Ein Essay über die soziale Frage und die Bildungsgleichheit im Zusammenhang mit dieser Frage.
Der PISA-Schock im Jahre 2000 verdeutlichte, dass Deutschland im europäischen und internationalen Vergleich nicht so gut abschnitt, wie erhofft. Gerade für Deutschland macht die Studie jedoch einen weiteren Fakt deutlich: Die Bildung von Kindern hängt vor allem vom Elternhaus ab. So titelt die Süddeutsche Zeitung 18 Jahre nach dem PISA-Schock 2000: „In Deutschland entscheidet noch immer die Herkunft über den Bildungserfolg“ (Hoffmann, 2018).
Bildungschancen und die soziale Herkunft - Über die Chancen- gleichheit in der Bundesrepublik Deutschland
Der PISA-Schock im Jahre 2000 verdeutlichte, dass Deutschland im europäischen und internationalen Vergleich nicht so gut abschnitt, wie erhofft. Gerade für Deutschland macht die Studie jedoch einen weiteren Fakt deutlich: Die Bildung von Kindern hängt vor allem vom Elternhaus ab. So titelt die Süddeutsche Zeitung 18 Jahre nach dem PISA-Schock 2000: „In Deutschland entscheidet noch immer die Herkunft über den Bildungserfolg“ (Hoffmann, 2018). Ich selbst komme aus einer Familie mit Eltern ohne akademischen Hintergrund. An meiner Uni gehöre ich damit im Vergleich zu meinen KommilitonInnen1, welche Eltern mit akademischen Hintergrund haben, absolut zur Minderheit. Doch wie kann das sein, in der selbsternannten „Bildungsrepublik Deutschland“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 2009)? Deutschland ist eine Industrienation ohne ökonomisch verwertbares Vorkommen von Bodenschätzen oder ähnlichem. Unsere Wirtschaft ist grade in Hinblick auf industrielle Entwicklung abhängig von gut ausgebildeten Menschen, um unsere Wirtschaftsleistung nachhaltig gewährleisten zu können. Bildung legt vom Kindergarten an den absoluten Grundstein für qualifizierte Arbeitskräfte - dabei sollte Bildungserfolg eigentlich unabhängig von der sozialen Herkunft sein. Ist sie auch. Oder handelt es sich hierbei um einen Mythos?
Zu Beginn sollen zunächst einige grundlegende Begrifflichkeiten definiert werden. Als soziale Gleichheit wird verstanden, wenn alle BürgerInnen gleich betrachtet werden. Diese Gleichheit lässt zwei Betrachtungen zu: Zum einen die politische, und zum anderen die soziale Gleichheit. Aufgrund der Schwerpunktsetzung dieses Essays liegt das Hauptaugenmerk in diesem Fall auf die soziale Gleichheit - die politische Gleichheit wird deshalb zumindest in dieser Auseinandersetzung nicht genauer betrachtet. Auf diese Bereiche werden Ressourcen quantitativ unterschiedlich verteilt. Eine dieser Ressourcen ist dabei Bildung (vgl. Meulemann, 2004). Daraus ergibt sich die Gleichheit im
Bildungssystem, wenn die Ressource Bildung und die sich daraus ergebenen Lebenschancen ausschließlich von den individuellen Leistungen abhängen (vgl. Hradil, 1999), also unabhängig von sozialer Herkunft und anderen Parametern ist. Soziale Ungleichheit entsteht dadurch, dass Menschen in einer Gesellschaft über eine unterschiedliche Anzahl von Ressourcen, z.B. Besitz, Prestige oder Macht, verfügen. Daraus lässt sich dann eine Rangfolge erstellen, in welcher Menschen eingeteilt und verglichen werden können (vgl. Hradil, 2001).
Weiterhin wichtig für die theoretischen Grundlagen ist der Reproduktionsansatz nach Bourdieu. Der schulische Erfolg von SchülerInnen ist demnach abhängig von den eigenen Einstellungen zur Bildung. Diese Einstellungen wiederum werden von den Erziehungsberechtigten geprägt. Somit wird die Einstellung zur Bildung bedingt durch die soziale Herkunftsschicht (vgl. Maaz, 2006). Der schulische Erfolg ist demnach Ausdruck verinnerlichter Einstellungsmuster, nach Bourdieu genannt Habitus. Für privilegierte Schichten ist der Bildungserfolg wichtig für die Statusreproduktion, denn in modernen Gesellschaften ist die Bildung zentral für diese. Diese Reproduktion gelingt vor allem dadurch, dass Kinder aus höheren sozioökonomischen Schichten die Einstellung zur Bildung von ihren Eltern übernehmen (vgl. ebd.). Beschwerlich kommt hinzu, dass die Selektion durch die Lehrkräfte u.a. abhängig ist von der sozialen Herkunft der SchülerInnen. Jener Punkt wird im späteren Verlauf aufgegriffen. Eine solch ungleiche Selektion wird von unterprivilegierten Schichten oftmals als selbst- statt fremdverschuldet wahrgenommen. Folglich kommt es zu einer Reproduktion sozialer Ungleichheiten (vgl. ebd.).
