Warum nimmt die Demokratiequalität in den Visegrád-Staaten ab? Wie beeinflussen die Regierungsparteien die Demokratiequalität? Eine vergleichende Analyse der Demokratiequalität anhand des Freedom-House-Index (FHI) und des Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung (BTI) zwischen Ungarn und der Slowakei.
Durch die EU-Osterweiterung im Jahr 2004 sollte ein neuer Meilenstein für die Europäische Union (EU) gelegt werden. Man wollte sich politisch und wirtschaftlich für die kommende Jahre aufrüsten und dem großen Nachbarn Russland zeigen, dass nach dem Kalten Krieg und dem Fall des Eisernen Vorhangs nun eine neue Zeit anbrechen sollte. Wirtschaftlich gesehen ist die Erweiterung des EU-Marktes, der Wegfall von Zoll und Tarifbestimmungen sowie Arbeitskräftemigration ökonomisch gesehen ein Erfolg. Den (teils) ehemaligen Sowjetländer ist ein wirtschaftlicher Aufschwung anzusehen. Jedoch ist dies nur eine Seite der Medaille. Außen- sowie innenpolitisch steht die EU immer mehr unter einer Zerreißprobe. Die Flüchtlingskrise, der Umgang mit den Medien, Minderheitenschutz, Wahlerfolge für populistische Parteien, Strafverfahren gegen Ungarn und Polen vor dem EuGH, Demokratieverständnis sowie zuletzt öffentliche Anschuldigungen und Debatten zeigen klare Diskrepanzen und unterschiedliche Werteansichten. Die liberale Demokratie gerät in den östlichen EU-Ländern unter Druck. Dies trifft vor allem bei den Visegrád-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei zu. Deswegen soll der Fokus dieser Hausarbeit eben auf diese Visegrád-Länder, auch die V4 genannt, liegen, da diese als „Problemkinder“ in der EU gelten und auffallen. Im Falle Polen ist es in den letzten Veröffentlichungen des Freedom House Demokratie Indexes zu einer stetigen Abnahme des Gesamtindexes gekommen und in Ungarn, welches von Viktor Orbán seit 2010 geführt wird, sogar zur Herabstufung "partly-free". "Crisis rather than consolidation seems the best way to describe the current situation in Central and Eastern Europe." Ausgehend davon behandelt diese Arbeit sich mit der Frage: Warum nimmt die Demokratiequalität in den Visegrád-Staaten ab? Wie beeinflussen die Regierungsparteien die Demokratiequalität?
1. Einleitung
Durch die EU-Osterweiterung im Jahr 2004 sollte ein neuer Meilenstein für die Europäische Union (EU) gelegt werden. Man wollte sich politisch und wirtschaftlich für die kommende Jahre aufrüsten und dem großen Nachbarn Russland zeigen, dass nach dem Kalten Krieg und dem Fall des Eisernen Vorhangs nun eine neue Zeit anbrechen sollte. Wirtschaftlich gesehen ist die Erweiterung des EU-Marktes, der Wegfall von Zoll und Tarifbestimmungen sowie Arbeitskräftemigration ökonomisch gesehen ein Erfolg. Den (teils) ehemaligen Sowjetländer ist ein wirtschaftlicher Aufschwung anzusehen (Bundeszentrale für politische Bildung 2019). Jedoch ist dies nur eine Seite der Medaille. Außen- sowie innenpolitisch steht die EU immer mehr unter einer Zerreißprobe. Die Flüchtlingskrise, der Umgang mit den Medien, Minderheitenschutz, Wahlerfolge für populistische Parteien, Strafverfahren gegen Ungarn und Polen vor dem EuGH, Demokratieverständnis sowie zuletzt öffentliche Anschuldigungen und Debatten zeigen klare Diskrepanzen und unterschiedliche Werteansichten. Die liberale Demokratie gerät in den östlichen EU-Länder unter Druck. Dies trifft vor allem bei den Visegrád-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei zu (Süddeutsche Online 2020). Deswegen soll der Fokus dieser Hausarbeit eben auf diese Visegrád-Länder, auch die V4 genannt, liegen, da diese als „Problemkinder“ in der EU gelten und auffallen. Im Falle Polen ist es in den letzten Veröffentlichungen des Freedom House Demokratie Indexes zu einer stetigen Abnahme des Gesamtindexes gekommen und in Ungarn, welches von Viktor Orbán seit 2010 geführt wird sogar zur Herabstufung „partly-free“ (FHI 2021a .) „Crisis rather than consolidation seems the best way to describe the current situation in Central and Easter Europe.“ (Blokker 2014, S.2). Ausgehend davon behandelt diese Arbeit sich mit der Frage: Warum nimmt die Demokratiequalität in den Visegrád-Staaten ab? Wie beeinflussen die Regierungsparteien die Demokratiequalität? Hierfür wird die Demokratiequalität der beiden Länder Polen und die Slowakei mit dem Most Similar System Design (MSSD) anhand der Theorie der „embedded democracy“ von Merkel et al. (2003) untersucht. Diese stellt die Grundlage, da sie die Graubereiche zwischen Demokratie und Nicht-Demokratie differenziert dastellt (Stoiber et al. 2020, S.106). Durch die Untersuchung von Teilregimen nach Merkel können so Defekte festgestellt werden und deren Ursache, um die Demokratien nach den jeweiligen theoretischen Subtypen defekter Demokratien einzuordnen.
