Diese Bachelorarbeit analysiert den sozialpädagogischen Umgang mit Sucht- und Abhängigkeitsverhalten junger Menschen im Projekt "WAL" der Produktionsschule Moritzburg gGmbH. Dieses zielt auf berufliche Integration ab, ohne gleichzeitig ein Angebot der Suchthilfe zu sein.
Anhand von leitfadengestützten Experten*inneninterviews mit Fachkräften im Projekt wird untersucht, welche Möglichkeiten und Grenzen diese sehen, Konsum-, Sucht- und Abhängigkeitsverhalten der Teilnehmer*innen zu beeinflussen. Mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse werden die Interviews ausgewertet. Im Ergebnis finden konzeptionell bereits verankerte Elemente Bestätigung. Die Motivation der Adressat*innen sowie die Beziehungsarbeit stehen als gewichtiger Teil des sozialpädagogischen Handelns den projekttypischen strukturgebenden und orientierungsstiftenden Rahmenbedingungen gegenüber. Die Bedeutung regelmäßiger Weiterbildungen wird dabei ebenso deutlich, wie die Potenziale, die dem sogenannten Lückenschlussprojekt „WAL“ inne liegen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Konsum, Sucht und Abhängigkeit
2.1 Ursprung und Entwicklung der Begrifflichkeiten Sucht und Abhängigkeit
2.2 Versuch einer begrifflichen Definition und Differenzierung
2.2.1 Sucht und Abhängigkeit
2.2.2 Physische und psychische Sucht und Abhängigkeit
2.2.3 Stoffgebundene und stoffungebundene Sucht und Abhängigkeit
2.2.4 Drogen, Konsum, Genuss, Rausch und Missbrauch
2.2.5 Riskanter Konsum, schädlicher Konsum, Sucht und Abhängigkeit nach den aktuellen Bestimmungen von DSM-5 und ICD-11
2.3 Statistische Angaben zum Konsum von Substanzen
2.4 Rechtliche Aspekte und entsprechende Folgen
3. Jugend und junges Erwachsenenalter als besondere Entwicklungsphasen
3.1 Das Konzept der Entwicklungsaufgaben
3.2 Spezifizierte Betrachtung der Identitätssuche
3.3 Besonderheiten im sozialpädagogischen Umgang mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen
3.4 Folgen von Drogenmissbrauch, Sucht bzw. Abhängigkeit in diesen Entwicklungsphasen
4. Der sozialpädagogische Umgang mit Konsum, Sucht- und Abhängigkeitsverhalten bei jungen Menschen
4.1 Die Verortung sozialpädagogischer Arbeit in der Suchthilfe
4.2 Sozialpädagogische Handlungsstrategien und Suchtprävention
4.4 Motivlagen menschlichen Handelns als Grundlage für Modelle zur Erklärung von Sucht und Abhängigkeit
4.5 Potenzielle Ansatzpunkte für präventive sozialpädagogische Arbeit anhand ausgewählter Erklärungsmodelle für Konsum, Sucht und Abhängigkeit
4.5.1 Multifaktorielle Konzepte und Determinanten
4.5.2 Der entwicklungspsychologische Ansatz
4.5.3 Der lebensweltorientierte Ansatz
4.5.4 Der Ansatz der Lebensbewältigung
5. Das Projekt „WAL“ der Produktionsschule Moritzburg gGmbH
6. Empirische Untersuchung - eine Analyse des sozialpädagogischen Umgangs mit Sucht- und Abhängigkeitsverhalten im Projekt „WAL“
6.1 Untersuchungsmethode
6.2 Untersuchungsinstrument und Pretest
6.3 Stichprobe und Vorstellung der Expert*innen
6.4 Untersuchungsverlauf
6.5 Datenaufbereitung
6.6 Auswertungsmethode
6.7 Ergebnisanalyse
6.7.1 Die Relevanz der Thematik und bisherige Erfahrungen mit Konsum, Sucht und Abhängigkeit im Projekt „WAL“
6.7.2 Der sozialpädagogische Umgang mit Sucht- und Abhängigkeitsverhalten im Projekt „WAL“
6.7.3 Grenzen im sozialpädagogischen Umgang mit Sucht- und Abhängigkeitsverhalten im Projekt „WAL“
6.7.4 Rolle der Netzwerkarbeit
6.7.5 Potenziale und zukünftiger Umgang mit der Thematik im Projekt
6.8 Ergebnisinterpretation
6.8.1 Der sozialpädagogische Umgang mit Sucht- und Abhängigkeitsverhalten im Projekt „WAL“
6.8.2 Grenzen im sozialpädagogischen Umgang mit Sucht- und Abhängigkeitsverhalten im Projekt „WAL“
6.9 Reflexion des Forschungsprozesses
6.10 Gütekriterien
7. Fazit
8. Abkürzungsverzeichnis
9. Literaturverzeichnis
10. Quellenverzeichnis
1. Einleitung
,,Am ehesten lässt sich die Rolle eines Pädagogen […] mit der eines Lotsen vergleichen, der auf Gefahren und Hindernisse hinweist und zugleich die Autonomie des Jugendlichen akzeptiert, gleichsam nach dem Motto: ,Hier bin ich, der Lotse, mit meinen Vorstellungen und Erfahrungen. Aus meiner Sicht kann es hier weitergehen. Aber nicht ich, sondern Du selbst bestimmst darüber, ob es tatsächlich weitergeht und wie es weitergeht. Du musst selbst den Weg finden und über den Weg, den Du einschlagen willst, entscheiden‘“ (Streeck 2012, S. 60).
Das sozialpädagogische1 Projekt „WAL“ bietet 17-25-jährigen Teilnehmer*innen die Möglichkeit einer gezielten und individuellen Kompetenzförderung, Persönlichkeitsstärkung und Stabilisierung, um „Ressourcen zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung zu aktivieren“ (Produktionsschule Moritzburg gGmbH 2020b), insofern sie mit anderen „Angeboten der Berufsbildung und Grundsicherung für Arbeitssuchende nicht (mehr) erreicht werden“ (ebd.). Neben dem individuellen Hilfe- bzw. Unterstützungsbedarf der Teilnehmer*innen beeinflussen auch weitere Themen den Alltag und den sozialpädagogischen Auftrag des Projektes. Sucht- und Abhängigkeitsverhalten der jungen Menschen zählt in hohem Maße dazu.
Da das Projekt „WAL“ dabei aber kein Angebot der Suchthilfe ist, sondern in erster Linie der beruflichen Integration dient, soll in dieser Bachelorarbeit der Fragestellung nachgegangen werden, wie sich der derzeitige Umgang mit Sucht- und Abhängigkeitsverhalten im Projekt gestaltet und welche sozialpädagogischen Elemente in diesem Zusammenhang genutzt werden können, um das Konsumverhalten der Teilnehmer*innen zu beeinflussen. Außerdem soll untersucht werden, wo die Grenzen des Projektes betreffend der Thematik liegen. Generell kann sich Sucht- und Abhängigkeitsverhalten auf substanzungebundene Verhaltensweisen (z.B. übermäßiges Kaufverhalten) und substanzgebundene Verhaltensweisen (z.B. Konsum von Cannabis) beziehen. In dieser Bachelorarbeit liegt der Fokus auf Verhalten, welches in Verbindung mit Substanzen steht, da Teilnehmer*innen im Projekt „WAL“ vordergründig von dieser Problematik betroffen sind. Dadurch behindern sie einerseits erheblich ihre Integration in die Arbeits- und Ausbildungswelt, was unter anderem Zielsetzung des Projektes „WAL“ ist. Andererseits stehen die jungen Menschen sich selbst beim Erreichen ihrer Ziele und Träume im Weg, indem Konsum ihren Alltag maßgeblich beeinflusst2.
