Die Forschungsfrage, welche es in dieser Arbeit übergeordnet zu beantworten gilt, lautet: "Welche Rolle spielt der konzeptionelle Ansatz "Housing First" in Bezug auf die Stigmatisierung wohnungsloser Menschen?". Es soll eine Skizze des Ansatzes von "Housing First" Berlin gezeichnet werden und sein Einfluss bezüglich der Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsprozesse analysiert werden. Schlussendlich soll die Diskussion darüber, ob "Housing First" tatsächlich ein innovativer Lösungsansatz zur Überwindung der Stigmatisierung wohnungsloser Menschen ist, eröffnet werden. Als Arbeitsziel gilt es außerdem, weitere Forschungslücken aufzuzeigen, die zukünftig geschlossen werden sollten.
"In Deutschland muss doch niemand obdachlos sein". Annahmen, wie diese sind weit verbreitet und implizieren, dass auf der Straße lebende Menschen zwangsläufig selbst die Schuld für ihre Situation tragen. Der überwiegende Teil der deutschen Bevölkerung glaubt, die Situation Wohnungsloser sei größtenteils "selbst verschuldet". Die Stigmatisierung wohnungsloser Menschen zieht sich durch alle Lebensbereiche: Angefangen bei Vorurteilen und Ignoranz gegenüber wohnungslosen Menschen im Alltag bis hin zu Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen in behördlichen Einrichtungen. In der Konsequenz sorgen diese Mechanismen für eine Abwertung Wohnungsloser in der Gesellschaft, die sich letztlich in der Hasskriminalität und Gewalt gegenüber ihnen äußert.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Forschungsstand
3. Das Stigma-Konzept nach Erving Goffman
3.1 Definition und Begriffserklärung
3.2 Zur Entstehung eines Stigmas
3.3 Das Stigma-Management und seine Folgen
4. Wohnungslosigkeit in Deutschland
4.1 Die Lebenssituation wohnungsloser Menschen in Deutschland
4.2 Ursachen und Faktoren der Wohnungslosigkeit
4.2.1 Ursachen auf der strukturellen Ebene
4.2.2 Ursachen auf der individuellen Ebene
5. Hilfsansätze der Wohnungslosenarbeit
5.1 Hilfseinrichtungen und das Stufensystem
5.2 Kritik am tradierten Hilfssystem
5.3 Housing First als neuer Ansatz der Wohnungslosenhilfe
6. Die Stigmatisierung wohnungsloser Menschen
6.1 Vorurteile und soziale Ausgrenzung
6.2 Räumliche Ausgrenzung und Vertreibung
6.3 Gewalt und Hasskriminalität gegenüber Wohnungslosen
7. Housing First als innovativer Lösungsansatz zur Überwindung der Stigmatisierung?
8. Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„In Deutschland muss doch niemand obdachlos sein”. Annahmen, wie diese sind weit verbreitet und implizieren, dass auf der Straße lebende Menschen zwangsläufig selbst die Schuld für ihre Situation tragen. Der überwiegende Teil der deutschen Bevölkerung glaubt, die Situation Wohnungsloser sei größtenteils “selbst verschuldet” (Geißler 2014: 243). Die Stigmatisierung wohnungsloser Menschen zieht sich durch alle Lebensbereiche: Angefangen bei Vorurteilen und Ignoranz gegenüber wohnungslosen Menschen im Alltag bis hin zu Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen in behördlichen Einrichtungen. In der Konsequenz sorgen diese Mechanismen für eine Abwertung Wohnungsloser in der Gesellschaft, die sich letztlich in der Hasskriminalität und Gewalt gegenüber ihnen äußert Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (kurz: BAG W), eine Arbeitsgemeinschaft aus privatem sowie öffentlichem Sektor, schätzt die Jahresgesamtzahl aller wohnungslosen Menschen in Deutschland auf etwa 417.000 (vgl. BAG W 2021). Die Zahl der wohnungslosen Menschen im „Wohnungslosensektor” (ebd.), die Schätzung, in der geflüchtete Menschen nicht mit inbegriffen sind, hat sich im Zeitverlauf von 2018 bis 2020 sogar um 8 % erhöht (vgl. ebd.). Mit dem zunehmenden Andrang auf Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe verliert die Prämisse, Woh- nungslosigkeit sei eine nicht beeinflussbare Gegebenheit, an Legitimität. Unter anderem deshalb starteten in den vergangenen Jahren in den verschiedensten Ländern weltweit Projekte eines Ansatzes namens Housing First. So auch Housing First Berlin, welches im Oktober 2018 mit zwei Modellprojekten an den Start ging. Der Ansatz nutzt - Berichten zufolge - einen gänzlich neuen Ausgangspunkt zur Verringerung von Wohnungslosigkeit, der sich stark von dem der herkömmlichen Wohnungslosenarbeit unterscheidet. Die Basis aller Bemühungen, Betroffenen ein neues Leben in sicheren Wohnverhältnissen zu ermöglichen, stellt eine dauerhafte Wohnung für Teilnehmende dar, die an keinerlei Bedingungen geknüpft ist. Der Ansatz verspricht, die Individualität der einzelnen Schicksale wohnungsloser Menschen stärker zu berücksichtigen und somit eine innovative Methode zur Überwindung der Wohnungslosigkeit zu schaffen (vgl. Lippert 2014: 56).