Hierfür wird im Schritt der Operationalisierung die Demokratiequalität anhand der Indikatoren vom Freedom House Index (FHI) und des Bertelsmann Transformation Index (BTI) in den letzten 15 Jahren gemessen. Zudem wird anhand des Konzepts über Rechtspopulismus von Decker und Lewandowsky (Decker und Lewandowsky 2010) im Verbund mit dem Timbro Authoritarian Populism Index (TAP) geprüft, ob eine rechtspopulistische Partei an der Regierungsmacht war bzw. ist. Denn die aufgestellte Hypothese lautet: Rechtspopulistische Regierungsparteien in den Visegrád-Staaten fördern die Entwicklung von defekten Demokratien. Auf diese Weise sollen demokratische (Rück)-Entwicklungen anhand der Staaten Ungarn und der Slowakei aufgedeckt und erklärt werde.
2. Theoretische Grundlagen
2.1 Embedded Democracy
Nach Merkels Konzept der embedded democracy lässt sich eine stabile konsolidierte Demokratie durch ihre interne und externe Einbettung erkennen. Sein Demokratiekonzept versteht sich somit als Präzisierung des Polyarchiekonzepts von Robert Dahl (Merkel 2004). Die externe Einbettung erfolgt durch drei Rahmen. Den ökonomischen sowie sozialen Rahmen, die Zivilgesellschaft und die staatliche Sphäre (Merkel 2004, S.7). Dadurch ist die Demokratie gegen interne- und externe Schocks und Destabilisierung geschützt. Die Interne Einbettung (engl. embedding) wird durch die Interdependenz der fünf unabhängigen Teilregimen sichergestellt. Dabei hat jedes Teilregime seine eigenen Normen, an sich selbst aber auch an die gesamte Demokratie, und kann sich autonom und unabhängig entwickeln.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1 Quelle: Merkel 2004, S. 8
Das Teilregime A (Wahlregime) ist dabei der zentrale Punkt im Konzept der eingebetteten Demokratie, da es die wichtigste Minimalanforderung an ein demokratisches System stellt. Durch einen offenen pluralistischen Wettbewerb für die Wählergunst wird der Machtzugang und zugleich die Machtkontrolle, ggfs. durch die Abwahl, geregelt. Es nimmt unter den Teilregimen der embedded democracy die zentrale Position ein […] zum anderen stellt es aufgrund der offenen Konkurrenz um die zentrale Herrschaftsposition auch die kardinale Differenz zur Autokratie dar (Merkel et al. 2003, S.55-51).
Durch Teilregime B (politische Teilhaberechte) soll die vertikalen Herrschaftskontrolle vervollständig werden, indem in öffentlichen Arenen durch freie Meinungsäußerungen und Willensbildungsprozessen die Konkurrenz um die Herrschaftspositionen entsteht (ebd. S. 51).
Das Teilregime C (Bürgerliche Freiheitsrechte) bildet die liberale Rechtsstaatlichkeit (civil rights), indem der einzelne Bürger und die einzelne Bürgerin durch die Willkür vom Staat geschützt werden soll (ebd. S.52).
Das Teilregime D (horizontale Gewaltenkontrolle) sichert über autonome Institutionen die ständige Kontrolle über die Mandatsträger. Sie überprüft das verfassungsgemäße Regierungshandeln und sorgt für die Gewaltenteilung (ebd. S.54).