Für eine differenzierte Erarbeitung des Themas erfolgt zunächst ein geschichtlicher Exkurs zur Herkunft bzw. Entstehung der Bezeichnungen „Sucht“ und „Abhängigkeit“. Im Anschluss daran werden diese und damit in Verbindung stehende Begrifflichkeiten nach gängigen Definitionen erläutert. Es folgt unter anderem ein Einblick in rechtliche Aspekte und Statistiken, welche die generelle Relevanz der Thematik von Konsum, Sucht- und Abhängigkeitsverhalten bei jungen Erwachsenen untermauern. Um die speziellen Bedürfnisse Jugendlicher und junger Erwachsener herauszufiltern, werden anschließend die Entwicklungsbesonderheiten dieser Lebensphasen, beispielsweise Autonomiebestreben oder Experimentierfreudigkeit, dargestellt, wobei ein besonderer Fokus auf der Herausbildung der eigenen Identität liegen soll. Daran anknüpfend werden sozialpädagogische Ansätze zum Umgang mit Konsum, Sucht und Abhängigkeit erläutert. Anschließend erfolgt ein Einblick ins Projekt „WAL“ und dessen Rahmenbedingungen. Den empirischen Teil der Arbeit umfasst eine Analyse des sozialpädagogischen Umgangs mit Sucht und Abhängigkeit im Projekt, die anhand von Expert*inneninterviews mit den derzeit dort tätigen sozialpädagogischen Fachkräften erfolgt. Als Quellen dienen unter anderem die Konzeption des Projektes „WAL“, die Aussagen der Expert*innen, diverse Veröffentlichungen zur Thematik, Publikationen vom Bundeskriminalamt und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Gesetzestexte, die Shell-Jugendstudie von 2015 sowie der 15. Kinder- und Jugendbericht.
Zur Begriffsklärung sind im Folgenden junge Menschen gemeint, wenn Personen das 27. Lebensjahr noch nicht erreicht haben. Wenn diese ,,14, aber noch nicht 18 Jahre alt“ (§7 SGB VIII) sind, werden sie als Jugendliche bezeichnet. Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, aber unter 27 sind, gelten als junge Erwachsene bzw. junge Volljährige (ebd.). Sozialpädagogische Elemente bezeichnen in dieser Bachelorarbeit Bestandteile des sozialpädagogischen Handelns bzw. Umgangs, ohne dabei eine Kategorisierung in Methoden, Konzepte, Ansätze, Verhaltensweisen etc. vorzunehmen. Damit soll eine Eingrenzung auf diese vermieden und möglichst offengehalten werden, was den Umgang der Fachkräfte kennzeichnet.
2. Konsum, Sucht und Abhängigkeit
2.1 Ursprung und Entwicklung der Begrifflichkeiten Sucht und Abhängigkeit
Das Wort Sucht hat seinen Ursprung im mittelhochdeutschen Begriff siech bzw. althochdeutschen Begriff siuchan und dem davon abgeleiteten Verb siechen, was so viel bedeutet wie ,,krank“ oder „krank sein“ (Schmidt-Semisch; Dollinger 2017, S. 131). Noch bis ins 16. Jahrhundert wurde der Begriff als allgemeingültiger Ausdruck für Krankheiten jeglicher Art verwendet3 (ebd.). Als die Begriffe „krank“ und „Krankheit“ Einzug in die deutsche Sprache erhielten und „siech“ bzw. „Sucht“ in diesem Zusammenhang ersetzten, wurde „Sucht“ vor allem noch verwendet, um damit negative Charaktereigenschaften, beispielsweise Eifersucht oder Rachsucht, zu beschreiben (ebd.).
Als 1784 Rush, damals namhafter Mediziner und Soziologe, Alkoholismus, bis dahin bekannt als „Trunksucht“ und gesellschaftlich als „Laster und verkorkste Leidenschaft bewertet“ (ebd.), als Krankheit definierte, begann sich Anfang des 19. Jahrhunderts die Bedeutung und das öffentliche Bild von Sucht grundlegend zu verändern (ebd.). Sucht wurde (wieder) zu einer „Krankheit, die von Medizinern beschrieben, erforscht und behandelt“ (Scheerer 1995, S. 12 zit. nach ebd.) werden konnte.
Alkoholismus wurde auch zum leitenden Modell der heutigen Vorstellung von Sucht (Nolte 2007, S. 53ff. zit. nach Sting 2015, S. 1708). Die mit der Krankheit einhergehenden Elemente, also der „progressiv[e] Verlauf […], Kontrollverlust, Abstinenz als therapeutisches Endziel“ (ebd.) und die Gefahr, rückfällig zu werden (ebd.), wurden nach und nach auf andere Suchterkrankungen - zunächst im Zusammenhang mit anderen Substanzen und schließlich auch in Verbindung mit Verhaltensweisen - übertragen (Schmidt-Semisch; Dollinger 2017, S. 131).
Die Verwendung des Begriffs im Zusammenhang mit eben „immer mehr Substanzen bzw. Verhaltensweisen“ (ebd.) brachte mit sich, dass ,,die unterschiedlichsten (unerwünschten) Verhaltensweisen mit dem Suffix ,Sucht‘ versehen“ (ebd.) wurden, was zu einer gewissen Unschärfe des Suchtkonzeptes führte (Jost 2018).
,,Um eine wissenschaftliche präzise Diagnose und Behandlung von Suchtproblemen zu ermöglichen“ (Sting 2015, S. 1708) und unter der Argumentation der bereits erwähnten negativen Behaftung des Begriffes „Sucht“ mit „problematische[n] Konnotationen, die seiner teils abfälligen Verwendung in verschiedenen historischen und sozialen Kontexten geschuldet“ (DRZE 2021) sind, regte die WHO bereits 1964 die Einführung von „Abhängigkeit“ bzw. „Abhängigkeitssyndrom“ anstelle von „Sucht“ an, um ,,den Charakter des ,Abhängigkeitssyndroms‘ als Krankheit zu betonen und so der Stigmatisierung Betroffener entgegenzuwirken“ (ebd./Hervorheb. E.M.).
Abhängigkeit als Begriff hat im Deutschen zweierlei Bedeutung: Er beschreibt „den „Umstand, auf jmd. oder etw. angewiesen“ (DWDS 2021a) bzw. „an jmd. oder etw. gebunden zu sein“ (ebd.) oder einen „Zustand, in dem etw. von etw. anderem entscheidend beeinflusst, bestimmt oder bedingt wird“ (ebd.). Auch diese Bezeichnung blieb nicht kritiklos. Der Begriff ,,verallgemeinere zu stark und verharmlose das Krankheitsgeschehen“ (Laging 2018, S. 14). Die Abhängigkeit eines Kleinkindes von seiner Mutter bzw. Bindungsperson sei beispielsweise nicht zu vergleichen mit der Abhängigkeit eines Suchtkranken zu einer Substanz und würde ,,dem Leid, das oftmals mit einer Abhängigkeitserkrankung verbunden ist, nicht gerecht werden“ (ebd.).
Tatsächlich konnte sich die Begriffsbestimmung der WHO bis heute nicht durchsetzen (ebd.). Sowohl in der Fachliteratur als auch umgangssprachlich finden sowohl „Sucht“ als auch „Abhängigkeit“ Verwendung und werden größtenteils als Synonyme gebraucht (Paetzold 2006, S. 19 zit. nach Sting 2015, S. 1708). Tatsächlich scheint sogar eine Tendenz in Richtung des Begriffes „Sucht“ erkennbar: Die meisten Fachbücher verwenden im Titel „Sucht“, die ,,größte deutsche Fachzeitschrift heißt ,Sucht‘, eine der bedeutsamsten internationalen Fachzeitschriften ,addiction‘“ (Laging 2018, S. 14), es gibt einen jährlichen „Sucht- und Drogenbericht“ der Bundesregierung und ,,die ,Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen‘ vertritt mit wenigen Ausnahmen sämtliche Träger der ambulanten Beratung und Behandlung, der stationären Versorgung und Selbsthilfe“ (ebd.). Menschen nehmen Suchtberatung und nicht Abhängigkeitsberatung in Anspruch (ebd.).
Um dennoch beiden Begrifflichkeiten gerecht zu werden, werden in dieser Bachelorarbeit Sucht und Abhängigkeit vorrangig in Kombination verwendet. Werden sie einzeln genannt, sind sie als Synonyme zu verstehen.
2.2 Versuch einer begrifflichen Definition und Differenzierung
2.2.1 Sucht und Abhängigkeit
Der Uneinigkeit der Fachwelt darüber, welche Begrifflichkeit verwendet werden sollte, schließt sich die Problematik um eine allgemeine, bestenfalls internationale Definitionsfindung an. Im Handbuch ,,Suchtmedizin“ merkt Untenhagen an: ,,Was heute als Abhängigkeit bezeichnet wird, ist nichts Einheitliches“ (2000, S. 5 zit. nach Dollinger; Schmidt-Semisch 2007, S. 8). Dollinger und Schmidt-Semisch konstatieren, dass Sucht- und Abhängigkeitsformen so variabel sind, dass sie ,,sich einer einheitlichen Definition zu entziehen scheinen bzw. […] bislang entzogen haben […] [und/E.M] es die eine Definition von Sucht- und Abhängigkeit nicht gibt“ (2007, S. 8/Hervorheb. E.M). Dass diese Aussage auch 2021 an Aktualität nicht verloren hat, machen die vielfältigen Definitions versuche unterschiedlicher Organisationen, Fachbereiche und Autoren deutlich.
