Die vorliegende Arbeit beleuchtet die Potenziale des Schulwanderns als schulische Unterstützung bewegungsorientierter verhaltens-therapeutischer Maßnahmen bei Übergewicht und Adipositas in der Primarstufe und klammert bewusst die Aspekte der Ernährung aus. Bei der Untersuchung kommt es zwangsläufig zu einer Verknüpfung der individuellen und institutionellen Ebene. Um dies deutlich zu machen, wird mit einer kleinen leistungsheterogenen Versuchsgruppe (n=6) aus einer Schule die sportlichen Aktivitäten eines zweistündigen Rundenlaufs und einer Schulwanderung durchgeführt und hinsichtlich ihrer Funktion und Berührungspunkte der kognitiven Umstrukturierung, Verstärkerstrategie und der psychosozialen Wirkung untersucht und analysiert.
Die Therapie und Prävention von Übergewicht und Adipositas bei Kindern im Grundschulalter ist von hoher Aktualität und sowohl von individueller als auch gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Die bewährten Therapien forcieren eine Veränderung im Wirkungsgefüge aus Ernährung, Bewegung und Verhalten. Dabei werden Maßnahmen unterschieden, die die institutionellen (z.B. Verhältnisprävention) und individuellen (z.B. Verhaltensprävention) Ebenen adressieren.
Es kann gezeigt werden, dass bei den adipösen (und somit auch übergewichtigen) Kinder beim Schulwandern deren Laufleistungen, sowohl in der Gesamtzeit als auch in der Durchschnittsgeschwindigkeit, höher liegen als beim Rundenlauf und ihrer eigenen Leistungserwartungen. Außerdem sind die Kinder motivierter für eine Wiederholung der Maßnahme Schulwandern. In einer leistungsheterogenen Gruppe erfahren sie dabei kein defizitorientiertes Feedback, sondern absolvieren geschlossen und gruppenintegriert dieselbe Wanderstrecke. Als Kontrast zum Regelunterricht kann den Kindern hinsichtlich einer vornehmlich sitzenden Lebensweise und bewertungs- und leistungsorientiertem Sportunterricht eine selbstwirksame und motivierende Alternative aufgezeigt werden. Um das Potenzial des Schulwanderns als schulische Unterstützung bewegungs-orientierter verhalten-therapeutischer Maßnahmen bei Übergewicht und Adipositas strukturell zu aktivieren, sind die vorherrschenden institutionellen habituellen Verhältnisse anzupassen.
Inhalt
Kurzfassung
Abstract
1. Einleitung
2. Grundlagen
2.1. Übergewicht und Adipositas im Grundschulalter
2.1.1. Definition von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter
2.1.2. Prävalenz Ätiologie Epidemiologie
2.1.3. Folgen
2.1.4. Verhaltenstherapie
2.2. Die Rolle der Schule bei der Gesundheitsförderung
2.2.1. Gesundheitsförderung
2.2.2. Curriculare Verweise - Verhaltensprävention
2.2.3. Gesundheitsförderliche Schulentwicklung - Verhältnisprävention
2.2.4. Gegenwärtige Interventionscharakteristika in der Schule
2.3. Schulwandern
3. Feldversuch
3.1. Theoretische Grundlagen
3.2. Auswahl der Teilnehmenden
3.3. Fragebogen
3.4. Praktische Versuche
3.4.1. Rundenlauf
3.4.2. Wanderung
4. Ergebnisse
4.1. Auswahl der Teilnehmenden
4.2. Fragebogen
4.3. Rundenlauf
4.4. Wanderung
5. Diskussion
6. Limitation der Arbeit
7. Zusammenfassung
8. Literaturverzeichnis
Kurzfassung
Die Therapie und Prävention von Übergewicht und Adipositas bei Kindern im Grundschulalter ist von hoher Aktualität und sowohl von individueller als auch gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Die bewährten Therapien forcieren eine Veränderung im Wirkungsgefüge aus Ernährung, Bewegung und Verhalten. Dabei werden Maßnahmen unterschieden, die die institutionellen (z.B. Verhältnisprävention) und individuellen (z.B. Verhaltensprävention) Ebenen adressieren. Die vorliegende Arbeit beleuchtet die Potenziale des Schulwanderns als schulische Unterstützung bewegungsorientierter verhaltens-therapeutische Maßnahmen bei Übergewicht und Adipositas in der Primarstufe und klammert bewusst die Aspekte der Ernährung aus. Bei der Untersuchung kommt es zwangsläufig zu einer Verknüpfung der individuellen und institutionellen Ebene. Um dies deutlich zu machen, wird mit einer kleinen leistungsheterogenen Versuchsgruppe (n=6) aus einer Schule die sportlichen Aktivitäten eines zweistündigen Rundenlaufs und einer Schulwanderung durchgeführt und hinsichtlich ihrer Funktion und Berührungspunkte der kognitiven Umstrukturierung, Verstärkerstrategie und der psycho-sozialen Wirkung untersucht und analysiert. Es kann gezeigt werden, dass bei den adipösen (und somit auch übergewichtigen) Kinder beim Schulwandern deren Laufleistungen, sowohl in der Gesamtzeit als auch in der Durchschnittsgeschwindigkeit, höher liegen als beim Rundenlauf und ihrer eigenen Leistungserwartungen. Außerdem sind die Kinder motivierter für eine Wiederholung der Maßnahme Schulwandern. In einer leistungsheterogenen Gruppe erfahren sie dabei kein defizitorientiertes Feedback, sondern absolvieren geschlossen und gruppenintegriert dieselbe Wanderstrecke. Als Kontrast zum Regelunterricht kann den Kindern hinsichtlich einer vornehmlich sitzenden Lebensweise und bewertungsund leistungsorientiertem Sportunterricht eine selbstwirksame und motivierende Alternative aufgezeigt werden. Um das Potenzial des Schulwanderns als schulische Unterstützung bewegungsorientierter verhalten-therapeutischer Maßnahmen bei Übergewicht und Adipositas strukturell zu aktivieren, sind die vorherrschenden institutionellen habituellen Verhältnisse anzupassen.
Die Arbeit kann keine evidenzbasierte Antwort auf die langfristige Wirkung auf Individuum und Institution geben. Dies und der Nachweis der Wirkung auf eine Vielzahl der Kinder, auch z.B. die auf Schulverweigerer, bleibt offen und gilt es weiter zu untersuchen.