Zuletzt sorgt das Teilregime E (Effektive Regierungsgewalt) dafür, dass die Macht bzw. die Regierungsgewalt auch von den gewählten Amtsträgern ausgeht. So sollen keine außerkonstitutionellen Akteure über Verfügungsgewalt über bestimmte Politikbereiche besitzen dürfen (ebd. S.54). Andernfalls droht eine Unterwanderung der Demokratie.
2.2 Defekte Demokratie
Auf diesem Demokratiekonzept entwickelten Merkel et al. die Theorie der Defekten Demokratie. Eine konsolidierte Demokratie braucht funktionierende Teilregime um als liberale Demokratie zu gelten. Liegt aber eine Verletzung eines der Kriterien vor, muss nicht unbedingt per se von einer Autokratie gesprochen werden. Stattdessen existiert ein großer Graubereich, ein Übergang zwischen Demokratien und Autokratien.
Merkel et al. definieren Defekte Demokratien als „Herrschaftssysteme, die sich durch das Vorhandensein eines weitgehend funktionierenden demokratischen Wahlregimes zur Regelung des Herrschaftszugangs auszeichnen, aber durch die Störungen in der Funktionslogik eines oder mehrerer Teilregime die komplementären Stützen verlieren, die in einer funktionierenden Demokratie zur Sicherung von Freiheit, Gleichheit und Kontrolle unabdingbar sind“ (Merkel et al. 2003, S.66). Jedoch gibt es eine Mindestanforderung um noch als Demokratie zu gelten. Ein noch funktionierendes Teilregime A (Wahlregime) und B (politische Teilhaberechte).
Hierzu Merkel: Demokratische Wahlen sind, wie wir dies in der Definition fordern, dadurch gekennzeichnet, dass eine reelle Wahlalternative und damit auch die Möglichkeit des Machtverlustes der Regierenden aufgrund eines allgemeinen Wählerwillens gegeben ist. […] Wahlen müssen also auf hinreichend breiter Partizipationsbasis der zentralen Herrschaftsposition in einem relativ offenen, kompetitiven und fairen Prozess dienen und nicht der manipulativen Befestigung der Herrschaft bestimmter politischer Gruppierungen, Parteien und Personen. […] Um den Status eines Regimes als defekte Demokratie noch zu gewährleisten, müssen die Elemente horizontaler und individualrechtlicher Herrschaftskontrolle so weit gesichert sein, dass die auf die Exklusion beruhenden Herrschaftsmandate keine selbstreferentiellen Machtkreisläufe generieren können […]. Insbesondere die im Prinzip uneingeschränkten Rechte politischer Kommunikation sowie die durch unabhängige Gerichte gewährleisteten „negativen“ Freiheitsrechte geben grundsätzlich allen Bürgern die gleiche Chance, in der öffentlichen Arena zu agieren und ihre private Autonomie zu sichern. Damit ist die Demokratie zwar defekt […], doch stößt die daraus resultierende Herrschaftspraxis an funktionsfähige demokratische Schranke (ebd. S.67).
In der Theorie wird dabei zwischen vier Typen der defekten Demokratie unterschieden. Jedoch ist anzumerken, dass man in realen Herrschaftssystemen oft Mischtypen vorfindet. Zunächst die Exklusive Demokratie, Defekte in Teilregime A und B, bei der bestimmte Teile der Bürgerschaft ausgeschlossen werden. Die Illiberale Demokratie, Defekte im Teilregime C, wo liberale Freiheits- und Bürgerrechte verletzt werden. Dann die Delegative Demokratie, Defekte im Teilregime D, hier ist die horizontale rechtsstaatliche Kontrolle bzw. checks and balances defekt und zuletzt die Enklavendemokratie, Defekte im Teilregime E, wo die effektive Herrschaftsgewalt nicht vollständig durch die gewählten Repräsentanten, sondern z.B. durch das Militär, ausgeübte wird (ebd. S.69).
