworten: Herman Meyer hat in seinem Buch Der Sonderling in der deutschen Dichtung1 diesem Kontext eine erste Kontur gegeben. In diesem Buch zeigt sich wie der Sonderling, der keine raabe’sche Erfindung ist, sich als Motiv durch die Literatur verfolgen lässt. Später hat sich Stanley Radcliffe mit Der Sonderling im Werk Wilhelm Raabes ganz auf Raabes Figuren konzentriert. An dieser Stelle interessiert aber noch viel mehr: Wie ordnet sich der Sonderling, respektive der Lebenskünstler bei Raabe in ein lebenskunstphilosophisches Konzept ein? Hierbei wird nach den einzelnen moralischen Einstellungen zu schauen sein, und die Deutungsmöglichkeiten menschlichen Verhaltens gilt es zu erschließen. Schließlich muss dem Raum der Lebenswirklichkeit in Raabes Texten nachgespürt werden. Zu berücksichtigen bleibt hier aber, dass Raabe Künstler und kein Philosoph ist, der seine Gedanken aufschreiben wollte. Im neunzehnten Jahrhundert wird der Bildungsroman zum Genre schlechthin, man denke dabei an Autoren wie Johann W. Goethe, Gottfried Keller u. a. Wilhelm Raabe tendiert in diese Richtung, da seine Figuren sich in ethischer Hinsicht entwickeln und oftmals auch sich selber bilden – ganz im Sinne Senecas begleitet sie ein lebenslanges Lernen.2
Es kann nicht die Aufgabe sein, Raabes Konstruktion der Lebenskünstlerfiguren einzelne Philosophien zuzuordnen, vielmehr ist zu beleuchten, wie weit diese Figuren in den Kontext einer Lebenskunstphilosophie und ihren verschiedenen Facetten harmonieren. Zumal Raabe sich explizit und letztlich rudimentär mit der stoischen Lehre und Schopenhauers Denken auseinandergesetzt hat. Ferner soll auf eine Explikation des Begriffs Sonderling verzichtet werden, da ich den Terminus bestenfalls mit dem des Lebenskünstlers gleichsetze. Selbst Raabe verwendet mitunter den Begriff des Lebenskünstlers, der dem Sinn dieser Arbeit sehr nah kommt.
Im Abschnitt II. wird in einer groben Skizze gezeigt, was unter dem Terminus Lebenskunstphilosophie eingeordnet werden kann. Ein breites Spektrum ist hierunter zu fassen. Es reicht von dem, was einen Philosophen ausmacht, über Selbstbesinnung und Selbstbestimmung, ethischen Implikationen der Lebensgestaltung bis hin zu dem, was man vom je eigenen Leben wissen kann. In dieser Untersuchung muss sich die Semantik der Lebenskunstphilosophie mit dem begnügen, was Raabes Figuren explizit zukommt. Es kann als eine Art von Hinführung verstanden werden. Im III. Kapitel geht es konkreter um einen Bereich der Lebenskunstphilosophie, die sich mit Gelassenheit beschäftigt, da diese Haltung sich wie ein roter Faden durch die Werke Raabes zieht. Hier soll Grundsätzliches dazu gesagt werden, um später einen dezidierten Umfang des Inhalts dieser Haltungen vor Augen zu haben. Unter IV. werden einige frühere und mittlere Romane und Erzählungen auf lebenskunstphilosophische Aspekte untersucht. Dabei werden selbstbildnerische Momente wie auch moralische Positionen sichtbar. Kapitel V. widmet sich zwei der späten Romane Raabes, die besonders ausgeprägt Lebenskünstlertum vorführen. Hier sind die Figuren am subtilsten ausgebildet und zeigen viele Kriterien und Ausgestaltungen der Lebenskunstphilosophie. Sie sorgen mit ihrer großen Umsicht und Hilfsbereitschaft, dass es ihrem Umfeld gut gehen kann und dass es von den Lebenskünstlern profitiert. Dabei wird sich eindrucksvoll zeigen, dass die philosophierenden Lebenskünstler, die hier vorgestellt werden, diese Bezeichnung absolut verdienen. Begonnen werden soll mit dem, was überhaupt unter "Lebenskunst" zu verstehen ist.