Abstract
The therapy and prevention of overweight and obesity in children of primary school age is of great topicality and relevance to both individuals and society as a whole. The tried and tested therapies force a change in the interplay of nutrition, exercise and behavior. A distinction is made between measures that address the institutional and individual levels. The present study examines the potential of school walking as a school-based support for exerciseoriented behavioral-therapeutic measures for overweight and obesity in primary schools and deliberately excludes the aspects of nutrition. The study inevitably links the individual and institutional levels. In order to make this clear, the sporting activities of a two-hour lap run and a school walk are carried out with a small performance heterogeneous test group (n=6) from one single school and examines and analyses with regard to their function and points of contact of cognitive restructuring, reinforcement strategy and the psycho-social effect. It can be shown that in the case of the obese (and thus also overweight) children, their running performance was higher during the school walk, both in terms of total time and average speed, than during the lap run and their own performance expectations. In addition, the children are more motivated to repeat the activity. In a performance-heterogeneous group, they did not receive deficit-oriented feedback, but completed the same route together and integrated into the group. As a contrast to the regular lessons, the children are shown a selfeffective and motivating alternative to a predominantly sedentary lifestyle and assessmentand performance-oriented physical education. In order to structurally activate the potential of school walking as a school-based support for exercise-oriented behavioral therapy measures for overweight and obesity, the prevailing institutional habitual conditions must be adapted.
This study cannot provide an evidence-based answer to the long-term effect on the individual and the institution. This and the evidence of the effect on a large number of children, also e.g. on truants, remain open and need to be further investigated.
Hinweis: In den meisten wissenschaftlichen und medizinischen Bezugsdokumenten wird terminologisch der Begriff Gewicht fälschlicherweise für die physikalischer Größe Körpermasse in Kilogramm (kg) benutzt. In dieser Arbeit wird diese Verwendung des Gewichtsbegriffs dann übernommen, wenn dies einen leichteren Lesefluss und ein leichteres Textverständnis ermöglicht.
Abbildungsverzeichnis
Abb.1: Auswahl möglicher Folgeerkrankungen der Adipositas im Kindes- und Jugendalter
Tabellenverzeichnis
Tab.1: Übersicht der körperlichen Messwerte der Teilnehmenden
Tab.2: Ergebnisse des Rundenlaufs
Tab.3: Ergebnisse der Wanderung
Liste der verwendeten Symbole und Abkürzungen
BMI Body Mass Index
cm Zentimeter
kg Kilogramm
km/h Kilometer in der Stunde
m Meter
min Minute
rBMI Relativer Body Mass Index
1. Einleitung
„Deutlich mehr Kinder extrem übergewichtig. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit extremem Übergewicht ist in den vergangenen zehn Jahren massiv gestiegen. Corona verstärkt diesen Trend offenbar noch [ TAGESSCHAU 2021].“
Mit dieser Meldung vom 08.10.2021 auf tagesschau.de rückt ein gesellschaftliches Problem erneut in die öffentliche Aufmerksamkeit, von dem viele gesellschaftliche Akteure direkt oder indirekt betroffen sind. Bereits vor mehr als zehn Jahren stellen REINEHR et. al. eine Zunahme der Häufigkeit und des Ausmaß des Übergewichts und der Adipositas fest [REINEHR et al. 2010b: 9]. Grundsätzlich ist das Problem des Übergewichts und der Adipositas also kein neues, tritt in allen gesellschaftlichen Milieus auf und lässt sich wohl primär auf die veränderten Lebensgewohnheiten der Menschen zurückführen [RABEHL 2007: 10]. Die populärwissenschaftliche Zuspitzung „Sitzen gefährdet die Gesundheit" [HÜMMELGEN et al. 2020: 50] lässt dabei auch den Blick auf die Lebensbereiche der Kinder richten, die traditionell sitzend wahrgenommen werden und mehr Bewegung nötig hätten - die Schule.
Bei Übergewicht und Adipositas leiden die betroffenen Kinder nicht nur unter den körperlichen, sondern auch unter den psychosozialen Folgen. Die Abwertung aufgrund der äußeren Erscheinung mindert die Entwicklung eines gesunden Selbstwert- und Körpergefühls. Hieraus können seelische Probleme bis hin zu dem Vollbild einer psychischen Störung und zu einer weiteren Verschlechterung des Ess- und Bewegungsverhaltens führen, die neben einer dauerhaften Persistenz des Übergewichts und der Adipositas auch in Einschränkungen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität resultieren [HERPERTZ 2015]. Die Aufgabe besteht also darin zugängliche und wirksame Interventionen zu finden, damit die gesundheitsbezogene Lebensqualität sich der von einer gesunden repräsentativen Vergleichsgruppe annähert [JABLONKA et al. 2013]. Da die Entstehung und der Erhalt von Übergewicht und Adipositas bei Kindern auf multifaktoriellen Einflüssen beruht, werden multimodale Behandlungsprogramme und verschiedene Unterstüzungsbausteine benötigt [WARSCHBURGER 2005: 46]. Im Allgemeinen gibt es für die Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung bei Kindern eine wachsende Anzahl von Akteuren und Foren, die Informationen und Maßnahmen anbieten. Das gemeinsame Ziel ist es, die gesunde Lebensführung in möglichst vielen Lebensphasen und - situationen jedem Menschen nahezubringen.
Aufgrund der allgemeinen Schulpflicht ist die Grundschule eine Institution, die einen Zugang zu fast allen Kindern bietet und daher für allgmeine gesundheitsfördernde Maßnahmen sehr gut geeignet scheint. Für eine zunehmende Anzahl von Kinder der Primarstufe ist der Besuch einer Ganztagsschule inzwischen Realität [BM 2021]. Damit rückt die Grundschule als immer wichtigerer Akteur neben der Familie in der Prägung von Lebensstilen im Rahmen der Gesundheitsförderung in den Fokus. Die Gesundheitsförderung gehört bereits seit längerer Zeit zum Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule [KMK 2012] und auch weltweit finden zahlreiche Programme zur Gesundheitsförderung übergewichtiger und adipöser Schulkinder statt [GRAF 2007: 124].
„In der Schule als Ort der Wissensvermittlung kann Gesundheitsförderung so gestaltet sein, dass Fähigkeiten erworben werden, die einer gesundheitsfördernden Lebensweise zuträglich sind. Darüber hinaus können im Schulalltag aber auch konkrete präventive Maßnahmen im Sinne des Setting-Ansatzes durchgeführt werden. In diesem Zusammenhang entstehen derzeit sowohl in Deutschland als auch international innovative Konzepte“ [FISCHER 2017].
