Soziale Phobie ist eine psychische Erkrankung, die mit chronischer Stressbelastung einhergeht, welche wiederum mit negativen psychischen und körperlichen Konsequenzen assoziiert ist. Ziel dieser Arbeit war es, den Zusammenhang zwischen sozialer Angst, subjektivem Stress, sowie dem Stressmarker Alpha-Amylase im Speichel (sAA) zu untersuchen und zu prüfen, ob soziale Unterstützung den Zusammenhang zwischen sozialer Angst und Stress abfedern kann.
Die Stichprobe bestand aus 33 Versuchspersonen (25 Frauen und 8 Männer, durchschnittlich 29 Jahre). Die Teilnehmenden entnahmen an zwei Tagen jeweils sechs Speichelproben. Als Maße der sAA wurde die Gesamtkonzentration über den Tag (AUC) und den Abfall am Morgen (AAR) herangezogen. Zur Erfassung der psychologischen Variablen wurden standardisierte Online-Fragebögen ausgefüllt.
"Was wir in den letzten Jahren in Deutschland erleben, zeigt eine Gesellschaft, die unter Angstsymptomen leidet, vielleicht sogar eine angsterkrankte Gesellschaft ist", beschreibt der Psychiater und Stressforscher Mazda Adli in der Radiosendung ‚Hörsaal‘ des Senders Deutschlandfunk Nova. Der Wissenschaftler beklagt die immense Zunahme sozialen Stresses durch neue Formen des Zusammenlebens, belastenden Arbeitsbedingungen, Digitalisierung und die Beschleunigung in allen Lebensbereichen und den damit verbundenen Anstieg stressbedingter psychischer Erkrankungen. Eine Studie der TK-Krankenkasse bestätigt diese Einschätzung: Ungefähr 60 % der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland fühlt sich regelmäßig gestresst. Zudem verdoppelten sich die Krankheitstage aufgrund psychischer Erkrankungen in den letzten 10 Jahren. Stress ist grundsätzlich eine gesunde Reaktion körperlicher und psychischer Systeme, um uns vor akuten Gefahren zu schützen und überlebenswichtiges Verhalten im Umgang mit Bedrohungen zu ermöglichen. Besonders sozialer Stress aktiviert unsere körpereigenen Stresssysteme, um uns davor zu bewahren, durch normabweichendes Verhalten aus überlebenswichtigen sozialen Netzwerken herauszufallen. Die Angst vor sozialen Situationen ist also ein angeborener psychologischer Mechanismus. In der deutschen Bevölkerung leiden jedoch 2,5 % der Menschen im Laufe des Lebens an einer psychischen Erkrankung, die sich in einer extremen Angst vor zwischenmenschlichen Interaktionen äußert und einen großen Leidensdruck und Beeinträchtigungen in vielen Lebensbereichen mit sich bringt: die Soziale Phobie.
Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung
Abstract
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Symbolverzeichnis
Einleitung
1 Theoretischer Hintergrund
1.1 Stress
1.1.1 Stresstheorien
1.1.1.1 Reaktionszentrierte Theorien
1.1.1.2 Reizzentrierte Theorien
1.1.1.3 Transaktionale Theorien
1.1.1.4 Ressourcenerhaltungstheorie
1.1.1.5 Diathese-Stress-Modell
1.1.2 Physiologische Stressreaktionen
1.2.1.1 Physiologische Konsequenzen dauerhaften Stresses
1.1.3 Alpha-Amylase als biologischer Stressmarker
1.1.3.1 sAA-Tagesprofil und dessen Determinanten
1.1.3.2 Alpha-Amylase und Stress
1.2 Soziale Phobie
1.2.1 Konzeptualisierungen
1.2.2 Prävalenz
1.2.3 Differenzialdiagnostik, Komorbiditätund Suizidalität
1.2.4 Verlauf
1.2.5 Äthiologie
1.2.5.1 Genetische Faktoren & Temperament
1.2.5.2 Proximale Faktoren: Kognitionen & Verhalten
1.2.5.3 Umweltfaktoren
1.2.6 Soziale Ängste und physiologische Stressreaktionen
1.3 Soziale Unterstützung
1.3.1 Soziale Unterstützung und Stress
1.3.2 Soziale Unterstützung und Soziale Phobie
1.4 Fragestellung und Hypothesen
1.4.1 Hypothese 1: Subjektiver Stress & sAA
1.4.2 Hypothese 2: Soziale Angst und Stress
1.4.3 Hypothese 3: Soziale Angst, soziale Unterstützung und Stress
2 Methode
2.1 Stichprobe
2.2 Studiendesign
2.3 Durchführung und Materialien
2.3.1 Einführungstreffen
2.3.2 Erhebung derAlpha-Amylase Tagesprofile
2.3.3 Online-Fragebogen
2.4 Operationalisierung der gemessenen Variablen
2.4.1 Alpha-Amylase im Speichel als Stressmaß
2.4.2 Subjektives Stressempfinden
2.4.3 Soziale Phobie
2.4.4 Soziale Unterstützung
2.4.5 Soziodemographische Daten
2.4.6 Therapieerfahrung
2.4.7 Kontrollvariablen
2.5 Statistische Methoden
3 Ergebnisse
3.1 Datenaufbereitung
3.1.1 Voraussetzungsprüfung und Reliabilität
3.2 Deskriptive Statistik
3.3 Kontrollvariablen
3.4 Hypothesentestung
3.4.1 Hypothese 1: Subjektiver Stress und sAA
3.4.2 Hypothese 2: Stress und Soziale Phobie
3.4.3 Hypothese 3: Soziale Angst, soziale Unterstützung und Stress
3.5 Explorative Statistik
4 Diskussion
4.1 Zusammenfassung
4.2 Theoretische Einordnung der Ergebnisse
4.3 Limitationen
4.4 Praktische Implikationen und Forschungsperspektiven
4.5 Fazit
Literaturverzeichnis
Angang
Zusammenfassung
Ziel'. Soziale Phobie ist eine psychische Erkrankung, die mit chronischer Stressbelastung einhergeht, welche wiederum mit negativen psychischen und körperlichen Konsequenzen assoziiert ist. Ziel dieser Arbeit war es, den Zusammenhang zwischen sozialer Angst, subjektivem Stress, sowie dem Stressmarker Alpha-Amylase im Speichel (sAA) zu untersuchen und zu prüfen, ob soziale Unterstützung den Zusammenhang zwischen sozialer Angst und Stress abfedern kann. Methode'. Die Stichprobe bestand aus 33 Versuchspersonen (25 Frauen und 8 Männer, durchschnittlich 29 Jahre). Die Teilnehmenden entnahmen an zwei Tagen jeweils sechs Speichelproben. Als Maße der sAA wurde die Gesamtkonzentration über den Tag (AUC) und den Abfall am Morgen (AAR) herangezogen. Zur Erfassung der psychologischen Variablen wurden standardisierte Online-Fragebögen ausgefüllt. Ergebnisse'. Soziale Angst war hoch mit mehr subjektivem Stresserleben korreliert. Entgegen der Hypothesen waren die Werte der AUC bei Personen mit größerer sozialer Angst, sowie mit größerem subjektivem Stress niedriger. Größere soziale Unterstützung ging entgegen der Hypothesen mit höherem subjektiven Stress und mehr sozialer Angst einher, hing wie vermutet mit einer niedrigeren AUC zusammen und moderierte den Effekt zwischen sozialer Angst und den Stress-Variablen nicht. Zur AAR wurden keine Zusammenhänge gefunden. Diskussion'. Chronischer Stress aufgrund sozialer Angst kann in der Stichprobe, wie auch bei anderen Erkrankungen beobachtbar, eine Dysregulation der Stresssysteme und dadurch eine geringere AUC verursacht haben. Da fast alle Teilnehmenden hohe soziale Unterstützung erfuhren, sind die Ergebnisse diesbezüglich nur eingeschränkt interpretierbar. Zukünftige Studien zum Zusammenhang zwischen Stress und Sozialer Phobie sollten zum Erzielen genauer Ergebnisse ausschließlich Personen mit klinischer Diagnose ohne Komorbiditäten einbeziehen.
