In diesem Essay möchte ich mich zum einen dem Menschen Johann Georg Elser nähern. Unter welchen Lebensverhältnissen wuchs er auf und lassen sich daraus Rückschlüsse auf seine spätere Handlungsmotivation erkennen? Zum anderen wird der moralischen Frage nachgegangen, ob Elser eine Art Vorbildfunktion zugeschrieben werden kann (ähnlich dem Hitler-Attentäter vom Juli 1944 – Claus Schenk Graf von Stauffenberg) oder ob er gar als Mörder an unbeteiligten, für den Fortgang der Geschichte unbedeutenden Personen angesehen werden sollte. In Hinblick auf die letzte Frage ergab sich ab 1999 eine heftig geführte Historiker-Debatte zwischen Lothar Fritze und Peter Steinbach bzw. Johannes Tuchel. Jene interessante Kontroverse möchte ich im Rahmen dieses Textes kurz thematisieren.
Am 08. November 1939 verübte der 36-jährige Schreiner Johann Georg Elser, mittels einer Zeitbombe ein Sprengstoffattentat auf die Führungsriege des Dritten Reiches. Im Münchner Bürgerbräukeller versammelten sich neben dem Führer und Reichskanzler Adolf Hitler u.a. die NS-Größen Joseph Goebbels, Rudolf Heß, Heinrich Himmler und Martin Bormann (Hermann Göring war nicht anwesend). An jenem Tag gedachte alljährlich die NS-Prominenz ihren „Alten Kämpfern“, die während des kläglich gescheiterten Hitler-Putsches 1923 ums Leben gekommen waren. Doch Elsers Anschlag misslang. Adolf Hitler überlebte das Attentat unbeschadet, da er 13 Minuten zuvor (früher als erwartet) den Anschlagsort verlassen hatte. Auch die übrigen Getreuen überlebten unverletzt. Elser verfehlte damit sein Ziel, denn er hoffte, mit der Beseitigung des Führers und dessen engster Entourage auch dem seit dem 01. September 1939 tobenden Krieg ein Ende zu machen. Stattdessen starben unmittelbar bei der Detonation der selbstkonstruierten Höllenmaschine 3 Menschen. In der Folgezeit erlagen noch 5 weitere Zuhörer ihren erlittenen Verletzungen. Unter den Opfern, die fast ausschließlich Hitler-Anhänger, NSDAP-Mitglieder waren oder der SA bzw. SS angehörten, war auch die 30-jährige Aushilfskellnerin Maria Henle. Die NS-Presse musste zwar die Täterschaft Elsers anerkennen und publik machen, aber aus damaligem Kontext (Krieg gegen England) wurde ein isolierter Einzeltäter nicht propagiert, im Gegenteil. Angeblich sei Elser ein willkürliches Werkzeug des britischen Geheimdienstes gewesen (Intelligence Service). Dass Elser die Tat allein ohne Hintermänner bzw. Auftraggeber durchführte, hielt man hierzulande sogar bis weit in die 1970-er Jahre für unglaubwürdig.
In diesem Essay möchte ich mich zum einen dem Menschen Johann Georg Elser nähern. Unter welchen Lebensverhältnissen wuchs er auf und lassen sich daraus Rückschlüsse auf seine spätere Handlungsmotivation erkennen? Zum anderen wird der moralischen Frage nachgegangen, ob Elser eine Art Vorbildfunktion zugeschrieben werden kann (ähnlich dem Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944 – Claus Schenk Graf von Stauffenberg) oder ob er gar als Mörder an unbeteiligten, für den Fortgang der Geschichte unbedeutenden Personen angesehen werden sollte. In Hinblick auf die letzte Frage ergab sich ab 1999 eine heftig geführte Historiker-Debatte zwischen Lothar Fritze und Peter Steinbach bzw. Johannes Tuchel. Jene interessante Kontroverse möchte ich im Rahmen dieses Textes kurz thematisieren.
Bevor ich nun mit dem eigentlichen Inhalt des Essays beginne, sei darauf hingewiesen, dass die Quellenlage zum Fall Elser sehr dünn ist.