Wie diese umgesetzt werden ist nur indirekt curricular festgelegt und steht überwiegend in der Gestaltungsmacht der einzelnen Schulen [BM 2017]. Bei einer andauernden gesamtgesellschaftlichen Problematik, wie es die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas ist, muss die Schule als lernende Organisation Konzepte und Prozesse weiterentwickeln, um auf Veränderungen von Lebensstilen, Erwartungen und Verhaltensmustern zu antworten [LIßEK 2010: 55]. Dabei ergibt sich die Frage, welche Ideen und Konzepte hilfreich sind, um dieser Aufforderung nachzukommen. Die vorliegende Arbeit geht dabei konkret der Frage nach, welches Potenzial das Schulwandern als schulische Unterstützung bewegungsorientierter verhaltens-therapeutischer Maßnahmen in der Primarstufe aufweisen kann und ob sich mögliche positive Impulse bereits nach einer Initialwanderung identifizieren lassen. Dafür werden zunächst die Grundlagen des Übergewichts und der Adipositas im Grundschulalter beleuchtet und die Begründung bewegungsorientierter verhaltens-therapeutische Maßnahmen vorgestellt. Darauffolgend wird die Rolle der Schule bei der Gesundheitsförderung erörtert. Weiter wird das Schulwandern kurz vorgestellt, bevor der Untersuchungsrahmen aufgezeigt und dargelegt wird. Anschließend erfolgt die Vorstellung der Ergebnisse und deren Einordnung zu der vorliegenden Ausgangsfrage. Ein kurzer Aufriss der Limitation der vorliegenden Arbeit stellt den Abschluss dieser Arbeit dar.
2. Grundlagen
2.1. Übergewicht und Adipositas im Grundschulalter
2.1.1. Definition von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter
Die Begriffe Fettleibigkeit, Fettsucht, Übergewicht und Adipositas werden oft - trotz ihrer unterschiedlichen Bedeutung - synonym verwendet und im Allgemeinen aufgrund einer phänotypischen Erscheinung der erhöhten Körpermasse Menschen zugewiesen.
Definitorisch sind jedoch klare Unterscheidungen zu treffen, die auch Auswirkungen auf die Therapieform haben können. Trotz der Kritik, dass der Body Mass Index (BMI) zu pauschale und indifferente Werte verursacht, die auch fälschlicherweise Werte für Übergewicht oder Adipositas bei „Individuen mit niedrigem Fett- und hohem Muskelanteil" [SCHLICH & SCHLICH 2021] anzeigen, dient er international der einfachen Diagnostik und Klassifikation von Übergewicht und Adipositas. Die Berechnung bzw. der Wert des BMI gibt das das Verhältnis der Körpermasse in kg zum Quadrat der Körpergröße in m[[[2]]] (kg/m[[[2]]]) wieder. Nach der World Health Organization (WHO) werden anhand des BMI folgende Kategorien klassifiziert [WHO 2021b]:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Während für Erwachsene der BMI allein für die Definition herangezogen wird, kann er nicht unbearbeitet für Kinder und Jugendliche übernommen werden und wird daher in Entwick- lungsperzentilen umgerechnet [GRÖNE-BENTZ 2011: 35]. Bis zur Durchführung des Kinder- und Jugendsurveys (KiGGS) 2003-2006 existieren keine überregional gültigen BMI-Referenzwerte für Kinder [RKI 2007]. KROMEYER-HAUSCHILD et al. [KROMEYER-HAUSCHILD et al. 2001: 807 ff.] berechnen daher, unter Heranziehung von 17 bereits durchgeführten Untersuchungen aus verschiedenen Regionen Deutschlands (17.147 Jungen und 17.275 Mädchen im Altersbereich von 0-18 Jahren), BMI-Perzentilen für Kinder und Jugendliche. Die vorgestellten Perzentilen gelten bis heute als Referenz für die Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) für deutsche Kinder und Jugendliche zur Definition von Übergewicht, Adipositas und morbide Adipositas. Diese alters- und geschlechtsbezogene Perzentile (rBMI = [BMI aktuell/BMI 50. Perzentile altersbezogen] x 100), zeigt bei Werten oberhalb der 90. Perzentile Übergewicht, oberhalb der 97.Perzentile Adipositas und oberhalb der 99,5 Perzentile extreme/morbide Adipositas an [REINEHR et al. 2010b: 9]. Bei Kindern mit chronischen Erkrankungen, die u.a. das Wachstum verzögern, ist die Aussagekraft der Perzentilen- werte eingeschränkt [KROMEYER-HAUSCHILD et al. 2001: 813 f.].
Aus medizinischer Sicht wird
„eine über das normale Maß hinausgehende Akkumulation von Fettgewebe (...) als Adipositas oder Fettsucht bezeichnet. Dabei nimmt zuerst das Volumen der Adipozy- ten (Fettzellen) zu. Bei anhaltender positiver Energiebilanz können zusätzliche Adi- pozyten aus Vorläuferzellen gebildet werden. Die in den Adipozyten deponierten Triglyceride werden ständig umgesetzt. Dadurch kommt es zur Erhöhung aller Komponenten des Lipidstoffwechsels. Es resultiert eine Hyperlipoproteinämie und Hyperinsu- linämie, was eine periphere Insulinresistenz zur Folge haben kann (siehe auch Diabetes mellitus und metabolisches Syndrom). Das viszerale Fettgewebe am Bauch zeigt besonders hohe Umsatzraten, weshalb die androide Form der Adipositas häufiger zu Folgeerkrankungen führt“ [BIESALSKI et al. 2020] .
Während Übergewicht nicht als Krankheit gilt, handelt es sich bei der Adipositas laut Definition der WHO um eine chronische Erkrankung mit eingeschränkter Lebensqualität und hohem Morbidität- und Mortalitätsrisiko, die eine langfristige Betreuung erfordert (WHO 2000). Für privat-krankenversicherungsfinanzierte Therapien ist das Urteil des Bundessozialgerichts vom 19.2.2003 relevant, das vom „Vorliegen einer Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne“ [DEJURE 2003] spricht. Ein weiterer Impuls ergeht von einer Resolution vom 12.2.2006 des Europäische Parlaments aus, indem die EU-Mitgliedsstaaten aufgefordert werden, Fettleibigkeit offiziell als chronische Krankheit anzuerkennen (WHO 2006). In der International Classification of Diseases (ICD) wird die Adipositas anerkannt und mit der Ziffer E66 belegt. Adipositas oder Fettleibigkeit wird dort den chronischen Erkrankungen zugeordnet und gehört zu den hormonellen, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten. Auch in der für Deutschland wichtigen S3-Leitlinie zur Therapie und Prävention der Adipositas im Kindes- und Jugendalter wird von einer chronischer Krankheit gesprochen und die für eine evidenzbasierte Therapiemaßnahmen erforderlichen Komponenten werden definiert [AGA 2019].