Während die WHO Sucht als einen ,,Zustand periodischer oder chronischer Intoxikation, verursacht durch wiederholten Gebrauch einer natürlichen oder synthetischen Substanz“ (Laux 2015) definiert und damit das sogenannte Abhängigkeitssyndrom nach wie vor nur in Zusammenhang mit Substanzen diagnostiziert (Laging 2018, S. 15), kritisieren viele Autoren diese Ansicht. Sie argumentieren, ,,dass nicht der Substanzkonsum im Zentrum einer Abhängigkeitsentwicklung steht, sondern dass vor allem die dahinterstehende Psycho-Dynamik relevant sei“ (ebd.).4
Dieser Auffassung trägt am ehesten der Definitionsversuch vom Bundesministerium für Gesundheit Rechnung, in dem Sucht bzw. Abhängigkeit als ,,die Gesamtheit von riskanten, missbräuchlichen und abhängigen Verhaltensweisen in Bezug auf Suchtmittel (legale wie illegale) sowie nichtstoffgebundene Verhaltensweisen“ (BMG 2020) beschrieben wird. In Ergänzung dazu sehen Vief und Scherer Sucht und Abhängigkeit ,,als […] extreme oder exzessive Verhaltensweise[n] […] [an/E.M.], deren wesentliches Kriterium das ,Nicht-mehr-aufhören-können‘, bzw. die ,zwanghafte Wiederholung‘ ist“ (1997, S. 891; 1995, 35f zit. nach Sting 2015, S. 1708).
2.2.2 Physische und psychische Sucht und Abhängigkeit
Wie im Einleitungskapitel erwähnt, lassen sich physische und psychische Abhängigkeit voneinander differenzieren. Bei einer physischen Abhängigkeit kommt es zu körperlichen Entzugserscheinungen, sobald eine Substanz reduziert oder abgesetzt wird. Das ,,Entzugssyndrom geht zurück, sobald dem Körper wieder die ursprüngliche oder ähnliche Substanz zugeführt wird“ (Häuser; Petzke 2019). Vorzeichen einer physischen Abhängigkeit kann sein, dass der Körper eine Toleranz für das Suchtmittel und dessen Wirkung entwickelt (Caritas 2015) und die bisher eingenommene Dosis zum Erleben des gleichen Effektes gesteigert werden muss (Teesson; Degenhardt; Wayne 2008, S. 12). Allerdings sind sowohl Toleranzentwicklung als auch das Auftreten von körperlichen Entzugserscheinungen nicht ausreichend, um ein Abhängigkeitssyndrom zu diagnostizieren, da es viele Substanzen gibt, die beide Phänomene nicht hervorrufen, aber dennoch Abhängigkeitspotenzial besitzen (Soyka; Küfner 2008, S. 7). Hierzu gehören beispielsweise Cannabinoide oder Halluzinogene. Ausschlaggebend ist bei diesen psychische Abhängigkeit (ebd.).
Psychische oder auch seelische Abhängigkeit liegt vor, ,,wenn der Suchtmittelgebrauch zum vorFrhenden Mittel für die Herstellung von Wohlbefinden und für die Bewältigung von Belastung und Verstimmung geworden ist“ (Schneider 2001, S. 95). Auch negative gesundheitliche und soziale Konsequenzen werden für den Konsum in Kauf genommen (Schirnding de Almeida 2008, S. 7). Zwar treten keine körperlichen Entzugserscheinungen auf (Treeck 2004, S. 10), seelisch reagieren Menschen allerdings mit ,,Unruhe […], Gereiztheit, Angst, depressive[n] Verstimmungen bis hin zu Selbstmordgedanken“ (Caritas 2015). Psychische Abhängigkeit geht einher mit starkem Verlangen, Zwanghaftigkeit (Häuser; Petzke 2019) und Kontrollverlust (Soyka; Küfner 2008, S. 7) weswegen Treeck schlussfolgert, dass psychische Abhängigkeit für Suchterkrankungen eine weitaus größere Rolle spielt als körperliche (2004, S. 10).
2.2.3 Stoffgebundene und stoffungebundene Sucht und Abhängigkeit
Weiterhin ist es üblich, eine Unterscheidung in stoffungebundene und stoffgebundene Abhängigkeit vorzunehmen. Wie die Bezeichnung vermuten lässt, ist eine stoffgebundene Abhängigkeit an eine Substanz gebunden (DGPPN 2021). Laut WHO können ,,Alkohol, Opioide, Cannabinoide, Sedativa und Hypnotika, Kokain, weitere Stimulanzien einschließlich Koffein, Halluzinogene, Tabak, flüchtige Lösungsmittel [und/E.M.] andere psychotrope Substanzen“ (Dilling et al. 2015, S. 46 zit. nach Laging 2018, S. 15) zu Sucht und Abhängigkeiten führen.
Stoffungebundene Störungen hingegen sind nicht an die Einnahme einer bestimmten Substanz geknüpft. Vielmehr geht es um die exzessive Ausführung einer bestimmten Verhaltensweise (DGPPN 2021), die ,,im Zentrum des Suchtgeschehens“ (Laging 2018, S. 15) steht. Beispiele hierfür wären pathologisches Glücksspielen (Batra; Bilke-Hentsch 2012, S. 210), Computerspiel- und Internetabhängigkeit (ebd., S. 220).
2.2.4 Drogen, Konsum, Genuss, Rausch und Missbrauch
Der Ursprung des Begriffes Droge stammt vom französischen Wort drogue ab, was so viel bedeutet wie „Gewürz, Chemikalie [oder/E.M.] pharmazeutisches Mittel“ (DWDS 2021b). Beschrieben werden damit alle Substanzen, ,,die im Unterschied zu einem Nahrungsmittel die biologische Funktionsweise eines Menschen oder anderer Lebewesen veränder[n]“ (Teesson; Degenhardt; Hall 2008, S. 13), Einfluss auf das zentrale Nervensystem haben und auf ,,das Erleben, die Gefühle oder die Wahrnehmung und das Denken“ (Treeck 2004, S. 174) wirken.
Der Begriff Konsum kommt aus dem Lateinischen und leitet sich vom Verb consumere ab, was so viel bedeutet wie „verbrauchen, verzehren, aufnehmen“ (Nilles; Both 2015, S. 18). Damit ist das Wort an sich eher neutral und bewertet nicht ,,im Sinne von angemessen oder unangemessen/missbräuchlich“ (ebd.).
Der Begriff Genuss hingegen wird zunächst positiv assoziiert. Er ,,verweist darauf, dass es auch beim Umgang mit psychoaktiven Substanzen möglich ist, sich durch bewusstes Hinwenden zum Konsumakt körperliches, geistiges und psychisches Wohlergehen zu erschließen“ (Barsch 2016, S. 56). Jedoch kann nicht sicher davon ausgegangen werden, dass ,,der aktuelle Genuss von Dauer ist […] [und/E.M.] nicht doch später zu Schäden führt“ (Soyka; Küfner 2008, S. 6).
Rausch wird von neurobiologischer und psychologischer Seite „als veränderte[r] oder außergewöhnlicher Bewusstseinszustand“ (Niekrenz 2011, S. 44 zit. nach Nilles; Both 2015, S. 13) definiert. Charakteristische Merkmale sind eine verminderte Kontrollfähigkeit bis hin zum Kontrollverlust, Veränderungen im Zeit- und Körpergefühl, in der Sensorik, in Denkmustern, im Ausdruck von Emotionen und in der ,,Bedeutungszuschreibung oder Wichtigkeit“ (ebd.) von beispielsweise Gefühlen, Dingen und Ereignissen. Außerdem genannt werden eine erhöhte Manipulierbarkeit und ein veränderter Sinn für Übernatürliches. Diese Merkmale treten je nach Person und Substanz in unterschiedlicher Intensität auf (ebd.).
Von Missbrauch gehen Soyka und Küfner im weiteren Sinn aus, ,,wenn der Schaden (unter Einfluss von sozialen Schäden) den Nutzen klar übersteigt oder in absehbarer Zeit und mit hinreichender Sicherheit übersteigen wird. […] Damit kann auch ein einmaliger Rauschzustand als Missbrauch bezeichnet werden“ (2008, S. 6). Bei der Definition von Missbrauch im engeren Sinn verweisen Soyka und Küfner auf die Diagnosen von DSM und ICD (ebd.), die im Folgenden ausgeführt werden.
