Es ist ein großer Irrtum der Krisen und Katastrophen vernachlässigenden Evolutionisten, Fortschritt als in sich steigernd zu immer komplexeren Formen auszulegen. Dialektische Entwicklung ist niemals eindimensional, sondern in sich selbst gegenläufig, gigantische Rückfälle einschließend. Diese Doppelheit hat vor Marx und Engels Fourier, von dem Proudhon viele entnommen hat, am prägnantesten dargelegt. Für Engels war Fourier einer der originellsten Köpfe der Menschheitsgeschichte, für Moses Heß haben Hegel und Fourier den Geist auf die Höhe des Absoluten erhoben.
Die Geschichte wird komplexer und einfacher zugleich, so dass die Komplexität zur Einfachheit zurück- bzw. umschlägt. Lenin verwies im August 1917 auf Philister, die die Notwendigkeit eines Staatsapparates damit begründeten, dass die bürgerliche Gesellschaft bzw. das öffentliche Leben immer komplizierter werde und die Funktionen sich mehr und mehr differenzierten. Für Lenin war die Dialektik die Lehre, wie die Gegensätze identisch sein können und es sind (wie sie es werden) – unter welchen Bedingungen sie identisch sind, indem sie sich ineinander verwandeln -, warum der menschliche Verstand diese Gegensätze nicht als tote, erstarrte, sondern als lebendige, bedingte, bewegliche, sich ineinander verwandelnde auffassen soll.
Das Komplexe wird einfach, das Einfache komplex. Hier ist die Kreuzung erreicht, ab der Evolutionisten und Dialektiker in zwei verschiedene Richtungen fahren. Exemplarisch belegen und darstellen lässt sich das an der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, wie Marx und Engels sie im Manifest widergespiegelt haben: In den früheren Epochen der Geschichte finden wir fast überall eine vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände, eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen. Im alten Rom haben wir Patrizier, Ritter, Plebejer, Sklaven; im Mittelalter Feudalherren, Vasallen, Zunftbürger, Gesellen, Leibeigene, und noch dazu in fast jeder dieser Klassen besondere Abstufungen.
Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt. Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager.
Wissenschaftlicher Sozialismus, Dialektik und Fundamentalismus
Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ist eine sich in sich selbst widersprechende, ihre Lebensader ist eine von Widersprüchen geprägte. Dialektisches Denken als ihre Widerspiegelung lag seit Menschengedenken vor, aber es hat Jahrtausende gebraucht, ehe objektive Dialektik sich in ihrer Trias subjektiv im menschlichen Gehirn erfasste. Wir verfolgen einen Prozess in seiner Entwicklung bis zu seiner Selbsterfassung, wie er in sich sich bewusst wird. Philosophisch betrachtet hatte der Weg von Heraklit bis Hegel zurückgelegt werden müssen, ehe der Prozess der Weltentwicklung sich selbst innewurde. Erste tiefgehende gesellschaftswissenschaftliche, für unseren Kulturkreis verbindliche Gedanken finden wir in den Fragmenten Heraklits, der sich bewusst gegen die naturwissenschaftlich ausgerichteten antiken Philosophen in Opposition setzte. Der Zwiespalt zwischen einem pragmatischen und einem unruhig fruchtbaren Denken lag bereits vor. Der Philosoph habe nach Heraklit das Widereinanderstehende zusammenzudenken und Unstimmiges zur schönsten Harmonie. Alles Leben, so Heraklit weiter, entsteht aus Streit und Lebendiges und Totes schlagen ineinander um. Gleich am Anfang seiner Fragmente-Sammlung lesen wir: “Obwohl der Sinn allgemein ist, leben die Vielen, als hätten sie ein Denken für sich“ 1.