2.1.2. Prävalenz Ätiologie Epidemiologie
Adipositas stellt in allen Industrienationen die Volkskrankheit Nummer eins dar und die Prävalenz von Übergewicht bei Kindern steigt global weiterhin an [PAN et al. 2020: 184; REINEHR et al. 2010b: 9]. Liegt der durchschnittliche BMI im Jahre 1975 bei 5-bis 19- jährigen Mädchen bei 17,2 kg/m2, steigt er bis 2016 auf 18,6 kg/m2. Im gleichen Zeitraum erhöht sich der Wert für Jungen von 16,8 kg/m2 auf 18,5 kg/m2. Auf globaler Ebene steigt die Adipositasprävalenz bei Mädchen von 0,7% auf 5,6% und bei Jungen von 0,9% auf 7,8% [NCD-RISC 2017: 2634]. Die Altersgruppe der 7- bis 10-Jährigen ist international am meisten untersucht, obwohl auch hier die Daten aufgrund verschiedener Messzeitpunkte und Vergleichszeiträume in ihrer Vergleichbarkeit eingeschränkt sind [CAROLI & VANIA 2015: 25]. Auch in Deutschland steigt die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen bis zum Jahr 2000 dauerhaft deutlich an. Die aktuellen Ergebnisse der „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland" (KiGGS Welle 2, 2014-2017) weisen darauf hin, dass sich die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland zwischen 2003-2006 und 2014-2017 kaum verändert ist und sich auf einem relativ hohem Niveau stabilisiert [SCHIENKIEWITZ et al. 2019: 1225]. Diese Entwicklung wird auch durch die Analyse von Schulaufnahmedaten und der Auswertungen aus dem kinderärztlichen Netzwerk CrescNet bestätigt [GAUSCHE et al. 2019]. Für die Stadt Koblenz kann seit dem Erhebungsschuljahr 2014/2015 bis zum Jahr 2021 ein kontinuierlich steigender Anteil von untersuchten Kindern mit Übergewicht ausgemacht werden. Die Steigerung beträgt ca. 36% im Vergleich zum Ausgangsjahr. Andere Quellen berichten für Deutschalnd, dass die Zahl der Kinder und Jugendlichen bis 18 Jahre, die unter extremem Übergewicht leiden, von 2009 auf 2019 bundesweit um rund ein Viertel zugenommen hat [KKH 2021]. In Deutschland sind 15,4 % der Kinder und Jugendlichen von Übergewicht (einschließlich Adipositas), 5,9 % von Adipositas und 1 % von extremer Adipositas betroffen [SCHIENKIEWITZ et al. 2019: 1230].
Daten der Kieler Obesity Prevention Study zeigen, dass Kinder, die im Alter zwischen 5 und 7 Jahren eine eher hochnormale Körpermasse haben, ein erhöhtes Risiko besitzen, in den folgenden 4 Jahren (das entspricht ungefähr der Grundschulzeit bzw. der Lebensphase in der Grundschule) überdurchschnittlich an Körpermasse zunehmen [GRAF 2007: 118]. Ergebnisse aus einer retro- sowie prospektiven Analyse hinsichtlich der BMI-Entwicklung im Kindes- und Jugendalter zeigen, dass Kinder, die im Kindesalter bereits übergewichtig oder sogar adipös waren, dies auch weiterhin im Erwachsenenalter sein werden. Zudem nimmt auch deren BMI-Standardabweichung bei Nichtbehandlung mit zunehmendem Alter stetig zu [KASPAR et al. 2020].
Für die geschlechtsdifferenzierte Betrachtung lässt sich feststellen, dass bis zum Alter von 6 bis 7 Jahren die Perzentilkurven bezüglich der Körpermasse sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen nahezu deckungsgleich verlaufen. Ab dem 7. bis 9. Lebensjahr sind vor allem in den oberen Perzentilen Unterschiede zu beobachten. So treten erhöhte Werte bei Jungen früher auf als bei Mädchen [SCHIENKIEWITZ et al. 2019: 1230].
Adipositas im Kindes- und Jugendalter kann u.a. durch Medikamente ausgelöst oder verstärkt werden. So können Medikamente den Appetit und die Nahrungsaufnahme steigern oder den Energieumsatz reduzieren [JUNNE et al. 2021: 454]. Kinder die chronische Erkrankungen und Behinderungen haben, welche zu Bewegungseinschränkungen oder sozialer Isolation führen, leiden doppelt so oft unter Übergewicht und Adipositas wie ihre uneingeschränkten Peers [REINEHR et al. 2010a]. Somatische Erkrankungen sind zu weniger als 1% als Ursache von Übergewicht und Adipositas verantwortlich [REINEHR et al. 2007]. Zum Beispiel können einige sehr seltene genetische Erkrankungen wie ein Leptinmangel auftreten, wobei eine Leptinresistenz mittlerweile effektiv medikamentös behandelt werden kann. Neben einer genetischen Veranlagung kommen Erkrankungen mit Veränderungen der Hirnregionen, die das Sättigungsverhalten bestimmen, wie das Prader-Willi-Syndrom, ein Kraniopharyngeom oder andere Tumoren im Bereich des Hypothalamus, neben endokrinologischen Erkrankungen als somatische Ursachen in Betracht. Genetische Ursachen verursachen weniger als 10% der Varianz des BMI [BRADFIELD et al. 2019].