Stichwörter: Alpha-Amylase, Stress, Soziale Phobie, soziale Unterstützung
Abstract
Objective'. Social phobia is a mental illness associated with high chronic stress, which in turn has negative mental and physical consequences. The aim of this work was to investigate the relationship between social anxiety, subjective stress and the stress marker alpha-amylase in saliva (sAA) and to examine whether social support can buffer the relationship between social anxiety and stress. Method'. The sample consisted of 33 participants (25 women and 8 men, average 29 years). The participants took six saliva samples on two days respectively. The total concentration during the day (AUC) and the decrease in the morning (AAR) were used as measures of the sAA. Standardized online questionnaires were completed to record the psychological variables. Results'. Social anxiety was highly correlated with higher subjective stress. Contrary to the hypotheses, the AUC values were lower in people with greater social anxiety and greater subjective stress. Also in contrary to the hypotheses, greater social support was associated with higher subjective stress and more social anxiety. It was, as suspected, associated with a lower AUC, and did not moderate the effect between social anxiety and the stress variables. No connections of the AAR to any of the variables were found. Discussion'. Chronic stress due to social anxiety can have caused a dysregulation of the stress systems and thus a lower AUC in the sample, as can be observed in other diseases. Since almost all participants received a high level of social support, the results can only be interpreted to a limited extent. Future studies of the relationship between stress and social phobia should only include patients with a clinical diagnosis and no comorbidities for accurate results.
Keywords', alpha amylase, stress, social phobia, social support
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildung 1: Entstehungsmodell der Sozialen Phobie von Spence & Rapee (2016)
Abbildung 2: Tagesprofile derAlpha-Amylase im Speichel
Tabelle 1: Diagnosekriterien Sozialer Phobie nach ICD-10 (Dilling & Freyberger, 2012)
Tabelle 2: Deskriptive Kennwerte der gemessenen Variablen
Tabelle 3: Korrelationen der Stressmaße und der Skalen Sozialer Phobie
Tabelle 4: Moderatoranalysen zur Vorhersage des Einflusses sozialer Angst auf Stress durch soziale Unterstützung
Tabelle 5: Korrelationen der korrigiertenAUC mit den Stress- undAngstskalen
Tabelle 6: Partielle Korrelationen der Variablen unter Kontrolle der Werte der Depressionsskala
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Einleitung
"Was wir in den letzten Jahren in Deutschland erleben, zeigt eine Gesellschaft, die unter Angstsymptomen leidet, vielleicht sogar eine angsterkrankte Gesellschaft ist.“, beschreibt der Psychiater und Stressforscher Mazda Adli in der Radiosendung ,Hörsaal‘ des Senders Deutschlandfunk Nova (Bartsch, 2019). Der Wissenschaftler beklagt die immense Zunahme sozialen Stresses durch neue Formen des Zusammenlebens, belastenden Arbeitsbedingungen, Digitalisierung und die Beschleunigung in allen Lebensbereichen und den damit verbundenen Anstieg stressbedingter psychischer Erkrankungen. Eine Studie der TK-Krankenkasse bestätigt diese Einschätzung: Ungefähr 60% der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland fühlt sich regelmäßig gestresst. Zudem verdoppelten sich die Krankheitstage aufgrund psychischer Erkrankungen in den letzten 10 Jahren (Wohlers & Hombrecher, 2016). Stress ist grundsätzlich eine gesunde Reaktion körperlicher und psychischer Systeme, um uns vor akuten Gefahren zu schützen und überlebenswichtiges Verhalten im Umgang mit Bedrohungen zu ermöglichen (Kaluza, 2018a). Besonders sozialer Stress aktiviert unsere körpereigenen Stresssysteme, um uns davor zu bewahren, durch normabweichendes Verhalten aus überlebenswichtigen sozialen Netzwerken herauszufallen (Gilboa-Schechtman et al., 2014). Die Angst vor sozialen Situationen ist also ein angeborener psychologischer Mechanismus. In der deutschen Bevölkerung leiden jedoch 2.5% der Menschen im Laufe des Lebens an einer psychischen Erkrankung, die sich in einer extremen Angst vor zwischenmenschlichen Interaktionen äußert und einen großen Leidensdruck und Beeinträchtigungen in vielen Lebensbereichen mit sich bringt: die Soziale Phobie (Stein et al., 2017). Der Ursprung der Erkrankung liegt in genetischen und Persönlichkeitsfaktoren, individuellen Erfahrungen im näheren Umfeld und kulturellen Einflüssen. Gerade in westlichen Gesellschaften, die von großem Individualismus und hohem Leistungsdruck geprägt sind, leiden Menschen häufiger an Sozialer Phobie (Spence & Rapee, 2016). Die Erkrankung ist durch einen meist frühen Beginn in der Kindheit oder Jugend, eine geringe Behandlungsquote und daher meist lange Krankheitsdauer und chronischen Stress durch die allgegenwärtige Angst vor sozialen Situationen gekennzeichnet (Fydrich, 2018). Es ist bekannt, dass langfristiger Stress durch die dauerhafte Aktivierung der physiologischen Stresssysteme zu einer höheren Erkrankungswahrscheinlichkeit für psychische sowie chronische körperliche Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Diabetes, Defizite des Immunsystems, und Übergewicht führt (Miller et al., 2007). Die Erforschung der Zusammenhänge zwischen Sozialer Phobie und den psychologischen und physiologischen Stressreaktionen hat also sowohl für ein vertieftes Störungsverständnis als auch für die Entwicklung geeigneter Behandlungsansätze eine große Relevanz. Das Enzym Alpha-Amylase im Speichel (sAA) repräsentiert die Aktivität eines der körpereigenen Stresssysteme und eignet sich daher als Biomarker zur Überprüfung biopsychosozialer Modelle der Stressvulnerabilität in Bezug auf verschiedene psychische Erkrankungen (Ali & Nater, 2020). In der vorliegenden Studie wird untersucht, wie das Ausmaß sozialer Angst, subjektiv empfundener Stress und sAA Zusammenhängen. Zudem wird überprüft, ob soziale Unterstützung dazu führt, dass sozial ängstliche Personen weniger körperlichen und psychischen Stress erleben.
1 Theoretischer Hintergrund
1.1 Stress
Aus dem lateinischen Wort ,distringere‘, also beanspruchen, einengen‘ hervorgehend, (Dudenredaktion, 2015) wurde der Begriff Stress im 18. Jahrhundert in der Materialforschung wissenschaftlich eingeführt und beschreibt die durch Belastung verursachte Verformung von Material. Das Konzept wurde zunächst von Walter Cannon 1926 metaphorisch in die Medizin, Biologie und Psychologie übertragen (Fröhlich, 2011) und seitdem als feststehender alltagsund wissenschaftsrelevanter Begriff etabliert. Als Modewort in aller Munde, das sowohl zur Beschreibung von Umweltreizen („Einkäufen gehen ist purer Stress“), als auch emotionaler Zustände („ich bin so gestresst von allem“) verwendet wird, ist eine defmitorische Abgrenzung kein leichtes Unterfangen - zumal die wissenschaftlichen Theorien zu dem Thema vielfältig sind. So formulierte bereits Hans Selye, einer der ersten psychologischen Stressforscher: „Jeder weiß was Stress ist und niemand weiß, was es ist“ (Selye, 1973). Vor der näheren Beleuchtung relevanter Stresstheorien wird zunächst eine allgemeine Definition des Begriffs aus dem Wörterbuch der Psychologie gegeben:
„[Stress beschreibt] Zustände der Beanspruchung, die aus Prozessen der Auseinandersetzung mit belastenden Bedingungen, den Stressoren hervorgehen. Als Stressoren gelten alle Noxen, d.h. potentiell schädigende Umstände [...], die das innere Gleichgewicht stören und Neuanpassung [...], wirkungsvolle Auseinandersetzung [...] und/ oderAbwehrverlangen.“ (Fröhlich, 2011 S.461)
1.1.1 Stresstheorien
In der Literatur finden sich reaktionszentrierte, reizzentrierte und transaktionale Konzepte von Stress, die im Folgenden näher dargestellt werden. Zudem wird die Ressourcenerhaltungstheorie von Stress und das Diathese-Stress-Modell vorgestellt.
1.1.1.1 Reaktionszentrierte Theorien.
Die reaktionszentrierten Theorien bildeten den Anfang der Stressforschung und legen ihren Schwerpunkt auf die durch Stress verursachten physiologischen, emotionalen und behavioralen Konsequenzen. Zunächst führte Walter Cannon (1926) das Modell der Homöostase ein. Demnach versucht der Körper durch typische Reaktionen auf stressauslösende Situationen das innere Gleichgewicht wiederherzustellen, um das Überleben des Individuums zu sichern. Diese Reaktionen resultieren in Flucht- oder Kampfverhalten.