Eine Dimension der Wohnungslosigkeit, die in der Diskussion um das Thema nur wenig angesprochen wird, ist die der Stigmatisierung. Trotz der Zunahme an Forschung zum Thema Obdach- und Wohnungslosigkeit in den letzten Jahren, gibt es bisher nur wenige Studien zur Stigmatisierung. An dieser Forschungslücke setzt die folgende Arbeit an. Wenngleich wohnungslose Menschen nur einen geringen prozentualen Anteil der Gesamtbevölkerung ausmachen, betrifft die Betrachtung der Stigmatisierungstendenzen die gesamte Gesellschaft und hat somit eine maßgebliche gesellschaftliche Relevanz. Schließlich hat jede*r schon einmal einen wohnungslosen Menschen auf der Straße gesehen und möglicherweise daraufhin, mehr oder weniger bewusst, Annahmen über diesen getroffen. Auch für wohnungslose Menschen selbst stellen neue Erkenntnisse zu den zuvor angesprochenen Mechanismen ein wichtigstes Instrument dar. Denn nur so kann eine Grundlage für politische Entscheidungen geschaffen werden, die die Lebenssituation Wohnungsloser verbessern. Darüber hinaus stellt die Forschung zur Wohnungslosigkeit einen substanziellen Beitrag zur Forschung marginalisierter und diskriminierter gesellschaftlicher Gruppen dar.
Die Forschungsfrage, welche es in dieser Arbeit übergeordnet zu beantworten gilt, lautet: „Welche Rolle spielt der konzeptionelle Ansatz Housing First in Bezug auf die Stigmatisierung wohnungsloser Menschen?”. Es soll eine Skizze des Ansatzes von Housing First Berlin gezeichnet werden und sein Einfluss bezüglich der Stigma- tisierungs- und Ausgrenzungsprozesse analysiert werden. Schlussendlich soll die Diskussion darüber, ob Housing First tatsächlich ein innovativer Lösungsansatz zur Überwindung der Stigmatisierung wohnungsloser Menschen ist, eröffnet werden. Als Arbeitsziel gilt es außerdem, weitere Forschungslücken aufzuzeigen, die zukünftig geschlossen werden sollten.
Um diese Betrachtung zu ermöglichen, wird in Kapitel zwei zunächst der Forschungsstand der Wissenschaft zum Thema Wohnungslosigkeit zusammengefasst. Um den theoretischen Hintergrund zu erläutern, wird im dritten Kapitel das Stigma- Konzept unter Bezugnahme auf das Werk „Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität” (1975) von Erving Goffman vorgestellt und nach der Begriffserklärung auf die Entstehung eines Stigmas sowie auf das sogenannte Stigma- Management eingegangen. Beendet wird das Kapitel mit der Betrachtung der Folgen einer Stigmatisierung. Das vierte Kapitel befasst sich mit den Grundlagen von Woh- nungslosigkeit. Während zunächst die wichtigsten Zahlen einen Überblick über die Problemsituation ermöglichen, wird folglich auf die Lebenssituation wohnungsloser Menschen in Deutschland eingegangen. Dazu wird sich auf zwei Forschungsberichte der Alice-Salomon-Hochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik Berlin bezogen, in denen die systematische „Lebenslagenuntersuchung wohnungsloser Menschen” im Abstand von drei Jahren wiederholt wurde. Aus diesen Berichten gehen Informationen über die Situation wohnungsloser Menschen hervor, die die Grundlage für das nachfolgende Kapitel bilden. Dieses wird die verschiedenen Hauptauslöser bzw. Ursachen für Wege in die Wohnungslosigkeit skizzieren. Dabei wird grundlegend zwischen strukturellen und individuellen Ursachen unterschieden. Im fünften Kapitel werden die herkömmlichen Hilfsansätze zur Verringerung der Wohnungslo- sigkeit vorgestellt und auf das in Deutschland genutzte Stufensystem eingegangen. Es werden außerdem das Konzept von Housing First sowie die Implementierung des Ansatzes in Berlin vorgestellt. Im sechsten Teil wird das Stigma-Konzept von Goff- man mit den Lebensrealitäten wohnungsloser Menschen verknüpft, indem auf die Stigmatisierung wohnungsloser Menschen in allen Lebensbereichen eingegangen wird. Nachdem zunächst die soziale Ausgrenzung Wohnungsloser in diversen Lebensbereichen dargestellt wird, geht es im Weiteren um die räumliche Ausgrenzung sowie um die Gewalt gegen Wohnungslose. Das siebte Kapitel befasst sich mit der Frage, ob Housing First als innovativer Lösungsansatz zur Überwindung der Stigmatisierung dient. Es folgen einige Empfehlungen für den zukünftigen Umgang mit dem Thema Entstigmatisierung. Im abschließenden Kapitel folgt eine kritische Reflexion der Vorgehensweise innerhalb der Arbeit sowie der Hinweis auf Forschungslücken zum Thema. Außerdem werden die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst und ein Fazit gezogen. Beendet wird die Arbeit mit einem Zukunftsausblick auf die mögliche Entwicklung von Housing First und die Stigmatisierungstendenzen bezüglich wohnungsloser Menschen.
