Depressionen zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen weltweit. Allein in Deutschland sind jährlich circa 6 Millionen Menschen betroffen. Standardtherapien zeigen oft keine zufriedenstellend Wirkung und Betroffene müssen vielfach längere Wartezeiten auf einen Therapieplatz in Kauf nehmen. Vor diesem Hintergrund gewinnen nichtmedikamentöse somatische Behandlungsstrategien an Bedeutung, wozu auch verschiedene Formen körperlicher Aktivität gehören. Das langsame ausdauernde Laufen stellt in diesem Kontext eine aerobe Form von Bewegung dar, die als "Lauftherapie" eine komplementäre Behandlungsoption eröffnet, welche im Vergleich mit Pharmaka- und Psychotherapie ähnliche Effekte zeigt.
In einem Literaturreview werden unter Berücksichtigung von Metaanalysen, Übersichtsarbeiten und Einzelstudien Erkenntnisse zur Wirkung körperlichen Trainings und des therapeutischen Laufens als adjuvante Therapie beschrieben und zusammengefasst. Ein Ergebnis: "Aerobe Bewegung kann als weitgehend nebenwirkungsarmes effektives Antidepressivum bezeichnet werden". Aerobe Bewegung wie Laufen ist relativ einfach zu realisieren und von vielen Menschen ohne großes Risiko auch als "Selbsttherapie" durchführbar. Für die Implementierung der Lauftherapie werden ergänzend notwendige Bedingungen aufgezeigt und Handlungsempfehlungen für Interventionen im klinischen und ambulanten Setting gegeben.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abstract
1 Einleitung
1.1 Einführung in die Thematik
1.2 Forschungsfragen (F1-F3)
1.3 Methode: Literatur-Review
2 Hintergrund
2.1 Depression: Symptomatik, Diagnose, Ätiologie & Therapie
2.1.1 Symptome & Klassifikation
2.1.2 Ätiologie
2.1.3 Multimodaler Therapieansatz
2.2 Körperliche Aktivität & bewegungsorientierte Therapieverfahren
2.3 Ausdauer als motorische Basisfähigkeit
2.3.1 Aerobe versus anaerobe Bewegung
2.3.2 Steuerung der Ausdauerleistungsfähigkeit im therapeutischen Rahmen
3 Literaturreview Teil I:Effekte körperlicher Aktivität bei Depressionen - zentrale Befunde des Forschungsgebietes in Metaanalysen und Reviews
3.1 Effektstärken in Metaanalysen (2011-2021)
3.2 Cochrane-Library: Metaanalyse von Cooney et al. (2013)
3.3 Effekte körperlicher Aktivität in verschiedenen Bereichen
3.3.1 Effekte in unterschiedlichen Altersgruppen
3.3.2 Effekte verschiedener Trainingsarten
3.3.3 Effekte im Vergleich verschiedener Therapieansätze
3.3.4 Effekte bei Depressionen & Komorbidität
3.4 Meta-Meta-Analyse & Übersichtsarbeiten
4 Literaturreview Teil II:Lauftherapie als Intervention bei Depressionen
4.1 Laufen - gesundheitsorientierte Bewegungsform und Therapie
4.2 Forschungsergebnisse: Ausdauerlaufen als Therapie (2005-2010)
4.3 Aktuelle Befunde zu Effekten der Lauftherapie (2012-2022)
4.3.1 (Neuro)Biologische Wirkmechanismen im Tiermodell & beim Menschen
4.3.2 Ausgewählte Lauftherapiestudien (RCTs)
4.3.3 Biologische Alterung: Lauftherapie vs. Antidepressiva (MOTAR)
4.3.4 Psychologische Laufeffekte: Selbstwertgefühl, Wohlbefinden & Sociability
4.3.5 Adhärenz & Konsequenzen für lauftherapeutisches Handeln
4.3.6 Effekte selbstgewählter Belastungsintensität
4.3.7 Outdoor-Aktivität für körperliche & seelische Gesundheit
5 Literaturreview Teil III:Grundlegende Bedingungen lauftherapeutischer Interventionen &Belastungssteuerung bei psychisch Erkrankten
5.1 Bedeutung der Lauftherapeutin/des Lauftherapeuten
5.2 Strukturierte supervidierte Lauftherapie & Rahmenbedingungen
5.3 Implementierung Lauftherapie: Planung, Durchführung & Evaluation
5.4 Belastungssteuerung bei psychisch erkrankten Patientinnen
5.5 Exkurs: motivationale & volitional Ansätze zur Aktivitätssteigerung
6 Theorien & Erklärungsansätze
6.1 Physiologische & psychologische Erklärungsmodelle
6.2 Weiterentwicklung bestehender Theorien & neuere Erklärungsansätze
7 Methodische Ansätze des Forschungsfeldes & (Weiter)Entwicklungen
7.1 Unterschiede im methodischen Vorgehen
7.2 (Weiter)Entwicklung methodischer Ansätze
7.2.1 Technologiegestützte psychosoziale Intervention
7.2.2 Laborsituationen: Laufband-& Ergometertraining
7.2.3 Verhaltensaktivierung - behavioraler Ansatz bei Depressionen
8 Diskussion
8.1 Beantwortung der Forschungsfragen (F1-F3)
8.1.1 Effekte körperlicher Aktivität bei depressiven Störungen
8.1.2 Wirkung arober Bewegung als komplementäre Maßnahme
8.1.3 Bedingungen lauftherapeutischer Interventionen
8.2 Limitationen
8.3 Zukünftige Forschungsfragen & Operationalisierungsentwurf
9 Zusammenfassung & Fazit:
Aerobe Bewegung (Laufen) - ein effektives Antidepressivum
Literaturverzeichnis
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1 Prävalenz depressiver Störungen (weltweit)
Abbildung 2 Diagnosen psychischer Störungen nach ICD-10
Abbildung 3 Keywords: Körperliche Aktivität als Intervention
Abbildung 4 Verläufe unipolarer depressiver Störungen
Abbildung 5 Ätiologiemodell der Depression
Abbildung 6 Motorische Basisfähigkeiten
Abbildung 7 Entwicklung wissenschaftlicher Publikationen (1970-2019)
Abbildung 8 Wirksamkeit von Sporttherapie, ICBT & Routinebehandlung
Abbildung 9 Tiermodell: „Running“ bei depressiven Verhaltensweisen
Abbildung 10 Bewegungstraining in der Natur
Abbildung 11 Sozial kognitives Modell gesundheitlichen Handelns (HAPA)
Abbildung 12 (Neuro)Biologische & psychologische Wirkmechanismen
Abbildung 13 Bewegungslabor mit Laufband
Abbildung 14 Phasen & Behandlungsabschnitte bei Depressionen
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1 Aerobes Laufen: RCTs, Reviews & Metaanalysen (2005-2010)
Tabelle 2 Ausgewählte RCTs „Lauftherapie & Depression“ (2012-2022)
Tabelle 3 DLZ-Laufprogramm (Auszug) für Anfängerinnen
Tabelle 4 Zeitplan Lauftherapie (12 Wochen)
Tabelle 5 Borg-Skala zum subjektiven Anstrengungsempfinden
Tabelle 6 Belastungsempfehlung für psychisch erkrankte Patientinnen
Abstract
Depressionen zählen weltweit zu den häufigsten psychischen Krankheiten. Allein in Deutschland sind jährlich circa 6 Millionen Menschen betroffen. Jede fünfte bis sechste Person muss damit rechnen, dass im Laufe ihres Lebens eine depressive Episode auftritt. Standardtherapien zeigen dabei oft keine zufriedenstellende Wirkung und Betroffene erhalten vielfach keine spezifische Behandlung, bedingt u. a. durch lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz. Vor diesem Hintergrund gewinnen nichtmedikamentöse somatische Behandlungsstrategien an Bedeutung, wozu auch verschiedene Formen körperlicher Aktivität zählen, deren Wirksamkeit bei Depressionen durch Forschungsergebnisse belegt ist. Auch wenn hinsichtlich optimaler Intensität, Dauer und Häufigkeit der Aktivitätsphasen noch weiterer Klärungsbedarf besteht, wird in medizinischen Leitlinien körperliches Training ausdrücklich empfohlen.