Eine Weiterentwicklung von Cannons Modell ist das Konzept üqx Allostase von Sterling und Eyer (1988) - hier wird von einer langfristigen Anpassungsfähigkeit des Menschen ausgegangen, der auf Stressoren mit bleibenden Veränderungen des Organismus reagiert, um so auch bei dauerhaften Belastungen das Überleben zu sichern. Ein Beispiel dafür ist der durch den Körper eigens herabgesetzte Energiebedarf, sobald er eine reduzierte Nahrungsaufnahme über einen langen Zeitraum verzeichnet. Als Weiterentwicklung des Modells führte McEwen (1998) zusätzlich den Begriff der allostatischen Belastung (allostatic load) ein. Dieser beschreibt die Abnutzung der körpereigenen Kompensationsmechanismen bei dauerhaftem Stress und macht deutlich, dass die Anpassungsfähigkeit eines Organismus bei Dauerbelastung an seine Grenzen stößt, was negative Konsequenzen mit sich bringt.
Das wohl bekannteste reaktionszentrierte Stresskonzept ist das Allgemeine Adaptationssyndrom, eingeführt von Hans Selye (1974). Laut Selye kommt es in Stresssituationen, unabhängig von der Art der Stressoren, zu nicht-spezifischen Körperreaktionen in verschiedenen Bereichen. Dabei bilden neurobiologische Prozesse einen Gesamtkomplex an physiologischen Schutzmechanismen, der in drei Phasen verläuft - einer Alarm-, einer Widerstands- und einer Erschöpfungsphase.
Trotz der großen Relevanz der reaktionsfokussierten Modelle für die Stressforschung, konnte aktuellere Forschung zeigen, dass unter Stress nicht allein unspezifische Reaktionsmuster auftreten. Die physiologische Stressreaktion hängt in ihrer Art und Stärke sowohl von der Art, Qualität, Intensität, zeitlichen Ausdehnung der Stressoren, sowie von persönlicher Betroffenheit ab. Experimente mit Ratten zeigten, dass unterschiedliche Stressoren (Kälte, Wärme, Hunger etc.) distinkte physiologische Reaktionsmuster auslösen (Pacak, 2000; Pacak et al., 1998) und auch bei Menschen rufen unterschiedliche subjektive Emotionen verschiedene endokrine Reaktionen hervor (Henry, 1986, 1990; Miller et al., 2007). Häufig werden Reaktionen des sympathischen und parasympathischen Nervensystems zur Messung physiologischer Stressreaktionen herangezogen. Da jedoch auch positive Gefühle wie Freude, Neugierde und Überraschung mit der Aktivierung dieser Systeme in Verbindung stehen, kann man von deren Aktivität nicht automatisch auf das Vorhandensein von Stress rückschließen und muss weitere Maße, wie subjektive Einschätzungen der Emotionen, mit einbeziehen (Birbaumer & Schmidt, 2010). Auch ist die Stärke der Aktivierung der körperlichen Stresssysteme davon abhängig, seit wann der Stressor im Leben der Person präsent ist, ob es sich bei ihm um eine Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit, des sozialen Status oder um ein traumatisches Ereignis handelt und ob er als potentiell kontrollierbar wahrgenommen wird (Miller et al., 2007).
1.1.1.2 Reizzentrierte Theorien.
Reizzentrierte Konzepte beschäftigen sich mit der Identifikation und Kategorisierung bestimmter Reize und Situationen, die als negative Stimuli beziehungsweise Stressoren fungieren und zu einer Stressreaktion führen. Allgemein lassen sich physikalische (Lärm, Hitze etc.), körperliche (Schmerz, Hunger etc.), Leistungs- (Zeitdruck, Überforderung etc.) und soziale Stressoren (Konkurrenz, Konflikte etc. ) unterscheiden (Kaluza, 2018b).
Einen wichtigen Beitrag zu reizzentrierten Stresstheorien liefert die Life-Event-For- schung, die davon ausgeht, dass einschneidende kritische Lebensereignissejeweils unterschiedlich starke, aber für die Gesundheit weitreichende Stressreaktionen hervorrufen (Filipp, 1995). Ebenfalls forschungsrelevant ist das Konzept der daily hassles, das die Kumulation alltäglicher kleinerer Stressoren als einen Risikofaktor in der Entstehung stressabhängiger Erkrankungen sieht (Kanner et al., 1981).
Die Autoren Elliot und Eisdorfer (1982) kategorisieren Stressoren nach Dauer und Verlauf. Die fünf Hauptkategorien sind: (1) akute, zeitliche limitierte Stressoren wie beispielsweise ein Stresstest, (2) kurze naturalistische Stressoren, wie eine Prüfungssituation, (3) Sequenzen stressreicher Ereignisse, wie ein Umzug in eine fremde Stadt, (4) Chronische Stressoren, wie langfristige Pflege von Angehörigen und (5) entfernte Stressoren, wie ein Trauma.
Eine weitere verbreitete Kategorisierung von Wheaton (1999) teilt Stressoren zunächst in Mikrostressoren, die sich auf das alltäglich Leben des Individuums beziehen, sowie Makro- stressoren, die sich auf der Ebene des interpersonellen Zusammenlebens bewegen, ein. Genauer unterscheidet er (1) plötzliche Traumata, (2) lebensverändernde Ereignisse, (3) daily hassles, (4) non-events (beispielsweise das Nicht-Eintreten eines sozial erwünschten Ereignisses, wie Kinder bekommen in einem bestimmten Alter) und (5) chronische Stressoren.
1.1.1.3 Transaktionale Theorien.
Im Rahmen der Kognitiven Wende rückte der Fokus in der Stressforschung von einer rein physiologischen Betrachtung der Stressreaktion auf psychologisch-kognitive Faktoren von Stress. Erstmals postulierte Mason (1968), dass neben dem Vorhandensein von Umweltreizen auch bestimmte Wahmehmungsfaktoren gegeben sein müssen, damit es zu einer physiologischen Stressreaktion kommt. Hierzu zählen die Wahrnehmung von Neuheit, Unkontrollierbarkeit und Unvorhersehbarkeit der Stimuli.
Das bekannteste kognitive Modell, das auch Umwelt- und Personenfaktoren integriert, ist das Transaktionale Stressmodell von Lazarus & Folkman (1987). Die Autorinnen halten fest, dassjedes potentielle Stressereignis in Abhängigkeit von der aktuellen Situation, der individuellen Erfahrungen, Werten und Zielen, der Persönlichkeit, sowie den verfügbaren Bewältigungsmechanismen (Coping-Strategien) von Menschen verschieden wahrgenommen wird und daher auch unterschiedliche Reaktionen hervorruft. Laut den Autorinnen verlaufen diese in drei Phasen:
(1) Sobald ein Stressor auftritt, erfolgt zunächst die Phase des ,primary appraisals‘. In dieser wird die Situation als irrelevant, angenehm oder bedrohlich (also stresserzeugend) kategorisiert. Nur wenn sie als bedrohlich wahrgenommen wird, erfolgt eine weitere Einordnung: handelt es sich um (1) eine bereits geschehene Schädigung oder einen Verlust (2) eine Bedrohung, die in der Zukunft liegt oder (3) eine Herausforderung, die noch bewältigt werden kann?
(2) In der folgenden Phase, dem secondary appraisak, geschieht die Abwägung der eigenen Bewältigungsmöglichkeiten: Die kognitive Aktivierung verfügbarer Bewältigungsstrategien (coping resources) und die Einschätzung, welche dieser Strategien in derje- weiligen Situation einsetzbar sind (coping options). Die Strategien können sowohl emotionsorientiert, also auf intrapsychische Regulation, oder problemorientiert, also auf Veränderung der äußeren Umstände fokussiert sein. Stress resultiert aus dieser Phase, wenn die ausgewählten Ressourcen nicht geeignet erscheinen, um die bedrohliche Situation abzuwenden.
(3) Wurde eine Bewältigungsstrategie angewandt, folgt das ,reappraisal‘, also die Neubewertung der Situation und der eigenen Ressourcen. Jede neue Stresssituation erweitert also die Lernerfahrungen der Person und nimmt Einfluss auf deren Selbstwert, deren Ziele usw. Durch diesen Transaktionsmechanismus kann eine ähnliche Situation in der Zukunft bei derselben Person zu unterschiedlichen Reaktionen führen.