2. Forschungsstand
Theoretische Ansätze und Modelle zum Thema Obdach- und Wohnungslosigkeit gibt es einige; repräsentative und ausschlaggebende Studien zum Thema allerdings bedeutend weniger. Noch immer gilt das Forschungsfeld als „randständig" (vgl. Lud- wig-Mayerhofer 2008: 503).
Um den Forschungsstand zu skizzieren, ist es zunächst notwendig, die Begriffe Wohnungslosigkeit, Obdachlosigkeit und Wohnungsnotfall zu definieren. In der Literatur zum Themenkomplex der Obdach- und Wohnungslosigkeit existieren verschiedenste Begrifflichkeiten und Definitionen, die eine teils unterschiedliche Bedeutung haben. Dieser Umstand wird damit begründet, dass die Fachterminologie rund um das Thema Wohnungslosigkeit aufgrund neuer Erkenntnisse stets angepasst und modifiziert werden muss (vgl. Schuler-Wallner 2007: 207). Aus diesem Grund wird sich innerhalb dieser Arbeit auf jene aktuellen Definitionen beschränkt, die am meisten in der aktuellen Fachliteratur rezitiert und genutzt werden.
Wohnungslos sind nach Definition des Armuts- und Reichtumsberichts des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (kurz: BMAS) alle Personen, die „nicht über ein dauerhaftes und reguläres Mietverhältnis oder Wohneigentum verfügen” (BMAS 2019: 33). Im Kontrast dazu werden „Normalwohnverhältnisse” (BMAS 2019: 33) als “unbefristete Wohnverhältnisse oder die Verfügung über Wohnraum” benannt (ebd.). Mit dem Begriff der Obdachlosigkeit werden in der Literatur mehrheitlich „sichtbar auf der Straße lebende Menschen” (Gerull 2021: 135) bezeichnet. Obdachlose Menschen gehören demnach gleichzeitig auch der Gruppe der Wohnungslosen an, wobei der Begriff Wohnungslosigkeit übergeordnet zu verstehen ist. Ein jüngst in der Fachsprache aufgekommener Begriff, der auf die Differenzierung zwischen Obdach- und Wohnungslosigkeit verzichtet, ist der des Wohnungsnotfalls. Unter Wohnungsnotfall werden jene Menschen, die einen „Wohnungsbedarf von hoher Dringlichkeit” (Schuler-Wallner 2007: 207) haben, verstanden, die einer „besonderen institutionellen Unterstützung zur Erlangung und zum Erhalt von [...] Wohnraum bedürfen” (ebd.). Aktuell wohnungslose Personen, ebenso wie Personen, die in „unzumut- baren Wohnverhältnissen leben” (ebd.) zählen in diese Definition mit ein. Auch, wer bereits eine Wohnung gefunden hat, derzeit aber noch zusätzlich präventiv unterstützt wird, wird hier mit einbezogen (vgl. Schuler-Wallner 2007: 208). Eine weitere Art, die kritische Wohnsituationen von Menschen zu kategorisieren, stellt die „Europäische Typologie für Wohnungslosigkeit” der European Federation of National Organisations Working with the Homeless (kurz: FEANTSA) dar. Innerhalb dieser wird zwischen den vier Überkategorien „Unzureichendes Wohnen”, „Ungesichertes Wohnen”, „Wohnungslos" und „Obdachlos” unterschieden, die wiederum in 13 operative Kategorien aufgefächert sind. Das Verständnis von Obdach- und Wohnungslosigkeit innerhalb dieser Typologie schließt sich weitestgehend den zuvor genannten Definitionen an. Die Typologie umfasst jedoch auch jene Menschen, die von Gewalt oder Zwangsräumung bedroht sind oder „in ungeeigneten Räumen wohnen” (FEANTSA 2022). Die Typologie arbeitet demnach deutlich differenzierter und unterscheidet, je nach wohnsituativer Gegebenheit, in welcher Kategorie jemand einzuordnen ist. Dem Begriff der Wohnungslosigkeit kommt in der folgenden Arbeit eine übergeordnete Rolle zu. Er wird hauptsächlich genutzt, unter anderem weil sich der größte Teil der genutzten Literatur auf diesen Begriff bezieht.
