Die Erzählung Der Tod in Venedig entstand im Frühjahr 1911, zunächst als anspruchslose, »rasch zu erledigende Improvisation und Einschaltung« in die Arbeit an den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull Auf dem Lido bei Venedig konzipiert, entwickelte sich die Novelle im Lauf ihrer etwa einjährigen Entstehungszeit zu einem höchst beziehungsreichen, vielfältig deutbaren und gedeuteten Hauptwerk Thomas Manns, das sein vor dem Ersten Weltkrieg liegendes erzählerisches Werk - auch als eine Art "Selbstgericht" abschließt.
Der ersten Konzeption der Novelle ging aber ein anderer, in dieser Form nie verwirklichter Plan voraus: Im 9. Notizbuch findet sich unter der Rubrik »Novellen, die zu machen« der Arbeitstitel Goethe in Marienbad, Thema dieser Novelle sollte der plötzliche "Einbruch der Leidenschaft" in eine scheinbar gesicherte Existenz, die »Entwürdigung eines hochgestiegenen Geistes" sein- Dass nicht Goethe der Held der geplanten Novelle wurde, lag jedoch weniger an einer Art heiliger Scheu, zu der Thomas Mann später seinen Verzicht stilisierte, als vielmehr an der Intention, mit der Entwürdigung auch die Korrumpierung des Künstlers und seinen Untergang zu gestalten. Daher die Erfindung des Schriftstellers Gustav von Aschenbach, der äußerlich »die leidenschaftlich strengen Züge« Gustav Mahlers trägt, dessen Tod Thomas Mann während seines Aufenthaltes auf Brioni im Mai 1911 in den Zeitungen »schrittweise miterlebte«. Zu den Zügen Mahlers gesellen sich neben Anklängen an PLATEN und WAGNER autobiographische Anspielungen: Aschenbachs Wohnung in München, sein früher schriftstellerischer Ruhm, der Hang zur Repräsentation und »Leistung«, schließlich die misslungene, fluchtartig angetretene Reise auf eine Insel vor der istrischen Küste und die Fortsetzung der Reise auf dem Lido, vor allem aber Aschenbachs Werke, die »Prosa-Epopöe vom Leben Friedrichs von Preußen«, Erzählungen wie »Maja« und „Ein Elender“, daneben eine»Abhandlung über Geist und Kunst« - Projekte, die Thomas Mann selbst verfolgte, ohne sie gänzlich auszuführen.
1. Novelle - Eine Definition
(von ital. novella"kleine Neuigkeit")
Die Novelle ist seit der Renaissance Bezeichnung für eine kürzere Erzählung episch dramatischen Charakters in Prosa, seltener in Versform.
Goethe gab eine knappe, normsetzende Novellen - Definition ab: "was ist eine Novelle anderes als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit" - so wertete er auch in der Altersdichtung "Novelle" (1828) die Gattung auf. Die Romantik mit ihren Vertretern Armin, Brentano, Eichendorff vertrat diese "unerhörte Begebenheit" im Mittelpunkt.
Der Theoretiker der Novelle war Paul Heyse (1830 - 1914). Seine sogenannte Falkentheorie verlangt, dass "von einer echten und gerechten Novelle ein seelisches oder geistiges Problem in einem kräftig begrenzten Fall zum Austrag gebracht werden soll." Die Novelle müsse eine starke, deutliche Silhouette haben und Mittelpunkt ein symbolisches Leitmotiv wie den Falken bei Boccaccio im Decamerone.
Die großen Erzähler des Realismus waren die Schweizer Gotthelf, Keller und Meyer und die aus dem deutschen Norden stammenden Freytag, Storm, Raabe und Fontane.
Die Blüte der Novelle hielt über das gesamte 19. Jh. hinweg an.
Die inhaltliche und formale Vielfalt verstärkte sich im 20 Jh. Restaurative Tendenzen (Ernst, Binding) stehen eigenständigen Ausformungen (Mann, Musil, Seghers, Hermlin) gegenüber.