Ferner definiert Bourdieu verschiedene Kapitalsorten. Kapital sieht Bourdieu als „akkumulierte Arbeit“ (Bourdieu, 1983, S. 183). Dieses Kapital kann verstofflicht oder verinnerlicht vorliegen. Das ökonomische Kapital ist die Gesamtheit des materiellen Besitzes, welches gegen Geld eintauschbar ist. Es lässt sich unter Umständen aus anderen Kapitalsorten bilden, liegt jedoch gleichermaßen den anderen Sorten zu Grunde. Ein hohes Vorkommen dieser Kapitalsorte reicht jedoch isoliert nicht aus, um eine hohe soziokulturelle Stellung zu erlangen. (vgl. Bourdieu, 1983). Das Kulturelle Kapital gliedert sich wiederum in drei Unterformen. Das inkorporierte kulturelle Kapital umfasst die kulturellen Fähigkeiten und das Wissen durch Bildung. Es wird fester Bestandteil der Persönlichkeit. Es liegt dem objektivierten kulturellen Kapital zu Grunde, welches beispielsweise den Besitz von Kunstwerken, Gemälden oder Schriften beschreibt. Erst das institutionalisierte kulturelle Kapital, wie beispielweise Bildungstitel (Abitur, Promotion et cetera), ermöglicht eine Übertragung in ökonomisches Kapital (vgl. ebd.). Abschließend führt Bourdieu das soziale Kapital auf, welches die Gesamtheit aller dauerhaften sozialen Netzwerke und Verbindungen umschreibt, und die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen benötigt (vgl. ebd.). Die Aufrechterhaltung ebendieser sozialen Netzwerke benötigt jedoch Zeit und ökonomische Ressourcen, welche sozioökonomisch schwächere Familien nicht aufbringen können. Kindern aus sozioökonomisch bessergestellten Familien kann durch ein gutes Beziehungsnetz beispielsweise häufig eine bessere Ausbildung, ein Platz an der Uni oder ein notwendiges Praktikum in Aussicht gestellt werden. Das kulturelle Erbe ist somit ausschlaggebend für den Erfolg in der Schule (vgl. ebd.).
Auch ein Zusammenhang zwischen den Übergangsempfehlungen und der real erbrachten Leistungen der SchülerInnen ist kaum vorhanden. Zu diesem Ergebnis kommt auch die IGLU-Studie aus dem Jahr 2016 (vgl. Stubbe, Bos & Schurig, 2017). So erhalten Kinder aus oberen Dienstklassen mit einem kritischen Wert von 518 Punkten, welche 19 Punkte unter dem deutschen Mittelwert liegen, eine Empfehlung fürs Gymnasium. Kinder aus (Fach-)Arbeiterfamilien benötigen einen kritischen Wert von 590 Punkten, 53 Punkte über den deutschen Durchschnitt, um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten. Dies ergibt eine Differenz von 72 Punkten, welche einen Unterschied von 1 % Lernjahren ausmacht. Hierbei wird zumindest im Lesebereich sichtbar, wie wichtig die soziale Herkunft ist. An Kinder aus sozioökonomisch niedrigeren Schichten werden deutlich mehr Anforderungen gestellt, was die soziale Ungleichheit fördert. Eine gymnasiale Empfehlung ist ebenfalls wahrscheinlicher, wenn beide Elternteile aus Deutschland kommen. Somit haben SchülerInnen aus bildungsfernen Schichten eine geringere Chance auf eine Gymnasialpräferenz durch die Lehrkräfte, aber auch durch ihre Eltern (vgl. ebd.), trotz vergleichbar gleicher Leistungen. Eltern aus höheren sozioökonomischen Schichten wollen und werden so ihren Status an ihre Kinder weitergeben, und ihre Stellung reproduzieren. Heinz Bude schreibt dazu: „Man will seine Kinder aufs Gymnasium retten, weil es dort nur mit Kindern von Eltern in Berührung kommt, [...] die leistungsbereit, sozial engagiert und zivilgesellschaftlich eingebunden sind, bei denen also im sozialen Sinne kein Unterschied zu einem selbst besteht“ (Bude, 2011, S.12). Auch der Bildungsbericht 2014 bestätigt diese Annahme. Kinder aus sozioökonomisch höheren Familien besuchen zu 64% das Gymnasium, Kinder aus sozioökonomisch schwächeren Familien nur zu 21% (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2014). Hierbei ist es sinnvoll, Bezug zu Bourdieus Kapitalsorten zu nehmen. Eltern aus niedrigeren sozioökonomischen Schichten nehmen das kulturelle Kapital in ihren Entscheidungen kaum als Maßstab. Sie tendieren dazu, dass sowieso kaum vorhandene ökonomische Kapital als Maßstab zu nehmen, und stellen Kosten-Nutzen-Rechnungen an. Ein zwölf bis dreizehnjähriges Abitur mit anschließendem Studium ist teuer, und birgt das Risiko des Versagens. Schließen die Kinder hingegen mit der zehnten Klasse ab, und beginnen eine Lehre, entstehen weniger Kosten.