II.
Die Vorstellungen von dem, was als Lebenskunst verstanden wird, bildet ein breites Spektrum und reichen vom unbeschwerten Leben im Sinne des französischen Savoir-vivre bis hin zum gelassenen Leben, das alle Anforderungen, Krisen und Verwirrungen, die sich aus dem Lebenskontext ergeben, meistert – bis hin zum Anspruch das eigene Leben in ein Kunstwerk zu verwandeln. Zur Lebenskunst gehören aber auch der Entschluss, die Fähigkeit und der Wille, die eigenen Lebensumstände bewusst wahrzunehmen und die Lebensführung im Bereich der Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, persönlich und gezielt zu gestalten. So spricht bereits der Volksmund davon, dass ein jeder seines eigenen Glückes Schmied sei. Damit wird Lebenskunst zu einer Art von ‘geistigem Handwerk’, was der Verwirklichung, Wahrung und Erfahrbarkeit des Selbst im Sein dient, eingeschlossen die Herausforderung an die Persönlichkeit in Bezug zum eigenen Lebensstil. Natürlich ist auch wichtig, mit welcher Art von Wissen es die "Philosophie der Lebenskunst" zu tun hat, zumal eine moralische Urteilskraft jenseits aller Naturgesetze liegt. So geht es hier im Wesentlichen darum, zu beschreiben, was menschliches Selbstverhältnis, menschliche Selbstbesinnung und Selbstbestimmung sein kann. Es sind auch Selbstbilder, deren Normativität verschiedene Arten von Wissen in sich einschließt.3 Das Selbstverständnis hängt davon ab, wie Lebenszwecke und Verhaltensregeln relational zueinander stehen. Moral tritt nie von außen an einen Menschen, sondern resultiert aus dem Selbstsein des Menschen, weil sein Sein von seinem Bewusstsein abhängt. Das Bewusstsein umfasst ein praktisches Selbstverhältnis, das sich im Selbstwertgefühl des Menschen ausdrückt.4
Das Interesse an der Lebenskunst scheint zeitbedingt aufzutauchen und auch wieder zu verschwinden. Wobei diejenigen nach Lebenskunst fragen, für die das Leben an Selbstverständlichkeit verliert, gleichgültig in welchem Zeit- und Kulturkontext sie leben. Wenn Traditionen, Konventionen und Normen, selbst wenn sie in der Moderne präsent sind, nicht oder nicht mehr überzeugen können beginnt der Einzelne sich um sich selbst zu sorgen. Beziehungen brechen auseinander, Zusammenhänge sind in Auflösung und das Individuum sieht sich mit Situationen konfrontiert, die ihm völlig unbekannt sind. Die Lebenskunst geht vom empirischen Wissen aus, um daraus Handlungsmaximen herauszuarbeiten. Das Alltagswissen und die wissenschaftliche Erkenntnis über die Natur des Menschen bleiben aber niemals moralisch neutral, sie münden immer in das Bild, was der Mensch sich von sich und seiner Welt macht.5 Im Fortgang der Moralisierung werden Erfahrungswissen in Symbole des menschlichen Selbstverständnisses verwandelt und so prägen sie den moralischen Sinn des Menschen.
