Sowohl Friedrich Schiller als auch sein Lehrer Johann Abel erzählen vom Leben des Sonnenwirts, einem bekannten Räuber ihrer Zeit. Inwiefern sich ihre Erzählungen formal, inhaltlich und moralisch unterscheiden, wird in dieser Arbeit erläutert.
Für diese Hausarbeit wurde die erste Fassung Schillers Werks verwendet, die im Vergleich zu der neueren Fassung den Titel "Verbrecher aus Infamie" statt des Titels "Verbrecher aus verlorener Ehre" trägt. Schiller selbst nahm die Veränderungen an Text und Name vor. Maßgebliche Änderungen am Text sind das Kürzen von z.B. Vorwort oder das Auslassen von anstoßenden Begriffen. Diese Änderungen wurden vorgenommen, um die Anstößigkeit des Texts für die allgemeine Masse zu verringern. Aus der literaturwissenschaftlichen Perspektive wird deswegen im Folgenden mit der ungekürzten Fassung gearbeitet. Nicht auszulassen sind hier auch die Beweggründe Schillers für die Namensänderung. Während das Wort Infamie größtenteils juristisch geprägt ist, zeugt die Bezeichnung verlorene Ehre von deutlich mehr gesellschaftlichem Einfluss und Tragweite. Deswegen sollte der neue Titel beim Lesen der Arbeit keineswegs außer Acht gelassen sein.
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
1. Einleitung
2. Hauptteil
2.1. Die Vorreden
2.2. Die Entwicklung Schwans/Wolfs
2.3. Die erzählerische Gestaltung
3. Fazit
4. Anhang
4.1. Primärquellen
4.2. Sekundärquellen
Vorbemerkung
Für die vorliegende Hausarbeit wurde die erste Fassung Schillers Werks verwendet, die im Vergleich zu der neueren Fassung den Titel Verbrecher aus Infamie statt des Titels Verbrecher aus verlorener Ehre trägt. Schiller selbst nahm die Veränderungen an Text und Name vor. Maßgebliche Änderungen am Text sind das Kürzen von z.B. Vorwort oder das Auslassen von anstoßenden Begriffen. Diese Änderungen wurden vorgenommen, um die Anstößigkeit des Texts für die allgemeine Masse zu verringern.1 Aus der literaturwissenschaftlichen Perspektive wird deswegen im Folgenden mit der ungekürzten Fassung gearbeitet. Nicht auszulassen sind hier auch die Beweggründe Schillers für die Namensänderung. Während das Wort Infamie größtenteils juristisch geprägt ist, zeugt die Bezeichnung verlorene Ehre von deutlich mehr gesellschaftlichem Einfluss und Tragweite. Deswegen sollte der neue Titel beim Lesen der Arbeit keineswegs außer Acht gelassen sein.
1. Einleitung
„Die Richter sahen in das Buch der Gesetze, aber nicht einer in die Gemütsfassung des Beklagten.“2
Mit seinem 1786 erschienenem Werk Verbrecher aus Infamie erschuf Schiller ein Novum in der Gattung der Kriminalliteratur. Wo zuvor das Interesse auf der Tat lag, auf deren Aufklärung und Vergeltung, setzte sich Schiller hingegen intensiv mit dem Täter und seinen Beweggründen sowie seiner Hintergrundgeschichte auseinander.3 Als entschiedenes Ziel dabei ist auch Schillers Kritik an der damaligen Justiz, dem Strafrecht und dem Umgang mit Verbrechern auszumachen.4 Schon aus dem vorangegangenem Zitat ist herauszulesen, wie Schiller beklagt, dass bei der Bestrafung eines Verbrechers nie auf dessen Person und Charakter geachtet wird, dass stets nur die Tat und nicht die Tatumstände beurteilt werden.