Das langsame ausdauernde Laufen stellt in diesem Kontext eine aerobe Form von Bewegung dar, die als „Lauftherapie“ eine Behandlungsoption eröffnet, welche im Vergleich mit Pharmako- und Psychotherapie ähnliche Effekte zeigt.
In vorliegendem Literaturreview werden unter Berücksichtigung von Metaanalysen, Übersichtsarbeiten und Einzelstudien wesentliche Erkenntnisse zur Wirkung körperlichen Trainings und des therapeutischen Laufens als adjuvante Therapieangebote bei Depressionen beschrieben und zusammengefasst. Ein Ergebnis: Aerobe Bewegung kann als effektives „Antidepressivum“ bezeichnet werden. Für die Implementierung der Lauftherapie werden ergänzend notwendige Bedingungen aufgezeigt und Handlungsempfehlungen für Interventionen im klinischen und ambulanten Setting gegeben.
Abstract
Depression and Physical Activity - Aerobic Exercise (Running Therapy) as a Complementary Therapeutic Intervention for Depressive Disorders
Depression is one of the most common mental illnesses worldwide. In Germany for example, around 6 million people are affected every year. Every fifth to sixth person has to expect a depressive episode to occur in the course of their life. Standard therapies often do not have a satisfactory effect, and many of those afflicted do not receive specific treatment, also due to long waiting lists for a therapy place. Against this background, nondrug somatic treatment strategies, such as various forms of physical activity, are gaining in importance. The effectiveness of physical training for treating depressed patients has been proven by research. Even if there is still a need for further clarification regarding the optimal intensity, duration and frequency of activity phases, physical training is recommended in medical guidelines.
In this context, slow endurance running represents an aerobic form of movement that opens up a treatment option as “running therapy", which shows comparable effects to pharmacotherapy and psychotherapy.
In the present literature review, taking into account meta-analyses, reviews and randomized controlled studies, essential findings on the effect of physical training and therapeutic running as an adjuvant therapy for depression are described and summarized. One result: exercise can be characterized as an effective antidepressant. Moreover, necessary conditions for the implementation of running therapy are presented and recommendations for intervention in the clinical and outpatient setting are given.
1 Einleitung
1.1 Einführung in die Thematik
Unter den psychischen Erkrankungen zählen Depressionen weltweit zu den häufigsten Diagnosen. Gemäß DSM-5 (Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders) ist ein gemeinsames Merkmal depressiver Störungen „das Vorliegen einer traurigen oder reizbaren Stimmung oder des Gefühls der Leere, begleitet von somatischen oder kognitiven Veränderungen, die die Funktionsfähigkeit der Person bedeutsam beeinträchtigen“ (Falkai & Wittchen, 2015, S. 209). Die Major Depression (MDD) repräsentiert dabei den klassischen Prototyp dieser Störungsgruppe. Nach Daten der World Health Organization (WHO) sind 322 Millionen Menschen an Depressionen erkrankt (Abbildung 1), was einem Anteil von 4,3 Prozent der Weltbevölkerung entspricht:
Abbildung 1 Prävalenz depressiver Störungen (weltweit) in Millionen & Prozentzahlen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: WHO (2017, S. 8)
Das Risiko, an Depression zu erkranken, wird für Frauen in Europa mit einer Lebenszeitprävalenz von 17% und für Männer mit 9% angegeben (WHO, 2016, S. 1). In Deutschland erkranken innerhalb von 12 Monaten an unipolarer Depression circa 6,2 Millionen Menschen. Bei einem Fünftel „treten auch hypomanische, manische oder gemischte Episoden auf. Bipolare Störungen sind als eigenständige Erkrankungen von der unipolaren Depression abgegrenzt“ (DGPPN, 2015, S. 1). In psychosomatischen Kliniken wird fast die Hälfte aller Patientinnen (48,6%) mit der Diagnose Depression behandelt, in psychiatrischen Krankenhäusern umfasst diese Patientinnengruppe 20,7% (Abbildung 2):
Abbildung 2 Diagnosen psychischer Störungen nach ICD-10 in Prozent im Jahr 2008
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Holst et al. (2020, S. 360)
Komorbidität mit anderen psychischen Erkrankungen stellt eine ungünstige Prognose für den Verlauf einer Depression dar. Dass Depressionen tödlich verlaufen können, zeigt die etwa 30-mal höhere Suizidrate unter depressiven Menschen als in der Durchschnittsbevölkerung (DGPPN, 2015). Volkswirtschaftlich betrachtet stellen die mit Depressionen verbundenen Ausgaben einen beachtlichen Kostenfaktor dar, der im Jahre 2008 gemäß Zahlen des Statistischen Bundesamtes 5,2 Milliarden Euro betrug (DESTATIS, 2017). Auch die Statistiken der Rentenversicherungsträger zeigen, dass psychische Krankheiten mit weitem Abstand für den Rentenzugang wegen Erwerbsminderung verantwortlich sind. Diese Daten weisen auf die gesamtgesellschaftliche Bedeutung seelischer Erkrankungen hin.
In der Pathophysiologie depressiver Störungen spielen komplexe neurobiologische und biochemische Prozesse eine wichtige Rolle. Studien belegen, dass sportliche Betätigung ähnlich wirkt wie klassische Sero- toninwiederaufnahmehemmer (Antidepressiva) und eine depressive Symptomatik sich dadurch verringern kann (Fuchs & Schlicht, 2012).