2.2.5 Riskanter Konsum, schädlicher Konsum, Sucht und Abhängigkeit nach den aktuellen Bestimmungen von DSM-5 und ICD-11
In den neuesten Ausgaben der beiden internationalen Klassifikationssystemen DSM (Diagnostischer und Statistischer Leitfaden für psychische Störungen) und ICD (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) wird die Bezeichnung „Sucht“ übereinstimmend nicht mehr verwendet (Häuser; Petzke 2019). Dennoch unterscheiden sich die Klassifikationssysteme in ihren Diagnosekriterien und Begriffsbestimmungen:
Das ICD-11, dessen Herausgeber die WHO ist, kategorisiert in die Bereiche „schädlicher Konsum“ und „abhängiger Konsum“ (ebd.). Um eine Abhängigkeitserkrankung zu diagnostizieren, werden sechs Kriterien aufgestellt: Starker Konsumwunsch oder -zwang; Kontrollverlust oder -verminderung; Entzugserscheinungen; Toleranzausbildung; Prioritätensetzung zugunsten des Konsums und das Beibehalten des Konsums trotz eingetretener Schädigungen (ebd.). Liegen innerhalb des letzten halben Jahres drei dieser Kriterien vor, kann von einer Abhängigkeit ausgegangen werden (Batra; Bilke-Hentsch 2012, S. 2). Schädlicher Konsum liegt vor, wenn die Kriterien für eine Abhängigkeit nicht erfüllt sind, aber ,,der Substanzkonsum verantwortlich für körperliche, psychische und interpersonelle Konsequenzen ist [und/E.M] eine klar beschreibbare Schädigung vorliegt“ (ebd./Hervorheb. E.M.). Riskanter Konsum wird im Gegensatz zum „schädlichen Konsum“ dadurch definiert, dass „durch die Menge oder die Konsumfrequenz, der Konsumart oder im Rahmen eines bestimmten Kontextes schädliche physische oder psychische Konsequenzen für den Konsumenten oder andere Personen resultieren können, ohne dass bereits schädliche Konsequenzen entstanden sind“ (Häuser; Petzke 2019/Hervorheb. E.M.).
Das DSM-5 hingegen verzichtet auf eine kategoriale Abgrenzung von „Missbrauch“ und „Abhängigkeit“ (ebd.). Stattdessen wird anhand von elf Kriterien, die denen des ICD-11 entsprechen, nur noch der Schweregrad der sogenannten Substanzgebrauchsstörung bestimmt (ebd.). Zusätzliche Kriterien des DSM-5 sind: Der Wunsch, abstinent zu sein oder erfolglose Abstinenzversuche durchlaufen zu haben; „wiederholter Konsum trotz ständiger oder wiederholter sozialer oder zwischenmenschlicher Probleme“ (Kraigher 2017); die Vernachlässigung von Verpflichtungen und das Riskieren einer körperlichen Gefährdung (ebd.).5 Liegen nach DSM-5 innerhalb eines Jahres zwei bis drei dieser Kriterien vor, wird von einer moderaten Substanzgebrauchsstörung gesprochen. Treffen vier oder mehr Kriterien zu, liegt eine schwere Substanzgebrauchsstörung vor (Schmidt-Semisch; Dollinger 2017, S. 132).
2.3 Statistische Angaben zum Konsum von Substanzen
Drogenkonsum bei Kindern und Jugendlichen zeigt eine ansteigende Häufigkeit bei gleichzeitig sinkendem Einstiegsalter, insbesondere beim Cannabisgebrauch (Stolle; Sack; Thomasius 2009). Während ein Großteil den Konsum illegaler Substanzen zum Erreichen des Erwachsenenalters wieder einstellt, zeigen diejenigen, die fortwährend konsumieren, zu mehr als 60% komorbide6, behandlungsbedürftige Störungen (ebd.). Eine nach Substanzen differenzierende Darstellung soll die Häufigkeiten des Konsumierens, das Einstiegsalter und mögliche Einflussfaktoren erfassen.
Der Konsum von Tabak beginnt durchschnittlich im Alter von 13,5 Jahren (ebd.). Gleichzeitig zeigen statistische Erhebungen zur Drogenaffinität 2019, dass 83% der 12-17-Jährigen noch nie geraucht haben (Orth; Merkel 2020, S. 7). Rauchen korreliert offenbar mit dem Bildungskontext: Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss (mittlere Reife oder Hauptschulabschluss) rauchen häufiger als andere Gleichaltrige (Stolle; Sack; Thomasius 2009; Orth; Merkel 2020, S. 21). In der Altersgruppe der jungen Erwachsenen (18-25 Jahre) rauchen inteen signifikant weniger als Männer (Orth; Merkel 2020, S. 19). Die verschiedenen Formen des Rauchens wurden zu folgenden Anteilen von jungen Erwachsenen mindestens einmal probiert: 65,4% Wasserpfeife, 53,6% Tabakzigarette, 32,5% E-Zigarette, 15,5% E-Shisha und 4,5% Tabakerhitzer (ebd., S. 23). Insgesamt zeigen die Erhebungen zur Drogenaffinität, dass Rauchen seit 2004 rückläufig ist. Der Anteil Jugendlicher und junger Erwachsener, die noch nie geraucht haben, ist 2019 so hoch wie zuletzt 1973 (ebd., S. 29ff.). Gleichzeitig sind Veränderungen des Konsumverhaltens festzustellen. Auffallend ist beispielsweise der Konsum von E-Zigaretten, der sich signifikant erhöht hat (ebd., S. 33ff.).
Diese ausgewählten statistischen Angaben verdeutlichen, dass der Konsum von nikotinhaltigen Substanzen durchaus einen Teil der jungen Menschen betrifft. Bestimmte Einflussfaktoren, wie beispielsweise Bildungskontext und Geschlechtszugehörigkeit, sind nachgewiesen. Inwieweit eine Sucht vorliegend ist, bleibt an dieser Stelle nur zu vermuten. Die einschlägigen Statistiken erfassen den Konsum, nicht jedoch die Abhängigkeit. Jugendliche trinken erstmals Alkohol im Alter von durchschnittlich 14 Jahren (Stolle; Sack; Thomasius 2009/Hervorheb. E.M.). Nur 36,6% der Jugendlichen (12-17 Jahre) haben noch keinen Alkohol getrunken, während in der anschließenden Altersgruppe (18-25 Jahre) bereits 94,9% mindestens einmal Alkohol konsumiert haben (Orth; Merkel 2020, S. 38). Wie auch beim Rauchen zeigt sich ein deutlicher Geschlechtsunterschied: Der Anteil der jungen Männer ist signifikant höher (ebd.). Dieses Verhältnis setzt sich auch beim riskanten Trinkverhalten, dem sogenannten „binge drinking“ (entspricht mehr als 5 Standardgläser Alkohol) fort (Stolle; Sack; Thomasius 2009; Orth; Merkel 2020, S. 40). 16% der 11- bis 17-Jährigen zeigen Risikokonsum und 10% „binge drinking“ (Weichhold; Silbereisen 2018, S. 258). Im Gegenteil zum Nikotinkonsum sind weniger Zusammenhänge mit dem Bildungskontext der befragten Jugendlichen erkennbar. Bei den jungen Erwachsenen hingegen geht ein vermehrter Alkoholkonsum mit höherer Bildung einher (Orth, Merkel 2020, S. 42). Regelmäßiges Konsumieren von Alkohol ist insgesamt, wie auch beim Rauchen, rückläufig (ebd., S. 46).
Erfahrungen mit Alkoholrausch und Rauschzuständen allgemein machen den Konsum anderer Drogen wahrscheinlicher (Stolle; Sack; Thomasius 2009). Das Experimentieren und Testen von Grenzen ist charakteristisch für die Lebensphasen Jugend und junges Erwachsenenalter (siehe Kapitel 3.1) und schlägt sich auch im Konsumverhalten nieder, weshalb polyvalente Konsummuster typisch für jugendliches Konsumieren sind. Hierbei werden neben Cannabis auch weitere psychotrope Substanzen konsumiert (ebd.). Während Opiate kaum relevant zu sein scheinen, werden psychotrope Pilze und Pflanzen häufig im Jugendalter ausprobiert (ebd.).
Jeder fünfzigste Jugendliche konsumiert regelmäßig illegale Drogen, wobei auch hier die Anteile der männlichen befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen höher sind als die der weiblichen (Orth; Merkel 2020, S. 51f). Jeder zehnte Jugendliche und 50% aller jungen Erwachsenen haben bereits Cannabis konsumiert. Damit steht diese Substanz „im Vergleich zu allen anderen illegalen Substanzen deutlich im Vordergrund.