Dieses Denken für sich hatten die alten Weisen für sich als Refugium reserviert. Die Epoche der Bourgeoisie aber gesteht keine Weltabgeschiedenheit mehr zu, in ihr herrscht die nackte bare Zahlung, die sich selbst entfernteste Eremiten unterwirft. Durch Philosophie zur Ataraxie, zum unbeschädigten Gemüt zu gelangen, war das Credo der antiken Philosophie gewesen. Spätestens an einem Sommertag, an dem im Jahr 1749 Rousseau von einer völlig unvorhergesehenen Metanoia durchzuckt wurde, in der unter Bruch aller zivilisatorischen Traditionen die neue Epoche des Blitzkrieges und die Erkenntnis, in eine völlig verkehrte Welt hineingeworfen worden zu sein Platz griff, sind Ataraxie und Blitzkrieg die Extreme, die belegen, dass beim Handeln der Individuen unter der Bedingung der Entfremdung das Gegenteil der Intention herauskommen kann. Die bürgerliche Aufklärung tischte der Menschheit ein halbherziges Korrekturvorhaben auf, insofern nur eine des Radikalismus verdächtigte Minderheit der Aufklärer die Notwendigkeit einer Gründung einer neuen Gesellschaft erkannte. Die Mehrheit der Voltairianer verfolgte im Sinne eines Radikalenerlasses die Minderheit der Rousseauisten. Voltaire starb als gefeierter Bühnenautor; Rousseau an der Schwelle zum Irresein. Es ist heute unmöglich, sich dem weltrevolutionären Prozess zu entziehen, der alle und alles tangiert und dessen erlösenden Blitz die Konterrevolution fieberhaft entgegenarbeitet. Das dialektische Denken als Reflex ökonomischer Umbrüche erzwang die Entwurzelung der inneren Heimat der Philosophie als Liebe zur Weisheit hin zur vitalen Wissenschaft. Die Einebnung des Subjekts und seines privaten Denkens ist der Preis der neuzeitlichen Wissenschaft, deren Substanz schwerstgewichtig objektiver Natur ist. Ein Kennzeichen der hastigen modernen Welt, die das Wort ‘Blitzkrieg‘ hervorgebracht hat, ist das Hinausgerissenwerden des Subjekts aus seiner privat zurechtgelegten traditionellen Ordnung der Dinge. Den Individuen der Neuzeit kommt immer was dazwischen, unvollendete Werke häufen sich. Wissenschaftsgeschichtlich hat subjektives Denken sich durch sich selbst objektiven Entwicklungsgesetzen eingepasst und sich damit sozusagen durch sich selbst eingeebnet.
Der junge Engels denkt in seinem ökonomischen Erstlingswerk ‘Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie‘ (1843/44), das Marx als genial bezeichnete, ganz wie Heraklit: “Es liegt im Interesse jedes einzelnen, alles zu besitzen, aber im Interesse der Gesamtheit, daß jeder gleichviel besitze. So ist also das allgemeine und individuelle Interesse diametral entgegengesetzt“ 2. Marx und Engels hatten bereits in jungen Jahren in der ‘Heiligen Familie‘ aus dem Jahr 1845 den Grundstein ihrer Geschichtsdeutung gelegt: “Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt, es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird“ 3. Hier steckt viel Hegel gegen ihn selbst gerichtet drin. Das, was ist zu begreifen sei Aufgabe der Philosophie, denn das, was ist, sei die Vernunft, hatte der Idealist gelehrt. Das, was sich in gesellschaftlicher Bewegung befindet, richtig widerzuspiegeln sei Aufgabe der Gesellschaftswissenschaften, sagten Marx und Engels. Da für Hegel das Seiende vernünftig war, bedurfte es keiner Revolutionstheorie und keiner politische Organisationen unterdrückter Klassen. Da sich für Marx und Engels das Seiende widernatürlich ausgestaltet hatte, es den Lohnsklaven als eine tiefsitzende verkehrte Welt vorkam, und aktuell weiter und weiter sich als Perverses ausgestaltete und ausgestaltet, bedurfte und bedarf es einer Revolutionstheorie und einer organisatorischen Vereinigung des Proletariats. Revolutionäre sind Einiger bis hin zur Einsicht, was das Proletariat seinem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Solche Formulierungen gelingen nur tiefen Dialektikern, die die Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit auslegen. Der Schwerpunkt revolutionärer Tätigkeit ist das Organisieren. “Aber in dem Maße, wie die Geschichte vorschreitet und mit ihr der Kampf des Proletariats sich deutlicher abzeichnet, haben sie nicht mehr nötig, die Wissenschaft in ihrem Kopfe zu suchen; sie haben nur sich Rechenschaft abzulegen von dem, was sich vor ihren Augen abspielt, und sich zum Organ desselben zu machen“ 4.