1.1.1.4 Ressourcenerhaltungstheorie.
Laut der Stresstheorie von Hobfoll (1989) ist der Wunsch nach einer Erhaltung und dem Erlangen interner (z.B. Optimismus, Kontrollüberzeugungen, ...) und externer (z.B. sozioökonomischer Status) Ressourcen ein grundlegendes menschliches Grundbedürfnis. Innerhalb des Lebens vollzieht sich eine kontinuierliche Gewinn- und Verlustspirale von Ressourcen, wobei Verlust grundsätzlich stärker wahrgenommen wird als der Zugewinn neuer Ressourcen. Wenn also Ressourcen als bedroht angesehen werden, verloren gehen oder über eine lange Zeit ohne Erfolg eingesetzt werden, kommt es zu Stress, da bisherige Lebensweisen eingeschränkt erscheinen. Wichtige menschliche Ressourcen sind laut Hobfoll Gegenstände (z.B. Nahrungsmittel), Bedingungen (z.B. beruflicher Erfolg), Persönlichkeitsmerkmale (z.B. Intelligenz) und Energien (Werkzeuge zum Zugang von Ressourcen, z.B. Wissen oder Geld). Im Gegensatz zu vielen anderen Theorien sieht Hobfoll soziale Ressourcen nicht als ausschließlich positiv an, da diese auch immer negative Folgen oder Verläufe mit sich bringen können.
1.1.1.5 Diathese-Stress-Modell
Die Diathese-Stress-Modelle (auch VulnerabilitätsStress-Modelle genannt), werden häufig zur Erklärung der Entwicklung psychischer Krankheiten herangezogen (Wittchen & Hoyer, 2011). Stress wird in diesen Modellen als komplexe Anforderungssituationen auf biologischer, psychologischer und sozialer Ebene gesehen, der sich eine Person anpassen muss. Für diese Anpassungsreaktion besitzen Menschen bestimmte Dispositionen, die das Ausmaß ihrer Resistenz gegenüber Belastungen prägen. Jeder Mensch besitzt spezifische Vulnerabilitäten, die mit einer geringeren Belastbarkeit und einer höheren Auftretenswahrscheinlichkeit psychischer Erkrankungen einhergehen. Zudem besitzen Menschen Resilienzen, die diese Wahrscheinlichkeit verringern. Zu den Risiko- und Schutzfaktoren zählen biologische (genetische), psychologische und soziale Einflüsse und Bedingungen und die daraus resultierenden Lernerfahrungen. Sie tragen zu der Entwicklung adaptiver oder maladaptiver Coping-Strategien beziehungsweise Handlungskompetenzen bei. Kommt es zu einer dauerhaften Stressbelastung steigtje nach Disposition und verfügbaren Coping-Strategien, die Wahrscheinlichkeit, an einer psychischen Störung zu erkranken.
Das Diathese-Stress-Modell beschäftigt sich also damit, warum Menschen erkranken. Antonovsky (1979, 1997) formulierte als Gegentheorie ein salutogenetisches Modell, das sich bewusst von der pathogenetischen Betrachtung abwendet und die Frage stellt: Welche Faktoren tragen dazu bei, dass Menschen trotz vielseitigen Stressoren gesund bleiben? Er geht davon aus, dass sich zwar dauerhafte maladaptive Stressbewältigung pathologisch entwickeln kann, sieht jedoch Stressoren als alltägliche Begleiterscheinungen des menschlichen Lebens, die durch die hohe Resistenz der Psyche in den meisten Fällen eher neutral oder bei erfolgreicher Bewältigung sogar gesundheitsfördernd sind. Für eine erfolgreiche Stressbewältigung ist ein Gefühl von Kohärenz die Voraussetzung: Das Gefühl, dass man Situationen verstehen und bewältigen kann, sowie die Wahrnehmung der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens.
1.1.2 Physiologische Stressreaktionen
Die Betrachtung der körperlichen Stress-Mechanismen leistet einen großen Beitrag zum Verständnis der psychischen Stressreaktionen und deren Konsequenzen bei. Wie bereits Selye (1974) beschreibt, kommt es in akuten Belastungssituationen zu einer Aktivierung bestimmter Bereiche des zentralen und des vegetativen Nervensystems, sowie des Hormonsystems. Genauer genommen werden besonders zwei physiologischen Systeme in Gang gesetzt: die Sympathikus-Nebennierenmark-Achse (SNA) und die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennie- renachse (HHNA).
Die SNA ist Teil des vegetativen Nervensystems, das den Sympathikus, den Parasympathikus und das Nervensystem des Darms umfasst und für die Kommunikation zwischen den Organen zuständig ist. Die Teilsysteme enervieren verschiedene Muskeln, Blutgefäße, Organe, Drüsen und anderes Gewebe, um dort Aktivierungsprozesse anzustoßen. Vereinzelt verursachen die Systeme auch eine Hemmung bestimmter Prozesse. Hierbei wirken Sympathikus und Parasympathikus teilweise antagonistisch und regulieren sich gegenseitig (z.B. beim Herzen, der Blase, der Iris), meistens reagieren die Zielorgane allerdings nur auf eines der Systeme (Birbaumer& Schmidt, 2010; Jänig, 2011).
Die primäre Einschätzung einer bedrohlichen Situation passiert im Gehirn: Sobald Gefahrenreize von den Sinnesorganen aufgenommen und weitergeleitet werden, laufen diese als neuronale Signale im Zwischenhirn im Thalamus zusammen, der die Information an die Großhirnrinde weiterleitet. Hier, am Ort des bewussten Wahrnehmens und Denkens, wird die Situation analysiert und interpretiert. Die generierten Informationen werden ins Limbische System zur Amygdala weitergeleitet wird, die der Situation entsprechende subjektive Emotionen auslöst. Zudem werden über den Hypothalamus wichtige Neurotransmitter in Richtung Stammhirn freigesetzt, die das sympathische Nervensystem aktivieren, das wiederum in der Nebenniere die Ausschüttung der Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin ins Blut herbeiführt. Deren Wirkung an den Zielorganen ist von den dort angesiedelten Rezeptor-Typen (so genannte a- und ß- adrenerge Rezeptoren) abhängig, da Noradrenalin und Adrenalin unterschiedliche Rezeptor-Affinitäten aufweisen. Noradrenalin bewirkt die Verengung von Blutgefäßen, bewirkt also eine Erhöhung des Blutdrucks und Adrenalin führt zu einem erhöhten Herzschlag, der Weitung der Lungengefäße, sowie der Bereitstellung von Energie durch die Erhöhung des Blutzuckerspiegels und die Freisetzung freier Fettsäuren ins Blut. So wird in Gefahrensituationen Ausdauer und Bewegungsfähigkeit garantiert. Auch wird durch den allgemeinen Erregungszustand und durch eine erhöhte Sauerstoffzufuhr das Gehirn aktiviert und sorgt für eine erhöhte Konzentration und Aufmerksamkeit. Durch die schnelle Ausschüttung und die schnelle Wiederaufnahme und Verstoffwechslung der Katecholamine wird diese Stressreaktion auch als die „schnelle“ unmittelbare Stressreaktion bezeichnet, die für eine erste „fight-or-flight“-Reaktion in einer bedrohlichen Situation verantwortlich ist (Birbaumer & Schmidt, 2010; Jänig, 2011; Kaluza, 2018a; Morschitzky, 2009).
In dem Moment, in dem die erste Stressreaktion ihren Höhepunkt erreicht, beginnt die zweite Welle der Stressreaktion. Diese verläuft langsamer über die HHNA. Hierbei wird im Hypothalamus durch das Corticotropin-releasing Hormon (CRH) der Hypophysenvorderlappen aktiviert, der adrenocortikotrope Hormone (ACTH) freisetzt und damit die Ausschüttung von Glucocorticoiden, wie dem Steroidhormon Cortisol, in derNebennierenrinde verursacht. Dies ist dafür verantwortlich, die Homöostase im Körper aufrecht zu erhalten und beeinflusst daher eine Vielzahl von Aufgaben in Bezug auf den Stoffwechsel, das Immunsystem und der Verhaltenssteuerung (Birbaumer & Schmidt, 2010; Jänig, 2011; D. B. Miller & O’Callaghan, 2002; Sapolsky et al., 2000a). Die Regulation der Stressreaktion erfolgt durch das Hormon selbst, da es durch Bindung an Rezeptoren im Hippocampus und der Hypophyse die Freisetzung von CRH und ACTH verhindern und somit die Aktivität der HHNA selbst regulieren kann. Dies wird als negative Feedback-Schleife bezeichnet (Birbaumer & Schmidt, 2010; Johnson et al., 1992; D. B. Miller & O’Callaghan, 2002). Die Cortisol-Ausschüttung folgt einem typischen Tagesprofil mit einem starken Anstieg nach dem Erwachen und einen kontinuierlichen Abfall über den Tag. In einer akuten Stresssituation steigt es allerdings schnell an. Die Wirkungen von Cortisol sind vielfältig und für metabolische, immunologische sowie neurologische Veränderungen verantwortlich (Birbaumer & Schmidt, 2010; Morschitzky, 2009). Die Wirkungen der Neurotransmitter beziehungsweise Hormone der beiden Stress-Achsen interagieren stark miteinander (Munck, Guyre, & Holbrook, 1984; Sapolsky et al., 2000):
(1) Kardiovaskuläre Wirkung: Ebenso wie Katecholamine hat Cortisol eine indirekte stimulierende Wirkung auf das Herz-Kreislauf-System. Da es die Rezeptorsensiti- vität für die Aufnahme von Adrenalin und Noradrenalin verstärkt, verlängert es die aktivierende Wirkung der ersten Stressreaktion, warum man hier von einer permissiven Funktion des Cortisols spricht.
