Ich werde im Kapitel über den „geheimnisvollen“ Aggressionstrieb darstellen, wie kurzlebig Thesen und Behauptungen über das Böse sein können und sind. Während meiner Suche durch Berge und Material nach geeigneter Literatur fiel mir immer deutlicher ein fast schon als „böse“ zu bezeichnender Krieg der Wörter und Ansichten auf, der von mehr oder weniger bekannten Ethologen, Psychologen und wie sich sonst noch nennen mögen, erbittert ausgefochten wird. Oft schien es mir, als ob es den Wissenschaftlern gar nicht so sehr um die Richtigkeit ihrer Thesen geht, sondern vielmehr um die Anerkennung ihrer persönlichen Leistungen. Ich habe dem dadurch Rechnung getragen, dass ich eben vom „geheimnisvollen Aggressionstrieb“ und vom sogenannten „sogenannten Bösen“ – wenn auch nur in Form einer „Schlagzeile“ – spreche.
Nichtsdestotrotz werde ich in den anschließenden Kapiteln verschiede Formen der Aggression schildern. Mit Bedacht habe ich Modelle ausgewählt, die mir ausreichend begründet schienen und denen ich aus meinen bisherigen Erfahrungen zustimmen kann. Auffallend wird hier sein, dass man zwischen den natürlichen und daher gesunden Formen der Gewalttätigkeit unterscheiden muss, auch wenn die Grenze nicht so ohne weiteres definitiv bestimmt werden kann. Deswegen schien es mir als wenig sinnvoll, das „Böse“ in seiner „Reinform“ zu behandeln. Vielmehr muss man es wie eine bösartige Wucherung auf einem gesunden Feld der Selbstbehauptung sehen.
„Frieden ist ein so durch und durch „gutes“ Wort, dass man sich vor ihm in Acht nehmen soll. Für die verschiedensten Menschen hat es seit jeher die allerverschiedensten Dinge bedeutet. Sonst könnten sich nicht alle so bereitwillig und allgemein auf Frieden einigen…“
C. Wright Mills
Wie kann ein Zitat über den Frieden zu einer Arbeit über das Böse passen? Vielleicht nur ein journalistischer Gag, vielleicht aber auch ein Hinweis auf die Strapazierbarkeit von Worten- oder gar von Meinungen?
Inhaltsverzeichnis
1. Vorwort
2.1. Der „geheimnisvolle“ Aggressionstrieb - oder: Das sogenannte„Sogenannte“ Böse
2.2. Formen der Aggression und deren Exzesse
2.2.1. Aggression und Ablösung
2.2.2. Aggression und Besitz und deren Konsequenzen für den Weltfrieden
2.2.3. Gefährliche Aggression
2.3. Vom Spiel zum Blutdurst
2.3.1. Spielerische Gewalttätigkeit
2.3.2. Reaktive Gewalttätigkeit
2.3.3. Rachsüchtige Gewalttätigkeit
2.3.4. Kompensatorische Gewalttätigkeit
2.3.5. Archaische Blutdurst
2.3.6. Nekrophilie, Narzissmus, symbiotische Fixierung an Mutter
3. Das Böse aus Sicht der Christlichen Lehre
3.1. Interview: Pfarre Peter Thorn
3.2. Begriff: Sünde
3.3. Sünde als individuelle bewusste Tat
3.4. Urkeim der Sünde
3.5. Folgen der Sünde
3.6. Dialektik des Bösen in der Welt
4. Nachwort
Anhang
Bildnachweis
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
[Anmerkung der Redaktion: Die Abbildungen sind aus urheberrechtlichen Gründen nicht im Lieferumfang enthalten.]
[Die Abbildung wurde aus urheberrechtlichen Gründen von der Redaktion entfernt.]
I) Ohne Kommentar
1. Vorwort
„Frieden ist ein so durch und durch „gutes“ Wort, dass man sich vor ihm in Acht nehmen soll. Für die verschiedensten Menschen hat es seit jeher die allerverschiedensten Dinge bedeutet. Sonst könnten sich nicht alle so bereitwillig und allgemein auf Frieden einigen..."
C. Wright Mills
Wie kann ein Zitat über den Frieden zu einer Arbeit über das Böse passen? Vielleicht nur ein journalistischer Gag, vielleicht aber auch ein Hinweis auf die Strapazierbarkeit von Worten- oder gar von Meinungen?