Der Konsum von Ecstasy, LSD, Amphetamin, Crystal Meth, Kokain, Crack, Heroin, neuen psychoaktiven Stoffen, Schnüffelstoffen und psychoaktiven Pflanzen ist wesentlich geringer verbreitet“ (ebd., S. 53). Cannabis wird im Durchschnitt zwischen dem 15. und 16. Lebensjahr erstmals probiert (Stolle; Sack; Thomasius 2009) und 80% der Jugendlichen konsumieren ausschließlich Cannabis (BZgA o.J. zit. nach ebd.). Da es sich bei diesen Stoffen um illegale Substanzen handelt, kann von einem Dunkelfeld ausgegangen werden. Der Bericht zur Drogenaffinität basiert auf telefonischen Befragungen (Orth; Merkel 2020, S. 6), also auf Freiwilligkeit bei gleichzeitig fehlender Nachweisbarkeit. Inwieweit Abhängigkeiten bestehen, erfasst dieser Bericht ebenso wenig, wie die Kriminalstatistik.
Die Rauschgiftkriminalität, erfasst vom Bundeskriminalamt, zeigt in den Jahren 2013-2017 einen kontinuierlichen Anstieg, wobei konsumnahe Delikte7 den Hauptanteil ausmachen (BKA 2018, S. 5). Sortiert nach Drogenart führen im Erfassungsjahr 2017 Delikte im Zusammenhang mit Cannabis die Statistik zu deutlich mehr als 50% an, gefolgt von Delikten im Zusammenhang mit Amphetaminen, Kokain, Ecstasy, Crystal, Heroin und sonstigen Betäubungsmitteln (ebd., S. 6). Während die Beschaffungskriminalität im Vergleich zu 2014 im Jahr 2017 leicht zurückging, ist ein Anstieg der Raubdelikte im Zusammenhang mit Drogenbeschaffungskriminalität zu erkennen (um 53,3%, was 161 Straftaten im Jahr 2017 entspricht) (ebd., S. 7). Cannabis-Handelsdelikte zeigen einen eindeutig ansteigenden Trend, laut BKA ist Cannabis sogar das Betäubungsmittel, welches am häufigsten gehandelt wird (ebd., S. 17), gefolgt von Amphetamin (ebd., S. 23).
Der Besitz und Handel von den hier benannten Substanzen fällt unter das Betäubungsmittelgesetz und stellt demnach Straftaten dar, was auch die sozialpädagogische Arbeit mit jungen Menschen, die illegale Substanzen konsumieren, beeinflusst. Einige ausgewählte rechtliche Aspekte werden deshalb im nächsten Kapitel erläutert.
2.4 Rechtliche Aspekte und entsprechende Folgen
Das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) bezieht sich auf bestimmte, in den Anlagen des BtMG gelistete Wirkstoffe, die auch Sucht und Abhängigkeit auslösen können. Jedoch zählen Alkohol, Tabak und Neue psychoaktive Stoffe (auch „Legal Highs“ genannt; hierzu zählen „Spice“, „Badesalze“ und „Räuchermischungen“) nicht dazu. Nach §29 dieses Gesetzes ist umfassend definiert, welche Tatbestände eine Straftat bedingen. Demnach sind unter anderem der Besitz (ohne entsprechende Erlaubnis nach §29 Abs. 1 Nr. 3), Handel, Inverkehrbringen, Anbau, Erwerb und Beschaffung unbefugt strafbar. Das Strafmaß wird mit Geldstrafe oder bis zu fünfjähriger Freiheitsstrafe bemessen. In verschärfter Form steht nach §29a BtMG für die unerlaubte Abgabe, Verabreichung und Überlassen zum unmittelbaren Verbrauch an minderjährige Personen durch über 21-Jährige ein Strafmaß von mindestens einem Jahr bzw. drei Monaten bis fünf Jahren bei minder schweren Fällen. Beschrieben werden zudem weitere Straftaten (Taten im Zusammenhang mit Banden nach §30, unerlaubter Handel „in nicht geringer Menge“ (§30a), Taten im Ausland) und Umstände, die zur Strafmilderung und dem Absehen von Strafe (§31) oder der Strafverfolgung (§31a) führen können.
Seit 2016 gilt das Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz (NpSG), welches „Stoffgruppendefinitionen [und/ E.M.] alle denkbaren geladenen Formen und Salze eines erfassten Stoffes“ (NpSG, Anlage) in der Gesetzesanlage aufführt. Strafbar sind nach §4 NpSG Handel, Weitergabe, Verabreichung und Herstellung neuer psychoaktiver Stoffe „zum Zweck des Inverkehrbringens“ (NpSG), jedoch nicht der Konsum oder das Herstellen für den Eigenbedarf.
Das Jugendschutzgesetz (JuSchG) regelt zwar die Verbote zur Abgabe und dem Konsum von Alkohol und Tabakwaren (§9, §10) in der Öffentlichkeit, spezifiziert sich hierbei aber eher auf Gaststätten und Verkaufsstellen. Für Erziehungs- und Bildungseinrichtungen gilt das Sächsische Nichtraucherschutzgesetz, welches das Rauchen in entsprechenden Einrichtungen untersagt und Zuwiderhandlungen als Ordnungswidrigkeit mit bis zu 5.000 Euro ahndet (§ 2 in Verbindung mit §5 Sächsisches Nichtraucherschutzgesetz).
Im Umgang mit jungen Menschen, die konsumieren, wird die besondere rechtliche Stellung von Sozialarbeiter*innen deutlich: Diese unterliegen nach §203 Strafgesetzbuch (StGB) Abs. 1 Nr. 5 der Schweigepflicht. Diese legt fest, dass die unbefugte Offenbarung eines Geheimnisses mit einer Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr belangt werden kann. Der rechtfertigende Notstand nach §34 StGB kann von dieser Pflicht zur Verschwiegenheit entbinden, ebenso eine Einwilligungserklärung der Person, die das Geheimnis betriff. Kommt es zu einem Strafprozess, haben aber auch Sozialarbeiter*innen in der Regel eine Zeugnispflicht nach §53 Strafprozessordnung (StPo). Praktisch bedeutet dies, dass Sozialarbeiter*innen die Polizei nicht informieren müssen, wenn sie Kenntnis von Drogenbesitz junger Menschen erlangen (Münder et al. 2005, S. 4ff.). Sie sind aber gleichzeitig oft in der sogenannten Garantenstellung, die sich aus §13 StGB ergibt. Müller et al. formulieren hierzu, dass ,,die Erfüllung der Garantenpflicht vor allem durch fachgerechtes Arbeiten erfolgt. Dazu bedarf es fachlich ausgerichteter Strategien der Einrichtungen im Zusammenhang mit Drogenkonsum […]“ (ebd., S. 9). Weiterhin wird ausgeführt, dass Mitarbeiter*innen sorgfältig ausgewählt und geschult werden sollten. Keineswegs sei ,,ausgrenzendes und kriminalisierendes Handeln gegenüber drogenkonsumierenden Jugendlichen gefragt, um Rechtssicherheit zu erlangen. Vielmehr […] [gelte/E.M.] der Vorrang der Pädagogik “ (ebd./Hervorheb. E.M.).
3. Jugend und junges Erwachsenenalter als besondere Entwicklungsphasen
Die Lebensphase Adoleszenz, wörtlich „aufwachsen“, „gedeihen“ oder „heranwachsen“ und abgeleitet vom lateinischen adolescere (Konrad; König 2018, S. 2), kennzeichnet den Übergang von Kindes- zum Erwachsenenalter. Je nach Literatur8 wird diese Phase zwischen dem 10. bis 12. und 20. bis 25. Lebensjahr (Weichold; Silbereisen 2018, S. 240) verortet. Die darauffolgende Lebensphase wird als frühes bzw. junges Erwachsenenalter bezeichnet und dauert ca. bis zum 30. Lebensjahr an (ebd., S. 266). Dabei unterliegt die Entwicklung „erheblichen individuellen Variationen“ (ebd., S. 263). Die Entwicklungspsychologie bezeichnet die Übergänge zwischen den Entwicklungsphasen als ,,unscharf“ und ,,fließend“ (Krampen; Reichle 2008, S. 333). Damit geht einher, dass ,,adoleszenztypische Entwicklungsbedingungen und -konflikte häufig auch noch bei Mitte 20jährigen Erwachsenen“ (Streeck 2012, S. 57) zu finden sind. Die Untersuchungsgruppe dieser Arbeit, die Projektteilnehmer*innen im Projekt „WAL“, lässt sich demnach beiden Lebensphasen zuordnen.