2.3 Hypothesenbildung
Merkel et al. begründen bei den Ursachen für defekte Demokratien eine wechselseitige Wirkung durch verschiedene Faktoren, nämlich dass durch die gegenseitige Wirkung von Institutionen und Akteuren Defekte entstehen. Akteure erschaffen Institutionen bzw. können sie auch auflösen und Institutionen bilden wiederum den Rahmen für das Akteurshandeln. Weder Institutionen noch Akteurshandeln können also demnach als isolierte Faktoren betrachtet werden. Laut Merkel et al.: „ Akteurshandeln ist das Verbindungsglied zwischen der defekten Demokratie als zu erklärendes Phänomen (abhängige Variabel) einerseits und den institutionellen und vorinstituellen Kontextfaktoren (unabhängiger Variabel) des Akteurshandeln einerseits“ (ebd. S.69). Die Theorie wurde primär im Rahmen der Transformationsforschung, also von langjährigen Prozessen der Entwicklung von Autokratien und Nicht-Demokratien zu liberalen Demokratien entwickelt. Um den Umfang dieser Hausarbeit nicht zu sprengen und den Fokus auf mögliche und vor allem schnell voranschreitenden Rückentwicklungen zu legen, wird in dieser Ausarbeitung die Akteursebene in den Vordergrund gestellt. So wird angenommen, dass bei einer rapiden demokratischen Rückentwicklung das Akteurshandeln von Regierungsparteien als signifikanter Erklärungsfaktor für das Entstehen von Defekten Demokratien zu verantworten ist. Deswegen die zugrundeliegende Hypothese: Rechtspopulistische Regierungsparteien in den Visegrád-Staaten fördern die Entwicklung von defekten Demokratien.
3. Untersuchungsdesign
3.1 Fallauswahl und Untersuchungszeitraum
Die aufgestellte Hypothese soll anhand der Demokratieentwicklung von zwei Visegrád-Staaten verglichen und übergeprüft werden. Die Fallauswahl orientiert sich an dem Most Similar Systems Design (MSSD) anhand der Demokratiequalität in Ungarn und der Slowakei in Verbindung mit der „Embedded Democracy“ von Merkel et al. Nach den fünf Teilregimen, welche eine konsolidierte Demokratie bestimmen, können dann Defekte innerhalb der Demokratien ausgemacht werden und den theoretischen Subtypen der defekten Demokratie zugeordnet werden.
Die Fallauswahl basiert auf mehrere Faktoren. Beide Länder waren ehemaligen Ostblock-Staaten, gelten heutzutage als Transformationsstaaten, sind mit der EU-Osterweiterung 2004 der Europäischen Union beigetreten sowie Mitglieder der „Visegrád“-Gruppe und haben vergleichbare Wirtschaftsentwicklungen (Eurostat 2021). Im Rahmen der V4 kann man auch erkenne, dass beide Staaten oft in enger Abstimmung agieren und kooperieren. Bilateral und auf EU-Ebene, z.B. im Ministerrat oder im EU-Parlament.
In Ungarn regiert Orbán mit der Fidesz-KDNP seit 2010. Um den Zustand der Demokratiequalität verstehen zu können wird der Untersuchungszeitraum von 2006-2021 gewählt, um einen empirischen Vorher-Nachher-Vergleich innerhalb dieser 15 Jahren mit dem Regierungswechsel darzulegen und die Entwicklungen innerhalb der längeren Regierungszeit der rechtspopulistischen Partei nachzuvollziehen. Zwar haben in der Slowakei und Tschechien auch populistische Parteien bzw. Tendenzen zugenommen, aber kein direktes Regime gestellt wie in Polen und Ungarn (Deutsche Welle News 2017).
Stattdessen bietet sich in der Slowakei ein anderes Bild im Untersuchungszeitraum dar. In den Jahren 2006 bis 2021 gab es sieben verschiedene Regierungskabinette, darunter drei Legislaturperioden unter Robert Fico, einen Sozialdemokraten mit seiner Partei Smer – sociálna demokracia (Smer-SD). Eine Erhebung des Eurobarometer im Herbst 2010 ergab sogar, dass die slowakische Bevölkerung die größten „EU-Optimisten“ innerhalb der Union waren und 71% großes Vertrauen in die EU-Institutionen hatten. Die Identifikation mit der EU wurde durch geteilte Werte, wie z.B. Freizügigkeitsrecht, Demokratie, Solidarität etc. gestärkt (vgl. Perepelycja 2012, S.232).
Die Slowakei sollte also bei der aufgestellten Hypothese als Gegenbeispiele fungieren und belegen, dass sich die Demokratiequalität sich nicht bzw. nur leicht im gleichen Zeitraum verschlechtert hat.
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- Citation du texte
- Anonyme,, 2021, Ungarn und Slowakei. Demokratische Rückentwicklung in den Visegrád-Staaten, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1289453
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