Die therapeutische Behandlung der Depression ist stets multimodal. Neben Pharmakotherapie und/oder Psychotherapie haben sich komplementäre Maßnahmen etabliert, die meist begleitend eingesetzt werden. Dazu zählen nichtmedikamentöse somatische Therapieverfahren, darunter körperliches Training (DGPPN, 2015, S. 125).
In dem Standardwerk „Bewegungstherapie - Prinzipien therapeutischen Sports“ heißt es seinerzeit über Sporttherapie bei neurologisch-psychiatrischen Krankheitsbildern (Jung, 1992, S. 181):
Seit Jahren mehren sich Hinweise über die großen Möglichkeiten körperlicher Ertüchtigung im Gesamttherapiekonzept bei Depressionen. Inzwischen nimmt sie bei den Allgemeinmaßnahmen einen hohen Stellenwert ein. Körperliche Ertüchtigung wirkt auf alle psychischen Auffälligkeiten von Depressionen positiv, so bei Verstimmung, Initiativlosigkeit, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, herabgesetzter Emotionalität, Kontaktfähigkeit, Angstzuständen, Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Lebensüberdruß [sic] ... Die höchste Effektivität wird jeweils in der Gruppe erreicht.
Inzwischen sind Sport- und Bewegungstherapien als ergänzende Behandlungsmethoden bei psychischen Erkrankungen anerkannt.
1.2 Forschungsfragen
Bei Menschen mit depressiver Symptomatik sind Aktivierung sowie Wiedererlangung der Freude an Bewegung vorrangig. Angestrebt wird zusätzlich „die Förderung von Ausdauer, Kraft, Beweglichkeit, körperlicher An- und Entspannung, Aufmerksamkeit, Umgang mit Aggressionen und Frustrationstoleranz“ (Hölter, 2011, S. 511). Obwohl immer mehr Methoden und Verfahren alternativer und komplementärer Medizin randomi- sierten, kontrollierten Wirksamkeitsstudien unterzogen werden, fehlt es in vielen Fällen an Effektivitätsnachweisen nach Kriterien der evidenzbasierten Medizin (Faller & Lang, 2019).
Studien über die Wirksamkeit von Bewegungsangeboten zeigen eine sehr unterschiedliche Qualität und Ergebnisse sind oft nur eingeschränkt aussagefähig. Dies hängt u. a. damit zusammen, dass im klinischen Rahmen medikamentöse und psychotherapeutische Behandlungen im Mittelpunkt stehen. Effekte von Bewegungsangeboten im Behandlungszeitraum sind folglich weniger messbar.
Aerobe Bewegung, d. h. die dynamische Bewegung großer Muskelgruppen, wie sie bei den Ausdauersportarten Laufen/Jogging, Walking oder Radfahren auftreten, hat neben physiologischen Anpassungseffekten auf den menschlichen Organismus eine ganze Reihe positiver Einflüsse auf die Psyche. Am Anfang körper- und bewegungsorientierter Ansätze bei Depressionsbehandlungen in Form des Laufens (Joggens) standen in den USA die Studien von Greist et al. (1978a) sowie Sachs und Buffone (1984) mit ihrem Buch „Running as Therapy“.
In Deutschland war es Weber (1984), der Laufen als Behandlungsmethode bei Patienten einer Suchtklinik einsetzte und ein lauftherapeutisches Konzept entwickelte. Bartmann (1992) fokussiert neben allgemein gesundheitlichen Wirkungen des Laufens noch stärker auf psychische Störungen. Wegweisend waren die Arbeiten von Blumenthal et al. (1999, 2007), in denen Wirkungen eines körperlichen (Ausdauer)Trainings mit psychopharmakologischer Behandlung bei depressiven Patientinnen verglichen wurden.
Hieraus abgeleitete Forschungsfragen (F1-F3):
F1: Welche Effekte zeigt körperliche Aktivität bei Menschen mit depressiven Störungen?
F2: Wie wirkt speziell aerobe Bewegung in Form des langsamen ausdauernden Laufens (Lauftherapie) als komplementäre Maßnahme bei depressiven Erkrankungen?
F3: Welche Bedingungen erfordern lauftherapeutische Interventionen, um den therapeutischen Prozess bei Depressionen zu unterstützen?
1.3 Methode: Literatur-Review
Für die Literaturrecherche in wissenschaftlichen Datenbanken werden zentrale Suchbegriffe (keywords) festgelegt, trunkiert, unterschiedlich kombiniert und die Treffermenge durch Boolesche Operatoren reduziert (Döring & Bortz, 2016). Was den Grad der „Abdeckung“ betrifft, sollen durch eine selektive Literaturrecherche Publikationen erfasst werden, die für das Themengebiet als besonders relevant gelten. Hierzu zählen Fach-Iiteratur/Buchveröffentlichungen, Forschungsartikel, Übersichtsarbeiten sowie Metaanalysen.
Die bei der Suchstrategie verwendeten Keywords lauten:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die primären Suchbegriffe sind in Abbildung 3 in ihrem Zusammenhang dargestellt. Zum Auffinden englischsprachiger Literatur werden die entsprechenden Begriffe übersetzt: (major) depression, running therapy, aerobic movement, physical activity (exercise), affective disorders, sports therapy, endurance training.
Ergebnisse der selektiven Datenerhebung werden beschrieben, erklärt und durch Synthetisierung Probleme und Lösungsansätze zusammengefasst - unter besonderer Berücksichtigung aerober Bewegung in Form der Lauftherapie.
Abbildung 3
Keywords: Körperliche Aktivität als Intervention bei Depressionen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: eigene Darstellung
Für die Recherche sind Datenbanken aus medizinischen und psychologischen Fachbereichen vorgesehen: PubMed, cochrane, PsyclNFO, daneben auch scholar google, ScienceDirect, zudem die Nutzung von Suchmaschinen wie BASE. Auch Datenbanken der Sporthochschule Köln und einschlägiger Verlage (springerlink, psycontent) werden geprüft. Die Literaturrecherche umfasst vor allem die Dekade 2011/2012 bis 2021/2022. Schließlich fließt in die Bearbeitung der Thematik die für die Behandlung der Unipolaren Depression maßgebliche S3-Leitlinie/Nationale Versorgungsleitlinie mitein (DGPPN, 2015; Bundesärztekammer et al., 2022).