Die Pubertät beschreibt ursprünglich ,,die rein biologische Entwicklung“ (Konrad; König 2018, S. 2) aufgrund hormonell bedingter Veränderungen, also den Abschnitt der Adoleszenz (ebd.), der mit der Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale sowie Körperlängen- und Gewichtszunahme verbunden ist (Weichold; Silbereisen 2018, S. 239ff.) und mit der Erlangung der Geschlechtsreife abgeschlossen ist (Konrad; König 2018, S. 2). Zudem finden neuronale Veränderungen statt, die zu alterstypischen Verhaltensweisen führen. Sturman und Moghaddam beschreiben hierzu eine gesteigerte Impulsivität, die mit riskanterem Verhalten einhergehend ist als typisch (2011, o.S. zit. nach Weichold; Silbereisen 2018, S. 246). Die Neigung, Neues ausprobieren zu wollen, eine regelrechte Sensations suche sowie eine höhere Empfänglichkeit für Belohnungen (Weichold; Silbereisen, S. 246ff.; Weichold; Blumenthal 2018, S. 173/Hervorheb. E.M.), führen ebenfalls dazu, ,,dass Jugendliche für sich mehr Nutzen als Kosten im Risikoverhalten sehen“ (Maslowsky et al. 2011, o.S. zit. nach Weichold; Blumenthal 2018, S. 173). Interindividuell sehr unterschiedlich entwickelt sich die Selbstregulation in Abhängigkeit vom zuvor erlernten Umgang mit Schwierigkeiten (Weichold; Blumenthal 2018, S. 250).
3.1 Das Konzept der Entwicklungsaufgaben
Zur Beschreibung und Kennzeichnung der hier betrachteten Lebensphasen ist das Stufenmodell der Entwicklungsaufgaben von Havighurst relevant. Er prägte den Begriff „Entwicklungsaufgabe“ 1953 (Spektrum Akademischer Verlag 2000) und definierte diesen als „Aufgabe, die in […] einem bestimmten Lebensabschnitt des Individuums entsteht, deren erfolgreiche Bewältigung zu dessen Glück und zum Erfolg bei späteren Aufgaben führt, während das Misslingen zu Unglücklichsein, zu Missbilligung durch die Gesellschaft und zu Schwierigkeiten mit späteren Aufgaben führt“ (Havighurst 1976, S. 2 zit. nach Rothgang 2009, S. 97). Die Entwicklungsaufgaben werden also als Probleme, Bewältigungs- oder auch Lernaufgaben verstanden, die innerhalb des Lebens auftreten und die mit biologischen, sozialen, gesellschaftlichen und individuellen Faktoren in Zusammenhang stehen (Montada 2008, S. 38; Freund; Nikitin 2018, S.268; Eschenbeck; Knauf 2018, S. 25). „Nach Havighurst sind Entwicklungsaufgaben hierarchisch aufeinander aufgebaut und folgen einer unumkehrbaren Sequenz“ (Freund; Nikitin 2018, S.268).
Für die Lebensphase Jugend erfasst Havighurst diese zehn Aufgaben: Beziehungsaufbau zu Gleichaltrigen, Identifikation mit der jeweiligen Geschlechterrolle, die Annahme des eigenen Körpers, Ablösung vom Elternhaus, finanzielle Eigenständigkeit, berufliche Orientierung und Berufsausbildung, ,,Vorbereitung auf Heirat und Familienleben, Erwerb intellektueller Fähigkeiten, um eigene Rechte und Pflichten ausüben zu können, Entwicklung sozialverantwortlichen Handelns […] [und/E.M] Erlangen von Werten und eines ethischen Systems, das einen Leitfaden für das eigene Verhalten darstellt“ (1972 o.S. zit. nach Eschenbeck; Knauf 2018, S. 26).
Junge Erwachsene haben nach dem Modell von Havighurst acht Aufgabenfelder zu bewältigen: Berufseinstieg, Partnerwahl, gemeinsames Leben mit dem Lebenspartner, Familiengründung und Aufbau eines gemeinsamen Freundeskreises, Kindererziehung, Aufbau eines Zuhauses für die gegründete Familie und Verantwortungsübernahme für Gesellschaft und Gemeinwohl (Freund; Nikitin 2018, S.268; Eschenbeck; Knauf 2018, S. 26). In dieser Auflistung wird deutlich, wie dicht das Anforderungsprofil für junge Menschen in ihrer Entwicklung ist (Shell Deutschland Holding 2015, S. 39).
Eine Aktualisierung des Stufenmodells nach Havighurst bieten beispielsweise die Autor*innen der Shell-Jugendstudie von 2015. Sie tragen dabei gegenwärtigen gesellschaftlichen Anforderungen Rechnung, wie beispielsweise ein verändertes Konsum-, Medien- und Freizeitangebot (Eschenbeck; Knauf 2018, S. 26). Demnach werden Entwicklungsaufgaben junger Menschen anhand von vier Clustern unterschieden: Qualifikation, Bindung, Konsum, Partizipation (Shell Deutschland Holding 2015, S. 40).
,,Qualifikation“ meint den Erwerb von sozialen und intellektuellen Fähigkeiten. Letztere sollen so entfaltet werden, dass neues Wissen aufgenommen, verarbeitet und praktisch angewendet werden kann. Soziale Kompetenzen bzw. soziale Umgangsformen werden erworben, um „selbstverantwortlich sozial […] handeln“ (Hurrelmann; Quenzel 2016, S. 26) zu können. Diese Entwicklungsaufgabe schafft die Grundlage dafür, gesellschaftliche ,,Leistungs- und Sozialanforderungen“ (ebd.) bewerkstelligen zu können und aktiv darin zu werden, Tätigkeiten nachzugehen, „die persönlich befriedigen und einen Nutzen für das Gemeinwohl haben“ (ebd., S. 25). Jugendliche und junge Erwachsene sollen sich dementsprechend ,,in der Schule bilden und ausbilden zu lassen, um im Anschluss einen Beruf zu finden und finanziell selbstständig zu werden“ (Shell Deutschland Holding 2015, S. 40).
Die Entwicklungsaufgabe der „Bindung“ umfasst zum einen den „Aufbau eines Selbstbildes von Körper und Psyche, um die eigene Identität zu erlangen“ (ebd.), wozu auch die Herausbildung der eigenen Geschlechtsidentität zählt, zum anderen die Bereitschaft und Befähigung, soziale Kontakte mit Gleichaltrigen und anderen Menschen des eigenen und anderen Geschlechts aufzubauen und sich an diese vertrauensvoll zu binden (ebd., S. 25). Für die jungen Erwachsenen bedeutet dies, ,,sich von den Eltern abzulösen, Freundschaften mit Gleichaltrigen zu schließen und eine eigene Partnerschaft mit potenzieller Familiengründung aufzubauen“ (ebd.).
Der Bereich des „Konsumierens“ meint sowohl die Befähigung ,,zum produktiven Umgang mit Wirtschafts-, Freizeit- und Medienangeboten“ (ebd.) als auch die ,,Entwicklung von psychischen und sozialen Strategien zur Entspannung und Regeneration“ (ebd.). Ein junger Mensch soll seine ,,Rolle als Konsument, wirtschaftlich Handelnder und Nutzer von Medien […] finden und mit Geld souverän umgehen“ (ebd.).
Die Entwicklungsaufgabe des „Partizipierens“ umfasst neben der Herausbildung und Festigung eines eigenen Wertesystems auch die Befähigung, soziale Lebensbedingungen aktiv mitgestalten zu können (ebd.). Entscheidend für die jungen Menschen ist, ,,eine eigene Wertorientierung herauszubilden, die als Orientierung für das eigene Handeln dienen kann und die der für den Fortbestand einer demokratischen Gesellschaft nötigen Übernahme der Rolle eines politischen Bürgers zugrunde liegt“ (ebd.).
Im Gegensatz dazu sehen die Autor*innen des 15. Kinder- und Jugendberichts die ,,Kernherausforderungen“ der Jugend vor allem in ,,Qualifizierung, Selbstpositionierung und Verselbstständigung“ (BMFSFJ 2017, S. 6). Dies wird damit begründet, dass sie die Jugendphase ,,als soziale[n] Integrationsmodus“ (ebd.) deuten und junge Menschen vor allem in diesen drei Bereichen „in ein Verhältnis zur Gesellschaft gesetzt werden und sich setzen (können)“ (ebd., S. 84). Neben der Qualifikation sei für Jugendliche besonders wichtig, „für sich selbst Verantwortung zu übernehmen“ (also selbstständig zu werden) und ,,eine Balance zwischen individueller Freiheit […], sozialer Zugehörigkeit und Verantwortung zu entwickeln (Selbstpositionierung). Jugendliche tun dies, indem sie selbst handeln, lernen, entscheiden, ausbalancieren, experimentieren“ (ebd., S. 6), führen die die Autor*innen weiterhin aus.