Die ‘Heilige Familie‘ wurde im September 1845 abgeschlossen, einige Monate später lag die ‘Deutsche Ideologie‘ vor. Der von Engels in den ‘Umrissen‘ 1843/44 notierte Grundwiderspruch: ‘Der Einzelne will alles besitzen, die Gesellschaft ist dagegen‘ taucht in dem Gemeinschaftswerk ein Jahr später wieder auf, bereichert mit dem politischen Gedanken der Demokratie: In der bürgerlichen Gesellschaft bewegen sich die Individuen und suchen das an ihnen Besondere im Gegensatz gegen das Allgemeine, “wie in der Demokratie“ 5. Man kann die Politik nicht rechts oder links liegen lassen, die Klassen der bürgerlichen Gesellschaft müssen durch sie durch bzw. hindurch. Das ist die Dialektik der Politik: Durch sie hindurch zu ihrer Aufhebung. Die totale Politisierung aller gesellschaftlichen Bereiche unter Federführung des Proletariats und seiner militanten Kampfpartei erst macht die Gesellschaft frei von Politik, Entfremdung, Klassenkampf, Staat und Demokratie. Es gibt keine Freiheit des Einzelnen als privates Glück abseits der Politik. Die Ablenkung in der Freizeit von der Alltagsroutine hat nichts mit emanzipativer Freiheit zu tun, denn wenn der Mensch arbeitet, ist er nicht zu Hause und wenn er zu Hause ist, arbeitet er nicht. Im Konsumterror der spätbürgerlichen Gesellschaft wird die intellektuelle und kulturelle Substanz der Völker ausgehöhlt.
Heute werfen Hinz und Kunz Autobiografien auf den Büchermarkt, als ob ausgerechnet sie sich außerhalb der Spur historischen Zwanges bewegt haben und deswegen interessant sind, ohne sich bewusst zu sein, wie obsolet diese Selbstbespiegelungen mittlerweile geworden sind. Im Zeitalter des Absolutismus wäre eine Autobiografie des französischen Sonnenkönigs (L‘État, c‘est moi) ein politisches Schlüsselbuch gewesen, nach der technisch-industriellen Revolution, also ab 1770, schreiben nur Gestrige Autobiografien oder Bücher mit dem Titel ‘Mein Kampf‘. Die großen Dialektiker Hegel, Marx, Engels, Lenin und Stalin haben keine Autobiografien hinterlassen, wohl aber Trotzki, für dessen Autobiografie Hitler sehr lobende Worte fand. Schon in den Fragmenten des Heraklit eröffnete sich der Gedanke, dass das Denken allen gemeinsam ist. 6. Die Wissenschaft ist ein kollektiver Prozess. Zugleich errichtete die Manchester-Revolution eine Sperre auf dem Pfad zur fröhlichen Wissenschaft. Hegel hatte den Tenor des dialektischen Zeitalters in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes mit den Worten angegeben: Das Studium der Dialektik sei eine Sache der Geduld, des Ernstes, des Schmerzes und der Arbeit des Negativen. Daran ist umso mehr zu denken, als eine verwahrloste Linke suggeriert, Politik machen und Party machen sei miteinander vereinbar. Diese kleinbürgerlich geprägte Linke lässt außer Acht, dass sich vollendete Emanzipation als Ende von Politik, also von Klassenkampf historisch einstellt. Die Arbeit des Negativen ist der Bann, der auf unseren Köpfen liegt und den es abzuwerfen gilt.