Wie dem auch sei, werde ich im Kapitel über den „geheimnisvollen" Aggressionstrieb darstellen, wie kurzlebig Thesen und Behauptungen über das Böse sein können und sind. Während meiner Suche durch Berge und Material nach geeigneter Literatur fiel mir immer deutlicher ein fast schon als „böse" zu bezeichnender Krieg der Wörter und Ansichten auf, der von mehr oder weniger bekannten Ethologen, Psychologen und wie sich sonst noch nennen mögen, erbittert ausgefochten wird. Oft schien es mir, als ob es den Wissenschaftlern gar nicht so sehr um die Richtigkeit ihrer Thesen geht, sondern vielmehr um die Anerkennung ihrer persönlichen Leistungen. Ich habe dem dadurch Rechnung getragen, dass ich eben vom „geheimnisvollen Aggressionstrieb" und vom sogenannten „sogenannten Bösen" - wenn auch nur in Form einer „Schlagzeile" - spreche.
Nichtsdestotrotz werde ich in den anschließenden Kapiteln verschiede Formen der Aggression schildern. Mit Bedacht habe ich Modelle ausgewählt, die mir ausreichend begründet schienen und denen ich aus meinen bisherigen Erfahrungen zustimmen kann. Auffallend wird hier sein, dass man zwischen den natürlichen und daher gesunden Formen der Gewalttätigkeit unterscheiden muss, auch wenn die Grenze nicht so ohne weiteres definitiv bestimmt werden kann. Deswegen schien es mir als wenig sinnvoll, das „Böse“ in seiner „Reinform" zu behandeln. Vielmehr muss man es wie eine bösartige Wucherung auf einem gesunden Feld der Selbstbehauptung sehen.
An dieser Stelle möchte ich mich auch bei Herrn Professor Dr. Max Lüscher bedanken, dass er sich Zeit genommen hat, mit mir über dieses Problem zu diskutieren.
Dank gebührt auch Herrn Pfarrer Peter Thorn aus Buchloe, der mir den zweiten Teil der Arbeit, in dem das Böse aus Sicht der christlichen Lehre behandelt wird, durch seine Erklärungen viele interessante Anregungen gegeben hat. Hier wird das Böse in Form der „Sünde" erläutert und Unterschiede zwischen katholischer und evangelischer Ansicht zur Thematik aufgezeigt; aber es wird auch auf verschiedene - in diesem Zusammenhang - wichtige Fragen eingegangen. Den Abschluss bildet ein Aufsatz über die „Dialektik des Bösen in der Welt".
2.1. Der „geheimnisvolle" Aggressionstrieb - oder: Das sogenannte „sogenannte Böse"
Sowohl Lorenz als auch Freud und Mitschlerin sprechen in ihren Lehren vom spontanen, eigenständigen und angeborenem Aggressionstrieb. Allerdings provozieren Lorenz und seine Anhänger bei ihren Lesenden und Zuhörenden - bewusst oder unbewusst - damit eine Logik der Selbstrechtfertigung. Arno Planck formuliert das folgendermaßen: „In einer aggressiv formierten Gesellschaft, in der persönlicher Ehrgeiz, Konkurrenzdruck und Kollektivhass die hervorstechenden Tugenden prägen: Fleiß, Härte und Tapferkeit, da besteht nur allzu willige Bereitschaft, den gewohnten rüden Lebensstil auch durch Wissenschaft bestätigt zu sehen."1
Inzwischen ist aber neben der Lehre vom „Aggressionstrieb" eher noch die „Frustrations- Aggressions- Theorie" durch Reizversuche bestätigt worden. So bezeichnet Gottfried Lischke die Wutreaktion der Tiere auf elektrische Reizung als „die Folge einer hypothetischen zentralen Frustration".2
J. Panksepp und J. Trowill interpretieren ihr Rattenexperiment selbst so, dass die elektrische Reizung zu einem Gefühl des Bedroht-Seins führt. Die Erkenntnis, dass Aggression aus Angst und Unlust entstehen kann, bestätigt die Frustrations- Hypothese, die besagt, dass der tiefste und intensivste Grund aller Aggressivität der Schmerz sei. Demzufolge ist Aggression aus Frustration - aus Versagung einer Befriedigungslust - nur eine Form schmerzbedingter Aggression.
Auch die Annahme eines genetisch bedingten Aggressionstriebes kann durch die Ergebnisse der Endokrinologie bezweifelt werden.