Den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter kennzeichnen also insgesamt zahlreiche und verdichtete Herausforderungen. Ebenso werden sogenannte Problemverhaltensweisen als typisch für diese Lebensphasen angesehen, beispielsweise das Experimentieren mit psychoaktiven Substanzen und Rauschzuständen (Weichhold; Blumenthal 2018, S.171). „Auf das Jugendalter bezogen kann als Risiko- oder Problemverhalten solches Verhalten interpretiert werden, welches eine akute Lebensbedrohlichkeit besitzt oder mit einer problematischen Entwicklung der Persönlichkeit oder der sozialen Interaktion im Jugendalter und darüber hinaus assoziiert ist“ (Engel; Hurrelmann 1993, o.S.; Jessor 2016, o.S. zit. nach Weichold; Blumenthal 2018, S. 171/Hervorheb. i.O.). Dieser Art verursachte Lebenseinschnitte können eine negative Weiterentwicklung in den weiteren Lebensphasen bedingen. Weichold und Blumenthal benennen hierzu beispielhaft Teenagerschwangerschaften, Vorbestrafung und Finanznöte, die durch geringe Bildung entstehen können (2018, S. 171).
Jedoch zeigen Studien auch, dass z.B. zeitlich begrenzter Cannabiskonsum und gering delinquentes Verhalten „mit einer offenen, sozial angepassten Persönlichkeitsstruktur in Kindheit und Jugend sowie positiven Peerbeziehungen im Zusammenhang“ (ebd.) stehen und „Experimentierer ein höheres Maß an psychischer Gesundheit [aufweisen/E.M] als völlig Abstinente“9 (Shedler; Block 1990, o.S. zit. nach Leppin 2000, S. 64). Ganz im Gegensatz dazu kann Abstinenz im Jugendalter sogar auf soziale Isoliertheit hindeuten, weswegen Leppin schlussfolgert, dass „Abstinenz nicht per se mit guter psychosozialer Anpassung und Wohlbefinden gleichzusetzen“ (2000, S. 64) ist.
3.2 Spezifizierte Betrachtung der Identitätssuche
Ein zentrales Thema im Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter ist die Identitätsentwicklung. Erikson beschreibt in seinem psychoanalytischen Stufenmodell insgesamt acht Lebensphasen/-stufen. Kernpunkt in jeder Stufe ist eine Krise bzw. ein psychischer Konflikt, ,,der mögliche Lösungen auf einem Kontinuum von positiv bis negativ erlaubt“ (Berk 2011, S. 18) und dabei bestimmt, ob eine Anpassung gut oder schlecht gelingt (ebd.). Vom Ausgang dieser Auseinandersetzung hängt nach der Theorie Eriksons ab, wie die weitere Entwicklung verläuft.
So findet im Übergang zum Erwachsenenalter zum einen die Bewältigung des Konflikts ,,Identitätssuche vs. Rollendiffusion“ statt (Erikson 1968, o.S. zit. nach Eschenbeck; Knauf 2018, S. 31). Ein experimenteller Umgang mit äußerlichen Merkmalen und Verhaltensweisen ist kennzeichnend für diese Suche. Bei erfolgreicher Bewältigung erlebt sich das Individuum am Ende dieser Phase kohärent, stabil und mit seinem Selbst identisch (Eschenbeck; Knauf 2018, S. 31).
Die Identität ist dann Grundlage für das Handeln, die Werte, Einstellungen, Kompetenzen und die Lebensgestaltung der jungen Menschen (ebd., S. 32). Kommt es hingegen zur Rollendiffusion, fehlt es Betroffenen an stabilen Möglichkeiten, die eigenen „Erfahrungen in eine kohärente Identität zu integrieren“ (ebd., S. 31). Den zentralen psychischen Konflikt im frühen Erwachsenenalter benennt Erikson mit ,,Intimität vs. Isolation“ (Berk 2011, S. 636).
So beeinflusst die Identitätsarbeit der Entwicklung zuvor, inwieweit junge Menschen in der Lage sind, stabile, zufriedenstellende und enge Beziehungen aufzubauen. Dies bezieht sich in erster Linie auf Liebesbeziehungen, Treue und das Empfinden von Vertrautheit, Liebe und eben Intimität, schlägt sich aber auch auf den allgemeinen Umgang mit anderen Personen nieder. Menschen, die in ihrer Identität so gefestigt sind, dass sie Intimität zulassen und erleben können, verhalten sich toleranter und kooperativer (ebd., S. 637). Sind sie dies nicht, wird der psychische Konflikt mittels einer Selbstisolation gelöst, was die anschließenden Entwicklungsstufen (z.B. Generativität im mittleren Erwachsenenalter vs. Stagnation) negativ beeinträchtigt (ebd.).
Es bleibt bei dieser Darstellung zu erwähnen, dass Erikson der Ansicht war, dass eine „normale“ Entwicklung nicht generalisiert werden kann und immer ,,im Kontext der jeweiligen kulturbedingten Lebenssituation verstanden werden muss“ (ebd., S. 18).
Valkenburg et al. beschreiben drei unterschiedliche Beweggründe, die die Identitätssuche bedingen: Die ,,Exploration des eigenen Selbst“, ,,Soziale Kompensation“ und ,,Förderung sozialer Kontakte“ (2005, o.S. zit. nach Glüer 2018, S. 209).
Das Identitätsmodell von Marcia (1980) beschreibt vier Identitätsformen, die sich aus den zwei Dimensionen ,,Verpflichtung“ und ,,Erkundung“ ergeben10 (Eschenbeck; Knauf 2018, S. 31f). Bei der Form der erarbeiteten Identität stiften eine hohe (Selbst-)Verpflichtung bei gleichzeitig aktiver Erkundung die Identität (ebd.). Als Beispiel kann hier die aktive Suche (Exploration) und Entscheidung (Verpflichtung) für eine Berufsausbildung benannt werden. Von der Form der kritischen Identität, auch als „Moratorium“ bezeichnet, ist auszugehen, wenn Erkundung zwar aktiv durch den jungen Menschen erfolgt und beispielsweise auch Alternativen betrachtet werden, aber eine Entscheidung vermieden wird (ebd.). Von hoher Verpflichtung bei gleichzeitig geringer oder fehlender Erkundung ist bei der Form der übernommenen Identität auszugehen (ebd.). Am Beispiel der Ausbildungssuche übernimmt hier ein junger Mensch also Konzepte, beispielsweise von Freunden oder aus der Familie und entscheidet sich so verpflichtend für einen beruflichen Werdegang. Mögliche Alternativen erkundet die Person hierbei nicht oder nur schwach. Erfolgt weder eine Art der Suche und Erkundung noch eine Verpflichtung, wird dies der vierten Identitätsform, der diffusen Identität zugeordnet (ebd.). Untersuchungen zeigten, dass der Bildungshintergrund dabei nicht unwesentlich zu sein scheint: junge Menschen im Arbeitsverhältnis lassen sich häufig dem Typ der übernommenen Identität zuordnen, während sich Jugendliche ohne Arbeit bzw. Ausbildung „am häufigsten in Identitätsdiffusion befinden“ (Weichhold; Silbereisen 2018, S. 258).
3.3 Besonderheiten im sozialpädagogischen Umgang mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen
In der sozialpädagogischen Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen muss in Ergänzung zu den vorangegangen Ausführungen vielerlei beachtet werden. Psychologische Besonderheiten von Jugendlichen und jungen Erwachsen sind unter anderem ,,die Intensität und Unbeständigkeit ihrer Gefühle, das Bedürfnis nach häufiger und unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung, die selektive Beeinträchtigung ihrer Realitätsprüfung, die Schwierigkeit, sich selbstkritisch gegenüberzutreten und eine im Vergleich zu Erwachsenen unterschiedliche Wahrnehmung der Umwelt“ (Streeck 2012, S. 57). Jugendlichen fällt es außerdem leichter, ihre Intensionen eher durch Handlungen als durch Gespräche zum Ausdruck zu bringen (ebd., S. 58).