Für die Ätiologie von Übergewicht und Adipositas sind genetische, ernährungs- und aktivitätsbezogene, psychosoziale Umwelt- und Lebensbedingungen die entscheidende Faktoren, die in einem komplexen Wechselspiel stehen [REINEHR et al. 2010b: 9], wobei die Umweltfaktoren eine bedeutende Rolle einnehmen [HILBERT et al. 2017: 19]. Menschliches Verhalten, Umwelt- und Lebensbedingungen sind multifaktoriell für die Entstehung von Übergewicht und Adipositas beteiligt [REINEHR 2020]. So beeinflussen die Hyperalimentation bzw. ungünstige Ernährungsmuster, z.B. ein hoher Konsum energiedichter Snacks oder zuckerhaltiger Erfrischungsgetränke, die erhöhte Essgeschwindigkeit oder unkontrolliertes Snackverhalten signifikant die Entstehung und Aufrechterhaltung von Übergewicht und Adipositas [AMBROSI- NI 2014; KELLER & DELLA BUCHER TORRE 2015; JUNNE et al. 2021: 454]. Grundsätzlich basiert die Entstehung von Übergewicht und Adipositas auf dem längerfristigen Missverhältnis in der Energiebilanz (ausbleibende Energiehomöostase) [REINEHR et al. 2010b; KKH 2021]. So zeigt die KOPS-Studie (Kieler Adipositas-Präventionsstudie), „dass sich übergewichtige Kinder von normalgewichtigen Kindern mehr im Bewegungsverhalten als im Ernährungsverhalten unterscheiden“ [CZERWINSKI-MAST et al. 2003]. Der unterschiedliche und reduzierte Aktivitätsumfang lässt sich u.a. auf eine Zunahme des Medienkonsums [WEBER et al. 2008: 883], der mittlerweile die häufigste Freizeitbeschäftigung darstellt [STIFTUNG FÜR ZUKUNFTSFRAGEN 2021], und sozioökonomische Faktoren des Elternhauses, insbesondere die Zugehörigkeit zu einer niedrigen sozioökonomischen Schicht, zurückführen [MUNSCH & HILBERT 2015: 3; RING- DIMITRIOU 2015a; SCHIENKIEWITZ et al. 2019]. So sind nur 2,3% aller Kinder im oberen Terzil des sozioökonomischen Status adipös, 5% im mittleren Terzil und 10% im unteren Terzil [KUNTZ et al. 2018]. Ein ähnlicher Befund lässt sich auch bei den Schuleingangsuntersuchungen der Stadt Koblenz erheben. So werden Kinder aus bildungsnahen Haushalten etwas häufiger als normalgewichtig eingestuft, während Kinder aus Haushalten mit mittlerem oder niedrigerem Bildungsniveau häufiger übergewichtig bzw. adipös sind [STADT KOBLENZ 2020]. Hinzu kommt, dass die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas bei Kindern, deren Muttersprache nicht deutsch ist, fast doppelt so hoch ist [WEBER et al. 2008: 883]. Damit wird deutlich, dass die Eltern (bzw. die Sozialisationsinstanz Familie) ein sehr wichtiger Faktor für die Entstehung von Übergewicht und Adipositas sind. Sie geben nicht nur die genetische Prädisposition weiter, sondern nehmen auch durch ihr Erziehungs- und Bewegungsverhalten weiter Einfluss auf die Prävalenz bei ihren Kindern. Insbesondere übergewichtige Eltern sind der Hauptrisikofaktor für Übergewicht und Adipositas bei Kindern [SCHRÖDER & KROMEYER-HAUSCHILD 2007].
Die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas reagiert auf Verhältnis- und Verhaltensänderungen. So liegen die BMI Werte der in Adipositas-Ambulanzen und Rehabilitationskliniken betreuten Kinder und Jugendlichen mit Adipositas im Jahr 2020, dem Jahr mit der pandemischen COVID-19 Lage, mit +2,60 signifikant höher als in den Jahren 2018 und 2019 (+2,56). Der Anteil der Rehabilitationen liegt 2020 mit 24,6% niedriger als 2019 (28,5%) [GALLER et al. 2021]. Laut Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit steigen die Krankenhausbehandlungen von Kindern mit der Diagnose Adipositas im Jahresvergleich von 2020 zu 2021 um 60% an. Während die Zahl junger übergewichtiger Patientinnen und Patienten im Frühjahrs- Lockdown 2020 66 % unter den Wert des Vorjahres sinkt, steigt sie danach steil an und bleibt auf Rekordniveau [WITTE et al. 2021]. Insgesamt finden im Jahr 2020 im Vergleich zu 2018 und 2019 signifikant weniger Bewegungstherapien statt, hingegen unterscheidet sich die Anzahl der Ernährungsberatungen und der psychologischen Beratungen pro Patienten zwischen 2018, 2019 und 2020 nicht.
Hier gilt es herauszufinden, ob andere Settings als Adipositas-Ambulanzen und Rehabilitationskliniken in der bewegungsorientierten Verhaltenstherapie unterstützen und möglichst viele betroffene Kinder ab dem Alter von 6 Jahren aus allen sozialen Schichten erreichen können. Damit rückt die Grundschule erneut in den Fokus des Interesses.
2.1.3. Folgen
Kinder mit Übergewicht und Adipositas begegnen einer Vielzahl von Komorbiditäten auf physischer Ebene und können enormen psychischen und psychosozialen Beeinträchtigungen begegnen. Es lässt sich zudem generell ein Verlust an Lebensqualität und ein schwierigerer sozioökonomischer Aufstieg festhalten [WARSCHBURGER 2005; HAACK 2009: 19]. In ihrer körperlichen Entwicklung unterscheiden sie sich zu ihren normalgewichtigen Alterskamerad_innen. Übergewichtige und adipöse Kinder haben ein größeres Körperlängenwachstum als ihre Altersgenossen [KEMPF et al. 2021]. Bei betroffenen Jungs entwickelt sich oft ein Brustansatz und eine spätere Pubertätsentwicklung, während bei Mädchen diese früher einsetzt [WABITSCH 2020]. Die Kinder haben oft einen erhöhten Cholesterinspiegel, der ein großer Risikofaktor für Herzinfarkt und Arterienverkalkung im Erwachsenenalter darstellt. Hinzu kommt eine geringere Lebenserwartung - vergleichbar der von Rauchern [KKH 2021]. Zu den möglichen physischen Folgeerkrankungen gehören Hypertonie, Arteriosklerose , Stoffwechselstörungen (z.B. Leberverfettung), Gicht, Karzinome, Diabetes mellitus Typ I und Diabetes mellitus Typ II, die im Zusammenhang mit einem androidem Fettverteilungsmuster als metabolisches Syndrom bezeichnet werden [LICHERT 2021; NUCCI et al. 2021]. Jedoch kommt es auch vor, dass körperlich fitte Kinder mit Adipositas signifikant seltener ein metabolisches Syndrom entwickelten als, auf die Herzkreislauffitness bezogen, normalgewichtige nicht fitte Kinder [TÖRÖK et al. 2001]. Die meisten Folgekrankheiten und Symptome verlaufen in der Kindheit symptomarm und die Kinder haben noch keine oder geringe Beschwerden, diese wachsen meist erst im (frühen) Erwachsenenalter [SCHIENKIEWITZ et al. 2019]. Kinder nehmen eher funktionelle Beeinträchtigungen (z.B. erschwerte Fortbewegung, eingeschränkte Beweglichkeit) und psychosoziale Komorbiditäten als akut wahr. Durch das Abweichen vom genormten und idealisierten Körperbild werden die Jugendlichen in der Peer-Group oft diskriminiert und stigmatisiert. Es kommt bei den Betroffenen zu negativen Ausprägungen im Selbstkonzept, körperlichen Beschwerden und Verhaltensproblemen, Ängsten und Depressionen [HARTMANN & HILBERT 2013; KKH 2021]. Im Sinne des Diathese-Stress-Modells wird die übermäßige emotionsinduzierte Nahrungszufuhr als Reaktion auf Stress angesehen, der gleichzeitig bei der Entstehung und Aufrechterhaltung des Ungleichgewichts zwischen Energiezufuhr und Energieverbrauch beteiligt ist. Dies kann auch als Reaktion auf Frust oder Ärger in der Schule geschehen [MUNSCH & HILBERT 2015: 3; KKH 2021].