Bei der Betrachtung des Forschungsstandes zum Thema Wohnungslosigkeit fällt zunächst auf, dass viele Studien im Auftrag von Kommunen und Bundesländern erhoben werden und sich deshalb auf die regionalen Aspekte dieser beschränken (zum Beispiel Farhauer / Kröll 2012 über den Wohnungsmarkt in Nordrhein-Westfalen).
Zurzeit gewinnt das Thema der Wohnungslosigkeit jedoch an Relevanz auf der politischen Agenda. Der Koalitionsvertrag 2021 - 2025 zwischen der SPD, dem Bündnis 90 / die Grünen und der FPD hält das Ziel fest, bis zum Jahr 2030 „Obdach- und Wohnungslosigkeit zu überwinden” (Koalitionsvertrag der 20. Wahlperiode des Bundestages: 92). Um dieses Ziel zu erreichen, werden in der aktuellen 20. Legislaturperiode des deutschen Bundestages einige Maßnahmen eingeleitet. So wird es in diesem Jahr eine erste bundesweite Zählung wohnungsloser Menschen durch das Statistische Bundesamt geben (vgl. Statistisches Bundesamt 2022). Infolge des Wohnungslosenberichterstattungsgesetzes (kurz: WoBerichtsG) vom 4. März 2020, wird außer- dem vom Statistischen Bundesamt eine erste bundesweite Statistik für wohnungslose Personen erhoben. Ihr Ziel ist die „Verbesserung der Armuts- und Reichtumsberichterstattung” (§ 1 WoBerichtsG) Deutschlands. Es lässt sich vermuten, dass aus diesen Erhebungen neue Grundlagen für die Forschung zur Wohnungslosigkeit geschaffen werden.
Zur sozialstrukturellen Einordnung wohnungsloser Menschen in Deutschland bieten mehrere Werke eine Orientierung. Auch zur Geschichte der Wohnungslosigkeit gibt es eine Vielzahl von Texten. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe spielt für die Interessenvertretung Wohnungsloser in Deutschland eine maßgebliche Rolle, indem sie unter anderem für die Bereitstellung diverser Daten zum Thema zuständig ist. Susanne Gerull liefert mit ihrer Forschung an der Alice-Salomon-Hoch- schule Berlin Studien und Impulse rund um die Themen „Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und niedrigschwellige Sozialarbeit” (Gerull 2022b). Sie übernahm zudem die Projektleitung für das Modellprojekt Housing First Berlin, auf das im Kapitel 5.3 näher eingegangen wird, und betreut die dazugehörigen Evaluationen (vgl. Housing First Berlin 2021). Ihre beiden Studien zu den Lebenslagen wohnungsloser Menschen bringen aussagekräftige Ergebnisse in die Debatte zum Thema Woh- nungslosigkeit ein, da sie repräsentativ für die Gruppe der „akut wohnungslosen erwachsenen” (Gerull 2018: 3) Menschen in diakonischen Hilfssystemen sind. Dieser Umstand begründet allerdings auch, dass obdach- und wohnungslose Menschen, die keine Hilfe beziehen, nicht in die Befragung mit einbezogen werden. Des Weiteren veröffentlichte Gerull 2016 eine qualitative Studie zu den Wegen aus der Wohnungs- losigkeit, in denen Personen, „die einzelne oder mehrere Phasen von (unfreiwilliger) Wohnungslosigkeit überwinden konnten” (Gerull 2016) befragt wurden. Mit dieser Studie bringt sie eine neue Perspektive mit in den Fachdiskurs ein, nämlich die der Betroffenen. Ein großer Teil der Forschung befasst sich bislang vordergründig mit verschiedenen Hilfesystemen der Wohnungslosigkeit und ihrer Funktionsweise sowie Effektivität aus der Perspektive Außenstehender.