Zwischenmenschliche Beziehungen, die Jugendliche oder junge Erwachsene eingehen, weisen eine alterstypische Unbeständigkeit auf. War das Kleinkindalter von ,,vernachlässigenden und chronisch traumatisierenden Bedingungen geprägt“ (ebd., S. 59), werden Beziehungen oft zusätzlich davon belastet, dass andere Menschen ,,nur solange eine Bedeutung haben, wie sie für die eigene Selbst- und Selbstwertregulierung verwendet werden können, etwa um das eigene Selbstwertgefühl aufrecht zu erhalten“ (ebd.). Erfüllen die jeweiligen Personen diese Funktion nicht mehr, werden Alternativen gesucht. Oftmals werden diese in selbstschädigenden Mitteln in Form von beispielsweise Alkohol oder Drogen gesehen (ebd.).
Des Weiteren muss beachtet werden, dass Jugendliche und junge Erwachsene ein ,,primäre[s] Misstrauen gegenüber Erwachsenen […] und Personen, die sich professionell mit ihren Problemen befassen wollen“ (ebd.) haben. Sie nehmen außerdem Unterstützung nur ungern an und versuchen stattdessen, ihre Probleme selbstständig zu lösen, was oftmals zu ,,Selbsthilfemaßnahmen und -praktiken [führt/E.M.], die […] ungeeignet sind und ihre Probleme häufig noch verschärfen“ (ebd.).
Dem schließt sich an, dass junge Menschen auftretende Probleme oftmals durch Andere verursacht sehen, anstatt die Verantwortung bei sich selbst zu suchen. Dementsprechend kann nicht erwartet werden, ,,dass sie über Einsicht in ihre Situation verfügen und Hilfe und Unterstützung für erforderlich halten“ (ebd.). Da Jugendliche und junge Erwachsene Probleme außerdem oft schwer benennen können und stattdessen oftmals nur vage und unpräzise Andeutungen machen, muss darauf geachtet werden, dass schwerwiegende Problematiken und Angelegenheiten nicht gänzlich unbemerkt bleiben (ebd.).
In der Beziehungsarbeit zwischen Sozialarbeiter*innen und Klient*innen ist zu beachten, dass junge Menschen im Umgang mit Erwachsenen dazu neigen, ,,ihre aktuellen und ihre wiederbelebten Beziehungserfahrungen mit den primären Bezugspersonen“ (ebd., S. 60) zu wiederholen und Fachkräfte deshalb schnell in problematische Beziehungskonstellationen geraten, die es schwierig machen, ,,eine Beziehung mit dem jungen Klienten Realität werden zu lassen, die nicht nur unterstützend gemeint ist, sondern auch als Unterstützung erlebt wird“ (ebd.).
Jugendliche und junge Erwachsene streben einerseits nach Autonomie, wünschen sich andererseits aber Unterstützung und Hilfestellungen. ,,Allumfassende Versorgungswünsche und Versorgungsansprüche wechseln mit abrupter Ablehnung, indem die Jugendlichen von jeglicher Unterstützung und Hilfe von einem Moment auf den nächsten nichts mehr wissen und die gemeinsame Arbeit abbrechen wollen“ (ebd.). Deswegen muss versucht werden, zwar einerseits der Autonomie junger Menschen mit Akzeptanz zu begegnen, andererseits müssen auch deren Wünsche anerkannt werden, ohne diesen jedoch immer nachkommen zu müssen. Stattdessen muss versucht werden, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen dazu zu bringen, sich ihren ,,Schwierigkeiten zu stellen und eine reflexive Einstellung dazu zu gewinnen“ (ebd.). Umso mehr ihnen das gelingt, umso weniger müssen sie ,,auf impulshaftes Handeln und auf selbst- und fremddestruktives Agieren zurückgreifen“ (ebd.).
3.4 Folgen von Drogenmissbrauch, Sucht bzw. Abhängigkeit in diesen Entwicklungsphasen
Drogenmissbrauch, Sucht und Abhängigkeiten haben oft Auswirkungen auf alle Lebensbereiche (Laging 2018, S. 168). Es wird betont, dass Heranwachsende, die Substanzen konsumieren, um den Anforderungen des Alltags gewachsen zu sein, oftmals das Erlernen wichtiger Fähigkeiten versäumen, ,,die für verantwortungsvolle Entscheidungen und problemlösende Bewältigungstechniken erforderlich sind“ (Kassel et al. 2005, o.S.; Simons-Morton; Haynie 2003, o.S. zit. nach Berk 2011, S. 516).
Infolgedessen zeigen sich ,,gravierende Anpassungsprobleme“ (ebd.), die sich beispielsweise durch ,,chronische Ängste, Depressionen und antisoziales Verhalten“ (ebd.) äußern - Faktoren, die dementsprechend ,,sowohl Ursache[n] als auch Folge[n] von Drogenmissbrauch“ (ebd.) darstellen. Drogenmissbrauch wirkt sich negativ auf schlussfolgerndes Denkvermögen, Kurzzeitgedächtnis, Konzentrationsfähigkeit, Impulskontrolle (Stangl 2021) und die psychische Verfassung aus und intensiviert dementsprechend psychische Problematiken und Erkrankungen. Alle Substanzen gehen dabei einher mit ihren jeweils spezifischen körperlichen und psychischen Risiken (Berk 2011, S. 601ff.; Teesson; Degenhardt; Hall 2008, S. 35ff.), auf die hier nicht näher eingegangen werden soll.
[...]
1 Sozialpädagogik verbindet als Teilbereich der Sozialen Arbeit ,,Erziehung und Bildung mit Prävention und Intervention. Sie fördert den selbstständigen Umgang von Menschen mit ihrer Umgebung und der Gesellschaft und wirkt präventiv auf soziale Benachteiligungen ein“ (Klesper 2021).
2 Diese Kenntnisse resultieren aus den eigenen Erfahrungen der Verfasserin dieser Bachelorarbeit, die im Projekt „WAL“ im Zuge ihres dualen Studiums seit 2018 tätig ist.
3 Noch heute geläufig sind beispielsweise Fallsucht als Bezeichnung für Epilepsie oder Schwindsucht als veralteter Begriff für Tuberkulose (Schmidt-Semisch; Dollinger 2017, S. 131).
4 Dazu ist anzumerken, dass die WHO substanzungebundene Suchtformen im ICD-11 (siehe Kapitel 2.2.5) zwar nach wie vor separiert vom Abhängigkeitssyndrom betrachtet, jedoch ,,Glückspielstörung“ und „(bildschirmbezogene) Spielstörung“ (Arnaud; Thomasius 2020) inzwischen als ,,Störungen durch abhängiges Verhalten“ (Müller; Wölfling; Müller 2020) anerkennt.
5 Es ergeben sich elf Kriterien, da ,,Vernachlässigung von Interessen“ und „zeitlicher Aufwand“ separat betrachtet werden, während diese im ICD- 11 unter „Priorisierung des Substanzkonsums“ zusammengefasst sind (Kraigher 2017).
6 Wenn eine substanzbezogene Störung zusammen mit mindestens einer weiteren psychischen Störung (häufig sind Störungen des Sozialverhaltens mit und ohne Hyperaktivität und depressive Störungen) auftritt, wird das als psychische Komorbidität bezeichnet (Stolle; Sack; Thomasius 2009).
7 Erwerb, Besitz und Abgabe sowie ähnliche Delikte gehören nach § 29 BtMG zu konsumnahen Delikten (BKA 2018, S. 5).
8 Die Gliederung des Lebenslaufs in Phasen unterliegt keinen fixen Standards. Verschiedene Merkmale sind dabei maßgeblich, wie z.B. das kalendarische Alter und biologische Reifungsprozesse (z.B. Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale als Beginn der Pubertät). Vielmehr entscheidend sind allerdings soziale und kulturelle Aspekte, z.B. der Eintritt in den Beruf und der Auszug aus dem Elternhaus als Trennung zwischen Jugend und frühem Erwachsenenalter (Freund; Nikitin 2018, S. 266).
9 Hierbei ist anzumerken, dass sich Shedler, Block und Leppin auf den Konsum von Alkohol beziehen (Leppin 2000, S. 64).
10 Während das Modell von Marcia als Stadien-Modell beschrieben ist, merken Weichhold und Silbereisen hierzu an, dass empirische Untersuchungen verdeutlichen, dass es sich eher um eine Typisierung als einen chronologischen Verlauf im Sinne von Entwicklungsstadien handelt. Ein Zusammenhang der Typen mit dem Alter ließ sich ebenso wenig nachweisen (2018, S. 258).
- Citation du texte
- Elisabeth Markstein (Auteur), 2021, Der sozialpädagogische Umgang mit Sucht- und Abhängigkeitsverhalten junger Erwachsener. Das Projekt "WAL" der Produktionsschule Moritzburg, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1297781
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