Bei Versuchen mit erhöhtem Testosteron-, Androsteron-, Adrenalin- oder dem Schilddrüsenhormonspiegel erfolgte nämlich trotz besonderer Unrast und Unruhe nicht unbedingt eine aggressive oder sadistische Triebausrichtung. Auch ein Blutspiegel, der verschiedene Hormone in bestimmten Mischungsverhältnissen zeigte, ist offenbar für aggressive Verhaltensweisen nicht charakteristisch. Und was sonst sollte in den Genen für aggressives Verhalten vorgeprägt sein als ein bei spezifischer nervöser Erregung unverwechselbarer Blutspiegel, der entsprechende Appetenz bildet? Zwar steckt die Endokrinologie noch in den Kinderschuhen, was sie Erkundung eines möglichen Aggressionstriebes betrifft, doch ist sie ein naturwissenschaftliches Gegengewicht zu den selbstverständlichen Rückschlüssen von tierischem auf menschliches Verhalten, wie in der Lorenzschen Konzeption immer wieder nachweisbar. Lorenz schildert die Tiere zunächst „vermenschlicht“ und zieht dann umso leichter Rückschlüsse auf den Menschen. Arno Plack schreibt dazu: „...der triebpsychologische Schluss von irgendeiner Tierart auf den Menschen ist nicht wesentlich gewagter als ein ähnlicher Schluss von einer Tierart auf eine zweite. Er ist nicht wesentlich gewagter - aber er ist gewagt“.3 Auch Nikolaas Tinsbergen schreibt in der Zeitung „Science“ (Band 160; 1968; S. 1412) in dem Artikel „On War and Peace in Animals and Man“, dass der Verhaltensforscher im Bewusstsein dieses Wagnisses ein „unkritisches Übertragen seiner Tierbeobachtungen auf den Menschen“ wohl am ehesten vermeiden kann.
Herbe Kritik erntete Konrad Lorenz mit seinen Aggressionstrieb- Theorien auch von Eduart Naegeli: Demzufolge seien Lorenz' Theorien nicht nur in Bezug auf ihre wissenschaftliche Grundlage fragwürdig, sondern vermögen auch als bloße Arbeitshypothese für die Eindämmung der menschlichen Aggression wenig herzugeben. In kriminalpolitischer Hinsicht seien sie überdies gefährlich, was für das von Lorenz konstruierte Modell vom sogenannten Bösen in besonderem Maße gelte.
Nach Lorenz ist die Aggression ein echter Trieb, weiter noch ein dem Menschen angeborener Instinkt, der den damit verbundenen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist und nach Entladung drängt. Der Mensch ist wie das Tier mit einem auf die Artgenossen ausgerichteten Kampftrieb, eben dem Aggressionstrieb, ausgerüstet. Diesem Kampftrieb kommt im Rahmen der Instinktausstattung von Mensch und Tier eine zentrale Stellung zu. Wie wir später noch hören werden, gehört er nach Schultz-Hencke wie der Nahrungs-, Flucht- und Fortpflanzungstrieb zu den vier Grundtrieben alles Lebendigen. Er ist für die Arterhaltung und somit auch für die Selbsterhaltung des
Menschgeschlechts geradezu unentbehrlich. Nach Lorenz ist für diesen Aggressionstrieb auch typisch, dass er „wie so viele andere Instinkte auch, spontan aus dem Inneren quillt“.4 Er stellt also nicht nur ein reaktives Verhalten gegenüber bestimmten auslösenden Reizen dar, sondern kann auch grundlos in Aktion treten. Aus dieser Spontaneität resultiert, so Lorenz, die große Gefährlichkeit des Aggressionstriebes. Auch deswegen, weil sich dieser Trieb beim Menschen, im Gegensatz zum Tier, im Sinne einer Fehlentwicklung übersteigert habe, wobei noch hinzukommt, dass sich die nötigen Hemmungsmechanismen nicht entsprechend entwickelt haben.
