Die Sachlage scheint eigentlich klar zu sein. Aus klassisch-halachischer Sichtweise kann man schlussfolgern, dass das Versagen der Hirnstammfunktionen kein Todeskriterium darstellt, da das Herz noch schlägt also folglich auch eine Pulsation vorhanden ist.
Nun gibt es aber verschiedene Rabbiner, für die das Hirntodkonzept aus halachischer Sicht durchaus Akzeptabel ist. So z.B. schreibt Rav Tendler: „destruction of the entire brain or brain death, and only that, is consonant with biblical pronouncements on what constitutes an acceptable definition of death… Patients with irreversible total destruction of the brain fulfil this definition even if heart action and circulation are artificially maintained.”
Dazu kommt, dass das israelische Oberrabbinat Herztransplantationen unter strikten Bedingungen in gewissen Fällen erlaubt und somit den „Hirntod-Kriterien“ nicht grundsätzlich negativ gegenüber stehen. Jedoch wird das Wort „Hirntod“ in den Publikationen kein einziges Mal erwähnt.
Auf der anderen Seite gibt es dennoch viele zeitgenössische rabbinische Autoritäten, die das Hirntodkonzept nicht akzeptieren. Die Kontroverse über den Hirntod aus halachischer Sicht dauert nun schon drei Jahrzehnte. Der Grund dafür liegt wahrscheinlich in den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten des jüdischen Gesetzes.
Eines ist jedoch klar, wenn man die Aussage von Jonas hinzuzieht, dass es sich nämlich bei einem Hirntoten um einen Sterbenden und nicht um einen Toten handle, dann ist der Fall klar. Ein Leben für ein anderes Leben zu opfern, ist aus halachischer Sichtweise mit Sicherheit nicht gestattet .
Der Text bezieht sich auf das Buch von Nordmann, Yves 1999
Inhaltsübersicht
Teil 1: Überblick; Lebensende aus Sicht der jüdischen Bioethik
1. Organtransplantation
1.1 Lebendspende
1.2 Leichenspende
2. Definition des Todeszeitpunktes
2.1 Notwendigkeit einer exakten Todesdefinition
3. Hirntod
3.1 Hirntodkonzept aus jüdischer Sicht
Teil 2: Vertiefung; Hirntod aus Sicht der jüdischen Bioethik
1. Das Hirntodkriterium heute
1.1 Gesetzliche Grundlagen
1.2 Kriterien des Hirntodes
2. Hirntodkonzept im Judentum – Innerorthodoxe Differenzen
2.1 Talmudische Quellen für das Hirntod-Kriterium
2.2 Orthodoxe Sicht gegen das Hirntod-Kriterium
3. Schlusswort
Glossar
Quellenverzeichnis
Teil 1: Überblick; Lebensende aus Sicht der jüdischen Bioethik
1. Organtransplantation
In der heutigen Medizin gehört die Verpflanzung von Organen und Geweben zu einer verbreiteten Technik mit meist hoher Erfolgsquote. In der jüdischen Bioethik gibt es jedoch Problemfelder, über die debattiert wird. Halachische Fragen lauten etwa, ob ein Arzt, der ein vitales Herz explantiert aus halachischer Sicht nicht zum Mörder wird und ob es überhaupt aus jüdischer Sicht erlaubt ist, ein Organ zu spenden.
1.1 Lebendspende
Man kann kurz und knapp sagen, dass es die Halacha verbietet frei über seinen Körper zu verfügen, z.B. sich selbst Verletzungen zuzufügen oder sich willentlich einer Gefahr auszusetzen. Der Körper ist lediglich eine „Leihgabe“ Gottes im Judentum. Jedoch besagt die Halacha auch, dass jegliche Ge- und Verbote in der Tora umgangen werden können, wenn es darum geht menschliches Leben zu retten („pikuach nefesch“).
Maimonides schriebt basierend auf die Talmudquelle, „ Stehe nicht still beim Blute deines Nächsten[1]. „
„Jeder, der einem anderen das Leben retten kann und dies nicht tut, übertritt das Verbot: ‚Stehe nicht still beim Blute deines Nächsten.’ Jemand der seinen Freund im Meer ertrinken sieht, oder Diebe, die sich ihm annähern oder ein wildes Tier, das ihn angreift, und er kann ihn retten oder andere bezahlen, ihn zu retten, und er tut dies nicht… jemand, der so handelt, übertritt das obenstehende Verbot[2].“
Ein grosser Teil der rabbinischen Autoritäten erlaubt eine Lebendspende, sieht sie aber nicht als Pflicht an. Die Meinungen gehen dann auseinander, wenn für den Spender selbst das Risiko besteht sich in Lebensgefahr zu begeben.