2 Hintergrund
2.1 Depression: Symptomatik, Diagnose, Ätiologie & Therapie
Depressionen zählen zu den affektiven Störungen und werden im Kapitel (F) der ICD-10 der WHO beschrieben (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information [DIMDI], 2018, S. 192). Neben den 2022 neu eingeführten Codierungen der ICD-11 behält die bisherige Version in einer Übergangszeit weiterhin Gültigkeit. Es wird zwischen unipolaren und bipolaren affektiven Störungen unterschieden: Die unipolare Depression verläuft episodisch, d. h. in zeitlich begrenzten Krankheitsphasen und kann auch ohne therapeutische Intervention abklingen. Unbehandelte Depressionen zeigten eine Remissionsrate von ca. 12%, durch Wartezeiten kann sich die Schwere der Erkrankung aber auch verstärken (Mekonen et al., 2022). Die bipolar affektiven Störungen sind durch depressive und (hypo)manische Phasen gekennzeichnet und nicht Gegenstand dieser Arbeit.
2.1.1 Symptome & Klassifikation
Bei den typischen depressiven Episoden leiden die Betroffenen unter folgenden Hauptsymptomen (DGPPN, 2017, S. 30):
- depressive gedrückte Stimmung
- Interessenverlust und Freudlosigkeit
- Antriebsverminderung mit Ermüdbarkeit & Aktivitätseinschränkung.
Daneben werden Zusatzsymptome definiert:
- verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
- vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
- Schuldgefühle und Wertlosigkeit
- negative und pessimistische Zukunftsperspektiven
- Suizidgedanken, erfolgte Selbstverletzung und Suizidhandlungen
- Schlafstörungen
- verminderter Appetit.
Für eine Diagnosestellung nach ICD-10 gelten je nach Schweregrad unterschiedliche Kriterien. Bei der leichten Episode müssen mindestens zwei Hauptsymptome sowie zwei Zusatzsymptome über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen vorliegen. Bei schweren Episoden sind dagegen drei Hauptsymptome sowie vier oder mehr Zusatzsymptome gefordert (siehe Anhang 1). Treten nach einer Episode weitere depressive Phasen auf, ist die Diagnose „rezidivierende depressive Störung“ zu stellen. Als chronisch depressive Verstimmung gilt die Dysthymie. Abbildung 4 zeigt Beispiele für Verläufe unipolarer Depressionen:
Abbildung 4
Verläufe unipolarer depressiver Störungen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: S3-Leitline Unipolare Depression (DGPPN, 2017, S. 12)
Der angloamerikanische Begriff Major Depression (MDD) ist auch in Deutschland gebräuchlich und steht für eine schwere depressive Episode. (Zu den diagnostischen Kriterien nach DSM-5 siehe Anhang 2a/b). Da somatische Erkrankungen wie zum Beispiel koronare Herzerkrankungen, Diabetes oder Adipositas oft mit Depressionen assoziiert sind, können sie eine Symptomverstärkung erfahren. Ungeachtet der erhöhten Suizidraten ist die Lebenserwartung dieser Patientinnen um etwa zehn Jahre verkürzt (Hearing et al., 2016; Herbsieb, 2021).
2.1.2 Ätiologie
Die Entstehung von Depressionen ist multifaktoriell bedingt. Neben Genetik (Heritibilität 30% bis 40%) und biologischem Hintergrund sind psychische und soziale Faktoren wirksam, die je nach Person mehr oder weniger vulnerabel wirken.
Eine Erklärung für die Entstehung der Depression aus neurobiologischer Sicht stellt die Monoamin-Hypothese dar, wonach im synaptischen Spalt ein Neurotransmittermangel besteht. Bei der Neurotrophin-Hypothese gilt ein Mangel des Nervenwachstumsfaktors BDNF (brain-derived neurotrophic factor) als Ursache depressiver Störungen (Faller & Lang, 2019, S. 118). Bildgebende Verfahren zeigen bei Depressionen erhöhte Amygdalaaktivität. Dies korreliert damit, Wahrnehmungen negativ zu bewerten, was sich unter antidepressiver Therapie reduziert und den Schluss zulässt, „dass die Amygdalaaktivierung ursprünglich an der Depressionsentstehung beteiligt ist“ (Faller & Lang, 2019, S. 119).
Bei Patientinnen mit akuter Depression ist zudem die HHN-Achse (Hypo- thalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse) hyperaktiv, wodurch es zur Ausschüttung von Glukokortikoiden wie Cortisol kommt. Dieser stressbedingte Anstieg wird mit der hippocampalen Volumenminderung bei Depressionspatientinnen in Verbindung gebracht.
Das Ätiologiemodell (Abbildung 5) zeigt weitere mögliche Entstehungsbedingungen und gibt Hinweise auf sich daraus ergebende Folgen. Dabei spielen intraindividuelle Bedingungen (Alter, Geschlecht, Temperament, Traumata, Krankheitserfahrung, Deprivation, Vernachlässigung, Verlust) sowie die soziale Vorgeschichte eine Rolle. Stressige Lebensereignisse können dabei zum Auslöser (Trigger) für Depressionen werden:
Abbildung 5
Ätiologiemodell der Depression
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Beesdo-Baum und Wittchen (2020, S. 1043)
Neuere Studien stellen verstärkt mitochondriale Dysfunktionen heraus, die zur biomolekularen Pathophysiologie der Depression beitragen (Allen et al., 2018; Karabatsiakis & Schönfeldt-Lecuona, 2018). Die Mikrobiom- Forschung weist darauf hin, dass auch Darmbakterien die Psyche beeinflussen (Konturek & Zopf, 2016). Das komplexe unabhängige Nervensystem des Darms (enterisches Nervensystem), auch als „zweites Gehirn“ bezeichnet, interagiert ständig mit dem Zentralnervensystem (ZNS). Die Beziehung zwischen mikrobiellem Stoffwechsel im Darm und psychischer Gesundheit ist wissenschaftlich zwar noch nicht ausreichend geklärt, bisherige Erkenntnisse zur Darm-Hirn-Achse (bidirektionale MikrobiotaDarm-Gehirn-Kommunikation) deuten jedoch darauf hin, dass Darmdys- biosen eine Rolle bei depressiven Erkrankungen spielen und diese verursachen können (Lima-Ojeda et al., 2020; Kunugi, 2021; Valles-Colomer et al., 2019).
Psychologische Depressionstheorien wie die Theorie der erlernten Hilflosigkeit (Seligman, 1974, 2016), die Verstärker-Verlusttheorie (Lewin- sohn, 1974), wonach Depressionen mit geringen positiven Verstärkungen vor allem im sozialen Kontext assoziiert sind oder das Modell der dysfunktionalen Kognitionen und Schemata (Beck et al., 2010), können ebenfalls dem ätiologischen Bedingungsgefüge der Depression zugeordnet werden (Beesdo-Baum & Wittchen, 2020). Von diesen Vorstellungen zur Ätiologie depressiver Störungen hängen die therapeutischen Interventionen ab und richten sich dabei nach Symptomschwere, Erkrankungsverlauf sowie Patientenpräferenz (DGPPN, 2017).