Die von Heraklit herrührende dialektische Tradition wäre wahrscheinlich unter dem Ballst mittelalterlicher Scholastik verschüttet geblieben, hätte sie nicht Beihilfe zum rettenden Kontinuieren aus dem Vatikan erhalten. Es war der im Zeitalter des Übergangs von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft, der in der Periode der aufblühenden Städte dialektisch operierende katholische Bischof Nikolaus Cusanus (Nikolaus von Cues), seines Zeichens Visitator deutscher Klöster, der in seinen letzten Lebensjahren, er verstarb am 15. August 1464, das Amt des Generalvikars in Rom bekleidete und damit in der klerikalen Hierarchie des Vatikans gleich hinter dem Papst rangierte, der mit dem Kerngedanken seines Philosophierens, dass die sich im Endlichen ausschließenden Gegensätze im Unendlichen zusammenfallen (coincidentia oppositorium), nicht nur Vorformen dialektischen Denkens der bürgerlichen klassischen Philosophie formulierte, sondern auch die in der mittelalterlichen Philosophie weitgehend ein Stiefmütterchendasein fristende herakliteisch-dialektische Tradition aufbewahrte. Die Bedeutung dieses Bischofs in einer Zeit, die dazu überging, weltliche Fragen nicht mehr in religiöse, sondern umgekehrt, religiöse in weltliche aufzulösende, wird in den Geschichten der Philosophie oft nicht richtig, mit zu schwachem Akzent gewürdigt. Mit seinem Denken, dass Gott durch Alles in allem und alles durch alles in Gott sei, reicht er an pantheistisches Gedankengut heran, schon vor Kopernikus sah er die Erde nicht als Mittelpunkt des Universums, über diesen hinausgehend behauptete er, das Universum sei grenzenlos. Schon in Heraklits Fragmenten finden wir den Gedanken, dass das Göttliche herrsche, soweit es will. Es reicht hin im All und setzt sich als allgemein Objektives durch 7. Ein Grundzug im Denken von Cusanus ist das Streben nach objektiver Erkenntnis. Und auf dieses Erfassen des Fundamentalen kommt es dann an, in dem Gewimmel schreiender Weltwidersprüche nicht unterzugehen, sondern den Kurs zu halten auf das Essentielle der Epoche, das heute im Mitwirken bei der Zerstörung des Kapitalismus, und der völligen Vernichtung der Bourgeoisie besteht, um auf dieser Grundlage mit dem Kompass der Klassiker jeden konterrevolutionären Widerstand zu brechen, um den Sozialismus auf der Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus, also auf der vergesellschafteter Produktionsmittel, zu errichten.
In der Neuzeit hat Rousseau als ideologischer Repräsentant einer Gesellschaft selbständiger kleiner Warenproduzenten nach dem Ideal der Gleichheit tiefgehende dialektische Überlegungen vorgetragen. In ihm bestätigt sich die Aussage von Engels, dass aus dem Kleinbürgertum hervorragend progressive Klassenkämpfer entstammen können. Moses Heß trug in sein Tagebuch ein, der Genfer Bürger habe ihm die ersten sozialistischen Impulse gegeben. Rousseau erkannte plötzlich, dass jeder in der bürgerlichen Gesellschaft ein anderer ist als er selbst und dass jeder nur in der Vorstellung anderer lebt. Er erkannte plötzlich, dass der Mensch von Natur aus gut sei und dass es nur die Institutionen seien, die ihn verderben. Ebenso plötzlich erkannte er, dass alle großen Monarchien Europas geglänzt hatten oder noch glänzen, dass aber Staaten, die glänzen, bereits im Untergang begriffen sind. In der höchsten Reife beginnt der Untergang. Engels hebt Rousseau lobend hervor, dass sich in seinem Denken dialektische Figuren finden, die denen Hegels aufs Haar gleichen.