Obwohl Schillers Justizkritik durchaus revolutionär war, gehen die Meinungen der Forschung über die Modernität seiner Ideen und Argumente im Verbrecher aus Infamie auseinander. So gibt es einerseits das Lager um Klaus Oettinger, das besagt, dass schon wegen Schillers Ausbleiben vom Bezug auf jegliche theologische Horizonte die Kritik sehr modern sei. Schiller unterstütze durch sein Werk das Prinzip der Versöhnung gegenüber dem damals üblichen Prinzip der Vergeltung.5
Die neuere Forschung hingegen, darunter Sophia Averignou oder Achim Auernhammer, bezieht sich insbesondere eben auch auf Schillers theologische Anspielungen im Verbrecher aus Infamie.6 Des Weiteren ist man der Auffassung, dass Schiller Strafen an sich als legitimes Mittel der Vergeltung sehe.7
Inwiefern Schiller moralisch über unseren Protagonisten urteilt, soll im Folgenden genauer untersucht werden. Dafür wird neben Schillers Werk Verbrecher aus Infamie auch das Werk seines Lehrmeisters Johann Friedrich Abel Lebens-Geschichte des Fridrich Schwan, welche sich auf dasselbe historische Vorbild bezieht, herangezogen. Durch einen formalen und inhaltlichen Vergleich soll Schillers Position gegenüber der vergleichsweise objektiveren und faktennäheren Erzählung Abels herauskristallisiert werden.
2. Hauptteil
2.1. Die Vorreden
Sowohl Schiller als auch Abel setzen vor ihre Erzählung eine Vorrede, in der sie die erzählerische Intention ihres jeweiligen Texts erläutern. Während Abel in wenigen Paragraphen seine Vorstellungen niederschreibt8, erörtert Schiller ausgeschmückt über Seiten hinweg seine Vorhaben bezüglich der Wirkung seiner Erzählung (VAI, 562-565).
Abels erklärtes Ziel ist die moralische Bildung. Als „Menschenkenner“ will Abel sein Publikum über Gut und Böse, über die Moral und über Tugend aufklären und sie so zur moralischen Besserung führen.9 Dabei setzt Abel ein Wissen über Gut und Böse als gegeben voraus und die moralische Norm der Gesellschaft als anerkannt. Indem er die Fehltritte des Protagonisten schildert, sollen sie Leser erkennen, „welche Wirkungen auf bestimmte Ursachen folgen“ (LGFS, 29). Schon anhand dieser Formulierung lässt sich erkennen, dass Abel verbrecherische Taten als Folge einer Veranlagung sieht.
Die Geschichte soll also als „Schule der Weißheit“ dienen, wobei diese nur von Belang sei, „sofern sie unsere Empfindungen, Neigungen und Handlungen bestimmt“ (LGFS, 30). Abel will seine Leser über Moral und Weisheit belehren und so das Projekt der Aufklärung voranbringen.10
Ganz anders hingegen schildert Schiller seine Ziele. Genau wie man bei der Physiologie die besten Erkenntnisse durch Leichenöffnungen, Hospitale o.ä. erhält, müsse man mit der Psychologie umgehen. So lerne man am meisten über Moral und Seelenlehre, wenn man sich das Leben eines verbrecherischen Menschen anschaue (Vgl. dazu: VAI, 562). Schiller zweifelt an den festen Maßstäben der gesellschaftlichen Moral, für ihn könne man die Grenzen zwischen Gut und Böse genauso wenig eindeutig ziehen wie zwischen Mensch und Unmensch.11 Schiller will seinen Lesern ein eigenes moralisches Urteil ermöglichen, er appelliert an „die republikanische Freiheit des lesenden Publikums“ (VAI, 564).
Entweder der Leser muß warm werden, wie der Held, oder der Held wie der Leser erkalten. (…) Der Held muß kalt werden wie der Leser, oder, was hier eben so viel sagt, wir müssen mit ihm bekannt werden, eh‘ er handelt, wir müssen ihn seine Handlung nicht bloß vollbringen, sondern auch wollen sehen (VAI, 564).
Um dieses freie Urteil zu ermöglichen will Schiller also dem Publikum mit dem Helden schon vor seinen Taten bekannt machen, zu einer Zeit, in der er noch genau so ein Mensch war, wie der Leser es selbst ist. Schiller lässt den Leser den Protagonisten kennenlernen, als er noch auf derselben moralischen Ebene stand wie er selbst und ermöglicht so einen besseren Vergleich.12 Dadurch will Schiller auch jene „Lücke“ schließen, die durch den Kontrast der Gemütsstimmungen zwischen Leser und Protagonist klafft. Während der Leser ruhiger Stimmung ist, werde der Held häufig von heftigen Gemütsbewegungen getroffen. Um diese Lücke zu schließen, sei es wichtig, diesen Held „kalt“ werden zu lassen, ihn kennenzulernen, als er noch auf der selben Ebene verweilte wie der Leser (Vgl. dazu: VAI, 563-64). So ermöglicht Schiller dem Leser eine Identifizierung mit dem Protagonisten.13
Als Anspruch an seine Erzählung, ja sogar als Anspruch an alle Geschichtsschreiber, sieht Schiller eine neutrale und objektive Erzähltechnik. Dabei spricht sich Schiller explizit dagegen aus, dass Leser durch „hinreißenden Vortrag bestochen“ (VAI, 564) werden. Diese Art schränke nämlich das freie Urteil des Publikums ein – welches Schiller speziell fördern will.