Dabei stand die Lebensführung des Menschen immer schon im Focus philosophischer Reflexionen, denn ihre Geburtsstunde hatte sie in der antiken Philosophie, als ein Philosoph jemand war, der sein Leben nicht einfach an sich vorüber ziehen ließ, sondern auf das hin reflektierte, was ihm Sinn und Erfüllung geben könnte. Diese frühen Überlegungen sind bis heute maßgeblich, wie einschlägige Autoren zu diesem Thema immer wieder beteuern. Nach der Antike, also im Mittelalter wandert die Lebenskunst-Philosophie im Prinzip in die Theologie ab, wo sie auch für das klösterliche Leben attraktiv zu werden beginnt. Philosophie wird damit zu einer gelebten Weisheit im Rahmen der Leitung durch die Vernunft.6 Ab dem neunzehnten Jahrhundert kehrt sie erst wieder in den Bereich der Philosophie zurück. Vor allem das Denken Schopenhauers und Nietzsches leistet dem Vorschub, was im zwanzigsten Jahrhundert weiter entfaltet wird und bis in die Gegenwart anhält. Die Philosophie hat gerade auf diesem Gebiet einen ursprünglich praktischen Charakter, was bei Raabe dann so entscheidend wird. Erst in jüngster Zeit wird dem Thema, beispielsweise durch Michel Foucault und Wilhelm Schmid größere Aufmerksamkeit geschenkt. Somit kehrt sie wie ein verlorener Sohn in die gegenwärtige Philosophie zurück.
Mit dem Terminus Lebenskunst bzw. Lebensgestaltung wird grundsätzlich die Möglichkeit und die Anstrengung bezeichnet, „das Leben auf reflektierte Weise zu führen und es nicht unbewusst einfach nur dahingehen zu lassen.“7 Dies bedeutet, das Leben gezielt zu leben, ihm einen Sinn unterzulegen und es nicht bloß unbewusst an sich vorbei fließen zu lassen. Oftmals beginnt die Philosophie der Lebenskunst an einem Punkt, an dem der Mensch das eigene Leben zu hinterfragen beginnt, weil er plötzlich merkt, dass das bloße Führen des Lebens keinen Sinn mehr hat bzw. dass es ihn nicht mehr erfüllt. Dieser Anstoß kann sich aus dem Leben heraus entwickeln: Der Mensch als selbstbewusster einzelner hat einen Willen und wird dadurch zu seinem Verhalten, zu einem Tun und Lassen motiviert. Er weiß um seine Eigenheiten und kann sich von seinem Mitmenschen als Organismus verschieden erkennen. In seinem Seelenleben ist jeder Mensch mit sich allein, intimer als er es je mit seinen Liebsten ist. Aus der Eigenperspektive besitzt er einen einzigartigen Zugang zu sich selbst und weiß, dass seine subjektiven Zustände seine eigenen sind. Das personale Subjekt ist ursprünglich und im Wesentlichen mit sich selbst bekannt. Dieses Mit-sich-Vertrautsein ist exklusiv, denn niemand anderer kann dort hinein drängen. Dennoch kommt es unvermittelt zur Frage: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Die Suche nach dem Seinsverständnis, nach einem Sinn meines Hierseins und meiner Lebens- oder auch Leidensgeschichte setzt ein.8
Das Verständnis des eigenen Lebens ist für diesen Menschen nicht mehr selbstverständlich, gleichgültig in welcher Zeit und Kultur er lebt. Eine „Exkursion in die Philosophie“ ergibt sich immer dann, wenn die Existenz in Frage steht und das Denken sich im Rahmen der Verzweiflung entwickelt, die sich daraus ergibt. An dieser Schwelle betritt man einen eigenartigen Raum, der sich Philosophie nennt und in dem die Frage nach dem Leben gestellt werden darf, um die Antwort zu suchen, die das Leben-können wieder möglich macht. Dieser „Raum der Orientierung“ entsteht durch die Macht der Philosophie: individuelle „Fragen und Grundprobleme der Existenz können zu dem Forum, das die Philosophie ist, gebracht werden, um eine Sprache dafür zu finden und darüber zu reflektieren.