In einem sind sich die meisten Simplex-Interpreten einig: Der Baldanders-Episode im neunten Kapitel der Continuatio kommt eine zentrale Stellung im ganzen Roman zu. Die Geschichte dieser seltsamen, in ständig neuer Erscheinung auftretenden Figur ist sozusagen der Schlüssel zum Verständnis für alle anderen Bücher des ST-Romans. Nur in welches Schloß dieser Schlüssel paßt, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Volker Meid schreibt über die Interpretation des Baldanders: "Er stellt sich selber als Verwandlungskünstler vor, wird mit Proteus verglichen und führt den Mond, das Zeichen der Wandelbarkeit, in seinem Wappen. Wie kaum ein anderes Sinnbild scheint Baldanders einen wichtigen - für manche Interpreten den entscheidenden - Aspekt des Romans zu illustrieren, nämlich "daß Unbeständigkeit Allein beständig sey", wie es im Motto der Continuatio heißt." Zu diesen Interpreten gehört Friedrich Gaede. Geht man nach seiner Theorie, kommt der Baldanders-Geschichte eine Schlüsselfunktion für den ganzen Roman zu. Er nämlich sieht Grimmelshausen in der Tradition der antiken Skeptiker. Zwei Lehren sind so nach Gaede aus der Baldanders-Geschichte zu ziehen: Erstens, die Zurückhaltung des Urteils: Die stetige Veränderung der Erscheinung von Baldanders macht es nämlich unmöglich, sich ein festes Urteil über ihn zu bilden, er ist nicht zu fassen. Zweitens, ein dialektisches Verständnis der Dinge: Jedem Argument kann ein Gegenargument entgegengesetzt werden. Er folgert daraus: "Gestalt und Lehre von Baldanders verkörpern und sind die skeptische Lehre schlecht-hin." Gerade an dieser radikalen Schlußfolgerung stößt sich Rolf Tarot. Auch für ihn hat die Baldanders-Episode eine Kommentarfunktion für den ganzen Roman. Er versteht sie allerdings als eine Anweisung an den Leser, die Handlungen des Simplicissimi der Kritik zu unterziehen. Baldanders mache denn Simplicissimus zum Objekt der Satire und klage seinen "naerrischen Fürwitz" (curiositas) an. Die curiositas wird in der Theologie zusammen mit der sinnlichen Begierde und dem Hochmut des Lebens zu den drei gefährlichsten menschlichen Leidenschaften gezählt. Ihr widmet sich Simplicissimus, anstatt seinen Blick auf die himmlischen Dinge zu wenden, wie es die christliche Lehre fordert. Im ersten Teil dieser Arbeit soll Gaedes Argumentation dargestellt werden, während jener im fünften Kapitel Tarots Position gegenübergestellt wird.