Abel jedoch will die Begebenheiten nicht nur von der moralischen Seite darstellen, sondern sogar mit „Reiz“, „Wärme“ und „Stärke“ ausdrücken (Vgl. dazu: LGFS, 30), um seine Absichten gegenüber dem lesenden Publikum durchzusetzen. Dies entspricht genau dem Gegenteil von Schillers Vorstellung einer richtigen Herangehensweise.
2.2. Die Entwicklung Schwans/Wolfs
Während Schiller seine Erzählung, wie in seiner Vorrede geschildert, mit der Kindheit und dem Aufwachsen seines Protagonisten beginnt, um den Leser nicht bereits in eine urteilende Position zu rücken, nimmt Abel die verbrecherischen Tätigkeiten des Helden vorweg:
Fridrich Schwan (…) ward durch seine Räubereyen und Mordthaten, eben so wie durch seine außerordentliche Kühnheit und Geschicklichkeit, mit welcher er sie begieng, so berühmt, daß er lange der Gegenstand des allgemeinen Schreckens gewesen (…) ist (LGFS, 31).
So wird dem Leser schon beinahe die Möglichkeit genommen, ein eigenes moralischen Urteil zu fällen. Abel inszeniert seine Geschichte nicht als Medium, das jeder frei beurteilen kann, sondern vielmehr als „bloße Übermittlungsinstanz der Wahrheit“.14
Ein entscheidender Unterschied ist auch direkt am Anfang zu erkennen. Abels Held trägt den Namen „Fridrich Schwan“, den die historische Person des Verbrechers ebenfalls trug (mit vollem Namen: Johann Friedrich Schwahn).15 Dies mag als Hinweis dazu dienen, dass Abel im Allgemeinen auch näher an der historischen Wirklichkeit bleibt als Schiller. Als erstes Indiz, dass Schiller den Stoff aus poetischer Freiheit so verändert, dass gesellschaftliche und psychologische Aspekte, die ihn besonders anziehen, hervorstechen,16 dient gewiss Schillers Umbenennung seines Helden. Statt Fridrich Schwan trägt der Protagonist nun den Namen „Christian Wolf“ (Vgl. anhand von: VAI):
Nicht zufällig hat Schiller seinem Helden den sprechenden Namen Christian Wolf gegeben, der die Doppelnatur des Menschen zum Ausdruck bringt, da in Vor- und Nachname die gegensätzlichen Möglichkeiten zum Guten und Bösen hin (…) zusammenwirken.17
Dieser sprechende Name trägt einerseits das Böse anhand von einer Metapher der politischen Zoologie, die Merkmale des „bösen“ Wolfs, in sich18 und andererseits den „guten“ Namen Jesu in Form des Vornamen Christ ian in sich. Dies verdeutlicht Schillers Auffassung, dass der Mensch sowohl gute, als auch böse Teile in sich trägt, bei denen die Möglichkeit besteht, dass sie zu Tage treffen.