(2) Metabolische Wirkung: Stresssituationen verursachen im Körper einen erhöhten Energiebedarf, um möglichst schnell und ausdauernd auf Bedrohungen reagieren zu können. Das Cortisol sorgt dafür, dass durch Lipolyse (Freisetzung von Fettsäuren und Glyzerin) und Eiweißabbau eine Gluconeogenese (Generierung von Zucker im Blut aus Fettspeichem) genügend Zellbrennstoff zur Verfügung steht. Da die in der ersten Stressreaktion freigesetzten Katecholamine ebenfalls die direkte Bereitstellung von Glucose durch die Leber erhöhen, wird von einem stimulierenden Effekt des Cortisols gesprochen.
(3) Immunologische Wirkung: Um möglichen Entzündungen durch Verletzungen und der überschießenden Immunreaktion der ersten Stressreaktion des SNS entgegenzuwirken, schwächt Cortisol die körpereigene Immunreaktion. Man spricht hier von einer suppressiven Wirkung.
(4) Neuronale Wirkung: Im Gehirn liegen viele Membranrezeptoren für Cortisol, die unterschiedlichste Funktionen erfüllen. In Stresssituationen zeigt sich zunächst bei der unmittelbaren Stressreaktion der SNA eine Stimulation von Aufmerksamkeitsprozessen. Starke Konzentrationen von Cortisol blockieren in der zweiten Reaktion zwar den Abruf des expliziten Gedächtnisses, stehen aber mit einer erhöhten Speicherungsfähigkeit emotionaler Informationen in Verbindung. Dies hat die Funktion, gefährliche Situationen auch in Zukunft gut als solche erinnern zu können.
1.2.1.1 Physiologische Konsequenzen dauerhaften Stresses
Die beschriebenen physiologischen Stressmechanismen stellen gesunde Reaktionen auf Veränderungen des homöostatischen Gleichgewichts dar, die dem Organismus einen adaptiven Umgang mit Stresssituationen ermöglichen. Durch lang andauernde Stressperioden kommt es allerdings zu der oben beschriebenen allostatischen Belastung, also der Abnutzung der funktionalen körperlichen Reaktionen. Das führt dazu, dass die physiologischen Mechanismen zur Selbstregulation nicht mehr greifen und der Körper selbst in objektiv stressfreien Momenten nicht mehr auf ein normales Funktionsniveau reguliert werden kann. Dies kann schwere Folgen für die körperliche und psychische Gesundheit mit sich tragen (McEwen, 1998).
Bei langanhaltendem Stress kommt es zunächst zu einer ununterbrochenen Aktivierung der Stresssysteme der SNA und der HHNA und damit auch zu einer dauerhaft erhöhten Ausschüttung von Cortisol und Katecholaminen. Diese bewirken zunächst eine Überaktivierung vieler Prozesse - Entspannungsmomente bleiben aus, die Gefäßwände verlieren durch dauerhaft erhöhten Blutdruck ihre Elastizität, Muskeln sind dauerhaft angespannt und Schlaf wird weniger erholsam. Durch die hemmende Wirkung von Cortisol auf Insulin, registriert der Körper zudem einen dauerhaft erhöhten Blutzuckerspiegel, den er durch die Produktion von mehr Insulin zu kompensieren versucht. Da die Kapazität dieser übermäßigen Insulinproduktion sich allerdings auf Dauer erschöpft, erhöht sich auch das Risiko an einer Insulin-Resistenz, also Diabetes des Typs 2 zu erkranken (Kaluza, 2018a). Die Überproduktion von Cortisol führt zusätzlich auf Dauer zu einer Dysfunktion der normalerweise adaptiven negativen Feedbackschleife (Herman & Tasker, 2016; Young et al., 1990). Die Abnutzung des normalen Hormongleichgewichts kann in der Folge zu einer Unteraktivierung des HHNA führen, wie es beispielsweise bei mit hohem Stress assoziierten Erkrankungen wie der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) oder chronischer Depression beobachtbar ist (G. E. Miller et al., 2007).
Die dauerhafte Beanspruchung des Immunsystems in Phasen chronischen Stresses führt zu andauernden unterschwelligen inflammatorischen Prozessen, die ihrerseits mit einem erhöhten Risiko für psychische und physische Erkrankungen einhergehen (Rohleder, 2014; Rohleder, 2019; Slavich, 2015). Diese stressbasierten erhöhten Entzündungswerte stehen mit 8 der 10 häufigsten Todesursachen in den USA in Verbindung (Hoyert & Xu, 2012). Die genauen Mechanismen hinter den unterschwellig erhöhten Entzündungswerten sind noch nicht vollständig geklärt, es gibt aber Hinweise darauf, dass die Art, die Intensität und der Zeitpunkt des ersten Auftreten eines akuten Stressors (beispielsweise, ob in der frühen Kindheit bereits ein traumatisches Ereignis erlebt wurde) Einfluss auf die Immunaktivität bei später auftretendem chronischen Stress haben kann (Rohleder, 2019).
Chronischer Stress ist ebenfalls für neurodegenerative Prozesse in verschiedenen Hirnstrukturen wie der Amygdala, dem Präfrontalen Cortex (PFC) und dem Hippocampus verantwortlich (McEwen et al., 2016; McLaughlin, et al., 2009), was unter anderem die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Demenzerkrankung erhöht (Bisht et al., 2018) und bei Patientinnen mit PTBS zu einer Volumenabnahme des PFC und des Hippocampus führt (Bremner et al., 2007; Shin, 2006). Da sowohl der PFC (Ziegler & Herman, 2002) als auch der Hippocampus (McEwen, 1991) wiederum eine zentrale Rolle in der Regulation der Stressreaktion der SNA und der HHNA spielen, ist diese Beeinträchtigung der Hirnstrukturen durch chronischen Stress zusätzlich problematisch.
In einem Teufelskreis führt chronischer Stress zudem häufiger zu einem gesundheitlichem Risikoverhalten. Um Stress zu kompensieren neigen Menschen dazu, mehr zu rauchen, Alkohol zu konsumieren, weniger Sport zu treiben und unregelmäßiger und ungesünder zu Essen. Dies erhöht wiederum die Entstehung von Erkrankungen und vermindert die Widerstandsfähigkeit in Belastungssituationen (Kaluza, 2018a).
1.1.3 Alpha-Amylase als biologischer Stressmarker
Das Enzym Alpha-Amylase befindet sich im Speichel, ist verantwortlich für die Verdauung von Kohlenhydraten und hat sich als valider und reliabler Biomarker für die Aktivität der SNA herausgestellt (Ali & Nater, 2020; Chatterton et al., 1996; Nater & Rohleder, 2009; Van Stegeren et al., 2006). Ein Vorteil der Verwendung von Alpha-Amylase als Biomarker ist, dass sie nicht invasiv und schnell durch Speichelsammlung gewonnen werden kann. Dies erleichtert die Durchführung von Studien außerhalb des Labors, da der Speichel der Teilnehmenden eigenständig anjedem Ort gesammelt werden kann.
Produziert wird die sAA in den Azinuszellen der Ohrspeicheldrüse, deren Speichelproteinproduktion von adrenergen Rezeptoren aktiviert wird, sobald es durch die Aktivierung der SNA zu einer erhöhten Konzentration von Noradrenalin kommt (Baum, 1987; Castle & Castle, 1998; Segal, 2016). In Studien konnte gezeigt werden, dass sAA-Konzentration signifikant mit dem Noradrenalinspiegel im Blut korreliert (Chatterton et al., 1996; Ditzen et al., 2014; Rohleder et al., 2004; Thoma et al., 2012a) und, dass bei Verabreichung von Betablockern, die die Wirkung von Noradrenalin und Adrenalin inhibieren, ebenfalls eine Inhibition der sAA-Pro- duktion stattfand (Nederfors et al., 1994; Nederfors & Dahlöf, 1996.; Van Stegeren et al., 2006). Zudem zeigte sich in der Studie von Warren et al. (2017), dass eine medikamentös induzierte Steigerung des Noradrenalinlevels im Blut zu signifikant höheren sAA-Konzentrationen führte.