Einerseits existieren Dokumente der Gestapo (Geheime Staatspolizei), die Angehörige Elsers vernahmen und diese teilweise auch in Sippenhaft genommen hatten. Andererseits stellt das zweifelsohne bedeutsamste historische Quellenmaterial, dass erst 1964 aufgefundene Berliner Verhörprotokoll dar. Bei diesem Verhör, das an fünf Tagen vom 19.11. bis 23.11.1939 stattfand, handelte es sich um die zweite Vernehmung Elsers. Im ersten Verhör hatte Elser bereits die Tat gestanden. Der Wahrheitsgehalt des Berliner Verhörprotokolls ist hoch einzustufen, da es als „Geheime Reichssache“ deklariert wurde und den veröffentlichten NS-Berichten fundamental widersprach.
Johann Georg Elser wurde am 04. Januar 1903 in Hermaringen (Königreich Württemberg) als uneheliches Kind in einfachen Verhältnissen geboren. Nach der Heirat der Eltern überzog die Familie nach Königsbronn. Dort arbeitete der Vater als Holzhändler und nach dem Erbe eines kleinen landwirtschaftlichen Betriebs, noch als Landwirt. Um den neuen Hof kümmerte sich aber vornehmlich die Mutter mit ihren Kindern, da der Vater zunehmend in die Alkoholsucht abglitt. Das Vater-Sohn-Verhältnis war hierdurch nachhaltig zerrüttet. Der Vater kam teilweise erst spät abends und volltrunken nach Hause und schlug die Mutter. Elser musste als ältestes Kind früh im elterlichen Betrieb mitanpacken und seine jüngeren Geschwister mit erziehen, wodurch er der Schulbildung weniger Bedeutung beimaß. In Schönschreiben, Rechnen und Zeichnen hatte Elser gute Leistungen, dennoch bezeichnete er sich selbst als „mittelmäßiger Schüler“. Während des Ersten Weltkriegs (1914-1918) wurde der Vater kurzzeitig eingezogen und die Familie litt Hunger. Aus dem Verhörprotokoll heißt es: „Trotz unserer Landwirtschaft mussten wir am Ende eines Jahres meistens ziemlich hungern“. Insgesamt prägte sich die Kriegszeit besonders negativ bei Elser ein. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Elsers spätere Attentatsmotivation u.a. darin bestand, einen neuerlichen großen Krieg zu verhindern, welchen er schon 1938 erahnt hatte. Somit wurzelte die vehemente Abneigung gegen jegliche kriegerischen Zustände in Elsers frühsten Jugenderfahrungen. Nach der Schulentlassung erlernte Elser einen handwerklichen Beruf, den des Eisendrehers. Elser bewies handwerkliches Geschick und erwarb grundlegende Materialkenntnisse, Kenntnisse, die ihm später beim Bau der Höllenmaschine von enormem Wert sein sollten. Zur gleichen Zeit bastelte Elser allerlei und tüftelte an einem kleinen Benzinmotor herum. Aus gesundheitlichen Gründen wechselte Elser 1919 ins Schreinerhandwerk und begann eine neue Lehre. Die Gewerbeschule verließ er als Jahrgangsbester.
Bis 1923, dem großen Krisenjahr der noch jungen Weimarer Republik, arbeitete Elser als Schreiner, übersiedelte danach aber wieder auf den elterlichen Hof, um dort mitzuhelfen. Doch er schien mit der neuerlichen Situation unzufrieden zu sein, denn zu Beginn des Jahres 1925 wuchs in ihm der Wunsch, „in die Fremde zu gehen“. Elser wollte sich beruflich weiterentwickeln und zugleich dem elterlichen Umfeld entkommen.
