In dieser Arbeit wird in das hochspannende intersubjektive Paradigma eingeführt und dabei ein Schwerpunkt auf die klinische Praxis gelegt. Es wird auf die Herkunft beziehungsweise Entwicklung des Begriffes eingegangen und anschließend eine Definition nach Stolorow gegeben. Daraufhin folgt die Anwendung anhand eines klinischen Fallbeispiels. In diesem Abschnitt wird deutlich, dass es beim intersubjektiven Paradigma auch um Dekonstruktion rein subjektiver Perspektiven und um aktive Mitgestaltung aller Beteiligten an einem Prozess geht.
Daraufhin wird konkret beschrieben welche Auswirkungen die Intersubjektivitätstheorie auf die psychoanalytische Behandlungstheorie (Analysand und Analytiker erschaffen Realität gemeinsam), die Rolle des Therapeuten (simultane Symmetrie und Asymmetrie in der Behandlungssituation), Interventionen (entstehen im relationalen Prozess) und den psychoanalytischen Schulenpluralismus (Vorteil einer multimodalen Sichtweise statt regressiver Abschottung und Anerkennung des intersubjektiven Paradigmas als gemeinsame Basis verschiedener Schulen).
Die Kurzzusammenfassung am Ende bringt die Kerngedanken der Arbeit auf den Punkt: die Intersubjektivitätstheorie ist als Metatheorie eine neue grundlegende Betrachtungsweise, im klinischen Setting entsteht alles im relationen Prozess als ko-kreativer Akt und die Therapeutin hat die paradoxe Aufgabe Verantwortung für den therapeutischen Prozess zu tragen aber diesen auch mitzuprägen.
Inhalt
Konzeption des intersubjektiven Feldes
Anwendung im klinischen Kontext
Fallbeispiel
Auswirkungen der Intersubjektivitätstheorie auf
die psychoanalytische Behandlungstheorie
die Rolle des Therapeuten
Interventionen
psychoanalytischen Schulenpluralismus
Kurzzusammenfassung
Literatur- und Abbildungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1. „Las Meninas“ von Diego Velazquez (1599-1660) macht deutlich, wie wichtig die eigene Perspektive beziehungsweise der eigene Standpunkt ist.
Nach Beucke (2008) ist die Reflexion der eigenen Perspektive die Voraussetzung sowohl eine andere Perspektive als auch den Gesamtkontext zu verstehen. In dem Gemälde „Las Meninas“ des spanischen Malers Diego Velazquez (1599-1660) ist die Perspektive beziehungsweise der Standpunkt für den Betrachter1 nicht sofort ersichtlich und das Bildgeschehen ergibt erst Sinn nachdem klar wird, dass man aus den Augen des porträtierten Königspaares auf die Szene schaut. Laut Beucke existiert solch eine Undurchsichtigkeit analog im therapeutischen Setting und eine therapeutische Szene ergibt erst dann Sinn, wenn der eigene Standpunkt beziehungsweise die eigene Perspektive als wichtiges Bestimmungselement gefunden ist.
Konzeption des intersubjektiven Feldes
Schwerpunkt dieser Arbeit ist die Anwendung des intersubjektiven Paradigmas auf ein Fallbeispiel und die klinische Praxis. Jaenicke (2014) führt aus, dass die beiden Philosophen und Psychoanalytiker Robert Stolorow und George Atwood 1978 in einem Artikel die Wechselwirkung zwischen Übertragung und Gegenübertragung als einen Prozess gegenseitiger Interaktion der unterschiedlich organisierten subjektiven Welten von Patient und Analytiker beschreiben und auf diese Weise den Begriff „intersubjektiv“ in den amerikanischen psychoanalytischen Diskurs eingeführt.
Nach Jaenicke (2014) haben seit der Persönlichkeitsforschung aus den 1930er Jahren in Harvard viele Einflüsse zur Entwicklung des Konzepts beigetragen. Im Jahr 1980 hat die Konzeption des intersubjektiven Feldes einen Entwicklungssprung durch Untersuchungen des sogenannten Borderline-Phänomens vollzogen. Stolorow hat beobachtet, dass es keine Borderline-Persönlichkeitsstruktur a priori gibt, sondern je nachdem wie Therapeuten diese verstanden oder behandelt haben, kamen Borderline-Zustände entweder zum Vorschein oder waren rückläufig. Die Schlussfolgerung war, dass neben der psychologischen Struktur des Patienten auch ein intersubjektives Feld beziehungsweise ein intersubjektiver Kontext in allen Formen der Psychopathologie eine konstitutive Rolle spielt. Es gibt kein klinisches Phänomen außerhalb des intersubjektiven Feldes, denn therapeutische Prozesse sind durch psychologische Strukturen des Patienten und dadurch, wie diese vom Therapeuten aufgenommen werden, gemeinsam geschaffen. Diese Ko-Konstruktion erfolgt durch die sich gleichzeitige und gegenseitige Konstitution intersubjektiver Felder in einem zirkulären Prozess (Jaenicke, 2014). Der Erkenntnisgewinn erfolgt aus den unmittelbar gegebenen Erscheinungen des Kontexts: „Intersubjective-systems theory [...] is a phenomenological contextualism“ (Stolorow, 2013, S. 383).