Zum Thema Housing First gibt es sowohl auf internationaler Ebene, als auch für das Berliner Projekt einige Evaluationen und Forschungsberichte. Volker Busch- Geertsema von der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung Bremen (kurz: GISS) ist der Verfasser des Final Reports, zum auf europäischer Ebene bestehenden Projekt Housing First Europe, sowie zahlreicher Beiträge in Zeitschriften und Sammelbänden zum Thema „Wohnung als Grundvoraussetzung”. Für Finnland als eines der Länder, die mit Housing First einen großen Erfolg verzeichnen, gilt Juha Kaakinen als einer der wichtigsten Vertreter. Neben seiner Funktion als Geschäftsführer der Y-Foundation, die Wohnungen für das Projekt in Finnland zur Verfügung stellt, ist er gleichzeitig Autor mehrerer Beiträge zum Thema.
Trotz der zuvor genannten wichtigen Beiträge, kann insgesamt von einer lückenhaften Forschungslage zum Thema Wohnungslosigkeit gesprochen werden. Gründe dafür sind fehlende Daten, da nicht jede*r zu seiner*ihrer Lebenssituation befragt werden möchte, weil das Thema Wohnungslosigkeit für viele Betroffene mit einem Stigma verbunden ist (dazu in den Kapiteln sechs und sieben mehr). In den Zustand der geringen Forschungslage spielt neben dem Aspekt der Scham auch die Problematik der Erreichbarkeit Obdach- und Wohnungsloser mit ein. Neben der Scham lässt sich eine erschwerte Erreichbarkeit Obdach- und Wohnungsloser als Grund für die mangelnde Forschungslage identifizieren.
Die Zusammenführung der Themen Wohnungslosigkeit und Stigma (nach Erving Goffman) hat in der Vergangenheit nur innerhalb vereinzelter Beiträge oder Werke (unter anderem Malyssek / Störch 2021; Gerull 2021; Amesberger et al. 2021) stattgefunden. Es existiert folglich nur wenig tiefergehende Forschung zur Stigmatisierung Wohnungsloser. An diese Lücke soll die vorliegende Arbeit anschließen, denn die weitreichenden Stigmatisierungstendenzen bezüglich Wohnungsloser in allen Lebensbereichen beeinflussen zweifelsohne die Lebensrealität vieler Menschen und sollten daher unbedingt berücksichtigt werden.
Es ist an dieser Stelle wichtig, den Inhalt der Arbeit auf jene Menschen einzugrenzen, die unfreiwillig wohnungslos sind. Denn auch wenn es nicht möglich ist, eine Aussage über alle Betroffenen von Wohnungslosigkeit zu treffen, haben einige Studien mit hoher Übereinstimmung ergeben, „dass wohnungs- und obdachlose Menschen in der überwiegenden Anzahl unter normalen Wohnbedingungen leben wollen” (Schuler- Wallner 2007: 222). Die Dynamiken hinter der freiwilligen Wohnungslosigkeit werden in diesem Rahmen nicht weiter einbezogen.
3. Das Stigma-Konzept nach Erving Goffman
Als theoretischer Bezugsrahmen der Arbeit dient das soziale Phänomen „Stigma” bzw. der Stigmatisierungsansatz nach Erving Goffman. Um das Konzept darzustellen, wird zunächst die Herkunft des Wortes Stigma skizziert und eine detaillierte Begriffserklärung angeführt. Ferner wird auf die Entstehung des Stigmas sowie das Stigma-Management und die Auswirkungen für die Lebensführung der Betroffenen eingegangen. Als Grundlage dient im Folgenden die deutsche Übersetzung „Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität” (1975). Vorab ist es wichtig zu betonen, dass sich in diesem Werk eines veralteten Sprachgebrauchs bedient wird, der in dieser Form heute so nicht mehr genutzt würde. Das Zitieren einzelner Wörter und Textpassagen dient lediglich der korrekten Wiedergabe des Inhalts.
3.1 Definition und Begriffserklärung
Die Bedeutung des Begriffes Stigma hat sich mit den verschiedenen geschichtlichen Zeitabschnitten bedeutsam gewandelt. So wurde der Begriff bei den Griechen genutzt, um “Ungewöhnliches oder Schlechtes über den moralischen Zustand” (Goffman 1975: 9) des*der Betroffenen zu kennzeichnen. Die durch das Hinzufügen eines für alle sichtbaren Zeichens „rituell für unrein erklärte Person” (ebd.: 9) wurde folglich von der restlichen Bevölkerung gemieden. Dieses Ritual sorgte folglich für die soziale Exklusion Betroffener aus der Gesellschaft.