Für Elser begann nun ein neuer Lebensabschnitt, der ihn zur Bodenseeregion führte. Fortan befand er sich in kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen oder aber auf Wanderschaft. Die ständig wechselnden Arbeitsorte führten ihn u.a. in die Konstanzer Uhrenfabrik, wo er sich Wissen über die Beschaffenheit von Uhrwerken (Zeitzündern) aneignete. Zur Zeit der Weltwirtschaftskrise (1929) war Elser zeitweise arbeitslos. In dieser Notlage entschied er sich dafür, für kurze Zeit in der Schweiz zu arbeiten, wo ihm besonders das freie Arbeitsklima gefiel. Dieser Umstand erklärt auch, warum Elser nach seinem Attentat ins Alpenland flüchten wollte. Bekanntlich wurde er jedoch kurz nach dem Attentat vor der Schweizer Grenze von deutschen Zollbeamten aufgegabelt und festgenommen. Bei Elsers Festnahme fanden die Beamten auch ein Abzeichen des Roten Frontkämpferbundes, das sich auf seinen 1928 erfolgten Eintritt in jenen Bund zurückführen lässt. Elser wählte nach eigenen Angaben stets die KPD, um den Anliegen der Arbeiter Verhör zu verschaffen, zugleich war er aber nie Parteimitglied und kannte das Parteiprogramm nicht. Zwar verkehrte Elser Ende der 1920-er Jahre in kommunistischen Kreisen und fühlte sich vermutlich auch als Sozialist, doch blieb er stets ein Individualist. Er trat nie in politische Erscheinung, betätigte sich nicht an politischen Aufmärschen oder stieg gar in irgendwelche Führungspositionen auf. „Persönlich bin ich nie politisch hervorgetreten“, so Elser 1939. Doch er entwickelte in jenen Jahren eine tiefe politische Abneigung gegenüber dem Nationalsozialismus. Nach der sog. Machtergreifung am 30. Januar 1933, verstärkte sich Elsers Ablehnung gegen Hitler und der NSDAP, da die Nationalsozialisten nach und nach das gesellschaftliche Leben durchdrangen und bestimmten. Das freie, individuelle Lebensbild Elsers geriet in zunehmenden Konflikt mit den repressiven NS-Vorschriften. Elser verließ Gasthäuser, als dort Hitlers Radioreden liefen und hörte stattdessen lieber ausländische Sender. Zudem ist bezeugt, dass er den Hitlergruß und das Grüßen der Fahne verweigerte sowie die Teilnahme an den (Schein)-Wahlen des Dritten Reichs ablehnte.
Eine Frage, die sich stellt, ist, wer war eigentlich der Mensch Elser? Ein Sonderling, wie es oft geschrieben steht, ein verschlossener, ruhiger und einzelgängerischer Mann?
Oder ein durchaus geselliger Mensch, der einem Trachtenverein und Zitherclub angehörte und einige Freunde hatte, aber eben seine Eigenheiten besaß, seine eigene Freiheit am höchsten schätzte und somit manchmal als eher stiller und sonderbarer Mann wahrgenommen wurde? Eine explizite Antwort auf diese Frage erscheint mir unmöglich, da das vorhandene (einseitige) Quellenmaterial für eine abschließende Beurteilung nicht hinreichend ist.
1932, nach sieben Jahren, kehrte Elser auf Bitten der Mutter zum elterlichen Hof zurück. Der Vater war inzwischen völlig dem Alkoholkonsum erlegen und der Betrieb war hoffnungslos verschuldet, sodass die Familie das Anwesen 1935 veräußern musste. 1936 nahm Elser eine Anstellung in einer Heidenheimer Armaturenfabrik an. Als dortiger Hilfsarbeiter erfuhr er von der Rüstungsproduktion der Nationalsozialisten. Im Verhör berichtete Elser diesbezüglich: „In dem Armaturenwerk in Heidenheim bestand schon bei meinem Eintritt in dieses Werk eine so genannte ‚Sonder-Abteilung‘, in der Pulverkörner gepresst und Geschosszünder hergestellt wurden.“ Außerdem nahm er die zunehmend aggressive Außenpolitik der NS-Führung (Anschluss Österreichs, Sudetenkrise) wahr. Schlussendlich erwuchs in Elser, etwa im Herbst 1938 der Entschluss, Hitler und einen großen Teil der NS-Prominenz zu beseitigen. Im Berliner Verhörprotokoll begründete Elser mit folgender Argumentation seine Tatmotive, dort heißt es: „Nach meiner Ansicht haben sich die Verhältnisse in der Arbeiterschaft nach der nationalen Revolution in verschiedener Hinsicht verschlechtert. So z.B. habe ich festgestellt, daß die Löhne niedriger und die Abzüge höher wurden.