2.1.3 Multimodaler Therapieansatz
Als Therapieziele werden die Linderung der depressiven Symptomatik in der Akutphase, das Erreichen einer Remission sowie die langfristige Rückfallprophylaxe angestrebt. Pharmako- und Psychotherapie gelten als Standardtherapien, wobei sich eine Kombinationsbehandlung der jeweiligen Monotherapie als überlegen zeigt (Cuijpers et al., 2020). Die dominierenden Psychopharmaka umfassen tri- und tetrazyklische Antidepressiva (TZA) zur Verbesserung des bei Depression gestörten Gleichgewichts zwischen den Botenstoffen Serotonin und Noradrenalin, ferner selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) sowie Serotonin- und Noradrenalin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SSNR), die die Konzentration der genannten Neurotransmitter im synaptischen Spalt erhöhen sollen - und schließlich Monoaminoxidase-Inhibitoren (MAOI) zur Verhinderung des Abbaus von Serotonin, Dopamin und Noradrenalin im Gehirn (DGPPN, 2017). Nur etwa 40% bis 60% der Patientinnen erreichen jedoch eine Remission (DGPNN, 2015). Unterschiede in der Besserung zwischen Patientinnengruppen, die Antidepressiva oder Placebos nehmen, scheinen im Übrigen nicht sehr groß zu sein (Kirsch, 2019).
Zur Behandlung psychiatrischer Notfälle und therapieresistenter Depression wird gegenwärtig die Anwendung von Esketamin-Nasenspray diskutiert, um Probleme herkömmlicher Antidepressiva - die Wirklatenz - zu umgehen (Göldner & Bschor, 2022). Auch Psilocybin, eine Substanz halluzinogener Pilze mit psychoaktiver Wirkung auf das Serotoninsystem ist aktuell im Prüfstadium (Deutsches Ärzteblatt, 2021; Goodwin et al., 2022).
Als therapeutische Ansätze bei Depressionen gelten:
- Psychopharmakotherapie
- Psychotherapie
- transkranielle Magnetstimulation (TMS)
- Elektrokonvulsionstherapie (EKT)
- Wachtherapie (Schlafentzugstherapie)
- psychoedukative und soziotherapeutische Maßnahmen
- phytotherapeutische Behandlung
- körperliches Training
Das zuletzt genannte körperliche Training steht im Zentrum dieser Arbeit.
In den S-3 Leitlinien Unipolare Depression heißt es dazu im Abschnitt „Nichtmedikamentöse somatische Therapieverfahren“:
„Patienten mit einer depressiven Störung und ohne Kontraindikation für körperliche Belastungen sollte die Durchführung eines strukturierten und supervidierten körperlichen Trainings empfohlen werden“ (DGPPN, 2017, S. 45).
Formal liegt ein Evidenzgrad (A) vor, eine Soll-Empfehlung, was bedeutet, dass randomisierte kontrollierte Studien von insgesamt guter Qualität und Konsistenz vorliegen. Einschränkend gilt jedoch, dass „die Evidenzlage noch vorläufig und als geringer (entsprechend Grad B) zu bewerten“ ist, da nicht ausreichend Studien sehr hoher Qualität vorhanden sind und „Ergebnisse eine deutliche Heterogenität aufweisen“ (DGPPN, 2017, S. 12).
Die überarbeitete Version (3.0) der S-3 Leitlinie orientiert sich am Schweregrad sowie an Behandlungs- und Erkrankungsphasen der Depression (Bundesärztekammer et al., 2022). Bei leichten depressiven Episoden sollten danach zuerst Online-Programme (Internet- und mobilbasiert) sowie Beratungsgespräche als niedrigschwellige Therapieoptionen angeboten werden. Bei rezidivierenden leichten Episoden und mittelschweren Depressionen werden Pharmako- oder Psychotherapie als Behandlungsansätze genannt, bei schweren Erkrankungen eine Kombinationstherapie aus beiden Ansätzen. Da die Koordination der vielfältigen Hilfemöglichkeiten (hausärztliche, psychiatrische, psychotherapeutische, psychosoziale Unterstützung, Rehabilitationsleistungen) eine Herausforderung für alle Beteiligten darstellt, sind Empfehlungen für besseres Schnittstellenmanagement in den Leitlinien neu hinzugekommen.
2.2 Körperlicher Aktivität & bewegungsorientierte Therapieverfahren
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO, 2010) empfiehlt grundsätzlich körperliche Aktivität zur Erhaltung der Gesundheit. Unter körperlicher Aktivität ist „jede durch die Skelettmuskulatur hervorgebrachte Bewegung (zu verstehen), die den Energiebedarf substanziell ansteigen lässt“ (Robert Koch-Institut, 2003, S. 3).
Im klinischen und therapeutischen Rahmen zeigt sich bei den bewegungsund körperorientierten Verfahren eine große Vielfalt. Auch die Sporttherapie als „bewegungstherapeutische Maßnahme, die mit geeigneten Mitteln des Sports gestörte körperliche, psychische und soziale Funktionen kompensiert, regeneriert, Sekundärschäden vorbeugt und gesundheitlich orientiertes Verhalten fördert“, ist hier einzuordnen (Hegar, 2017, S. 7). Als Teil der Behandlung psychischer Erkrankungen gehören Sport- und Bewegungstherapien zum Programm im klinischen Bereich und gelten als evidenzbasierte Behandlungsoptionen bei leichter bis mittlerer Depression (Heißei, 2020).
Für die Behandlung von Depressionen machen nationale und internationale Fachgesellschaften in Leitlinienpapieren entsprechende Vorgaben:
- Die European Psychiatric Association (EPA) empfiehlt 2 bis 3 überwachte Trainingseinheiten (Ausdauertraining) pro Woche mit moderater Intensität von 45-60 Minuten Dauer oder Aerobic- und Krafttraining kombiniert über mehrere Wochen (Stubbs et al., 2018).
- Das National Institut for Clinical Excellence (United Kingdom) empfiehlt in seinen Referenzleitlinien (NICE, 2009) ein körperliches Aktivierungsprogramm im Gruppensetting mit geeigneten Übungsleiterinnen durchzuführen (dreimal wöchentlich jeweils 45 bis 60 Minuten über einen Zeitraum von 10 bis 14 Wochen).
- Auch das Scottish Intercollegiate Guidelines Network (SIGN, 2010) kommt zum Schluss, bei Depressionen ein strukturiertes körperliches Training zu berücksichtigen.