Bisher ist nicht vollständig geklärt, ob sAA-Level während einer Stressreaktion alleine die Aktivität des Sympathischen, des Parasympathischen oder beider Nervensysteme repräsentiert (Ali & Nater, 2020).
1.1.3.1 sAA-Tagesprofil und dessen Determinanten
Da die Konzentration von sAA stark vom Schlaf-Wach-Rhythmus abhängig ist, werden in der Forschung oft Studien durchgeführt, bei denen mehrmals täglich Speichelproben genommen werden; oft auch an mehreren Tagen. Es lässt sich bei diesen Messungen ein klares Tagesprofil der sAA-Konzentration erkennen. Die Konzentration sinkt in den ersten 30 Minuten nach dem Erwachen stark ab, was als amylase awakening response (AAR) bezeichnet wird. Im Tagesverlauf steigt die Konzentration stetig an. Die Gesamtkonzentration wird meist zusammengefasst als Area under the Curve (AUC), also die Fläche unter der Kurve der einzelnen Messwerte, berechnet wird (Marchand et al., 2016; Nater et al., 2007; Rohleder et al., 2004; Strahler et al., 2017). Die sAA- Tagesprofile einer Person weisen bei Messung an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen und auch über den Zeitraum von sechs Monaten eine relativ hohe Stabilität auf (Out et al., 2013), während in einem Zeitraum von 24 Monaten nur eine moderate Stabilität gegeben war (Skoluda et al., 2017). Da diese Instabilität mit der selbstberichteten subjektiven Stresswahrnehmung zusammenhing, ist dies ein weiteres Indiz für die Eignung der sAA als Marker langfristigen Stresses.
In einem Übersichtsartikel von Nater et al. (2007) werden mögliche Einflussfaktoren auf die sAA-Produktion zusammengestellt. Weder das Geschlecht, die Schlafdauer, der Nikotin-, Koffein-, Zuckerkonsum oder andere Faktoren der Nahrungsaufnahme hatten hier einen signifikanten Einfluss auf das sAA-Tagesprofil. Dabei zeigten Männer, in Abhängigkeit vom Alter, einen tendenziell flacheren Anstieg der sAA über den Tag hinweg. Espin et al. (2019) beobachteten zudem eine höhere sAA-Reaktivität von Männern in akuten Stresssituationen im Vergleich zu Frauen, sowie eine geringe sAA-Reaktivität von Frauen in der Phase vor ihrem Eisprung im Gegensatz zu der Zeit nach der Ovulation. In der Studie wurden allerdings nur akute sAA-Reaktionen auf Stress und keine sAA-Tagesprofile der 51 untersuchten Frauen betrachtet. Andere Studien mit einer vergleichsweise großen (N = 220) aber jungen (14 bis 18 Jahre alten) Stichprobe konnten keinen Einfluss der Phase des Menstruationszyklus finden (Bhoola et al., 1978).
Auch das Alter hat einen Einfluss auf die sAA-Konzentration: Bei Kindern lässt sich eine höhere Baseline-Konzentration beobachten und ältere Menschen zeigen in akuten Stresssituationen eine schwächere sAA-Reaktivität (Strahler et al., 2010b). In einer weitere Studie von Strahler et al. (2010a) fanden die Autorinnen signifikant höhere Gesamtkonzentrationen der sAA über den Tag bei der Altersgruppe ab 50 Jahren im Vergleich zur Altersgruppe bis 30 Jahren.
Zudem hing die Höhe des Body-Maß-Index (BMI) negativ mit der sAA-Konzentration am Morgen (A. L. Miller et al., 2015; Nater et al., 2007) und einem stärkeren Anstieg über den Tag (A. L. Miller et al., 2015) zusammen. Schlafdauer beeinflusst das Tagesprofil wiederum nicht (Klaus et al., 2019).
1.1.3.2 Alpha-Amylase und Stress
Zahlreiche Studien berichten einen signifikanten Anstieg der sAA-Konzentration bei Auftreten akuter physikalischer (Lärm, Kälte, ...), physiologischer (Sport, ...) und psychologischer Stressoren (Prüfungssituationen, ...) (Bosch et al., 1996; Chatterton et al., 1996; Takai et al., 2004; Nater et al., 2007; Kang, 2010; Thoma et al., 2012a), der unabhängig von der Speichelflussrate ist (Anderson et al., 1984; Rohleder et al., 2006).
Auch langfristige Stressoren haben einen Einfluss auf die sAA. In einer Stichprobe von 50 Personen, die unter chronischen psychosozialen Stress litten, zeigten sich bei einer einmaligen Erhebung der sAA signifikant höhere Konzentrationen als in der Kontrollgruppe (Vineetha et al., 2014). Menschen, die ihre Häuser nach dem Hurricane Katrina verloren hatten, wiesen zwei Monate nach der Katastrophe höhere sAA-Konzentrationen auf als die Kontrollgruppe (Vigil et al., 2010). Marchand et al. (2016) fanden in einer Stichprobe von 395 Arbeitenden unterschiedlicher Professionen, die höherem subjektiven psychologischen Stress und größerer arbeitsbezogenen Belastung (Unsicherheit des Jobs, geringe Wertschätzung der Arbeit, fehlende Unterstützung von Kolleginnen, interpersonelle Konflikte) ausgesetzt waren, niedrigere sAA-Konzentrationen beim Erwachen und höhere Konzentrationen am Nachmittag und vor dem Schlafen. Ähnliche Ergebnisse fanden Landolt et al. (2019). Bei einer Stichprobe bestehend aus Pflegepersonal, einer Berufsgruppe mit hohem Stresspotential, wurde nur bei weiblichen Studienteilnehmerinnen ein steilerer Anstieg der sAA über den Tag gemessen, was auf mögliche geschlechterspezifische Reaktivität auf alltägliche Stressoren schließen lässt (Wingenfeld et al., 2010). Bei pflegenden Angehörigen von Menschen mit leichten kognitiven Einschränkungen beobachteten Savla et al. (2013) abgeflachtere Tagesprofile als in der Kontrollgruppe.
Studien zu traumatischen Erlebnissen (also chronischen entfernten Stressoren) in der Vergangenheit beobachten häufig eine Dysregulation der sAA-Aktivität bei Betroffenen: Bei aus Bosnien geflüchteten Menschen, die an PTBS litten, wurde eine umgekehrte Aufwachreaktion mit einer Steigerung der sAA statt einem Abfall nach dem Erwachen beobachtet (Thoma et al., 2012b). In einer Studie, die Effekte von Gewalterfahrung in der Vergangenheit auf die sAA-Reaktivität bei Frauen untersuchte, zeigte sich bei Teilnehmerinnen mit erlebter Gewalt weder vor noch während einem Stresstests ein Anstieg der sAA, wie er in der Kontrollgruppe zu beobachten war (Mielock et al., 2017). Da bei diesen Frauen der Cortisolspiegel vor dem Test deutlicher anstieg, als bei Frauen ohne erlebte Gewalt in der Vergangenheit, gehen die Autorinnen von einer suppressiven Wirkung der HHNA auf die SNA durch das Glucocorticoid und somit von einer traumabedingten Dysregulation des Zusammenspiels der beiden Stresssysteme aus. Auch zwei Studien mit Kindern und Jugendlichen, die Misshandlung erlebten (Gordis et al., 2008), sowie mit Kindern, die regelmäßig Konflikten der Eltern ausgesetzt waren (Koss etal., 2018) zeigten eine Asymmetrie der Reaktivität beider Achsen.
Den Zusammenhang zwischen subjektivem Stressempfinden und den Maßen der sAA wurde vielseitig untersucht, um festzustellen, ob und in welchem zeitlichen Rahmen die körperliche Stressreaktion dem psychischen Erleben folgt. Einige Studien fanden signifikante positive Zusammenhänge zwischen der sAA-Konzentration und subjektiven Stressmaßen wie dem Stait-Trait-Anxiety-Index von Spielberger et al. von 1970 (lizuka et al., 2012; Noto et al., 2005; Takai et al., 2004) sowie der Chronic Stress Screening Scale aus dem Trierer Inventar zum chronischen Stress (Schulz et al., 2004) nachgewiesen werden (Nater et al., 2007). Für ein weiteres subjektives Stressmaß, der Perceived Stress Scale (PSS, Cohen et al., 1983, 2014) und dem sAA Tagesprofil konnten bei Nater et al. (2007) keine Zusammenhänge gefunden werden; allerdings zeigten Personen mit höheren Werten des PSS in einer Studie eine flachere Aufwachreaktion der sAA (Katz et al., 2016).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass akuter Stress zu erhöhter Konzentration der sAA führt und dass Abweichungen von den typischen Profilen der sAA (beispielsweise eine erhöhte Gesamtkonzentration und eine abgeflachte Aufwachreaktion) mit chronischem Stress in Verbindung steht und Rückschlüsse auf eine Dysfunktion der SNA zulässt. In vielen Studien hingen eine längere Dauer und höhere Belastung durch einen Stressor mit einer herabgesetzten SNA-Reaktion einher.