Die Lebensqualität adipöser Kinder ist nicht nur niedriger als die gesunder Kinder, sondern gleicht denen schwerkranker Kinder (z.B. krebskranke Kinder) [VAHABZADEH & ERNST 2007: 96]. Im klinischen Rahmen sind folgende psychiatrische Auffälligkeiten und Störungen als Komorbiditäten mit der kindlichen Adipositas verbunden: Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen (ICD-10, F 90.0), Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten (ICD10, F 91.3), Funktionelle Enuresis (ICD-10, F 98.0), Enkopresis (ICD-10, F 98.1), Störung mit Trennungsangst (ICD-10, F 93.0), Sozialphobie (ICD-10, F 40.1), Paniksyndrom (ICD-10, F 91.0), Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10, F 43.1) und Anpassungsstörung (ICD-10, F 43.2)[KIENAST 2004: 11].
Die Folgen des Übergewichts und der Adipositas im Kindes- und Jugendalter sind damit jedoch nicht abschliessend aufgezählt und variieren in ihrer Ausprägung und Eintrittswahrscheinlichkeit. Die Übersicht möglicher Folgeerkrankungen von REINEHR [REINEHR 2020] verdeutlicht, dass der gesamte Organismus betroffen sein kann und die Folgen individuell zu diagnostizieren und therapieren sind.
Anmerkung der Redaktion: Die Abbildung wurde aus urheberrechtlichen Gründen entfernt.
Abb. 2: Auswahl möglicher Folgeerkrankungen der Adipositas im Kindes- und Jugendalter [REINEHR 2020]
2.1.4. Verhaltenstherapie
Um eine passende Prävention- oder Therapieform zu ermitteln, muss differentialdiagnostisch unterschieden werden, ob dem Übergewicht und der Adipositas eine genetische bzw. endokrine Grunderkrankung zugrunde liegt oder ein alimentär bedingtes Übergewicht bzw. bedingte Adipositas (ICD-10, E 66.04 und E 66.05) vorliegt [DIMDI 2019]. Im Folgenden wird nur auf die letztere - für diese Arbeit relevante - eingegangen.
Bei steigender Prävalenz von Übergewicht und Adipositas „ist [es] ein angemessenes Ziel von Prävention und Therapie, bereits die Inzidenz und das Ausmaß der Adipositas zu stabilisieren“ [REINEHR 2007: 146]. Für präventive und therapeutische Maßnahmen zur Reduktion von Übergewicht und Adipositas sind auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene eine Vielzahl von Akteuren und Aktivitäten zu verzeichnen. „Die in Deutschland geringen Veränderungen der Prävalenz im Bereich der oberen BMI-Perzentile vor der Pubertät geben einen Hinweis darauf, dass in der Adipositasprävention bei Kindern in Deutschland erste Erfolge erzielt worden sind“ [SCHIENKIEWITZ et al. 2019: 1227]. Trotzdem bleibt der weitere Einsatz primärer Präventions- und niederschwelliger Therapiemaßnahmen, allgemeinerer langfristig angelegter Interventionen anzustreben, die den generellen Lebensstil betreffen und sich möglichst ins soziale Umfeld gut integrieren lassen [NORMAND & GIBSON 2020: 540].
Auf die multifaktorielle Begründung von Übergewicht und Adipositas wird überwiegend mit multimodalen Behandlungsprogrammen begegnet [WARSCHBURGER 2005: 46; HILBERT et al. 2017: 25]. Da das alimentär begründete Übergewicht bzw. die Adipositas das Resultat einer höheren Energieaufnahme als Energieumsetzung ist, werden deren Entwicklung überwiegend als Verhaltensproblem angesehen [NORMAND & GIBSON 2020: 537]. Zur Gegenmaßnahme bei Übergewicht und Adipositas gehören verhaltenstherapeutische Verfahren zu den Standards, die den anderen psychologischen Interventionsverfahren als überlegen gelten [ERNST & VAHABZADEH 2007: 239 f.]. Diese bezwecken die „Modifikation ungünstiger und Stabilisierung neu erlernter Bewegungsgewohnheiten, Analyse und Veränderung der auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren für ungünstiges Ess- und Bewegungsverhalten, Bewältigung psychischer und sozialer Folgeprobleme [des Übergewichts und] der Adipositas“ [LEHRKE & LAESSLE 2009: 33]. Der forcierte Abbau unerwünschten Verhaltens ist an den notwendigen Aufbau von Verhaltensalternativen gekoppelt [WARSCHBURGER 2005: 55]. Daher besteht eine Verhaltenstherapie bei Übergewicht und Adipositas zur Induktion der Reduktion der Körpermasse grundsätzlich aus der Vermittlung des Wissens und der Herstellung der Handlungsfähigkeit bezüglich eines gesunden und ausgewogenen Ernährungsmusters und der Steigerung eines angemessenen Bewegungs- und Freizeitverhaltens, wobei für die Dauer der Behandlung (mindestens) ein Jahr empfohlen wird [DEIMEL 2005: 70; PREUSS et al. 2018: 17]. Die Erhöhung der körperlichen Aktivität muss gleichzeitig mit einer Ernährungsanpassung einhergehen, u.a. da ein alleiniges deutliches Energiedefizit über körperliche Aktivität mit einem hohen Zeitaufwand verbunden ist. Dennoch sollte das Bewegungsmanagement als ein wichtiger Therapiebaustein dargestellt werden, da sich insbesondere bei Grundschulkindern die Verbindung von Ernährungs- und Bewegungsschulungen als effektiv herausgestellt hat [HAACK 2009: 67; RING-DIMITRIOU 2015b: 143 f.; PREUSS et al. 2018: 146; PAN et al. 2020: 187].
Um eine langfristige, stabile Verhaltensänderung bei Kindern zu erreichen, sind deren umgebende Subsysteme (u.a. Eltern, Familie, Schule) achtsam einzubeziehen [ERNST & VAHABZADEH 2007: 235; HAACK 2009: 127; WABITSCH 2020]. So erfüllt der Bewegungszuwachs eine für die Therapie wichtige soziale (z.B. gemeinsam bewegen) und adaptive Funktion (Verbesserung der Belastungsgrenze) und führt zur Stärkung physischer und psychosozialer Ressourcen [WAGNER 2010; ZIMMER 2020]. Damit die Veränderung beim Kind intrinsisch motiviert ist und bleiben kann, sollen die Kinder während der Therapie ihr Bedürfnis u.a. nach Wirksamkeit und nach sozialer Eingebundenheit als erfüllt erleben [RYAN & DECI 2017: 90].
