Deshalb werden in dieser Arbeit die Bildungsdisparitäten zwischen Schüler:innen mit vietnamesischem und türkischem Migrationshintergrund in Deutschland untersucht. Ziel dieser Arbeit ist es einerseits, die Unterschiede im Bildungserfolg der beiden Vergleichsgruppe darzustellen und dazu die Hintergründe dieser Disparitäten im Hinblick auf die Lebenswelten zu erörtern. Andererseits wird die Relevanz dieser Ergebnisse für die Soziale Arbeit diskutiert.
Zahlreiche empirische Studien der Bildungsforschung haben belegt, dass Schüler:innen mit Migrationshintergrund in Deutschland im Vergleich zu ihren Altersgenossen ohne Migrationshintergrund bildungsbenachteiligt sind. Doch weitere Ergebnisse haben gezeigt, dass dies nicht für alle Migrantengruppen in Deutschland gilt und eine Differenzierung notwendig ist: Denn vietnamesische Schüler:innen weisen ein deutlich höheres Bildungsniveau auf als türkische und sogar als deutsche Schüler:innen.
Daher ist es hinsichtlich der überdurchschnittlichen Bildungserfolge vietnamesischer Schüler:innen in Deutschland interessant zu untersuchen, inwiefern sich ihre Lebenswelten von denen türkischer Schüler:innen unterscheiden. Besonders vor dem Hintergrund, dass sie in Familien aufwachsen, auf die eine Reihe von Faktoren zutrifft, die in der Bildungsforschung als Ursachen von Bildungsbenachteiligung gelten.
Hierfür wurden theoretische Erklärungsansätze als Grundlage angeführt, die den Bildungserfolg eines Menschen beeinflussen können. Zum übersichtlichen Vergleich der Lebenswelten wurden daran anschließend alle signifikanten Ergebnisse und Befunde zu migrationsspezifischer Bildungsforschung dargestellt, die für diese Arbeit und die Vergleichsgruppen von Relevanz sind. Diese Ergebnisse und die damit einhergehende Bedeutung für die Soziale Arbeit wurden daraufhin diskutiert.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Migration und Bildung
2.1 Migrationshintergrund und Zielgruppe
2.2 Das deutsche Bildungssystem
2.3 Mögliche Einflussfaktoren auf Bildung
3 Lebenswelten
3.1 Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit
3.1.1 Migrationsgeschichte türkischer Einwanderer
3.1.2 Migrationsgeschichte vietnamesischer Einwanderer
3.2 Aktueller Stand der migrationsspezifischen Bildungsforschung
4 Diskussion
5 Fazit
Literaturverzeichnis
Abstract
Zahlreiche empirische Studien der Bildungsforschung haben belegt, dass Schülerinnen mit Migrationshintergrund in Deutschland im Vergleich zu ihren Altersgenossen ohne Migrationshintergrund bildungsbenachteiligt sind. Doch weitere Ergebnisse haben gezeigt, dass dies nicht für alle Migrantengruppen in Deutschland gilt und eine Differenzierung notwendig ist: Denn vietnamesische Schülerinnen weisen ein deutlich höheres Bildungsniveau auf als türkische und sogar als deutsche Schülerinnen. Daher ist es hinsichtlich der überdurchschnittlichen Bildungserfolge vietnamesischer Schülerinnen in Deutschland interessant zu untersuchen, inwiefern sich ihre Lebenswelten von denen türkischer Schüler:innen unterscheiden. Besonders vor dem Hintergrund, dass sie in Familien aufwachsen, auf die eine Reihe von Faktoren zutrifft, die in der Bildungsforschung als Ursachen von Bildungsbenachteiligung gelten. Hierfür wurden theoretische Erklärungsansätze als Grundlage angeführt, die den Bildungserfolg eines Menschen beeinflussen können. Zum übersichtlichen Vergleich der Lebenswelten wurden daran anschließend alle signifikanten Ergebnisse und Befunde zu migrationsspezifischer Bildungsforschung dargestellt, die für diese Arbeit und die Vergleichsgruppen von Relevanz sind. Diese Ergebnisse und die damit einhergehende Bedeutung für die Soziale Arbeit wurden daraufhin diskutiert. Es zeigt sich, dass eine differenzierte Betrachtung der Bildungserfolge von Migrantengruppen für die Soziale Arbeit notwendig ist. Gerade im Kontext der Migrationsgesellschaft ist es wichtig die Lebenswelt und damit die verschiedenen sozialen Strukturen der Betroffenen als Ausgangspunkt zu nehmen. Denn die Ergebnisse zeigen: Vietnamesische Schülerinnen fallen in den meisten Vergleichsstudien, die eine generelle Benachteiligung von Migrantenkindern andeuten, aus dem Raster und sind schulisch überdurchschnittlich erfolgreich. Daher kann sich für die pädagogische Arbeit mit türkischen und vietnamesischen Schülerinnen ganz unterschiedlicher Unterstützungsbedarf ergeben.