In der Geschichte der sozialistischen Theorie ist es der kleinbürgerliche Theoretiker Proudhon, ein Stammvater des Anarchismus, der den Widerspruch vergöttlicht 8. Kleinbürgerliche Theoretiker und proletarische können keine identischen Positionen zu der Zentralkategorie ‘Widerspruch‘ beziehen. Der Kleinbürger Proudhon interpretiert von Hegel inspiriert die Geschichte als Offenbarung einer universellen Vernunft und begreift die ökonomische Entwicklung nicht als fundamental für jene. Für Idealisten können die materiellen Verhältnisse nicht die Basis all ihrer Verhältnisse abgeben, ständig liegt bei ihnen die Verwechslung der Ideen mit den Dingen vor. Die Bibel ist und bleibt ein Komplementärbuch idealistischer Literatur. Obwohl das Wort Geschichtsphilosophie (philosophie de l‘ histoire) auf den 1694 in Paris geborenen Voltaire zurückgeht, war es bereits der 1668 in Neapel geborene Vico, der die Grundlage zu dieser gelegt hatte und folglich noch heute als ihr Begründer gilt. Vico nannte sie eine neue Wissenschaft. Ab 1725 saß er an der Veröffentlichung seines Hauptwerkes ‘Grundzüge einer neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker‘. Das war ein neuer Klang im Konzert der Wissenschaften in der Phase der Frühaufklärung: Die Menschengeschichte sei im Gegensatz zur Naturgeschichte selbst gemachte Geschichte; die Natur sei vorgefunden worden. Gegen die Idealisten hatte Vico in seinem Hauptwerk behauptet, dass die Ordnung der Ideen nach der Ordnung der Gegenstände fortschreiten muss. Noch der deutsche Philosoph Ludwig Feuerbach wird zur Begründung seines Materialismus gegen den Idealisten Hegel darauf verweisen, dass es eine Natur vor der Philosophie gegeben hab. Es lag bei Vico ein materialistischer Ansatz vor, der die jüdisch-christliche Geschichtstheologie brach und der ihn in gedankliche Nähe zu Marx brachte, der 1847 in seiner Polemik gegen Proudhon im ‘Elend der Philosophie‘ festhielt: “Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten“ 9. Die Produktionsmittel bestimmen folglich die Arbeitsorganisation und dem gemäß auch das gesellschaftliche Bewusstsein. Wie der 1632 in Amsterdam geborene Spinoza erkannte, dass die Bibel von Menschenhand geschrieben sein musste, in dieser Erkenntnis steckt eine ganze Menge historisch-gesellschaftliches Potential, das die Menschheit nach vorne brachte, so erkannte Vico gegen die jüdisch-christliche Heilsgeschichte, die die profane Geschichte zu einem Anhängsel der Kirchengeschichte erniedrigte, dass die Geschichte ganz empirisch von Menschen gemacht wird und dass diese profane Geschichte bisher von den Wissenschaftlern vernachlässigt worden war. Die Geschichte hatte für Vico als Bereich menschlicher Dinge, der eigenen geschaffenen Welt, kein der Forschung zur Selbsterkenntnis des Menschen verschlossen zu bleibendes Wesen. Der Mensch neige dazu, die ihn umgebenden Körper lieber zu erforschen als sich selbst. Für Vico war das ein Ausdruck der Armut des menschlichen Geistes. Es ist schwieriger sich selbst zu begreifen als die Dinge um einen herum. Der menschliche Geist ist nach Vico “aufgeschluckt und begraben vom Körper“, den das Auge erblickt, während es zur komplizierteren Selbstbetrachtung eines Spiegels bedarf. Der Kerngedanke Vicos, dass die Menschen ihre Geschichte selbst machen, dieser Kerngedanke Vicos liest sich bei Karl Marx so: “Was ist die Gesellschaft, welches auch immer ihre Form sei? Das Produkt des wechselseitigen Handelns der Menschen“ 10. Wir erkennen sofort, wie einfach Fragen zu beantworten sind, mit denen der menschliche Geist sich Jahrhunderte gerungen hatte, ist der Groschen erst einmal gefallen. Für Vico lag der wissenschaftliche Kern der geistigen Tätigkeit der Menschen nicht in der vorgegebenen Natur, einem Reich der Ungewissheit für ihn, sondern in der eigenproduzierten Geschichte. In der Tradition wurde anders gedacht und Vico sah sich als Kämpfer gegen deren Irrtum. Neapel, der Wirkkreis Vicos, gehörte zu den aufstrebenden Städten in der frühbürgerlichen Revolution und Vico sah das Unvermögen an politischer Klugheit und politischer Gewandtheit im Gehabe der bürgerlich urbanen Elite, das sich aus der Unaufgeklärtheit über den geschichtlichen Prozess menschlicher Entwicklung ergab. Nun hatte zwar Vico einen materialistischen Ansatz, aber keinen atheistischen, er kam selbst auf dem Gebiet der Geschichte, die er als Menschenwerk begriff, nicht ohne göttliche Vorsehung aus. Dass die Natur ein unsicheres Terrain sei, diese Anschauung kam eher der Thomas von Aquins gleich als der Galileis. In einem Brief an Castelli im Jahr 1613 hatte dieser gegen den Kirchenvater betont, dass die Natur die sichere Grundlage exakter Wissenschaften abgebe.