Bezüglich lebensstiländernder Zielsetzungen im Bereich der Bewegungstherapie soll über ein dreistufiges Vorgehen ein langfristiger Erfolg initiiert werden [KOCH et al. 2007: 192; HAACK 2009: 67; BÜLBÜL 2020: 7]:
Stufe I: Alltagsaktivitäten intensivieren, z.B. Schulwege oder sonstige Wege aktiv bewältigen Stufe II: Bewegung, Spiel und Sport in die frei verfügbare Zeit integrieren Stufe III: Sportliche Neigung entwickeln, Freizeitsport treiben.
Relevant ist insbesondere die regelmäßige Durchführung körperlicher Aktivität - am besten im Bereich der moderaten aeroben Ausdauer - an mindestens fünf Wochentagen für jeweils 30 Minuten [ERNST & VAHABZADEH 2007: 235; KOCH et al. 2007: 206; GRÖNE-BENTZ 2011: 66; PREUSS et al. 2018: 146]. Die Erhöhung der körperlichen Aktivität ist sowohl initial als auch für die Bewahrung der Reduktion der Körpermasse von Bedeutung [NORMAND & GIBSON 2020: 540]. Es wird dabei wird eine Reduktion von 5% bis 10% des Ausgangswerts der Körpermasse innerhalb von sechs bis zwölf Monaten angestrebt [HILBERT et al. 2017: 27].
Gängige und anerkannte Therapie- und Präventionsprogramme für Kinder im Grundschulalter in Deutschland sind z.B. das Moby Kids (ehemals Moby Dick) Gesundheitsprogramm [PETERSEN 2005: 181] und das OBELDICKS Programm [GRÖNE-BENTZ 2011: 31; KASPAR et al. 2020], die den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter und der Deutschen Adipositasgesellschaft folgen und die Bereiche Bewegung, Ernährung und Verhaltenstraining umfassen. Dabei handelt es sich um ambulante, interdisziplinäre, zielgruppenorientierte Angebote. Die Programmdauer beträgt jeweils ein Jahr und ist mit wöchentlichen Treffen, regelmäßigen Elternveranstaltungen und wöchentlichem Sport verbunden. Beide unterliegen einer wissenschaftlichen Evaluation und können eine Erfolgsquote von ca. 70% nachweisen [HOLTZ 2021]. Der signifikante Nachweis langfristiger Verhaltensänderung aufgrund der Therapie bleibt jedoch meist offen [BROWN et al. 2019: 385]. Außerdem ist z.B. beim Moby Kids Programm - trotz der vorherigen Aufklärung und transparenten The- rapiebedingungen - eine Abbruchquote von 48,5 % festzustellen. Hier und in weiteren Programmen wird als Abbruchgrund oft die mangelnde Motivation und der zeitliche Aufwand genannt [BÜLBÜL 2020: 3].
Zum Ende des Abschnitts 2.1. entwickelt und begründet sich eine Suche und Forderung nach einer Interventionsmöglichkeit, die mit Grundschulkindern eine niederschwellige, in den Alltag integrierbare, Möglichkeit darstellt und dabei funktionelle Beeinträchtigungen und psychosoziale Komorbiditäten reduziert. Zudem soll sie alle Kinder (aus allen Milieus) erreichen.
2.2. Die Rolle der Schule bei der Gesundheitsförderung
2.2.1. Gesundheitsförderung
Die Begrifflichkeit der Gesundheitsförderung (Health Promotion), wird durch die Weltgesundheitsorganisation 1986 durch die Ottawa-Charta verbreitet. Sie umfasst dabei nicht nur einzelne Krankheitsbilder, sondern adressiert eine Verbesserung der gesundheitsrelevanten Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen aller Menschen und fordert, dass jeder Person eine Kompetenzsteigerung und mehr Selbstbestimmung in Bezug auf Gesundheitsfragen ermöglicht werden soll [WHO 1986].
Gesundheitsförderung setzt dabei auf unterschiedlichen Interventionsebenen an. Dabei wird in Verhaltensprävention und Verhältnisprävention unterschieden. Erstere zielt auf eine Änderung von gesundheitsriskantem Verhalten von Einzelnen oder Gruppen ab (z.B. Bewegungskurse), letztere auf Veränderungen der Lebenswelt (z.B. Schulorganisation, Stundenplan) - dem sogenannten Setting [FISCHER 2017; KESSLER 2021]. Die öffentliche Grundschule zeichnet sich durch die Schulpflicht, eine heterogene Schülerschaft und einen hohen Forma- lisierungs- und Strukturierungsgrad aus. Dadurch lassen sich neben verhaltensorientierten Angeboten auch verhältnisbezogene Interventionen umsetzen, die vor allem an den Rahmenbedingungen, Strukturen und Prozessen der Schule ansetzen [STERDT et al. 2015]. Zur Aktualisierung der Vorstellung der Gesundheitsförderung und Prävention als integraler Bestandteil von Schulentwicklung veröffentlicht im Jahr 2012 die Kultusministerkonferenz den Beschluss zur ,Empfehlung zur Gesundheitsförderung und Prävention in der Schule' [KMK 2012]. Zur Förderung von Gesundheit und Sicherheit in Schulen dient das Fachkonzept ,Mit Gesundheit gute Schule entwickeln' der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung als Rahmenwerk [DGUV 2013]. Ein weiteres wichtiges Bezugsdokument stellt das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention aus dem Jahr 2015 dar [BMG 2019]. Gesundheitsförderung an Schulen in Rheinland-Pfalz umfasst auf der Ebene der Verhaltensprävention klassischerweise die Bereiche der Sexualerziehung, Suchtprävention, Erste Hilfe, Ernährung, Sport und Bewegung [BM 2018]. Die schulische Gesundheitsförderung und Prävention betont dabei die Notwendigkeit der Kombination von Verhalten- und Verhältnisprävention [DLUGOSCH & JÄGER 1998]. PHILIPSBORN & GEFFERT sehen dennoch die Möglichkeiten der individuellen Verhaltensprävention als begrenzt an und sehen die Verhältnisprävention als bedeutsamer an [PHILIPSBORN & GEFFERT 2021: 38].