Goffman hingegen beschreibt mit dem Begriff „die Situation des Individuums, das von vollständiger sozialer Akzeptierung ausgeschlossen ist” (ebd.: 7). Im Laufe des „Sozialisationsprozesses” (ebd.: 45) eines Individuums erlernt dieses Standards bzw. Ideale (Verhaltensweisen, Merkmale, Eigenschaften), die in der Gesellschaft von den Individuen als „normal” angesehen werden. Ein Stigma kennzeichnet sich nach seinem Verständnis dadurch, dass es zu einer Diskreditierung des betroffenen Individuums führt. Auf diese Weise wird dem Individuum der Status als „normal”, von der Außenwelt, in dessen Wahrnehmung es sich „abweichend” verhält, aberkannt. In diesem Prozess werden „normale”, gesellschaftlich akzeptierte Personen zu jenen, die eine „beschädigte Identität” haben (vgl. ebd.: 11).
Goffman unterscheidet außerdem zwischen zwei verschiedenen Formen der Identität: der virtualen und der aktualen. Die „virtuale soziale Identität” (ebd.: 10) entspricht der erwarteten bzw. antizipierten Identität. Sie steht für das, was ein Individuum nach den gesellschaftlichen Erwartungen sein sollte. Die „aktuale soziale Identität” (ebd.) hingegen ist die tatsächliche Identität eines Individuums, das heißt seine realen Merkmale. Mit dem Begriff Merkmal sind sowohl die Verhaltensweisen, als auch die Eigenschaften einer Person gemeint. Die Differenz bzw. der Kontrast zwischen beiden Identitäten, also jene Merkmalen, die erwartet, aber nicht erfüllt werden, bezeichnet Goffman als Stigma (vgl. ebd.).
Sprachlich trennt er strikt zwischen den „Normalen” (ebd.: 13), die nicht von normativen Erwartungen der Gesellschaft abweichen und Personen mit einem Stigma, die als „nicht ganz menschlich” (ebd.) angesehen werden. Er grenzt diese Begriffstrennung am Ende des Werkes jedoch ein, indem er hervorhebt, dass diese Überzeichnung als bloßes „Mittel” (ebd.: 156) dient, um seine Analyse über das Stigma anschaulicher und deutlicher zu machen. Außerdem weiche jedes Individuum, je nach Situation, in gewissen Situationen von gesellschaftlichen Normen ab (vgl. ebd.: 169f.).
3.2 Zur Entstehung eines Stigmas
Ein Stigma entsteht nach Goffman dann, wenn eine gewisse „Beziehung zwischen Eigenschaft und Stereotyp” (ebd.: 12) besteht. Demnach ergibt das Verhältnis zwischen der Gesellschaft mit den Erwartungen, die diese stellt, und den Merkmalen des Individuums, das Stigma. Die Gesellschaft stellt jenen Teil dar, der gewisse „Mittel zur Kategorisierung” (ebd.: 9) von Individuen schafft. Nach dieser Logik sind je nach sozialer Kategorie gewisse Verhaltensweisen gewöhnlich und gelten als „natürlich”, während andere davon abweichen (vgl. ebd.: 9f.). Im Ablauf der Entstehung eines Stigmas werden aus sogenannten „Antizipationen” (ebd.: 10) gesellschaftlicher Mitglieder starre „normative Erwartungen” (ebd.), die, teils eher unterbewusst, „rechtmäßig gestellte Anforderungen” (ebd.) beinhalten. Auf diese Weise urteilen „normale Individuen” über die Betroffenen eines Stigmas und die Trennung zwischen dem „Wir” und „die Anderen” bildet ihre Identität (vgl. ebd.: 24). Ob jemand ein Stigma besitzt, kann sich demnach situativ ändern, da es von den jeweiligen Gesellschaftsmitgliedern abhängt. So wird arbeitslosen Menschen von einigen gesellschaftlichen Kreisen Faulheit zugeschrieben und ihnen somit ein Stigma auferlegt, während sie möglicherweise im eigenen Freundeskreis Akzeptanz für ihre Situation erfahren.