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Ökologie der menschlichen Entwicklung nach Bronfenbrenner (vgl. Schnoor, 2018, S. 16 nach Cole und Cole 2001)
Abbildung 2: Makro-Mikro-Makro-Erklärungsmodell ethnischer Bildungsungleichheit (vgl. Schnoor 2018, S. 25)
Abbildung 3: RRIs des Schulformbesuchs im Vergleich von vietnamesischen zu deutschen Schüler*innen (Schuljahre 2005/06 bis 2015/16) (vgl. El-Mafaalani & Kemper, 2017, S. 221)
1. Einleitung
Die empirische Bildungsforschung in Deutschland zur Benachteiligung von Migrantenjugendlichen im deutschen Bildungssystem blickt auf eine lange Tradition zurück. Die Forschung zu den Bildungserfolgen der zweiten Generation von Zuwanderern basiert in der Regel auf empirischen Befunden, die eine generelle Benachteiligung von Migrantenkindern im Vergleich zu Kindern aus einheimischen Familien feststellen (vgl. Nauck & Schnoor, 2015, S. 634). Diese Ergebnisse sind seit Beginn der 2000er Jahre kontinuierlich in den Bildungsberichten des Landes oder in internationalen großen Vergleichsstudien wie PISA zu finden (vgl. Schnoor 2018, S. 1). Schüler:innen mit Migrationshintergrund in Deutschland haben durchschnittlich weniger Erfolg in der Schule als Kinder und Jugendliche ohne Migrationshintergrund, bleiben häufiger ohne Abschluss, bekommen schlechtere Noten oder schneiden in Kompetenztests schlechter ab. Hier könnte die plausible Schlussfolgerung gezogen werden, dass der Migrationshintergrund und damit die ethnische bzw. soziale Herkunft sowie wenig gelungene Integration die Benachteiligung als absolute Faktoren allein erklären. Mangelnde Sprachkenntnisse, kulturelle und werteorientierte Unterschiede sowie fehlende Unterstützung der Eltern gehören zu den am häufigsten genannten Gründen (vgl. Jungkamp & Pfafferott 2019). Diese Aspekte sind tatsächlich auch zahlreich belegt worden. Doch es gibt eine essenzielle Tatsache, die bei dieser Thematik nicht vergessen werden darf: Migrationshintergrund ist nicht gleich Migrationshintergrund. Und genau an diesem Punkt hört die Generalisierung auf. Denn Bildungsstatistiken zeigen, dass vietnamesische Schüler:innen sogar höhere Bildungsleistungen aufweisen als deutsche. Dies stellt sich vor allem durch eine hohe Bildungsbeteiligung an Gymnasien dar. Währenddessen weisen türkische Schüler:innen einen geringeren Bildungserfolg auf (vgl. El-Mafaalani & Kemper 2017). Jedoch scheinen diese Unterschiede aus Statistiken nicht deutlich hervorzugehen oder berücksichtigt zu werden. Denn die traditionellen Ergebnisse der generellen Benachteiligung von Migrantenschüler:innen in Deutschland treffen auf solche vietnamesischer Herkunft nicht zu. Sie werden eher als Musterbeispiel hervorgebracht und gelten als „gut integriert“ (vgl. El-Mafaalani, Kemper 2017, S. 217). Türkische Schüler:innen werden dagegen sehr oft als Negativbeispiel herangebracht.