2.2.2. Curriculare Verweise - Verhaltensprävention
Verhaltensbasierte Gesundheitsförderung und Prävention in der Schule umschreibt einen Interventionsansatz, der eher auf die individuellen Determinanten der Gesundheit einzelner Personengruppen (z. B. Schülerinnen und Schüler oder Lehrkräfte) fokussiert ist. Im Vordergrund stehen das Verhalten sowie seine Bedingungen (z. B. Wissen, Einstellungen, Intentionen) und deren gesundheitsförderliche Modifikation. Schulen und schulische Maßnahmen müssen sich vor allem durch den im Schulgesetz verankerten Bildungsauftrag legitimieren [BMG 2017: 102]. Die Gesundheitsförderung wird dabei als integraler Bestandteil des Schullebens begriffen und trägt zur Erfüllung des Erziehungs- und Bildungsauftrags bei [LIßEK 2010: 104]. Die Gesundheitsförderung in der Primarstufe lässt sich in Rheinland - Pfalz thematisch primär dem Teilrahmenplan Sport [MBFJ 2008] und dem Teilrahmenplan Sachunterricht [MBFJ 2006] zuordnen. Der Schulsport stellt für viele Kinder die erste Form des organisierten Sports dar [WEBER et al. 2008: 885]. Dieser ist verpflichtend und curricular bestimmt. Zudem unterliegt er der Bewertung und weist somit auch einen Leistungsaspekt auf [HAACK 2009: 107]. Der Schulsport hat dabei sowohl „den Auftrag die Bewegungs-, Spiel- und Sportkultur zu erschließen, als auch die Entwicklung durch Sport und Bewegung zu fördern“ [SCHMOLL 2010]. Als Ergänzung des regulären Sportunterrichts dient der Sportförderunterricht, um Kindern eine verstärkte bewegungsorientierte Förderung, vor allem die Verbesserung der aeroben Ausdauer, zu ermöglichen [KMK 1999; GRÖNE-BENTZ 2011: 98], jedoch nicht rehabili- tativ zu behandeln. So benötigen „Kinder mit einer BMI-Perzentile von 99,5 und höher fachärztliche oder evtl. stationäre Hilfe. Ein Sportförderunterricht kann hier lediglich unterstützen“ [GRÖNE-BENTZ 2011: 88]. Der Bereich der Health Literacy oder Gesundheitskompetenz wird explizit in der Richtlinie Verbraucherbildung an allgemeinbildenden Schulen aufgegriffen und ausgeführt [BM 2020]. Hier sind insbesondere das Bildungsziel ,Ernährung gesundheitsförderlich gestalten‘ mit den Inhalten der Themen Bewegung, Energiebilanz, Langzeiteffekte, Gesundheit und Leistungsfähigkeit und der Prävention von Übergewicht [BM 2020: 34 f.] und das Bildungsziel ,Das eigene Leben gesundheitsförderlich gestalten' diesbezüglich relevant. Dazu gehört auch die Kompetenz, „dass sie [die Schulkinder] gesundheitsfördernde Handlungsmöglichkeiten und Verhaltensweisen entwickeln und diese als Mittel zur Bewältigung von Entwicklungsaufgaben sowie zur weiteren positiven Gestaltung des Lebens nutzen können“ [BM 2020: 36 f.]. Hinzu kommt das Bildungsziel ,Verantwortung für die eigene Gesundheit übernehmen' mit der Kompetenz für die „Prävention und Gesundheitsförderung Urteile fällen und Entscheidungen zu treffen, die ihre Lebensqualität während des gesamten Lebensverlaufs erhalten oder verbessern“ [BM 2020: 36 f.].
2.2.3. Gesundheitsförderliche Schulentwicklung - Verhältnisprävention
Das wohl wichtigste Instrument der Schule im Rahmen der Verhältnisprävention bzw. im Rahmen gesundheitsförderlicher Schulentwicklung ist das Schulprogramm. An dieser Stelle können Schulen ihre diesbezüglichen Inhalte, Ziele und Maßnahmen verschriftlichen und an diesen ausgerichtet den schulischen Alltag gestalten [LIßEK 2010: 58 f.]. Beim Ansatz einer gesundheitsfördernden Schule wird der Settingansatz aufgegriffen, da er „neben einem umfassenden Gesundheitsverständnis auf verschiedenen Schulebenen (Klassenraum, Schulgebäude, Schulumwelt) ansetzt und alle schulischen Personengruppen (Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Schulleitungen, nicht-unterrichtendes Personal), die einen erheblichen Teil des Tages in der Schule verbringen, gleichermaßen in den Blick nimmt“ [PAULUS & DADACZYNSKI 2020]. Gesundheistförderliche Maßnahmen werden meist mit Methoden des schulbetrieblichen Gesundheitsmanagements umgesetzt [SCHNACK & STÄDTLER 2015: 7 f.]. Zu den bekanntesten Interventionen gehört die Idee ,Bewegte Schule' die bereits 1997 initiiert worden ist [LZG 2001: 10]. Mit einer kompensatorischen Orientierung geht es darum, „Bewegung außerhalb des Sportunterrichts in den täglichen Unterricht, mit dem eigentlichen Ziel, der zunehmenden Bewegungsarmut auf verschiedenen Ebenen entgegenzuwirken“ [POPP 2006: 64] und bedeutet meist ein bewegtes Sitzen mit kurzen Unterbrechungen monotoner Sitzphasen [GRÖNE-BENTZ 2011: 62]. Ein wichtiges unterstützendes Element für die Umsetzung einer ,Bewegten Schule' ist eine angepasste und bewegungsermöglichende Rhythmisie- rung des Schultages [SCHNACK & STÄDTLER 2015: 8; SCHLEHUFER 2018]. Im Vergleich zu verhaltensbezogenen Interventionsformen gilt die gesundheitsfördernde Schule hinsichtlich ihrer Effekte aufgrund der höheren Komplexität und der Langfristigkeit schwieriger zu evaluieren [PAULUS & DADACZYNSKI 2020].
Ein weiteres Konzept ist die ,Gute gesunde Schule' „die durch Gesundheitsinterventionen ihre Erziehungs- und Bildungsqualität insgesamt zu verbessern versucht und zugleich auch spezifische Gesundheitsbildungsziele verfolgt, die als Teil des Bildungsauftrages der Schule gesetzlich geregelt sind“ [PAULUS & DADACZYNSKI 2020]. Hierbei soll die Gesundheitsförderung als positive Einflussgröße auf Bildungs- und Erziehungsziele im Schulkontext wirken.
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- Citation du texte
- Thorben Hoffmeister (Auteur), 2021, Wandern in der Schule als Unterstützung bewegungsorientierter, verhaltens-therapeutischer Maßnahmen bei Übergewicht und Adipositas in der Primarstufe, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1290912
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