- Die Richtlinien des American College of Sports Medicine (ACSM, 2001) umschreiben körperliches Training zur allgemeinen Gesundheitsförderung als „geplante, strukturierte und wiederholte körperliche Aktivität zur Erhaltung oder Verbesserung ... der Fitness“ (DGPPN, 2015, S. 125). Es wird für ein aerobes Ausdauerdauertraining in „moderater Intensität für mindestens 30 Minuten an fünf Tagen pro Woche“ plädiert, alternativ wöchentlich 150 Minuten intensives Training für 20 Minuten an drei Tagen, zusätzlich mit Krafttraining sowie Gleichgewichts und Koordinationsübungen (Garber et al., 2011, S. 1334).
Da zur gesundheitlichen Beeinträchtigung von Patientinnen mit depressiven Erkrankungen oft Bewegungsmangel hinzukommt, muss die Förderung eines insgesamt aktiven Lebensstils Ziel im therapeutischen Prozess sein (Herbsieb, 2021).
2.3 Ausdauer als motorische Basisfähigkeit
Im Sport bzw. in der Sportmedizin werden fünf motorische Basisfähigkeiten unterschieden (Abbildung 6). Ausdauer stellt dabei die am besten untersuchte Beanspruchungsform für viele seelische Erkrankungen dar:
Abbildung 6
Motorische Basisfähigkeiten
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Darstellung modifiziert nach Hollmann und Strüder (2009, S. 140)
Umgangssprachlich entspricht Ausdauer dem „Durchhaltevermögen“, sportwissenschaftlich wird darunter die psycho-physische Ermüdungswiderstandsfähigkeit verstanden (Weineck, 2010). Ausdauerorientierte Bewegungsarten mit dynamisch-rhythmischer Beanspruchung großer Muskelgruppen schlagen sich in der Empfehlung für Jogging, (Nordic) Walking, (Berg)Wandern, Radfahren, Schwimmen, Inlineskaten, Rudern und Skilanglauf nieder (Graf, 2014).
2.3.1 Aerobe versus anaerobe Bewegung
Um Energie für die körperliche Aktivität zu gewinnen, bieten sich zwei Wege an: Je nachdem, ob die Belastungsintensität hoch oder niedrig ist, wird Energie „aerob“ oder „anaerob“ (griech.: „mit“ oder „ohne“ Sauerstoff) gewonnen. Beim langsamen Dauerlauf und leichter Trainingsbelastung wird die benötigte Energie aerob erlangt, wobei sich Sauerstoffaufnahme und Verbrauch die Waage halten. Diese Prozesse halten in der Regel lange an und vermehrtes Sauerstoffangebot im Organismus führt zu den gesundheitlich positiven Effekten (Wessinghage, 2004). Für dieses Ausdauertraining niedriger Intensität zeigt die Lactatkonzentration im Blut als Indikator für den Trainingszustand einen Wert von unter 2 mmol/l (Millimol pro Liter). Reden ist beim Laufen noch gut möglich und wird als kaum anstrengend erlebt (Herbsieb & Puta, 2015). Die Mitochondrien haben dabei die Funktion, aus Fett- und Aminosäuren sowie Kohlenhydraten unter Atemsauerstoff Energie zu produzieren, als Adenosintriphoshat (ATP) zu speichern und für den Organismus bereitzustellen.
Bei schneller und intensiver Belastung (Sprint, Krafttraining) wechselt der Körper zur anaeroben Energiegewinnung: Die Muskeln benötigen jetzt mehr Energie als der Körper mit Hilfe von Sauerstoff zur Verfügung stellen kann. Durch den folgenden Abbau von Adenosintriphosphat ist die Energie der Muskelzellen schnell erschöpft. Der Lactatspiegel steigt exponentiell an, was zur Übersäuerung der Muskulatur und schließlich zu Erschöpfung und Leistungsabbruch führt (Gabriel et al., 2015).
2.3.2 Steuerung der Ausdauerfähigkeit im therapeutischen Rahmen
Für die Unterscheidung von intensivem Sporttraining und therapeutischer Intervention ist die Energiebereitstellung in Abhängigkeit von Belastungsdauer bzw. Intensität ausschlaggebend. Spirometrische Messungen als Methode zur Steuerung der Ausdauerleistungsfähigkeit über die maximale Sauerstoffaufnahme (VO2max) sind im psychiatrischen Bereich weniger gut einsetzbar, da dies eine starke Motivation für sportliche Aktivitäten voraussetzt, was sich bei Patientinnen mit depressiven Erkrankungen oft als schwierig erweist (Gabriel et al., 2015). Auch Messungen der Lactatkonzentration über Blutabnahme am Ohrläppchen sind aufwändig. Daher empfiehlt sich als Methode im Gesundheitsbereich die Herz- frequenzmessung. Für die Zielgruppe der psychisch Erkrankten kann als Ersatzparameter zur Pulssteuerung auch die Borg-Skala verwendet werden (siehe Kapitel 5.4).
Ein Überblick zu Intensitätszonen, empfohlenen Trainingsbereichen und korrespondierenden Beanspruchungsparametern mit Hinweisen zur Belastungssteuerung bei psychisch erkrankten Patientinnen ist im Anhang 3 wiedergegeben. Bei noch wenig gesicherten Aussagen über Umfang körperlicher Aktivität und Effekten auf psychische Gesundheit können auch die allgemeinen Empfehlungen der Fachgesellschaften wie der ACSM, der WHO (Anhang 4) oder der EPA als Orientierung dienen (Oertel- Knöchel & Hänsel, 2016).
Die anschließenden Ausführungen fassen Forschungsergebnisse eines körperlichen - meist aeroben - Trainings bei Depressionen anhand von Metaanalysen und Übersichtsarbeiten zusammen, bevor in einem nächsten Schritt (Kapitel 4) speziell aerobe Bewegung in Form des langsamen ausdauernden Laufens (Lauftherapie) im Fokus steht.
3 Literatur-Review (Teil I):Effekte körperlicher Aktivität bei Menschen mit depressiven Störungen - zentrale Befunde des Forschungsgebietes in Metaanalysen & Reviews
Eine Pubmed-Recherche von Bendau et al. (2022) mit dem Suchterm („physical activity“ OR „exercise“ OR „sports“) AND („depression“ OR “affective disorder” OR “bipolar disorder” OR “dysthymia”) zeigt im Zeitraum 1970 bis 2019 (Abbildung 7) eine stark anschwellende Zahl wissenschaftlicher Publikationen:
Abbildung 7
Entwicklung wissenschaftlicher Arbeiten pro Jahr zum Thema „körperliche Aktivität & Depression“ (1970-2019)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Bendau et al. (2022, S. 54)
Bei der großen Zahl an Arbeiten, die den Einfluss körperlicher Aktivität auf Depressionen thematisieren, können Metaanalysen und Reviews einen Überblick zum Forschungsstand geben, da sie relevante Studien Zusammentragen, um gesicherte Aussagen zum Forschungsfeld zu treffen.