“9 Dieser Mechanismus setzt im Alltag, bei jedem einzelnen Individuum an, ausgehend von Fragen, die das vertraute Leben aufzuwerfen beginnt. Dies liegt jedoch hinter dem Individuum und ist ihm fremd geworden. Der Kontext der Lebenskunst verweist hierbei schon auf das, was sie letztlich ausmacht, nämlich „die Probleme des Lebens nach den Regeln einer Kunst zu lösen und damit dem Menschen Wege zum Glück zu ebnen.“10 Anweisungen gemäß dem Schema "Tue dies, um das zu erreichen" hält die Philosophie jedoch nicht bereit und genau dies unterscheidet sie von der zahlreichen Ratgeber-Literatur, die so etwas zu versprechen scheint. Diese hält zwar in der Regel nicht was sie verspricht, ist aber dennoch hilfreich, denn gerade darin liegt der Hinweis, dass jeder selbst ganz individuell sein Leben gestalten muss, womit das Ziel der Lebenskunst im Vollzug des Lebens selbst liegt.11 Sie leitet also nicht präskriptiv, sondern optativ, Möglichkeiten eröffnend an. So kann jenseits von Beratung die „Philosophie der Lebenskunst dazu anleiten, ein realistisches Selbstbild zu gewinnen und Fehler in der Einschätzung der Lebenswirklichkeit zu erkennen.“12
Wilhelm Raabe hält wenig von philosophischen Systemen. Ihm geht es mehr um den konkreten Einzelfall. Nicht zuletzt deshalb lässt er Sonderlinge, also Lebenskünstler in seinem Werk auftreten. Durch dieses Vorgehen erhoffte sich Raabe alle möglichen Stellungnahmen zur Lebensfrage erforschen zu können. In einem Brief fasst er das wie folgt zusammen: „Von der Geschichte der Philosophie bleibt weg. Das ist nur eine Geschichte menschlicher Unwissenheit über das, was hinter irdischer Erscheinung steckt. Spinoza, Goethe und die ‚Aphorismen zur Lebensweisheit‘ des zweiten ‚Frankfurters‘, in Verbindung mit dem Volkswort ‚Gute Miene zum bösen Spiel machen!“13 Soweit die Einstellung Raabes zur Philosophie. Später wird uns dies wieder begegnen, wenn die einzelnen Figuren auf ihre philosophischen Intentionen befragt werden. Und es zeigt sich dann auch, dass man davon reden kann, keine Philosophie zu haben, aber dennoch einer zu folgen.
Im späteren Werk wird dann auch die Lebensfrage oder auch Lebensanschauung immer wichtiger. Nimmt man das bereits beschriebene Konzept der Lebenskunstphilosophie als Spiegel dazu, so ergeben sich Momente die dies auch belegen. Wie bereits erwähnt, ist Raabe Künstler und braucht sich nicht näher mit Philosophie zu befassen, dennoch finden sich bei seinen Protagonisten immer wieder lebenskunstphilosophische Motive. Widmen wir uns aber wieder der Darstellung der Lebenskunstphilosophie.
Lebensgestaltung ist eine Sache des je eigenen Lebens, so sagen es scheinbar die bisherigen Ausführungen. Im ersten Moment ist das auch so, aber es gibt auch immer eine Lebensführung im Verhalten zum Anderen, was eine Ethik erfordert.
Der Mensch lebt nicht nur, er führt sein Leben auch aus sich heraus, wozu ihm das Wissen von sich selbst dient. Das Selbstbewusstsein14 ist ihm elementar und unmittelbar und es ist das, was ihn als Mensch ausmacht, jedoch ist es nicht undifferenziert. Lebensgestaltung als Reflexion des Lebens des einzelnen Menschen bedeutet gleichzeitig auch, auf andere Individuen durch Handeln oder Unterlassen einzuwirken. Somit impliziert Lebensgestaltung auch ethische Normen.15 Auch dieser Zusammenhang wird sich mit den Lebenskünstlern, die Raabe erschaffen hat, ergeben, denn sie leben zwar meist sehr zurückgezogen, kommen aber dennoch nicht um das Interagieren mit anderen Menschen herum.