Nun ist dies überaus populär gewordene Aggressionstrieb-These vielfach mit Recht als unhaltbar bezeichnet worden. Man kann Lorenz insbesondere entgegenhalten, dass er seine Theorie auf rein anekdotische Beispiele aus der Tierwelt stützt und dies mit unzulässigen Analogieschlüssen auf die völlig anders und zudem komplizierter strukturierte Natur des Menschen überträgt. Sogar die Verhaltensforschung selbst beginnt an der Stichhaltigkeit der These seines spontan wirkenden Aggressionstriebes zu zweifeln. Kritisiert wird also die Annahme Lorenz' und einiger seiner Anhänger, dass menschliche und tierische Aggression nicht nur dieselben Wurzeln habe (sie seinen homolog), sondern auch beiden eine spontane, endogene Erregungsproduktion aggressionsspezifischer Triebenergie zugrundliege, die jedes Individuum - Buntbarsch oder Homo Sapiens - periodisch zu aggressiven Verhaltensweisen dränge. Wolfgang Wickler hat dem gegenüber eine Reihe recht überzeugender ethologischer Einwände geäußert; in der Tat scheint im zoologischen Bereich die Annahme einer reaktiven (also nicht sich spontan anhäufenden) Aggressivität sämtliche Phänomene befriedigend erklären zu können. So bleibt noch die Frage zu stellen, ob ein biologischer Begriff wie der Lorenzsche „Aggressionsinstinkt“ nicht überdehnt und dadurch wissenschaftlich wertlos wird. Immerhin soll er so verschiedene Dinge wie einen Weltkrieg, das Konkurrenzstreben in der Industriegesellschaft, einen Ehezwist, einen Polarkoller oder die Emotionen während eines Fußballspieles erklären können...
2.2 Formen der Aggression und deren Exzesse
Sowohl in der Biologie als auch in der Psychologie wird für das Böse ein gemeinsames Wort benutzt: Aggression. Nach Konrad Immelmann ist sie „Angriffs- und Drohverhalten". Man unterscheidet zwischen intraspezifischer und interspezifischer Aggression, je nachdem, ob die Auseinandersetzungen zwischen Artgenossen oder zwischen Angehörigen verschiedener Arten (im letzten Fall zum Beispiel zwischen Räuber und Beute oder zwischen konkurrierenden Arten) stattfinden. Für beide Aggressionsformen können unterschiedliche Verhaltensweisen ausgebildet sein. „5
So ist also die Aggressivität der Wunsch und die Fähigkeit, sich selbst zu behaupten und von anderen abzugrenzen und so einen Anspruch auf eigenes Sein und Verwirklichung anzumelden und durchzuhalten. Aggressive Handlungen stehen im Dienst dieser Selbstbehauptung des eigenen Standortes im Leben. Sie sind damit aber zugleich häufig Eingriffe in das Lebensrecht des anderen, gegen dessen Übergriffe wir uns wehren und verteidigen dürfen, ja sogar müssen. Und hier liegt bereits der Stein des Anstoßes, der immerwährende (aggressive) Streit der Fachwelt, die einfallsreiche „Wortschlacht", um auszuloten, wo die Aggressivität aufhört und wo das Böse beginnt. Bereits im eigenen Sprachgebrauch fällt auf, dass der Begriff der „Aggression" nicht oder nur sehr ungenau differenziert wird. Um einen Rahmen zu stecken, kann man sagen, dass Aggression ein weiterer Begriff als das „Böse" ist.
Erich Fromm beispielsweise bezeichnet die Formen der Aggression und Gewalttätigkeit, die mehr oder weniger dem Leben dienen, als gutartig. Das wahrhaft Böse sind seiner Meinung nach Tendenzen, die gegen das Leben gerichtet sind. In ähnlichem Sinne äußerte sich auch Max Lüscher, der zwischen konstruktiver (also lebenserhaltender) und destruktiver (also lebenszerstörender) Gewalttätigkeit unterscheidet. Ebenso wie Darwin für die „lebensfreundliche" Aggressivität den Begriff vom „Kampf ums Dasein" prägte bezeichnet Konrad Lorenz dies als das „sogenannte Böse".
Nun, losgelöst von allen Diskussionen, möchte ich im Folgenden verschiedene Formen der Aggression darstellen und immer wieder auf die möglichen „bösen Wucherungen" hinweisen.
2.2.1. Aggression und Ablösung
Wie wir aus der Tierzüchtung wissen (man beachte das Kapitel über den Mythos vom Aggressionstrieb), kommt es bei Lebewesen, die von den Beschwernissen des Kampfes ums Dasein bereit werden, nicht zu einer besonders artgemäßen Entfaltung, sondern zur Entartung. Die Geschichte führt und dies recht eindrucksvoll am dekadenten alten Rom vor. Das Interesse äußert sich nur noch an Nahrung und Sexualität (vgl.: Verhausschweinung" nach K. Lorenz). Absolute Konfliktlosigkeit ist folglich lebensfeindlich. Erstarrung, Verfettung, Regression und Entartung geschehen also dort, wo ein Wille zur Selbstbehauptung überflüssig wird.