3.3 Das Stigma-Management und seine Folgen
Die Folgen eines Stigmas und dessen Auswirkungen für die Lebensführung von Betroffenen stehen im Fokus von Goffmans Überlegungen. Unter dem Begriff „Stigma- Management” (ebd.: 160) fasst er die unterschiedlichen Umgangsweisen von Individuen mit ihrem Stigma zusammen. Dazu wird grundlegend zwischen „diskreditierten” und „diskreditierbaren" Betroffenen unterschieden. Goffman sieht einen maßgeblichen Unterschied darin, ob der Umwelt der Person ein Stigma bekannt ist oder nicht. Ist das Stigma bekannt, wird das Individuum zu einem diskreditierten Besitzenden. Ist das Stigma nicht bekannt - das setzt voraus, dass es nichts mit seiner äußerlichen oder körperlichen Erscheinung zu tun hat - so wird ein Individuum nur als potenziell diskreditierbar eingeordnet (vgl. ebd.: 26). Die Folge aus der Situation der Diskreditierten kann ein „defensives Sichverkriechen” (ebd.: 27) sein, durch das sich Betroffene selbst isolieren oder mit aller Kraft dagegen wehren wollen (vgl. ebd.: 28). Eine andere Situation entsteht, wenn sich beide Parteien, „Normale” und Individuen mit einem Stigma, dazu entscheiden, eine künstliche Normalität vorzutäuschen, indem sie das Stigma dementieren. Dann entsteht etwas, das Goffman als „ScheinNormalität” (ebd.: 152) bezeichnet.
Einen anderen Umgang mit ihrem Stigma pflegen die „Diskreditierbaren”. Die Folge ihrer Situation ist, dass sie eine „Informationskontrolle”(ebd.: 56) („Information control”) mit der Abweichung, über die die Umwelt nicht informiert ist, betreiben. Das heißt, sie sorgen dafür, dass sie als „normal” wahrgenommen werden und niemand von ihrer Abweichung erfährt. Dies bezeichnet Goffman auch als „Täuschen” (ebd.: 57) bzw. „passing” (Goffman 1963: 42), da die tatsächliche Identität verschwiegen wird. Bei der Konfrontation von „normalen” und stigmatisierten Personen entsteht bei den Betroffenen eine Spannung zwischen dem, was Goffman „Ich-Ideal” nennt und dem sogenannten „Ich” (Goffman 1975: 16). Betroffene können sich selbst nicht leiden, kritisieren und verachten sich, wenn sie bemerken, dass sie nicht akzeptiert werden, da sie nicht der Norm entsprechen (vgl. ebd. 23). Ein anderes Resultat kann sein, dass die Beziehungen zu stigmatisierten Personen, aus Angst davor selbst betroffen zu werden, gemieden werden (vgl. ebd.: 43). Die Folge dieses Vorgangs ist erneut die soziale Isolation des stigmatisierten Individuums. Viele Ausübungen von „Diskriminationen” (ebd.: 13) gegen stigmatisierte Individuen sorgen dafür, dass sie zu Außenseiter*innen in bestimmten Personengruppen oder der Gesellschaft gemacht werden. Dieser Umstand wiederum kann im schlimmsten Fall in einer Verringerung der Lebenschancen bzw. sozialen Chancen der Betroffenen resultieren (vgl. ebd.: 13f.).
4. Wohnungslosigkeit in Deutschland
Um den Themenkomplex der Wohnungslosigkeit einzuleiten, erweist es sich zunächst als hilfreich, die Problemsituation jener Menschen darzustellen, die „nicht über ein dauerhaftes und reguläres Mietverhältnis” (BMAS 2019: 33) verfügen. Auch auf das Thema Straßenobdachlosigkeit wird eingegangen.
In Deutschland leben nach aktuellen Daten der BAG Wohnungslosenhilfe etwa 417.000 Menschen ohne Wohnung (BAG W 2021). Da es allerdings noch keine bundesweite Erfassung der Wohnungslosigkeit gibt, auf die sich berufen werden kann, handelt es sich hierbei lediglich um eine Schätzung. Insgesamt lässt sich zwar ein deutlicher Rückgang der Jahresgesamtzahl Wohnungsloser verzeichnen (um 39 % zwischen 2018 und 2020), dies lässt sich allerdings vorwiegend anhand der “stark rückläufige[n] Zahl anerkannter wohnungsloser Geflüchteter” erklären (ebd.). Es gibt daher eine separate Schätzung der Zahl wohnungsloser Menschen in Deutschland, die exklusive Geflüchteter erhoben wird. Diese Zahl hat sich zwischen 2018 und 2020 um 8 % erhöht. Während die Anzahl wohnungsloser Menschen 2018 noch auf 237.000 geschätzt wurde, stieg sie bis zum Jahr 2020 auf 256.000 an (ebd.). Demnach sind 38,61 % aller Wohnungslosen in Deutschland dem “Geflüchtetensektor” zuzuordnen (ebd., eigene Berechnung). Erwachsene Frauen machen, trotz steigender Tendenz, nur ein Drittel der Gesamtzahl aus. Somit ist die Zahl erwachsener männlicher Wohnungsloser deutlich höher (67 %) (ebd.).