“ An anderer Stelle beklagte Elser den Verlust individueller Freiheiten: „Ferner steht die Arbeiterschaft nach meiner Ansicht unter einem gewissen Zwang. Der Arbeiter kann z.B. seinen Arbeitsplatz nicht mehr wechseln, wie er will, er ist heute durch die HJ [Hitlerjugend/Anm. Verf.] nicht mehr Herr seiner Kinder und auch in religiöser Hinsicht kann er sich nicht mehr so frei betätigen. Ich habe im Laufe dieser Zeit festgestellt, daß deswegen die Arbeiterschaft gegen die Regierung eine Wut hat.“ Auch einen kommenden Krieg erahnte Elser, er war der Überzeugung, „dass es bei dem Münchener Abkommen nicht bleibt, dass Deutschland anderen Ländern gegenüber noch weitere Forderungen stellen und sich andere Länder einverleiben wird und dass deshalb ein Krieg unvermeidlich ist.“ Schlussendlich kam Elser zu dem Ergebnis, „dass die Verhältnisse in Deutschland nur durch eine Beseitigung der augenblicklichen Führung geändert werden könnten.“
Hierbei sei anzumerken, dass es Elser bewusst war, dass er den Nationalsozialismus nicht beseitigen konnte. Er zielte „nur“ darauf ab, die Führung zu treffen, um damit die deutsche Politik zu verändern. Für die Attentatsvorbereitungen besuchte Elser im November 1938 zum ersten Mal den Münchner Bürgerbräukeller. Er entwickelte rasch den Plan, in eine Säule hinter dem Rednerpult Sprengstoff zu deponieren und diesen mittels einer selbstkonstruierten Zeitbombe in die Luft zu jagen. Innerhalb weniger Monate entwendete Elser bei der Heidenheimer Armaturenfabrik kleinere Mengen an Sprengstoff. Ostern 1939 reiste Elser erneut nach München, vermerkte die Maße der Säule und entwarf eine Skizze. Zur selben Zeit wechselte er die Arbeitsstelle und war nun als Hilfsarbeiter im Königsbronner Steinbruch tätig. Hier konnte Elser zum einen größere Mengen an Sprengstoff entwenden und sich zum anderen Sprengkenntnisse aneignen. Aufgrund eines Arbeitsunfalls (ein Stein war auf seinen linken Fuß gefallen) hatte Elser ausreichend Zeit, um seine Attentatspläne akribisch vorzubereiten und vor allem nutzte er auch die Gelegenheit, um technische Schwierigkeiten zu lösen (u.a. die des Zeitzünders). Beim Bau der Höllenmaschine konnte sich Elser auf seinen umfangreichen Wissensschatz stützen, den er im Lauf seines Arbeitslebens gesammelt hatte. Ohne dieses wertvolle Vorwissen wäre der Bau der Bombe unmöglich gewesen. Anfang August überzog Elser nach München und arbeite fortan 30–35 Nächte daran, die Höllenmaschine zu installieren. Hierfür musste Elser die Säule hinter dem Rednerpult in mühseliger Arbeit aushöhlen, wofür er allein bis Ende Oktober benötigte. Schließlich brachte er vom 01. bis zum 06. November 1939 den Zünder und den Sprengstoff im Hohlraum der Säule an und verschloss diese mit einer selbstgebauten unauffälligen Tür. Am 07. November kontrollierte er zum letzten Mal die Sprengvorrichtung. Danach türmte Elser aus München und wollte sich, wie schon erwähnt, als politischer Flüchtling illegal in die Schweiz absetzen. Dass Hitler den alljährlichen Termin im Münchner Bürgerbräukeller erst absagte, dann aber spontan doch noch erschien, entzog sich Elsers Kenntnis. Der Zeitzünder tickte ab dem 06.11. und sollte nicht mehr abgestellt werden.
Am 08.11. traf Hitler nicht wie üblich und von Elser ursprünglich geplant gegen 20:30 Uhr im Bürgerbräu ein, sondern schon um 20:00 Uhr. Aufgrund schlechter Witterungsverhältnisse musste Hitler auf einen Sonderzug, statt auf einen Flug, nach Berlin zurückgreifen. Der Zug fuhr um 21:31 Uhr vom Münchner Hauptbahnhof ab, sodass Hitler seine Rede dementsprechend anpasste und frühzeitig den Bürgerbräukeller verließ.
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- Robin Helm (Autor), 2022, Johann Georg Elser und das Attentat von 1939. Handlungsmotivation und die Frage nach der Vorbildfunktion, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1287918
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