Gegen die progressive Intention in der Phase der frühbürgerlichen Revolution muss heute der Imperialismus als sterbender Kapitalismus die sogenannten Geschichtswissenschaften als Hort des bürgerlichen Humanismus im Geiste Alexander von Humboldts verkümmern lassen. Das Bildungsbürgertum hat sich längst in die vulgäre Sklaverei der technischen Digitalisierung begeben, mit der Folge, dass Bilder die Schrift überfrachten. Es ist durch das Gewimmel von Bildern, dem Sieg Axel Cäsar Springers, die Täuschung entstanden, dass wir in einer bunten und pluralen Welt leben. Am deutlichsten wird dies in der arbeiteraristokratischen Roten Fahne der MLPD (Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands), eine von Meisterschülern Springers fabrizierte Illustrierte, die im Angesicht des wissenschaftlichen Sozialismus betrügerisch zu einem Drittel aus Bildern besteht und uns anmahnt, gegen das Diffuse der Gegenwart, gegen den dreckigen Strom der Zeit die Urtexte der Klassiker im Sinne eines Bilderverbots in ihrer Schriftform reinzuhalten und sich nicht durch das Aufstellen von Lenin- und Marxfiguren in Gelsenkirchen-Horst täuschen zu lassen. Heute ist offenkundig, dass technische Fortschritte in der Phase des monopolistischen, faulenden und sterbenden Kapitalismus die Überlebenskrisen der Menschheit nicht vermindern, sondern vermehren. Wie der Imperialismus allgemein die Schrauben der Lohnsklaverei anzieht, sie keineswegs lockert, wie bürgerliche Ideologie es suggeriert, so wird der Mensch mehr und mehr ein Spielball fremder Mächte, deren objektive Strukturen aber zugleich substanziell im Zerfall begriffen sind. Das ist nur auf dialektische Weise zu verfolgen. Die Dialektik der Geschichte hat die Zeichen der Zeit auf Sturm gestellt. Imperialistische Ideologie muss heute auf Gedeih und Verderb dialektisches Denken aus dem Boden der Wissenschaften mit Stumpf und Stiel auszurotten versuchen, um trotz allen Geredes von Diversität eine Monokultur ökonomisch sofort verwertbaren Unkrauts zu kultivieren. Wissenschaftsgeschichtlich liegt ohne Zweifel eine Reduktion auf den Ausgangspunkt der bürgerlichen Ideologie vor, auf die für Descartes zweifelsfreie mathematisch-geometrische Methode, die sich selbst schon aus einer Reduktion auf das arme und idealistisch falsche ‘Ich denke also bin ich‘ ergab. Der Kreis hat sich geschlossen. Was am Ausgangspunkt durch die Grundsteinlegung der Mathematik als Mutterdisziplin der Wissenschaften als eine Instanz gegen religiös-metaphysische Vagheit galt, aus der heraus technischer Fortschritt, Konzentration und Kombination von Produktionsmitteln, kurz Industrialisierung nicht statthaben konnte, ist umgeschlagen in ein Totschlagknüppel gegen die Wissenschaften selbst. Dekadenz und Destruktion der dialektischen Methode gehen Hand in Hand. Die bürgerliche Ideologie ist, nachdem sie in Frankreich durch Rousseau, Fourier und Saint-Simon, in Deutschland durch Hegel, Hölderlin und dem jungen Schelling dem Gipfel der Dialektik zustrebte, den Hegel auf dem Kopf stehend erklommen hatte, in ihrer Sterbensphase wieder zur Infantilität zurückgefallen. Sie ist heute kindisch. Die Polemik der Dialektik gegen die Mathematik liegt bei Hegel 1806 in der Vorrede zur ‘Phänomenologie des Geistes‘ in klassischer Form vor: Die Mathematik weise fixierte, tote Sätze auf, “bey jedem derselben kann aufgehört werden; der