1.2 Soziale Phobie
„Die ganze Welt ist eine Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler“ (Shakespeare, 1623) - eine Analogie, mit der sich wohl viele Menschen sowohl im Positiven wie auch im Negativen identifizieren können. Die Wahrnehmung dieser „sozialen Bühne“ bewegt sich auf einer breiten Skala: Manche Menschen blühen in sozialen und Leistungssituationen geradezu auf, während andere diese als ausschließlich stress- und angstbesetzt wahrnehmen. In der Allgemeinbevölkerung stellen soziale Situationen bei vielen Personen einen belastenden Faktor dar: 20% der Menschen erleben in einer oder mehreren sozialen Situationen Angst oder beschreiben sich als allgegenwärtig und übermäßig schüchtern (Knappe et al., 2015). Sobald diese Angst vor sozialen- und Leistungssituationen die Betroffenen in mehreren Bereichen ihres alltäglichen und beruflichen Lebens einschränkt und mit erheblichem Leidensdruck einhergeht, spricht man von einer Sozialen Phobie. Diese wurde erstmals 1980 als klinisches Störungsbild in das ,Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders4 (DSM-III; American Psychiatric Association, 1980) und 1992 in das Klassifikationssystem ,Interational Classification ofDese- ase and Related Health Problems4 (ICD-10, World Health Organization, 1992) aufgenommen, dessen Diagnosekriterien in Tabelle 1 nachzulesen sind. Das Krankheitsbild geht mit typischen dysfunktionalen Kognitionen (Erwartung negativer Bewertung durch andere), körperlichen Symptomen (Zittern, Schwitzen, etc.) und spezifischen Verhaltensweisen einher. Letztere umfassen von allem Vermeidungs- und Fluchtverhalten, Sicherheitsverhalten (z.B. sich im Restaurant in die hintere Ecke setzen) und ungeschicktes, wenig kompetentes Interaktionsverhalten (z.B. kein Blickkontakt während einer Unterhaltung; Fydrich, 2018). Die Betroffenen haben
Tabelle Codierung, Bezeichnung und Diagnosekriterien Sozialer Phobien nach ICD-10 (Dilling & Freyberger, 2012)
F40.1 Soziale Phobien
A Entweder (1) oder (2)
(1) Deutliche Furcht, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten;
(2) Deutliche Vermeidung, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder von Situationen, in denen die Angst besteht, sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten
Diese Ängste treten in sozialen Situationen auf, wie Essen und Sprechen in der Öffentlichkeit, Begegnungen von Bekannten in der Öffentlichkeit, Hinzukommen oder Teilnahme an keinen Gruppen, wie z.B. bei Partys, Treffen oder in Klassenräumen.
B Mindestens zwei Angstsymptome in den gefürchteten Situationen, mindestens einmal seit Auftreten der Störung, zusätzlich mindestens eines von:
(1) Erröten/Erzittem
(2) Angst zu erbrechen
(3) Miktions-/ Defäktionsdrang
C Deutliche emotionale Belastung durch Angstsymptome/ Vermeidungsverhalten, Einsicht in die Übertriebenheit/ Unvernünftigkeit der Symptome/ des Vermeidungsverhaltens (bei Kindern nicht erforderlich)
D Symptome sind vornehmlich auf gefürchtete Situationen beschränkt oder auf Gedanken an gefürchtete Situationen
E Symptome von A:
- Nicht bedingt durch Wahn, Halluzinationen, andere Symptome folgender Störungsgruppen: organische, psychische Störungen, Schizophrenie und verwandte Störungen, affektive Störungen, Zwangsstörung
- Nicht Folge einer kulturell akzeptierten Anschauung einen großen Leidensdruck und nehmen sich als sozial und gesellschaftlich nicht zugehörig wahr (Arditte et al., 2016). In Westeuropa geben 42% der an Sozialer Phobie leidenden Personen eine erhebliche Beeinträchtigung in einem oder mehreren Lebensbereichen an; 20% der Betroffenen in Westeuropa schätzen die allgemeine Beeinträchtigung ihrer Arbeitsfähigkeit als beträchtlich ein. Im familiären Bereich führt die Erkrankung bei 14% der Personen, in Beziehungen bei 27% und bei anderen sozialen Aktivitäten bei 31% zu Einschränkungen. Im Vergleich liegen diese westeuropäischen Werte über dem weltweiten Durchschnitt (Stein et al., 2017).
1.2.1 Konzeptualisierungen
Symptome der sozialen Phobie können individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sein und die angstauslösenden Situationen variieren stark. Im ICD-10 werden keine Subtypen der Sozialen Phobie unterschieden, im DSM-V wirdjedoch eine Unterkategorie von Personen definiert, die Angst ausschließlich in Leistungssituationen zeigen (American Psychiatric Association, 2014). In der Fachliteratur findet sich häufig die Unterscheidung zweier Subtypen: die generalisierte Soziale Phobie und die spezifische Soziale Phobie bei Ängsten vor wenigen ähnlichen Situationen (Burstein et al., 2011; Kessler et al., 1998; M. B. Stein & Chavira, 1998).
Da empirische Befunde zeigen, dass sowohl die Anzahl, die Stärke als auch die Art der sozialen Ängste negativen Einfluss auf die Schwere des Krankheitsverlaufes, die Suche nach Behandlungsmöglichkeiten und die Remissionswahrscheinlichkeit nehmen, fordern einige Wissenschaftlerinnen die Einführung einer dimensionalen, nach Schwere der Symptomatik definierten Diagnosestellung, anstatt an der bestehenden kategorialen Diagnosestellung festzuhalten. Hiervon versprechen sie sich bessere Behandlungsimplikationen und ein vertieftes Störungsverständnis (Merikangas et al., 2002; Ruscio, 2010). Bei dimensionalen Erfassungen sozialer Angst in jungen Stichproben zeigt sich, dass viele Kinder und Jugendliche bereits erhöhte soziale Angstwerte berichteten, die sich allerdings unterhalb eines klinischen Cut-Off-Werts bewegen. Daraus schließen die Autorinnen, dass eine breitere dimensionale Erfassung der Symptome zu einem früheren Erkennen der sozialen Angstproblematik führen würde und somit Interventionen bereits in einem besser behandelbaren Stadium der Störung durchgeführt werden könnten. So könnten durch gezielte Prävention in Risikogruppen die Prävalenzzahlen der ausgeprägten Störung im späteren Alter reduziert werden (Knappe et al., 2015; Ruscio, 2010).
Zusätzlich zu der Debatte, ob die Soziale Phobie kategorial oder dimensional betrachtet werden sollte, werden in der Literatur verschiedene Indikatoren definiert, die mögliche Erscheinungsformen der Sozialen Phobie differenzieren und definieren. Eine dieser Kategorien bildet die Angst vor sozialen Interaktionen im engeren Sinne, die beispielsweise das Beginnen einer Konversation oder das Teilnehmen an Gruppenaktivitäten umfasst (Mattick & Clarke, 1998; Watson & Friend, 1969). Eine weitere Kategorie bildet die Angst vor Beurteilungen durch andere, beispielsweise in Situationen, in denen man in der Öffentlichkeit sprechen, essen, schreiben etc. muss (Mattick & Clarke, 1998). Diese kann sich zum einen in einer Angst vor negativer Bewertung äußern, welche in der Literatur als wichtige kognitive Störungskomponente betrachtet wird, deren Ausprägung großen Einfluss auf den Verlauf, Schwere und Dauer der Sozialen Phobie nimmt (Haikai & Hong, 2010; Kocovski & Endler, 2000). Sie gilt zudem als wichtiger Mediator zwischen dem Effekt von Selbstwert beziehungsweise der Fähigkeit zur Selbstverstärkung auf die Ausprägung der sozialen Angst (Kocovski & Endler, 2000). Einen weiteren Typ der Bewertungsangst bildet, die Angst vor positiver Bewertung durch Andere, da sozial ängstliche Menschen häufig fürchten, dass ihr eigener Erfolg die Wut oder den Neid anderer Personen nach sich zieht (Reichenberger et al., 2015; Weeks et al., 2008). Auch werden die mit der Sozialen Phobie verbundenen körperlichen Empfindungen und der Grad der sozialen, beruflichen und persönlichen Beeinträchtigung als relevante Erkrankungsindikatoren angesehen (Ruscio, 2010).