Anwendung im klinischen Kontext
Die Intersubjektivitätstheorie wird als Metatheorie klassifiziert und hat keinen Anspruch auf ein universalgültiges Verständnis von klinischen Größen wie Persönlichkeit, Diagnostik oder Pathologie, da sie diese Prozesse als relational definiert. Sie ist eine klinische Grundhaltung und Sensibilität, die mehr fragt als beantwortet, Gestalten eher offenlässt als sie zu schließen und Fehlbarkeit des Therapeuten betont (Jaenicke, 2014).
Fallbeispiel
Beucke (2008) demonstriert die klinische Anwendung anhand eines eigenen Falls. Der Patient ist unter einem sehr stark religiös geprägten, sadistischen Vater aufgewachsen und hat Schwierigkeiten mit Autoritätspersonen. Aufgrund der spezifischen persönlichen Disposition des Patienten profitiert dieser besonders von einer therapeutischen Beziehung, in der die Realitätsebene des Analytikers nicht die einzig gültige Autorität besitzt.
In einer Stunde kommt es zu einer intensiven Szene, die durch einen heftigen Wutausbruch des Patienten, Beschimpfungen und dem aufgebrachten Verlassen der Stunde gekennzeichnet ist. Beucke reflektiert sein eigenes Verhalten und kommt zu dem Schluss, dass es zu einem Aufeinanderprallen der Perspektiven beider Interaktionspartner gekommen ist. Seine intersubjektive Haltung führt dazu, dass er zugibt den Patienten nicht verstanden zu haben und die Ursache des Missverstehens nun nicht mehr für sich allein deutet, sondern den Patienten sogar bittet ihm zu sagen, womit der Hass ausgelöst wurde. Der Psychoanalytiker resümiert zum einen, dass er in seiner eigenen Perspektive festgefahren war, ohne die Ko- Konstruktion zu beachten und zum anderen, dass er nicht aus dem relationalen Prozess heraus gedeutet hat. Schließlich relativiert er sein therapeutisches Expertentum durch eine stillschweigende Untersuchung der eigenen Erfahrungswelt, die in folgender Selbstenthüllung endet: „Ich versuche nicht, mich zu rechtfertigen, gebe zu, ihn nicht verstanden zu haben und bitte ihn mir zu sagen, womit ich seinen Zorn und Hass ausgelöst habe“ (Beucke, 2008, S. 13). Anschließend findet ein wechselseitiger Austausch statt, mit dem Empathie für die andere Perspektive zunimmt und die Interaktion dekonstruiert wird.
Therapeut und Patient können sich aus dem Schatten ihrer Perspektiven lösen und sich als Subjekte der Interaktion neu begegnen. Folglich findet eine Veränderung beider während des Prozesses statt. In der Begegnung kommt es zu einem „Now moment“ (Stern, 2004, zitiert nach Beucke, 2008, S. 11) in dem subjektive Perspektiven dekonstruiert und eine neue gemeinsame intersubjektive Perspektive gegenwärtiger Bezogenheit konstruiert wird. Nach Ermann (2014) kann diese aktive Mitgestaltung am Prozess, die in einer selektiven Selbstenthüllung münden kann, als wichtiges Merkmal des intersubjektiven Ansatzes von einer traditionellen therapeutischen Haltung, die durch Abstinenz, Triebverzicht und das Verbergen der Person des Analytikers gekennzeichnet ist, abgegrenzt werden.
Auswirkungen der Intersubjektivitätstheorie auf
Der intersubjektive Ansatz wirkt sich auf diverse Bereiche der klinischen Praxis aus. Da dieser eine Haltung und Sensibilität darstellt reichen die Auswirkungen auch über die klinische Praxis hinaus (Potthoff, 2014).
die psychoanalytische Behandlungstheorie
Ermann (2014) führt aus, dass das traditionelle Verständnis des Behandlungsprozesses darin liegt, eine objektiv existente Vergangenheit aufzudecken. Dabei wird von einer psychischen Realität im Gesamtkontext einer objektiven Realität ausgegangen Der intersubjektive Ansatz betont hingegen die gemeinsam von Analysanden und Analytiker erschaffene Realität. Ebenso ist der Analytiker kein ein unabhängiger Beobachter mit einer allmächtigen Entscheidungskompetenz über das, was verzerrt (Übertragung) und angemessen (Realität) ist, sondern nimmt eine antiautoritäre Position ein, in der Wissen nur zu einem bestimmten Zeitpunkt der gemeinsamen Interaktion gültig ist. Es gilt, dass nicht die Aufdeckung der Vergangenheit zur Befreiung von dieser führe, sondern, dass ihre determinierende Macht durch Neuerfahrungen im Hier und Jetzt aufgehoben wird.