Eine erste Komponente des Willens zur Selbstbehauptung ist die „Ablösung" junger Lebewesen von der Person, an die man zunächst gebunden war. Dieser Verselbständigungsprozess ist ein gewichtiges Triebziel und soll auf die Auseinandersetzungen des Erwachsenendaseins vorbereiten. Gelingt diese „Ablösung" nicht, so können Konsequenzen für die Betroffenen fürchterlich sein. Menschen, die Gefangene ihres Unvermögens sind, das eigene Lebensrecht zu behaupten, neigen zu stereotypen Bewegungen (eines unausgelebten Entfaltungsdranges, krankhafter Selbstaggression, (z.B. Wangenbeißen, Haarausreißen, Selbstzerkratzen), Querulantentum, starsinniger Rechthaberei, Sticheleien, Stänkereien und in den schlimmsten Fällen zu reaktiven Depressionen (schwere krankhafte Niedergeschlagenheit, stumpfe Mutlosigkeit) und Selbstmord. Diese eben genannte Kernneurose kann durch Störungen in den einzelnen Schritten der Ablösung, die ja nicht von heute auf morgen geschieht, entstehen.
Der erste Schritt der Ablösung, der im Wesentlichen der Trotzphase des Kindes (2. bis 5. Lebensjahr) entspricht, dient vor allem der Einübung motorischer Fähigkeiten und Eigenständigkeit, sowie der Distanzierung von Mutter und Kind. Der körperlichen Abnabelung bei der Geburt folgt also die seelische im Abstand einiger Jahre.
Durch diesen Prozess ermöglicht sich nach Freud die Konstituierung des „Ichs“. Das Ego - der vitale Kern der Person - kann erstarken; ohne diesen vitalen Kern ist der Mensch nicht in der Lage, seinen Lebenskampf zu bestehen. Gelingt dies also nicht, werden die Kinder „gefährlich unsicher, übertrieben anlehnungsbedürftig, anhängig von der Initiative anderer“6 - ausnutzbar, missbrauchbar, fremd suggerierbar, manipulierbar, Ja-Sager und nicht glücklich.
Bei einer gelungenen ersten Ablösung sollte dem Kind daher seine eigene Person kenntlich geworden sein. Es bleibt zwar noch ein Kind, so im „sozialen Uterus“7 - der Familie - geborgen, ist aber kein Säugling - kein „Tragling“ - mehr. Der zweite Schritt der Ablösung entspricht in etwa der Pubertätsphase der Jugendlichen. Er dient der Absetzung vom Vater und äußert sich im Protest gegen diesen und sein „System“ - nach Freud das „Über-Ich“. Während dieser Emanzipationsphase bildet sich der Wunsch, das eigene Leben besser und schöner zu gestalten. Zu krankhaften Extremen kann es aber kommen, wenn der gesunde Kern - das normale Ich-Potenzial einer gelungenen ersten Ablösungsphase - nicht oder nur teilweise erworben wurde. Zwei gänzlich gegenläufige Entwicklungen sind hier zu beobachten: Entweder bleibt die Ablösung vom Elternhaus völlig aus, was zu gefährlicher Abhängigkeit und Unselbständigkeit führt, oder die Ablösung erfolgt in abenteuerlicher Übertreibung - mit Hass, Rachegefühlen und exzessivem Anderswollen und Verweigern. Das Ende vom Lied kennen wir alle: Abbruch der Ausbildung, Gammlertum, Sektentum und Kriminalität. Dies sind also alles hässliche Folgen eines pubertären Protests, der die Realität verleugnet und - oft bedingt durch Ich-Schwäche - vor ihr ausweicht.
Der dritte Schritt der Ablösung, der sich etwa vom 30. bis zum 40. Lebensjahr vollzieht, kann nur gelingen, „wenn auf der Basis realitätsrechter Ablösung in der Pubertät existentielle Selbständigkeit und finanzielle Unabhängigkeit erreicht wurde.8
Hier löst sich der Erwachsene aus seiner Haltung in Traditionen und bildet die Fähigkeit aus, eigenständig und kritisch urteilen zu können. Bedingt durch die Lösung aus Familien- und Gruppenegoismus erfolgt eine Zuwendung auf überpersönliche Ziele.
2.2.2. Aggression und Besitz und deren Konsequenzen für den Weltfrieden
Eine zweite Komponente des Willens zur Selbstbehauptung ist es, Besitz zu haben und auch zu behalten. Nach den Prinzipien der Natur heißt Leben unter anderem auch, am Besitz der eigenen Existenz festzuhalten und ihn verteidigen zu wollen. Wichtige „Besitztümer“ für den Menschen sind Nahrung und ausreichender Lebensraum; denn erst diese Dinge ermöglichen das Leben.