Die Novelle berichtet Neuigkeiten als ein real vorstellbares Ereignis oder als eine Folge einzelner Ereignisse. Sie entfaltet sich über einem zentralen Konflikt, der inhaltlich meist das Außergewöhnliche oder Neuartige mit dem Gewohnten
konfrontiert. Geschildert wird meist eine Einzelsituation, die für die Betroffenen
eine Schicksalswende bedeutet. Dabei sind nicht die Personen, sondern das symbolhafte Geschehen wichtig. Dies wird ohne große Einleitung, Ausmalung oder Erörterung zielstrebig und straff wie im Drama auf den Höhe - oder Wendepunkt geführt.
Im Mittelpunkt der expressionistischen Literatur stand der in seiner Vereinzelung auf sich selbst zurückgeworfene, verstörte Mensch, dessen Probleme als isolierter Fall Gewicht bekamen. Daraus erwuchs das Bedürfnis, gesteigertes seelisches Erleben zu gestalten: kritisch groteske oder ethisch utopische Schau, Traum, Entzückung, Rausch und Wahn; dem Wesen nach Selbstenthüllungen, die, statt äußere Wirklichkeit abzubilden, diese in Spiegelungen der Innenwelt verwandelten. Das geschah in einer auf Eindringlichkeit zielenden Sprache, die einerseits um wuchtiger Prägnanz willen vereinfachte, und verkürzte, andererseits ihre Überredungskraft ballte, indem sie Bilderfluchten und Parallelismen in pathetisch oder rhythmisch bewegten Steigerungen häufte. Die literarische Ausdruckskunst konnte sich daher in der Lyrik und im Drama leichter entfalten als in der Epik, die, zumal in der Großform Roman, eher die im Realismus übliche objektivere Ordnung, Breite und Gelassenheit nahe zulegen schien. Nicht zufällig also bevorzugten die eigentliche Expressionisten kleinere Erzählformen.
2. Entstehung von ..Der Tod in Venedig"
Die Erzählung Der Tod in Venedig entstand im Frühjahr 191 1, zunächst als anspruchslose, »rasch zu erledigende Improvisation und Einschaltung« in die Arbeit an den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull Auf dem Lido bei Venedig konzipiert, entwickelte sich die Novelle im Lauf ihrer etwa einjährigen Entstehungszeit zu einem höchst beziehungsreichen, vielfältig deutbaren und gedeuteten Hauptwerk Thomas Manns, das sein vor dem Ersten Weltkrieg liegendes erzählerisches Werk - auch als eine Art "Selbstgericht" abschließt.
Der ersten Konzeption der Novelle ging aber ein anderer, in dieser Form nie verwirklichter Plan voraus: Im 9. Notizbuch findet sich unter der Rubrik »Novellen, die zu machen« der Arbeitstitel Goethe in Marienbad, Thema dieser Novelle sollte der plötzliche "Einbruch der Leidenschaft" in eine scheinbar gesicherte Existenz, die »Entwürdigung eines hochgestiegenen Geistes" sein- Dass nicht Goethe der Held der geplanten Novelle wurde, lag jedoch weniger an einer Art heiliger Scheu, zu der Thomas Mann später seinen Verzicht stilisierte, als vielmehr an der Intention, mit der Entwürdigung auch die Korrumpierung des Künstlers und seinen Untergang zu gestalten. Daher die Erfindung des Schriftstellers Gustav von Aschenbach, der äußerlich »die leidenschaftlich strengen Züge« Gustav Mahlers trägt, dessen Tod Thomas Mann während seines Aufenthaltes auf Brioni im Mai 1911 in den Zeitungen »schrittweise miterlebte«. Zu den Zügen Mahlers gesellen sich neben Anklängen an PLATEN und WAGNER autobiographische Anspielungen: Aschenbachs Wohnung in München, sein früher schriftstellerischer Ruhm, der Hang zur Repräsentation und »Leistung«, schließlich die misslungene, fluchtartig angetretene Reise auf eine Insel vor der istrischen Küste und die Fortsetzung der Reise auf dem Lido, vor allem aber Aschenbachs Werke, die »Prosa-Epopöe vom Leben Friedrichs von Preußen«, Erzählungen wie »Maja « und „Ein Elender“, daneben eine»Abhandlung über Geist und Kunst« - Projekte, die Thomas Mann selbst verfolgte, ohne sie gänzlich auszuführen.