3.1 Effektstärken in Metaanalysen (2011-2021)
Die im Folgenden ausgewerteten Metaanalysen stellen häufig zitierte und diskutierte Arbeiten zum Wirkungszusammenhang „Körperliche Aktivität und Depressionen“ im Zeitraum 2011 bis 2021 dar. Die Arbeiten umfassen vor allem aerobe Aktivitäten - in Ausnahmefällen auch Krafttraining - und weisen ein breites Spektrum an Effektstärken von niedrig über moderat bis groß auf (Anhang 5a/b).
Mehrheitlich liegen die Effektstärken der Metaanalysen im mittleren Bereich (Cooney et al., 2013; Krogh et al., 2017; Kvam et al. 2016). Da jedoch Schuch et al. (2016) einen Publikationsbias vermuteten, ermittelten sie davon bereinigte Ergebnisse mit großem signifikantem Effekt. Daneben finden sich auch Metaanalysen mit kleinen Effektstärken (Leng et al., 2018). Insgesamt sind die Befunde uneinheitlich. Bei Krogh et al. (2011) zeigten hochwertige Studien keine Signifikanz und bei Kvam et al. (2016) ließen sich zuvor ermittelte Ergebnisse im Follow-up nicht mehr bestätigen. Studien mit geringem Bias-Risiko deuteten auch nicht immer auf antidepressive Wirkungen von Bewegung hin (Krogh et al., 2017).
Zwei Arbeiten mit hoher statistischer Power, die den Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und dem Eintreten einer Depression untersuchten, ragen heraus. In Longitudinalstudien (49 prospektive Kohortenstudien) mit durchschnittlicher Dauer von 7 Jahren waren 266.939 Probandinnen eingeschlossen, die bei Studienbeginn alle depressionsfrei waren. Verglichen wurden Gruppen mit der höchsten und geringsten körperlichen Aktivität. Das Ergebnis: Personen mit geringer körperlicher Aktivität hatten eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit eine Depression zu entwickeln (Schuch et al., 2018). Einen ähnlichen Effekt fanden Dishman et al. (2021) mit mehr als 3 Millionen erwachsenen Personen weltweit. Nach moderater bis intensiver körperlicher Aktivität war unabhängig von Region, Geschlecht oder Alter die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Depressionen oder der Entwicklung subklinischer depressiver Symptome signifikant reduziert.
3.2 Cochrane Library: Metaanalyse von Cooney et al. (2013)
Als internationale Organisation mit dem Ziel, fundierte Entscheidungen über die Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, stellt die Cochrane Collaboration (CC) systematische Übersichtsarbeiten zu Auswirkungen von Interventionen im Gesundheitswesen zur Verfügung (Scholten et al., 2005; Weckmann et al., 2015). Reviews und Metaanalysen, wie sie von der CC veröffentlicht werden, nehmen einen besonderen Stellenwert ein. In der Wissenschaftsdiskussion wird vielfach darauf Bezug genommen und Ergebnisse fließen in Empfehlungen ein, so auch für körperliches Training bei Depressionen. Die Metaanalyse von Cooney et al. (2013) wird daher hier besonders herausgestellt (DGPPN, 2015).
Die Arbeit umfasste unabhängig vom Schweregrad der Depression 35 randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) mit mehr als 1.300 Studienteilnehmerinnen. Ermittelt wurden die Diagnosen anhand klinischer Interviews bzw. durch Cut-off-Werte in Selbst- und Fremdbeurteilungsskalen. Die Interventionen orientierten sich an den Vorgaben des ACSM (siehe Kapitel 2.2) und beinhalteten vor allem aerobe Formen von Bewegung wie Laufen (z. T. Laufband), Gehen, Radfahren, Ergometer, Rudern, Tanzen, teilweise auch Krafttraining. Die RCTs wiesen verschiedene Kontrollgruppen auf (Standardintervention, Bewegungstherapie, Placebogruppen).
Für die Wirksamkeit des körperlichen Trainings ergab sich eine moderate Effektstärke SMD (standardized mean difference) von -0.62 (95% Konfidenzintervall: -0.81 bis -0.42) bei allerdings erheblicher Heterogenität (I[2]: 63%). Einige Subgruppenanalysen ergaben höhere Effekte, ebenso kombinierte Interventionen von Kraft- und Ausdauertraining (SMD -0,85) gegenübereinem alleinigen aeroben Training (DGPPN, 2015, S. 126).
Studien mit Langzeitdaten zeigten geringere Effektstärken (SMD -0.33). Wurden High Quality Studies gesondert ausgewertet, blieb die Effektstärke unter der Signifikanzschwelle (SMD -0.18). Eine Reanalyse erbrachte jedoch entgegen den ursprünglichen Ergebnissen wiederum große Effektstärken (Ekkekakis, 2014).
3.3 Effekte körperlicher Aktivität in verschiedenen Bereichen
3.3.1 Effekte in unterschiedlichen Altersgruppen
Mehrheitlich liegen Metaanalysen für das Erwachsenenalter vor (Dishman et al. 2021; Morres et al., 2019; Schuch et al., 2018). In Arbeiten mit älteren Menschen (Bridle et al., 2012; Klil-Drori et al., 2020) und der Diagnose Major Depression (MDD) fand sich ein kleiner bzw. mittlerer signifikanter Effekt körperlichen Trainings auf depressive Symptome. Die gesundheitlichen Vorteile regelmäßiger Bewegung bei Älteren lagen in reduziertem Stress und verminderter Depression (Galoza et al., 2017; Mora & Valencia, 2017).
Bei Kindern und Jugendlichen (Bailey et al., 2018; Oberste et al., 2020) zeigte sich durchweg Signifikanz. Dies stützt die Theorie, dass sportliche Aktivität während der Adoleszenz eine schützende Wirkung gegenüber psychischen Störungen ausübt. Bei sportlich engagierten Jugendlichen waren Depressionen signifikant niedriger als bei sportlich Inaktiven.
3.3.2 Effekte verschiedener Trainingsarten
Den meisten Untersuchungen lag aerobes Training zugrunde. Größere Effektstärken wurden z. T. für kombinierte Trainings (Kraft und Ausdauer) gefunden. Statistisch signifikante Unterschiede zwischen beiden Interventionsarten in der Wirkung auf Depressionen wurden nicht festgestellt (Cooney et al., 2013; Silveira et al., 2013). Bei Jugendlichen erwies sich Krafttraining jedoch besonders effektiv (Barahona-Fuentes et al., 2021).