die Rolle des Therapeuten
Laut Jaenicke (2014) liegt die größte Herausforderung der Anwendung einer intersubjektiven Sensibilität im Umgang mit der Paradoxie von gleichzeitiger Symmetrie und Asymmetrie in der Behandlungssituation. Dem Analytiker obliegt die Gestaltung und Verantwortung des therapeutischen Prozesses aber dennoch muss er den Einfluss der bidirektionalen Ebene berücksichtigen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass sich die bidirektionale Ebene mit ihrer Wechselwirkung zweier Erfahrungswelten erst im Therapieprozess entwickelt. Die traditionell nicht vorgesehene Beachtung einer Wechselwirkung im Prozess, führt zur Relativierung des therapeutischen Expertentums, was auch ein Macht- und Kontrollverlust darstellt. Des Weiteren kann ein Gefühl überwältigender Verantwortung oder Bedrohung von Grenzen und der Individualität entstehen. Als positive Herausforderungen können die Erweiterung des eigenen Horizonts und das Erleben transformatorischer Erlebnisse, die sinnstiftend und beglückend sein können, genannt werden. Generell erfordert die Abwesenheit von universellen Wahrheiten und festgelegten Techniken ein flexibleres Selbstverständnis.
Interventionen
Auch therapeutische Interventionen entstehen - ebenso wie alles andere im intersubjektiven Feld - innerhalb eines relationalen Prozesses und sind nicht von der emotionalen Beziehung zwischen dem Therapeuten und dem Patienten getrennt. Jedwede Äußerung und Handlung des Therapeuten sind Resultat des spezifischen Systems beziehungsweise des einmaligen intersubjektiven Feldes (Jaenicke, 2014).
psychoanalytischen Schulenpluralismus
Nach Potthoff (2014) hat der intersubjektive Ansatz als eine klinische Haltung und Sensibilität auch Auswirkungen auf institutioneller Ebene. Er betont daher, dass die persönliche intersubjektive Erfahrung in der Lehranalyse zentral bleiben soll. Außerdem spricht er sich dafür aus, dass das Ausbildungssystem zum Psychoanalytiker weniger Hierarchie und Elitarismus und mehr dem Modell universitärer Ausbildung entsprechen soll. Seiner Ansicht nach ist ein großer Vorteil des relationalen Ansatzes die multimodale Sichtweise, welche hilft andere Perspektiven kennenzulemen und sich nicht in einem System abzuschotten.
Laut Altmeyer (2011, 2019) bildet solch eine regressive Abschottung die Grundlage einer fundamentalistischen Gegenbewegung, welche am Triebparadigma und an intrapsychischen Spekulationen aus der Klein-Bion Schule und der französischen Psychoanalyse festhält. Auf der anderen Seite beschreibt er eine progressive Modernisierung, die auf einer schulenübergreifenden Anerkennung des intersubjektiven Paradigmas als gemeinsamer Basis beruht. Er schlussfolgert, dass sich die Gegenwartspsychoanalyse zwischen diesen beiden Polen befindet. Altmeyer (2011, 2019, 2020) wirft ferner fundamentalistischen Strömungen vor, rückschrittlich, irrational und antiaufklärerisch zu sein und sich interdisziplinären Anschlussversuchen entgegenzustellen, um die eigene Identität zu schützen und um ihre Offenbarungslehren nicht zu kontaminieren. Er kritisiert außerdem, ihren Anspruch auf Deutungshoheit intrapsychischer Phänomene und stellt dem eine Modemisierungsbewegung, die auf das Intersubjektivitätsparadigma des Seelenlebens gestützt ist, gegenüber. Er merkt an, dass das persönliche Einbringen des Therapeuten in den therapeutischen Prozess unvermeidlich ist und erinnert, dass es eben diese Qualität der therapeutischen Beziehung ist, welche als Hauptfaktor für den Therapieerfolg wirksam ist. Er spricht sich klar dafür aus, dass die Intersubjektivitätstheorie ein gemeinsamer Nenner, der sonst so heterogenen psychoanalytischen Schulen sein kann und dass die intersubjektive Wende als Fortschritt der Psychoanalyse zu werten ist. Eine Mehrzahl stimmt der intersubjektivistischen Auffassung der analytischen Situation zu.
[...]
1 In der folgenden Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschließlich die männliche Form verwendet. Sie bezieht sich auf Personen beiderlei Geschlechts.
- Citation du texte
- Christopher Sölter (Auteur), 2021, Anwendung des intersubjektiven Paradigmas. Fallbeispiel und klinische Praxis, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1306346
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