In Raabes Werk geht es auch oft darum, seinen Lebensweg zu reflektieren und etwas darüber in Erfahrung zu bringen oder anders gesagt, um das Wissen, genauer gesagt, um das Lebenwissen. Dieses unterscheidet sich von den Wissenschaften, die Wissen, das als gewiss erscheint, als methodisch-systematische Arbeit des Wissensgewinns zur Verfügung stellen. Die Ergebnisse erlangen Objektivität, weil sie als allgemein gültig angesehen werden können. Das Lebenwissen hingegen, kennt nur die Subjektivität und ein Wissen, das für und vom Leben herrührt. Während das gelebte Leben fließt, möchte man von den Zusammenhängen, von denen es handelt, Wissen erlangen. Es wird von Regelmäßigkeiten und Unregelmäßigkeiten beeinflusst, die beobachtet werden können. Diese Form des Wissens ist episodisch, weil es in bestimmten Situationen entsteht, aber wieder zerfällt, wenn sich der Lauf der Dinge ändert oder sie kontingent werden. Daraus wird ersichtlich, dass dieses Wissen nicht systematisch sein kann. Zum einerseits kognitiven Wissen tritt ein leibliches, ein Gespür kommt zum Vorschein. So bündelt sich Wissen, Wahrnehmungsfähigkeit, Sensibilität und Erfahrung eine Intelligenz in Form eines intelligenten Gespürs, welches Orientierung des Subjekts in überraschenden und schwierigen Situationen gewährleisten kann. Dazu ist wissenschaftliche Präzision selbstverständlich nicht nötig, sondern es geht vielmehr darum, eine Einschätzung der Unbestimmtheiten der Lebenswirklichkeit und ihrer Komplexität zu erreichen.16 In erster Linie gilt hierbei die Methode der Empirie, die dezidiert über Erfahrung zu Wissen führt. Auch dies beherzigen die Figuren Raabes, die zwar in den meisten Fällen gelehrt sind, aber dennoch nie den Draht zur Umwelt verlieren, weil sie etwa in einem Elfenbeinturm säßen.
[...]
1 Die Sonderlinge im Werk von Wilhelm Raabe werden auf den Seiten 229-289 behandelt.
2 Seneca, Lucius A.: „Leben muß man ein Leben lang lernen, und – darüber wirst du dich vielleicht noch mehr wundern – ein Leben lang muß man sterben lernen.“ Im lateinischen Original lautet das Zitat: Vivere tota vita discendum est et, quod magis fortasse miraberis, tota vita discendum est mori (De brevitate vitae 7, 3) S. 34-35.
3 Vgl. Fellmann, Ferdinand: Philosophie der Lebenskunst (zur Einführung). Hamburg 2009. S. 24f.
4 Vgl. ebd. S. 26.
5 Vgl. Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. Frankfurt am Main 1998. S. 9.
6 Vgl. Hadot, Pierre: Exercices spirituels et philosophie antique. Paris 1981. Dt.: Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2005. S. 170.
7 Ebd.
8 Vgl. Kessler, Herbert: Philosophie als Lebenskunst. Sankt Augustin 1998. S. 46.
9 Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst. S. 21 u. 49.
10 Fellmann, Ferdinand: Philosophie der Lebenskunst. S. 15.
11 Ebd.
12 Ebd. S. 17.
13 Zitiert bei Radcliffe, Stanley: Der Sonderling im Werk Wilhelm Raabes. Raabe-Forschungen 2. Hg. v. Hans-Werner Peter. Braunschweig 1984. S. 108.
14 Vgl. Klein, Manfred: Bildhauer seiner selber sein. Möglichkeiten einer bewussten Lebensgestaltung. München 2017. Kapitel I. S. 12-45.
15 Vgl. ebd. S. 3ff.
16 Vgl. Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst. S. 298f.
- Citar trabajo
- Dr. Manfred Klein (Autor), Der Sonderling als philosophierender Lebenskünstler in Wilhelm Raabes Werk, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1311516
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