1.2.2 Prävalenz
Die weltweit beobachtbaren Lebenszeitprävalenzzahlen variieren je nach Studie zwischen 2% und 14% und die 1-Monats sowie die 12-Monats-Prsävalenz zwischen ca. 1.5% und 4%, wobei in den USA und Kanada tendenziell mehr Fälle gefunden werden als in westeuropäischen Ländern (Antony & Stein, 2009; Fehrn et al., 2005; Stein et al., 2017; Wittchen & Fehrn, 2003). Die aktuellste und umfassendste Analyse des weltweiten Auftretens Sozialer Phobie anhand der Ergebnisse 28 regionaler Surveys durch die Weltgesundheitsorganisation berichtete eine 12-Monatsprävalenz von 2.4% und eine Lebenszeitprävalenz von 4.0%, wobei die Prävalenzen in Ländern mit den höchsten Einkommen höher waren. Die Diskrepanzen der Prävalenzen haben laut der Autorinnen ihren Ursprung in der Verwendung unterschiedlicher Diagnosekriterien, Messinstrumente, sowie in gesellschaftlichen Unterschieden (Stein et al., 2017). In einem europaweiten Review zur Prävalenz Sozialer Phobien zeigte sich im Median eine höhere Lebenszeitsprävalenz als sie weltweit zu beobachten ist von 6.6% und eine 12- Monatsprävalenz von 2.0% (Fehrn et al., 2005). Eine auf Deutschland bezogene Studie mit 12- bis 17-jährigen Schülerinnen stellte eine Lebenszeitprävalenz von 1.6% (1.0% bei männlichen und 2.1% bei weiblichen Teilnehmenden) fest (Essau et al., 2000). Bei der erwachsenen Gesamtbevölkerung liegt die Lebenszeitprävalenz der Sozialen Phobie bei 2.5% und die 12-Monatsprävalenz zwischen 1.5% (Stein et al., 2017) und 2.8% (Jacobi et al., 2016). Im Vergleich zu Männern tritt die Soziale Phobie bei Frauen häufiger auf, wobei in klinischen Stichproben und bei schwer ausgeprägten Sozialen Phobien keine signifikanten Geschlechterunterschiede in der Auftretenshäufigkeit bestehen (Antony & Stein, 2009; Asher et al., 2017; Essau et al., 2000; Fydrich, 2018). Die generalisierte Form der Sozialen Phobie hat eine größere Auftretenswahrscheinlichkeit als die spezifische Form (Burstein et al., 2011; Kessler et al., 1998).
1.2.3 Differenzialdiagnostik, Komorbidität undSuizidalität
Die Differenzialdiagnostik stellt häufig eine Herausforderung dar, da viele Störungsbilder ähnliche Symptome aufweisen (Berking & Rief, 2012). Da bei der Agoraphobie und in schweren Fällen auch bei der depressiven Störungen ähnliche Symptome wie die Soziale Phobie auftreten können, ist besonders hier die Diagnosestellung oft schwierig. Bei Unsicherheit sollte vorzugsweise eine komorbide Agoraphobie und eine Depression nur bei Vorliegen eines voll ausgebildetem Syndroms diagnostiziert werden (Dilling et al., 2015). Eine weitere differentialdiagnostische Herausforderung stellt die Differenzierung zwischen einer Sozialen Phobie und einer Dissozialen Persönlichkeitsstörung dar, da sie als zwei unterschiedliche Erkrankungen konzeptualisiert sind, sich in ihren Symptomenjedoch einige Übereinstimmungen zeigen. Zudem erhöht sich die Auftretenswahrscheinlichkeiten für eine Dissoziale Persönlichkeitsstörung, wenn in der Krankheitsgeschichte eine vorhergehender Soziale Phobie auftrat (Galbraith et al., 2014; Goodwin & Hamilton, 2003). Auch zu der Ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung weist die generalisierte Form der Sozialen Phobie in ihrer Symptomatik, Schwere und Verlauf erhebliche Ähnlichkeiten auf und beide Krankheitsbilder treten oft komorbid auf. In der Literatur wird diskutiert, die ob die beiden Störungen überhaupt als separate Krankheitsbilder oder als verschiedene Dimensionen eines einzelnen Krankheitsbildes diagnostiziert werden sollten (Hummelen et al., 2007; Pellecchia et al., 2018; Reich, 2000; Schneier et al., 1991). Auch können soziale Ängste und damit einhergehende typische Kognitionen bei Störungen im schizophrenen Spektrum auftreten, wobei allerdings hier die Voraussetzung der Störungseinsicht oft nicht erfüllt ist (Berking & Rief, 2012).
Es lässt sich eine große Komorbidität der Sozialen Phobie anhand der Lebenszeitprävalenzen feststellen: In klinischen Stichproben wird einerseits bei ca. 60% der Personen eine zusätzliche Soziale Phobie festgestellt (Fydrich, 2018). Auf der anderen Seite weist auch der Großteil der Menschen (82%) mit Sozialer Phobie begleitende psychische Erkrankungen aufweltweit leiden 47% der Betroffenen zusätzlich an einer affektiven Störung, 65% an einer weiteren Angststörung, 22% an einer Impulskontrollstörung, 27% betreiben Substanzmissbrauch (Stein et al., 2017) und 33% leiden an einer sexuellen Funktionsstörung (Figueira et al., 2001). Die Komorbidität einer Sozialen Phobie mit einer affektive Störung liegt bei Jugendlichen in Deutschland mit Sozialer Phobie bei ca. 30% (Essau et al., 2000) und bei Erwachsenen in Deutschland bei 50-80% (Fydrich, 2018). Auch hier wird die Notwendigkeit einer frühen Behandlung der Sozialen Phobie deutlich, da die Wahrscheinlichkeit einer komorbiden affektiven Störung sich im Alter und bei längerer Dauer der sozial-ängstlichen Symptomatik erhöht und für die Betroffenen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für einen längeren Verlauf der sozialen Ängste sowie geringeren Therapieerfolg bedeutet (Erwin et al., 2002). Um die 20% der Personen, die an einer diagnostizierten Essstörung erkrankt sind, weisen die Kriterien einer Sozialen Phobie auf, wobei in den meisten Fällen die Soziale Phobie der Essstörung zeitlich vorausgeht und deren Entstehung durch die Symptome der Sozialen Phobie (beispielsweise Bewertungsangst durch andere) kausal beeinflusst wird (Buckner et al., 2010; Kaye et al., 2004). Bezüglich des Entstehungsverlaufs verschiedener komorbider psychischer Krankheiten zeigen Untersuchungen, dass die Soziale Phobie zeitlich gesehen anderen Angststörungen in ihrem Auftreten folgt, depressiven Störungen, Substanzmissbrauch und Störungen der Impulskontrolle allerdings vorrausgeht (Dalrymple & Zimmerman, 2011; Magee et al., 1996; D. J. Stein et al., 2017; Wittchen & Fehrn, 2003).
Zahlen zu Suizidalität im Zusammenhang mit Sozialer Phobie finden sich selten in der Literatur. Eine Studie aus den USA berichtet, dass 15.7% der Personen mit komplizierten Verläufen generalisierter Sozialer Phobie und 1.1% der Personen mit unkomplizierteren Verläufen unter Suizidgedanken leiden (Schneier et al., 1992) und J.R.T. Davidson et al., (1993) fanden einen Zusammenhang zwischen dem Leiden an Sozialer Phobie und einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Suizidversuchen. Auch berichteten in einer weiteren Studie 34% der Erkrankten Suizidgedanken und zwei Personen Suizidversuche, wobei die Stichprobe hier nur aus N = 41 Personen bestand (Cox et al., 1994). In einer klinischen Studie mit N = 917, die die Wirkung des Antidepressivums Paroxetin bei Patientinnen mit Sozialer Phobie testete, beging eine Person Suizid und keine Person einen Suizidversuch. Die Schwere komorbider affektiver Störungen, die wahrgenommene Belastung, Schamgefühl und niedriges soziales Zugehörigkeitsgefühl sind wichtige Moderatoren in der Entwicklung von Suizidrisiken bei Menschen mit Sozialer Phobie (Arditte et al., 2016; C. L. Davidson et al., 2011).
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- Citation du texte
- Lea Kern (Auteur), 2020, Der Zusammenhang zwischen Stress und sozialer Angst. Analyse anhand des biologischen Stressmarkers Alpha-Amylase im Speichel, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1308557
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