Auch die PISA-Studie belegt, wie eingangs erwähnt, dass eine höhere Bildung nicht nur von schulischen Leistungen, sondern vor allem von der sozialen Herkunft abhängig ist. Neben den PISA-Testungen werden auch Fragebögen über den sozioökonomischen Status der Eltern ausgewertet. Die Ergebnisse werden zur internationalen Vergleichbarkeit in den International Socio-Economic Index eingeordnet (vgl. Deutsches PISAKonsortium, 2001). In diesem Fragebogen werden Informationen zur Berufstätigkeit der Eltern, sowie zum ökonomischen (z.B. Vorhandensein eines Auto, einer Geschirrspülmaschine et cetera), sozialen (Analyse der Haushaltsstruktur, also Erziehungsstil der Eltern und Konstellation der Geschwister) und kulturellen Kapital (Herkunft der Eltern, Angaben zur Bildung und Berufsausbildung der Eltern sowie Vorhandensein kultureller Güter) erhoben. Die Aussagekraft dieser Informationen ist in Teilen jedoch beschränkt, da nicht alle Eltern den Fragebogen komplett ausfüllen. Vor allem bei sozial schwachen Familien fehlen oft Angaben zur Sozialschichtzugehörigkeit (vgl. ebd.). Auffallend ist: Die Kinder aus sozial schwachen Familien weisen besonders häufig Defizite im Kompetenzbereich Lesen auf (vgl. ebd.), was zur Folge hat, dass Bildungsangebote im schulischen Rahmen schlechter aufgenommen werden. Auch hier dient die Schule wieder denen, welche bereits gute sozioökonomische Vorteile mitbringen.
Bezugnehmend zu Hradils Chancengleichheit lässt sich feststellen, dass SchülerInnen zum Schulbeginn unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen, auf welche die Schulen nicht eingestellt sind. Unfaire Übergangsempfehlungen durch Lehrpersonen zeigen zudem, dass selbst bei theoretisch gleichen Fähigkeiten zu Gunsten der bereits Privilegierten entschieden wird. Das sorgt unter anderem auch dafür, dass Familien aus sozial schwachen Schichten das kulturelle Kapital kaum als Maßstab verwenden. Unterschiede in den Kompetenzen werden also durch die Schule nicht nur nicht ausgeglichen, sondern noch verschärft. Die Schere zwischen den unterschiedlichen sozioökonomischen Schichten geht dadurch immer weiter auseinander. In Hinblick auf PISA, IGLU und weitere Studien lässt sich zurecht die Frage stellen, inwiefern Benotungen und Selektionen der Schulen legitimiert sind - lässt sich doch feststellen, dass es in deutschen Schulen keine Chancengleichheit hinsichtlich der sozialen Herkunft gibt; im schulischen Rahmen lässt sich sogar eher eine Reproduktion der sozialen Ungleichheit feststellen. Es liegt vor allem an der Politik, der Hochschulbildung, der aktuellen und der neuen Lehrerschaft, diese Chancenungleichheit zu minimieren, ist eine reale Chancengleichheit doch eher als eine Utopie zu sehen.
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1 Im Text wird das sog. Binnen-I verwendet, um einer gendergerechten Sprache gerecht zu werden
- Citar trabajo
- Anónimo,, 2020, Bildungschancen und die soziale Herkunft. Über die Chancengleichheit in der Bundesrepublik Deutschland, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1311496