3.3.3 Effekte im Vergleich verschiedener Therapieansätze
In Vergleichsstudien zwischen Psycho- und Pharmakotherapie sowie körperlichem Training fanden sich keine signifikanten Unterschiede (Cooney et al., 2013; Ekkekakis, 2014; Krogh et al., 2011). Bei mittelschweren Depressionen waren Sporttherapie, psychiatrische Routinebehandlung und internetbasierte kognitive Verhaltenstherapie (iCBT) fast gleich wirksam:
Abbildung 8
Wirksamkeit: Sporttherapie, ICBT & psychiatrische Routinebehandlung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Häckel (2017, S. 60)
Wird körperliches Training begleitend zu einer Standardtherapie eingesetzt, führt die Kombination zu einem signifikant größeren antidepressiven Effekt (Lee et al., 2021). Die Abbruchquoten bei bewegungsorientierten Maßnahmen waren jenen mit medikamentösen und psychotherapeutischen Interventionen ähnlich (Rethorst et al., 2009).
3.3.4 Effekte bei Depressionen & Komorbidität
Depressionen sind häufig mit chronischem Stress assoziiert. Patientinnen mit Major Depression (MDD), die ein Ungleichgewicht des Cortisolspiegels aufwiesen, profitierten von körperlichem Training bei leichter bis mittlerer Trainingsintensität durch Senkung des Cortisols (Beserra et al., 2018). Bei depressiven Tumorpatientinnen fand sich eine kleine signifikante Effektstärke (Craft et al., 2012). Bewegungstherapie gilt allgemein als Ansatz zur Reduzierung von Nebenwirkungen bei Krebserkrankungen (Oberhofer, 2021). Darüber hinaus geht die onkologische Bewegungsmedizin davon aus, dass „krebsspezifische Mortalität bei Mamma- und Kolonkarzinom durch regelmäßige körperliche Bewegung gesenkt werden kann“ (Baumann et al., 2017, S. 1021).
Bei Postpartaler Depression (PPD) kann Bewegung eine Strategie sein, besseres psychisches Wohlbefinden zu erreichen (Poyatos-Leon et al., 2017). Dies gilt ebenso für Angststörungen im Zusammenhang mit Depressionen (Rebar et al., 2015). Personen mit Substanzgebrauchsstörungen und Depressionen profitierten von Fitnessprogrammen durch bessere Lebensqualität (Giménez-Meseguer et al., 2020). Bei Älteren mit Demenzdiagnosen verbesserten Aktivitätsinterventionen körperliche Funktionen, die Evidenz für Wirkung auf Depression war allerdings begrenzt (Potter et al., 2011). Leichte kognitive Beeinträchtigungen (MCI = mild cognitive impairment) wurden durch einen kleinen Effekt gelindert (Leng et al., 2018), was auch auf Patientinnen mit Schädel-Hirn-Traumata zutraf (Perry et al., 2020).
Bei chronisch somatischen Erkrankungen leiden Betroffene häufig unter komorbider depressiver Symptomatik; regelmäßiges Training wirkt hier ebenfalls positiv auf körperliche Krankheiten (Hirschbeck & Roh, 2021; Imboden et al., 2021).
3.4 Meta-Meta-Analyse & Übersichtsarbeiten
Anhand 55 ausgewählter Metaanalysen untersuchten Imboden et al. (2021) die Evidenz körperlicher Aktivität bei Behandlung (und Prävention) von Depressionen. Als Ergebnis der Meta-Meta-Analyse zeigt sich beim Ausdauer- sowie Krafttraining und auch kombiniert ein signifikanter moderater Effekte auf depressive Symptome. Regelmäßige körperliche Aktivität hatte nachweislich schützenden Effekt und verringerte die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Depressionen um ca. 20%. Wirkungen bei Kindern/Jugendlichen fielen kleiner aus.
In einem systematischen Review fassten Ledochowski et al. (2017) die Datenlage im deutschsprachigen Raum von 1980 bis 2016 zusammen. 34 Studien berichteten signifikante positive Wirkungen von Bewegungsinterventionen, 5 Studien zeigten reduzierte depressive Symptomatik, 9 Studien stellten keinen positiven Effekt fest. Mehrheitlich führte Bewegung mit erhöhtem Energieverbrauch zur Verminderung depressiver Symptome. Die Autorinnen schlussfolgern, dass „am aktuellen Trainingszustand depressiver Patienten orientierte moderate Bewegungsinterventionen einen Behandlungsbaustein im Rahmen eines mehrdimensionalen therapeutischen Zugangs darstellen“ sollten (Ledochowski et al., 2017, S. 767).
Das Potenzial von Sporttherapie als „adjuvante oder alternative“ Behandlung bei leichter bis mittelgradiger Depression stellt Heißei (2020) in einem praxisorientierten Übersichtsartikel als Behandlungsoption in der ambulanten Versorgung dar und formuliert Qualitätskriterien für die Implementierung und Durchführung. Voraussetzung hierfür ist das Vorliegen eines strukturierten Konzepts. Der Qualifikation des Fachpersonals für eine supervidierte Durchführung des sporttherapeutischen Angebots wird dabei besondere Bedeutung zugeschrieben. Für angeleiteten Sport wurden im Vergleich mit einem zu Hause absolvierten Training deutlich größere Effektstärken ermittelt, was bedeutet, dass qualifizierte Betreuung und Gruppenerlebnis „zusätzliche antidepressive Effekte hervorrufen“ könnten (Heißei, 2020, S. 150).
Die Bedeutung nichtpharmakologischer Behandlungsalternativen betonen Repple und Opel (2021). Sie legen den Schwerpunkt ihrer Übersichtsarbeit auf neurobiologische Wirkmechanismen von Bewegung und zeigen, dass regelmäßige körperliche Aktivität zum Volumenzuwachs grauer Hirnsubstanz führt, die Mikrostruktur der weißen Hirnsubstanz verbessert, zur verbesserten Funktion depressionsspezifischer Areale im Gehirn beiträgt sowie dessen altersbedingten Abbau verlangsamt. Nach Sportinterventionen sind insgesamt „antiinflammatorische, neuroplastische und antioxidative Effekte“ festzustellen (Repple & Opel, 2021, S. 507). Obwohl Fragen offen sind und neurobiologische Befunde teilweise auf Tiermodellen beruhen, wird Patientinnen mit unipolarer Depression ohne somatische Kontraindikationen Sportintervention als Zusatztherapie empfohlen.
Bei psychisch erkrankten Menschen ist jedoch eine eher geringe Inanspruchnahme körperlichen Trainings zu beobachten. Dies wird „unter anderem mit dem mangelnden Verständnis der Wirkmechanismen der Sporttherapie bei Behandlern und Patienten erklärt, was zu einer zurückhaltenden Indikationsstellung und Inanspruchnahme führt“ (Repple & Opel, 2021, S. 508).
[...]
- Quote paper
- Franz X. Eppinger (Author), 2022, Depression und körperliche Aktivität, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1305442
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