Bereits bei Kleinkindern ist zu beobachten, dass sie ihr Gebiet spielerisch abgrenzen. Sei es mit Kissen, Bausteinen oder Pappwänden. Später, im schulpflichtigen Alter, entwickeln sie eine Vorliebe für Zelte und Höhlen. Aber auch noch im Erwachsenenalter ist der Wunsch nach einer
„Lebensraumabgrenzung“ deutlich ausgeprägt - jede Stadtmauer, jeder Gartenzaun liefert den Beweis.
Dieser natürliche Wunsch nach „Abgrenzung“ kann aber oft auch kuriose Züge annehmen. So neigen beispielsweise Menschen die auffallend schwach und unsicher sind, häufig dazu, in ihrer Umgebung „Schätze“ anzusammeln und zu horten. Diese Menschen, die in ihrem Besitztrieb verunsichert sind, daher ein Bedürfnis nach Behalten zeigen, tendieren oft lebenslänglich zu einer suchtartigen Lust am Verheimlichen. Wer hat noch nicht von dem Heimlichtuer oder Bettler gehört, der seinen Erben überraschenderweise ein immenses Vermögen hinterlassen hat? Geplagt von ihrer Leidenschaft, zu horten, haben sie zeitlebens ihre Reichtümer unter dem Bett versteckt oder ängstlich in der Tasche aufbewahrt, nur um ihren Selbsterhaltungstrieb unnahbar befriedigen zu können. Wer hat noch nicht vom hochgelehrten Wissenschaftler gehört, der seine Forschungsergebnisse furchtsam im Tresor verschlossen hält, damit ihn ja kein Kollege geistig berauben kann? „Die übertriebene oder gar verabsolutierte Retention ist also wie die böse Aggression eine Übersteigerung des natürlichen Bedürfnisses, das Leben zu schützen, zu sichern und zu behaupten. Sie ist damit immer ein Zeichen von Schwäche“9.
Welche Folgen diese „Schwäche“ haben kann, möchte ich im folgenden Abschnitt erläutern, den ich von Christa Meves und Joachim Illies wegen seiner Trefflichkeit fast völlig unverändert übernommen habe:
„Die unausgeglichene seelische Haltung gegenüber dem Besitzstreben macht die Welt im Kleinen und im Großen zu einem Feld von Spannungen und Problemen der Revierverteidigung, der Abgrenzungen und des In-die-Schranken-Weisens anderer. Wer wen dabei ausbeutet. Wessen Lebensrecht durch den anderen bedroht wird, das lässt sich schließlich in der gegenseitigen Verfilzung vom heimlichen Drängen und „offiziellen“ Motivationen kaum noch eindeutig feststellen...“10
„Die großen Territoriums-Kämpfe der Weltgeschichte sind zum Teil nach den gleichen biologischen Gesetzen abgelaufen, die auch für die innerartlichen Kämpfe von Tieren gelten. Denn überall im Tierreich gilt ja die Regel, dass das Stärkere das Territorium des schwächeren, kranken oder aus deren Gründen verteidigungsunfähigen Nachbarn einnimmt.
Kommt zum Gefühl der eigenen Stärke bei den Völkern noch der Druck eines nicht ausreichenden Lebensraumes und des Hungers hinzu, so bietet sich in unserer menschlichen Geschichte stets das gleiche, ganz biologische Bild: Raubend und mordend sind die Invasoren in die Länder der Nachbarn eingebrochen.
[...]
1 Aus: Plack, Mythos ... Aggressionstrieb"; S. 10
2 Aus: Meves/Illies, „Mit der Aggression leben"; S. 36 f
3 Aus: Meves/Illies, „Mit der Aggression leben“; S. 37
4 Aus: Meves/Illies, „Mit der Aggression leben“; S. 38
5 Aus: Immelmann, „Wörterbuch der Verhaltensforschung“; S. 12
6 Aus: Meves/Illies, „Mit der Aggression leben“; S. 36 f
7 Aus: Meves/Illies, „Mit der Aggression leben“; S. 37
8 Aus: Meves/Illies, „Mit der Aggression leben“; S. 38
9 Aus: Meves/Illies, „Mit der Aggression leben“; S. 46
10 Aus: Meves/Illies, „Mit der Aggression leben“; S. 47
- Citation du texte
- Herbert Hofmann (Auteur), 1985, Das Böse aus Sicht der Ethologie und der christlichen Lehre, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1302508
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