Die Klient*innendatenerhebung der BAG W ist eine regelmäßige Erhebung der sozialen Dienste für Wohnungsnotfälle, die ein bundesweit standardisiertes System mit 55 Variablen (u. a. zur Sozialstruktur und zum Hilfeangebot) nutzt. Im Jahr 2019 konnten 223 Einrichtungen und 45.667 Datensätze einbezogen werden (vgl. BAG W 2019). Laut des daraus entstandenen Statistikberichts haben mit 56,3 % über die Hälfte all jener, die Hilfe in einer Einrichtung bekommen, keine abgeschlossene Ausbildung. Während knapp ein Drittel einen „[P]raxisbezogene[n] Berufsabschluss” (BAG W 2019: 24) besitzen, haben 3,8 % einen „[f]ach(hoch)schulbezogene[n] Berufsabschluss” (ebd.). Die Zahl der Menschen in Hilfssystemen, die einen höheren Bildungsabschluss gemacht haben, ist seit 2011 leicht gesunken (vgl. ebd.: 25). Nach den aktuellsten Schätzungen des BAG W sind 70 % aller Wohnungslosen alleinstehend (BAG W 2021). Im Jahr 2020 lebten außerdem schätzungsweise 45.000 Menschen in Deutschland als Straßenobdachlose, also „ohne jede Unterkunft” (ebd.).
4.1 Die Lebenssituation wohnungsloser Menschen in Deutschland
Um nun weiterführend die Lebenssituation wohnungsloser Menschen in der Bundesrepublik Deutschland darstellen zu können, wird sich im Folgenden auf die Forschungsberichte zweier systematischer Lebenslagenuntersuchungen wohnungsloser Menschen der Alice-Salomon-Hochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik Berlin berufen.
Die erste Untersuchung wurde im Jahr 2018 bundesweit unter der Projektleitung von Susanne Gerull durchgeführt und ist repräsentativ für Menschen, die Einrichtungen der „Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe” (Gerull 2018: 3) der Diakonie nutzen und als „akut wohnungslos[...]” (ebd.: 3) eingestuft wurden. Der genutzte Fragebogen bezieht sich auf sechs Lebensbereiche: „Materielle Situation, Erwerbsarbeit, Wohnen, Gesundheit, Sicherheit sowie Partizipation/Soziale Netzwerke” (ebd.: 8). Es wird also danach gefragt, wie es wohnungslosen Menschen in Deutschland geht und, welches die größten Einflussfaktoren für ihr Wohlbefinden sind. Dabei werden sowohl die Wahrnehmung des eigenen Zustandes, als auch objektive Kriterien für das Wohlbefinden berücksichtigt (vgl. ebd.). Die theoretische Basis dafür stellt der Lebenslagenansatz dar, der einen vollständigen Einblick in die Lebenssituation von Menschen ermöglicht. Zudem ermöglicht die Entwicklung eines sogenannten „Lebenslagenindex“ es, die Situation Wohnungsloser umfassend innerhalb fünf Stufen zwischen „sehr gut” und „sehr schlecht” zu verorten (vgl. ebd.: 9). Zunächst ist auffällig, dass nur ein Viertel (25,2 %) der Befragten dem weiblichen Geschlecht angehört, sodass knapp Dreiviertel (74,5 %) der Studienteilnehmenden männlich ist (vgl. Gerull 2018: 13). Dieses Verhältnis ist darauf zurückzuführen, dass weiblich gelesene Personen oftmals verdeckt wohnungslos leben, unter anderem aus Angst vor Gewalt und sexuellen Übergriffen. Zudem gehen einige weibliche Betroffene sogenannte „Zwangspartnerschaften” (ebd.: 24) ein. Sie suchen sich überdies generell deutlich seltener Hilfe als männliche Betroffene (vgl. ebd.) und werden daher in Statistiken und Daten seltener erfasst.
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- Citar trabajo
- Melina Thomsen (Autor), 2022, Wohnungslos und sozial ausgegrenzt. "Housing First" als innovativer Lösungsansatz zur Überwindung der Stigmatisierung wohnungsloser Menschen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1290711
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