Schiller gibt Wolf von Anfang an andere Attribute und Voraussetzungen als Abel seinem Schwan. So wird Wolfs Aussehen als unscheinbar und unangenehm beschrieben: „Die Natur hatte seinen Körper verabsäumt“ (VAI, 565). Abel andererseits bringt direkt seine positiven Veranlagungen zu Ausdruck: „Schwan war von Natur aus mit außerordentlichen Anlagen des Geistes ausgerüstet“ (LGFS, 31). Beide Autoren drücken jeweils entgegengesetzte Tendenzen aus. Wo Abel die Möglichkeiten, die einem Kind gegeben sind, betont, zeigt Schiller die Grenzen auf, die von Natur aus gesetzt sind.19 Des Weiteren lässt Schiller seinen Helden in widrigeren Umständen aufwachsen. Bei Schiller ist Wolfs Vater tot und er muss seiner Mutter bei der Wirtschaft helfen (Vgl. dazu: VAI, 565), während Abel Schwan mit „Eltern, die ihn sehr liebten“ (LGFS, 31) aufwachsen lässt. Bei Schiller wird Wolf schon früh von der Gesellschaft verlacht, sein Anblick ließ alle Frauen zurückschrecken und seine Kameraden von ihm Spaß machen. Diese Verachtung hat schon früh seinen Stolz verletzt (Vgl. dazu: VAI, 566). Statt wie bei Schiller in der Opferrolle inszeniert zu sein, stellt Abel seinen Schwan schon früh als Übeltäter dar: Er sei leidenschaftlich und voll wachsender Begierde, seine Kinderspiele würden allmählich zu boshaften Bubenstücken und schon mit 8 Jahren verginge er sich an den Tieren der Nachbarn (Vgl. dazu: LGFS, 32-33). Von diesen Gewalttaten an Tieren soll daraufhin ein Übergang zu Gewalttaten an Menschen folgen.20
[...]
1 Vgl. dazu: Auernhammer, Achim: Engagiertes Erzählen. „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ In: Ders.: Schiller und die höfische Welt. Tübingen, 1990, 1-2.
2 Schiller, Friedrich: Verbrecher aus Infamie. In: Deutscher-Klassiker-Verlag, 568. Im Folgenden werden die Referenzen auf den Quellentext im Fließtext mit: (VAI, Seitenzahl) angegeben.
3 Vgl. Dazu: Averignou, Sophia: Aufklärerische Botschaft und Erzähltechnik in Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre“. In: German Life and Letters 68, 2014, 3.
4 Oettinger, Klaus: Schillers Erzählung „Der Verbrecher aus Infamie“. Ein Beitrag zur Rechtsaufklärung der Zeit. In: Martini, Fritz. Müller-Seidel, Walter. Zeller, Bernhard: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft. Bd. 16, Stuttgart, 1972, 267.
5 Vgl. dazu: Oettinger: Rechtsaufklärung, 269.
6 Vgl. dazu: Auernhammer: Engagiertes Erzählen, 266.
7 Vgl. dazu: Averignou: Aufklärerische Botschaft und Erzähltechnik, 11.
8 Vgl. dazu: Abel, Jacob Friedrich: Lebens-Geschichte Fridrich Schwans. In: Steinbach, Dietrich: Friedrich Schiller „Verbrecher aus verlorener Ehre“ Jacob Friedrich Abel „Lebens-Geschichte Fridrich Schwans“ mit Materiealien. Stuttgart, 1983, 29-30. Im Folgenden werden die Referenzen auf den Quelltext im Fließtext mit (LGFS, Seitenanzahl) angegeben.
9 Vgl. dazu: Kirchmeier, Christian: Die Moral des Verbrechers (Krippendorf, Schiller, Abel). In: Ebd.: Moral und Literatur. München, 2013, 17.
10 Vgl. dazu: Kirchmeier: Moral, 18.
11 Vgl. dazu: Kirchmeier: Moral, 11.
12 Vgl. dazu: Kirchmeier: Moral, 11.
13 Vgl. dazu: Kirchmeier, Moral, 11.
14 Vgl. dazu: Kirchmeier: Moral, 18.
15 Vgl. dazu: Kirchmeier: Moral, 7.
16 Vgl. dazu: Auernhammer: Engagiertes Erzählen, 254-55.
17 Vgl. dazu: Auernhammer: Engagiertes Erzählen, 258.
18 Vgl. dazu: Borgards, Roland: Hirsche, Schweine, Hasen. Zum Tierbestand in Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre und Abels Lebens-Geschichte Friedrich Schwans. In: Riedel, Wolfgang: Würzburger Schiller-Vorträge 2009. Würzburg, 2011, 65.
19 Vgl. dazu: Borgards: Tierbestand, 66.
20 Vgl. dazu: Borgards: Tierbestand, 67.
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- Anonym,, 2022, Moralische Urteile über den Protagonisten in "Verbrecher aus Infamie" (Schiller) und "Lebens-Geschichte Fridrich Schwans" (Abel). Ein formaler und inhaltlicher Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1290034
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