1.2 Leichenspende
Wie schon erwähnt, gehört der menschliche Körper eigentlich Gott. Folgende halachische Grundprinzipien bzw. Verbote ergeben sich:
1. Das Verbot, eine Leiche zu verstümmeln und zu entweihen[3].
2. Das Verbot, Nutzen oder Profit aus einer Leiche zu ziehen[4].
3. Die Verpflichtung, eine Leiche möglichst rasch zu beerdigen[5].
4. Die Verpflichtung, einen Körper in seiner Integrität zu beerdigen[6]
Diese Prinzipien verunmöglichen den Eingriff an einer Leiche, jedoch kommt auch hier wieder das Konzept von „pikuach nefesch“ zum Zug.
Es müssen drei Vorbedingungen gegeben sein um „legitim“ eine Organspende, (aus jüdischer Sicht), durchzuführen:
1. „Lefanenu“, was wörtlich heisst, „vor uns präsent sein“. Der Empfänger muss physisch präsent sein. Man, (der Arzt), muss die Person kennen.
2. Die Wahrscheinlichkeit, dass die fragliche Person gerettet wird muss eine bestimmte objektive Grösse haben. (Das hängt unter Anderem von dem Fortschritt der Transplantationstechnik ab).
3. Der potenzielle Organspender muss seine Einwilligung geben für eine Organentnahme. (Zu Lebzeiten oder nach seinem Tod durch seine nächsten Verwandten).
Im Buch von Nordmann (1999) wird nun noch exemplarisch auf die Hornhauttransplantation, auf die Nierentransplantation und auf die Herztransplantation eingegangen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass auch hier immer das Konzept „pikuasch nefesch“ betrachtet wird. So stellt zum Beispiel ein einseitiger Katarakt keine Lebensgefahr für den Betroffenen dar, es kann aber trotzdem Hornhaut transplantiert werden, da es sich nicht um eine „Fleischentnahme“ handelt, sondern lediglich um Hautgewebe.
Bei der Herztransplantation spalten sich die Meinungen der rabbinischen Autoritäten. Einige befürworten diese Art von Transplantation andere sehen darin eine Einmischung in den göttlichen Schöpfungsplan. Eine Voraussetzung muss jedoch immer gegeben sein und zwar, dass der Tod des Spenders nach den halachischen Kriterien mit Sicherheit festgestellt worden ist. (Siehe nächster Abschnitt, „Definition des Todeszeitpunktes“).
2. Definition des Todeszeitpunktes
Zu Beginn ist zu erwähnen, dass die Medizin in den letzten Jahrzehnten gewaltige Fortschritte gemacht hat. Gerade im Bereich der Reanimationsmedizin ist heutzutage einiges möglich. So ist es zum Beispiel möglich so genannte „Scheintote“ künstlich am leben zu erhalten. Durch diesen raschen Fortschritt bleibt oft die ethische Reflexion auf der Strecke. Desto erstaunlicher scheint es, dass gerade eine alte, mündlich überlieferte Tradition einige ganz plausible Antworten gibt.
2.1 Notwendigkeit einer exakten Todesdefinition
Der babylonische Talmud bietet hierzu einen Einstieg:
„…schon die Möglichkeit einer Gefahr für menschliches Leben lässt [die Gesetze für] den Schabbat zurücktreten. Wenn Trümmer [eines Gebäudes] über jemandem zusammengestürzt sind, und es ist zweifelhaft, ob er noch dort ist oder nicht, oder wenn es zweifelhaft ist, ob er lebt oder ob er tot ist…, so lichte man den Schutthaufen um seinetwillen [sogar am Schabbat]. Wenn man ihn lebendig findet, so erweitere man ihm die Öffnung, ist er aber tot, so lässt man ihn [bis nach dem Ende des Schabbats] liegen[7].“
Aus diesem Text ergibt sich die Frage, ab welchem Zeitpunkt ein Mensch als Tod angesehen werden kann oder muss.
[...]
[1] Leviticus, 19:16
[2] Maimonides: Mischneh Tora, Rotseach Uschmiras Nefesch, 1:14 (Übersetzung von Nordmann, 1999)
[3] Arachin, 7a; Chullin, 11b; Baba Batra, 154b; alle basierend auf Deutoronomium, 21:22-23.
[4] Karo: Schulchan Aruch, Joreh Deah, 349 1-2; Maimonides: Mischneh Tora, Hilchot Avelut, 14:21 basierend auf Avoda Sara, 29b.
[5] Basierend auf Deutoronomium, 21:23.
[6] Talmud Jeruschalmi: Nasir, 7:1; vgl. auch Maimonides: Mischneh Tora, Hilchot Sanhedrin, 15:8
[7] Joma, 8:6-7 (Übersetzung von Nordmann 1999)
- Arbeit zitieren
- Tobias Hoenger (Autor:in), 2008, Lebensende und Hirntod aus Sicht der jüdischen Bioethik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/129695
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