Inhalt
1. Einleitung
2. Die Baldanders-Geschichte
3. Baldanders als Verkörperung der skeptischen Lehre
4. Die Baldanders-Episode als poetologischer Kommentar zum ST-Roman
5. Ist Gaedes Theorie stimmig?
6. Zusammenfassung
7. Bibliographie
1. Einleitung
In einem sind sich die meisten Simplex-Interpreten einig: Der Baldanders-Episode im neunten Kapitel der Continuatio kommt eine zentrale Stellung im ganzen Roman zu. Die Geschichte dieser seltsamen, in ständig neuer Erscheinung auftretenden Figur ist sozusagen der Schlüssel zum Verständnis für alle anderen Bücher des ST-Romans. Nur in welches Schloß dieser Schlüssel paßt, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Volker Meid schreibt über die Interpretation des Baldanders:
„Er stellt sich selber als Verwandlungskünstler vor, wird mit Proteus verglichen und führt den Mond, das Zeichen der Wandelbarkeit, in seinem Wappen. Wie kaum ein anderes Sinnbild scheint Baldanders einen wichtigen – für manche Interpreten den entscheidenden – Aspekt des Romans zu illustrieren, nämlich „daß Unbeständigkeit Allein beständig sey“, wie es im Motto der Continuatio heißt.“[1]
Zu diesen Interpreten gehört Friedrich Gaede[2]. Geht man nach seiner Theorie, kommt der Baldanders-Geschichte eine Schlüsselfunktion für den ganzen Roman zu. Er nämlich sieht Grimmelshausen in der Tradition der antiken Skeptiker. Zwei Lehren sind so nach Gaede aus der Baldanders-Geschichte zu ziehen: Erstens, die Zurückhaltung des Urteils: Die stetige Veränderung der Erscheinung von Baldanders macht es nämlich unmöglich, sich ein festes Urteil über ihn zu bilden, er ist nicht zu fassen. Zweitens, ein dialektisches Verständnis der Dinge: Jedem Argument kann ein Gegenargument entgegengesetzt werden. Er folgert daraus:
„Gestalt und Lehre von Baldanders verkörpern und sind die skeptische Lehre schlechthin.“[3]
Gerade an dieser radikalen Schlußfolgerung stößt sich Rolf Tarot[4]. Auch für ihn hat die Baldanders-Episode eine Kommentarfunktion für den ganzen Roman. Er versteht sie allerdings als eine Anweisung an den Leser, die Handlungen des Simplicissimi der Kritik zu unterziehen. Baldanders mache denn Simplicissimus zum Objekt der Satire und klage seinen „naerrischen Fürwitz“ (curiositas) an. Die curiositas wird in der Theologie zusammen mit der sinnlichen Begierde und dem Hochmut des Lebens zu den drei gefährlichsten menschlichen Leidenschaften gezählt. Ihr widmet sich Simplicissimus, anstatt seinen Blick auf die himmlischen Dinge zu wenden, wie es die christliche Lehre fordert. Im ersten Teil dieser Arbeit soll Gaedes Argumentation dargestellt werden, während jener im fünften Kapitel Tarots Position gegenübergestellt wird.
2. Die Baldanders-Geschichte
Erinnern wir uns kurz an die Baldanders-Geschichte (Continuatio, Kapitel 9), die Teil der zweiten Einsiedelei ist: Der Einsiedel Simplicissimus spaziert im Wald und trifft auf ein steinernes Bildnis, das ihm schon gleich zu Anfang widersprüchlich erscheint. Die Statue könne einen „alten teutschen Helden“ darstellen, in fränkischer Tracht, die allerdings von romanischer Soldatenkleidung sein solle und vorne einen „Schwabenlatz“ habe, der nun gar nicht dazu passen will, bemerkt Simplicissimus. Dazu wirke sie gleichzeitig natürlich und künstlich.
Simplicissimus berührt das Bildnis mit einem Hebel; die Folge ist, daß die Statue zum Leben erwacht und mit ihm spricht. Sie offenbart sich als ein Wesen von ständig wandelnder Gestalt, das zudem auch das ganze Leben des Simplissicimi beeinflußt hat: Bald ist er „groß, bald klein, bald reich, bald arm“ allein durch die Autorität der Baldanders-Figur geworden.
Schließlich schreibt der Baldanders dem Simplex einen geheimnisvollen, verschlüsselten Spruch in ein Buch, der ihn dazu befähigen soll, mit Dingen zu reden. Nachdem Baldanders in schneller Folge die Gestalt wechselt - von der Sau über die Bratwurst und dem Kuhfladen bis zum seidenen Teppich - verwandelt er sich zuletzt in einen Vogel und verschwindet in den Lüften.