folgende fängt für sich von neuem an, ohne daß der erste sich selbst zum andern fortbewegte und ohne daß auf diese Weise ein nothwendiger Zusammenhang durch die Natur der Sache selbst entstünde … Denn das todte, weil es sich nicht selbst bewegt, kommt nicht zu Unterschieden des Wesens, nicht zur wesentlichen Entgegensetzung oder Ungleichheit, daher nicht zum Uebergange des Entgegengesetzten in das Entgegengesetzte, nicht zur qualitativen, immanenten, nicht zur Selbstbewegung“ 11. Der Mathematik mangelt die Arbeit des Negativen, die Flüssigkeit, des Zusammenhangs und des Prozesses. Sie bleibt dem menschlichen Leben äußerlich und setzt mit den Elementen Null und Eins das Quantitative über das Qualitative. In ihr herrscht nach Hegel die Nacht über den Geist. Mindestens drei fatale Folgen schlagen heute zu Buche: In Quiz-Sendungen im Fernsehen kann es nicht zum Entgegensetzen des Entgegensetzten kommen, der Quizmaster verlangt fixierte, tote Elemente, ein Zufallsgenerator bar aller Logik gestaltet den Zusammenhang des Weltganzen. Mit der Null und der Eins ist im Digitalbereich das schnelle Geld zu machen, so dass Unausgereiftes Unausgereiftem auf dem Fuße folgt. Schließlich ist mit dem Untergang des Qualitativ-Dialektischen angesichts der Weltkrisen das Desaster bereits absehbar. Die geldgierige Spätbourgeoisie und die noch geldgierigeren Arbeiteraristokraten um Stefan Engel hausen in der Kultur der Völker wie eine Horde von Wildschweinen aus tiefschwarzer Seele in den ‘Hängenden Gärten von Babylon‘. Mit dem mittlerweile infantilen Werkzeug der subjektiven Rationalisten Descartes und Leibniz kann man sich steigernde Weltkrisen nicht meistern, sowenig man mit dem medizinischen Besteck von 1641, dem Jahr, in dem die Meditationen Descartes erstveröffentlicht wurden, heute eine Gehirnoperation durchführen kann. Es bleibt nur die Methode der materialistischen Dialektik übrig, der Stalin den letzten Schliff gegeben hat. Man muss sich nicht dagegen aussprechen, mit dem Studium der wissenschaftlichen Abhandlung ‘Über dialektischen und historischen Materialismus‘ den Grundstein zu legen, um zu einer objektiv-effektiven Bekämpfung des kapitalistischen Klassenfeindes zu gelangen. Denn die Aufhebung der Warenproduktion, die Urquelle aller Widersprüche und Krisen der modernen Gesellschaft, die ohne völlige gewaltsame Vernichtung der Bourgeoisie nicht die weltgeschichtliche Bühne passieren kann, ist die conditio sine qua non, um die arbeitende Menschheit mit Hilfe der materialistischen Dialektik und einer anführenden proletarischen Kriegspartei in eine krisenfreie Zukunft zu verweisen. Diese Dialektik und diese Partei bilden die Marksteine der Zukunft. Die bürgerliche Journaille und das Pfaffenpack nutzen heute das Sammelsurium an vom Imperialismus hervorgebrachten Krisen aus, die Menschen einzuschüchtern, ohne eigenen Lebensentwurf duckmäuserisch zu verzwergen. Übersegen wir nicht, dass Krisen etwas Heilsames in sich bergen: Das Wegbrechen des Verfaulten. 12. Nur in diesem Sinne sind die auf der Agenda2023ff. stehenden Krisen auszunutzen, alles andere hat mit Humanismus nichts zu tun.
[...]
- Citation du texte
- Heinz Ahlreip (Auteur), 2022, Wissenschaftlicher Sozialismus, Dialektik und Fundamentalismus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1309770
-
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X.