3. Gesamtwerkszusammenhang mit „Der Tod in Venedig"
" Der Tod in Venedig" nimmt in der Werkgeschichte Thomas Manns eine zentrale, eine Art Schnittpunktstelle ein . Hier klingen Probleme früherer Werke an, und gleichzeitig kündigen sich die des zweiten Hauptwerks "Der Zauberberg" an. Das Todes- und Auflösungsmotiv aus „Buddenbrooks“ und „Tristan“ verbindet sich hier mit der Problematik des Dichters aus "Tonio Kröger". - Wenn Kröger seine Dichterexistenz mit Ironie und Wehmut vor dem
Zusammenstoß mit dem Leben bewahrt, so wird der Held der Venedignovelle, der Schriftsteller Gustav Aschenbach, von ähnlichen, aber elementareren Erlebnissen vernichtet. Es spielt sich das tragische und groteske Schauspiel ab, dass dieser strenge und zuchtvolle Künstler der Mächten der Auflösung anheimfällt - und der Titel der Erzählung "Der Tod in Venedig" fasst bereits die vielfältigen Aspekte in sich, die das Motiv der Auflösung enthält.
Die realsymbolische Kunst Thomas Manns erreicht hier einen Höhepunkt, in noch tiefere Sinnschichten hinein als bisher in dieser Periode, und zum erstenmal dringt das Symbolische, zu mythischen Bezirken vor.
Vergleicht man den Tod in Venedig mit anderen, früheren Erzählungen Manns, so lässt sich feststellen, dass tatsächlich eine konsequent verlaufende Entwicklung hier zunächst ihren
Fortgang nimmt: der Typ des autobiographisch gesehenen Helden, des Künstlers, steigt in seiner sozialen Stellung und wird sicherer in seinem Selbstbewusstsein. Im Tod in Venedig hat er eine sehr hohe Stufe erlangt. Gleichzeitig zeigt die Erzählung aber eine Regression zu einer ganz frühen Stufe der künstlerischen Selbsteinschätzung: aus dem Zweifel an der Richtigkeit der eigenen Existenz wird ein Alptraum. Inhalt dieses Traums ist die Bedrohung des künstlerischen Ichs durch das Sinnlich-Körperliche, das Leben. Diese Gefahr erweist sich als tödlich, der Held geht an ihr zugrunde.
Es ist Thomas Manns eigener Weg - von der Lyrik zur Prosa, von der "Jugendproblematik' zur "wachsenden Würde", weg von Skepsis und Erkenntnisfeindschaft.
4. Inhalt
Die Novelle Der Tod in Venedig zeigt, wie Realitätsverbundenheit und ernste Verpflichtung unversehens in Traum, Rausch und Trance abgleiten können, wie humangesittete Begrenzung durch die Faszination des Schönen gesprengt wird. Angeregt durch die seltsame Gestalt eines fremden Reisenden auf dem Münchner Nordfriedhof, begibt sich Gustav von Aschenbach, ein selbstdisziplinierter "Moralist der Leistung" und erfolgreicher Schriftsteller mit gesicherter Existenz, nach Venedig um sich von seiner entbehrungsreichen Arbeit zu erholen. In der heiteren, aber bereits von Cholera, durchseuchten Stadt begegnet er dem schönen polnischen Knaben Tadzio, der ihm wie eine Apotheose erscheint. Aschenbach erkennt seine Neigung, ist jedoch nicht fähig und willens sich dagegen zu wehren. Den vergötterten Knaben im Blick stirbt der an Cholera erkrankte Dichter am Strand. Todesboten kundigen allenthalben den tragischen Untergang einer bürgerlichen Existenz an: ein unheimlicher Reisender in München, ein Gondoliere mit schwarzer Barke, ein geschminkter Greis und vor allem der kränklich-schöne Tadzio.
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- Citation du texte
- M.A. Saskia Dams (Auteur), 2001, Interpretation: Thomas Mann - Der Tod in Venedig, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1302