3. Baldanders als Verkörperung der skeptischen Lehre
Schon das erste Urteil, das sich Simplicissimus von Baldanders bildet, erweist sich als falsch: „Dies ist ein steinernes Bildnis“, meint er festzustellen. Die stetige Veränderung der Erscheinung von Baldanders macht es allerdings unmöglich, sich ein festes wie in Stein gehauenes Urteil über ihn zu bilden, er ist nicht zu fassen. Aber bereits das erste Erscheinungsbild von Baldanders steckt voller Widersprüche. Und das verrät laut Gaede schon die skeptische Methode[5], die da lautet:
„Der pyrrhonische Skeptiker trennt zwischen dem, was ein Ding ist, und dem, wie es dem Menschen erscheint. Es gibt für ihn kein Kriterium, das darüber Gewißheit schafft, daß die Dinge so sind, wie sie erscheinen.“[6]
Stattdessen versucht der Skeptiker widersprüchliche Erscheinungen zu sammeln, um seine Ansicht zu beweisen. Durch Vergleich mit Proteus, den der Simplicius zu Bald-anders zieht, sieht Gaede seine Einschätzung bestätigt: Der wahrsagende Meeresgott besaß nach der griechischen Sage die Fähigkeit, jederzeit seine Gestalt zu ändern und sich in ein Tier, einen Baum oder in Wasser zu verwandeln und konnte sich so dem Fragenden entziehen. Er kann daher als Sinnbild pyrrhonischer Skepsis[7] verstanden werden. Für Gaede ist es daher auch kein Zufall, daß Grimmelshausen mit Baldanders eine moderne Variante des Proteus geschaffen hat[8]. Das proteische Prinzip sei keine Eigenidee des Dichters, sondern ein in der gleichzeitigen philosophischen Diskussion populäres Thema[9].
Grimmelshausen müssten die Schriften der Neoskeptiker, vor allem von Montaignes Schüler Jean-Pierre Camus bekannt gewesen sein, schon allein wegen der Nähe zu Frankreich, argumentiert Gaede[10]. Und die Verbindung von Skepsis und christlicher Glaubenshaltung in der augustinische Tradition habe schließlich auch auf die Philosophie der Epoche eingewirkt, der Grimmelshausen angehöre.
Ein weiterer Hinweis verberge sich in den verschlüsselten Worten, die Baldanders dem Simplicissimus mitgegeben hat. Nimmt man den Anfangs- und Endbuchstaben eines jeden Wortes, ergibt sich folgender Spruch[11]: „Magst dir selbst einbilden vvie es Einem ieden ding ergangen hernach einen discurs daraus formirn Vnd dauon Glauben vvas der vvahrheit aehnlich ist so hastu VVas dein naerrischeR uorvvitz begehret.“ Dieser Satz besagt nach Gaede nichts anderes, als daß zwischen den Dingen und den ihnen geltenden, auf ihrer sinnlichen Wahrnehmung beruhenden Urteilen ein unüberbrückbarer Bruch bestehe[12]. Mit anderen Worten: Das Urteil, das wir uns von einem Ding bilden, geht immer nur auf dessen Erscheinung zurück, die sich aber wandeln kann - und so verfehlt das Urteil immer die Wahrheit. Das entspricht dem skeptischen Urteilsbegriff.
[...]
[1] Volker Meid: Grimmelshausen. Epoche – Werk – Wirkung, München 1984. S. 126.
[2] Friedrich Gaede: Grimmelshausen und die Tradition des Skeptizismus. In: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur. Bd. 5, Heft 2-4, Amsterdam 1976. S. 465-482.
[3] Gaede 1976a, S. 471.
[4] Rolf Tarot: Simplicissimus und Baldanders. Zur Deutung zweier Episoden in Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch. In: Argenis 1 (1977), Las Vegas 1977, S. 107-129.
[5] Gaede 1976a, S. 472.
[6] Friedrich Gaede: Baldanders und das Urteilsproblem. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Kongreßberichte. Bd. 2/3, Frankfurt 1976.
[7] Friedrich Gaede: Poetik und Logik. Zu den Grundlagen der literarischen Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert, Bern 1978, S. 71.
[8] Gaede 1978, S. 72
[9] Friedrich Gaede: Substanzverlust. Grimmelshausens Kritik der Moderne, Tübingen 1989, S. 74.
[10] Gaede 1976b, S. 68.
[11] Hubert Gersch: Geheimpoetik. Die „Continuatio des abentheuerlichen Simplicissimi“ interpretiert als Grimmelshausens verschlüsselter Kommentar zu seinem Roman. Tübingen 1973. S. 87.
[12] Gaede 1976a, S. 471.
- Citation du texte
- Lutz Benseler (Auteur), 1999, Skeptizismus und Ironie: Sinnebenen des Simplicissimus Teusch-Romans. Die Baldanders-Geschichte, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/12997
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