Daher ist es hinsichtlich der hohen Bildungserfolge vietnamesischer Schüler:innen in Deutschland besonders interessant, inwiefern sich ihre Lebenswelten von denen türkischer Schülerinnen unterscheiden. Hervorzuheben ist zum einen, dass Menschen vietnamesischer Herkunft in Deutschland eine vergleichsweise kleine Zuwanderungsgruppe und solche türkischer Herkunft im Gegensatz dazu eine der größten darstellt. Zum anderen rückt die Tatsache in den Fokus, dass vietnamesische Schüler:innen überdurchschnittliche Bildungsergebnisse und -erfolge erzielen, obwohl sie in Familien aufwachsen, auf die eine Reihe von Faktoren zutrifft, die in der Bildungsforschung als Risikofaktoren bzw. Ursachen von Bildungsbenachteiligung gelten (vgl. Nauck & Schnoor 2015, S. 650). Vietnamesische Familien verfügen über weniger ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital als deutsche Familien. Zudem gibt es widersprüchliche Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen dem Erziehungsstil der Eltern und den schulischen Leistungen ihrer Kinder. So haben vietnamesische Eltern beispielsweise einen autoritären, distanzierten und unnachsichtigen Erziehungsstil, der sich jedoch bei den Kindern anderer Migrantengruppen negativ auf den schulischen Erfolg auswirken kann (vgl. El-Mafaalani & Kemper 2017, S. 229). Angesichts dieser widersprüchlichen Ergebnisse ist die Beziehung zwischen dem unnachsichtigen Erziehungsverhalten der Eltern und dem schulischen Fleiß und der Disziplin der Kinder besonders bemerkenswert. Aus Sicht der Eltern ist es allein ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Kinder fleißig sind. Das unnachsichtige Erziehungsverhalten der Eltern richtet sich daher insbesondere auf den Schulfleiß und die Disziplin. Die Eltern-Kind-Distanz kann also bei erreichten Erfolgen und Leistungen kurzzeitig aufgehoben werden, so dass emotionale Nähe bereits im Kindesalter die Leistungsorientierung positiv verstärkt (vgl. ebd., S. 229). Deshalb spricht man in der Bildungsforschung aufgrund der Bildungserfolge ostasiatischer Schülerinnen auch vom „vietnamesischen Wunder“ oder „Asian miracle“. Somit besteht hier die Herausforderung den höheren Bildungserfolg vietnamesischer Schülerinnen im Vergleich zu türkischen Schülerinnen in Deutschland zu untersuchen, wobei beide Familien viele ähnliche Umstände aufweisen, die als Ursachen für Bildungsbenachteiligungen gelten. Daher lautet die Forschungsfrage dieser Thesis: Welche bildungsspezifischen Einflussfaktoren begünstigen den schulischen Erfolg vietnamesischer Schülerinnen in Deutschland im Vergleich zu türkischen Schüler:innen?
Ein Vergleich der Lebenswelten könnte hierbei mehr Aufschluss geben. Die Ressourcenausstattung einer Familie ist einer der wichtigsten Mechanismen des sozialen Hintergrunds (vgl. Schnoor 2018, S. 29). Diese Ressourcen prägen die strukturellen Lebensbedingungen einer Familie, in dessen Folge sich Kinder verschiedener sozialer Herkünfte in sehr unterschiedlichen Lebenswelten entwickeln, die eben durch diese Ressourcen geprägt sind. Das Konzept der Lebenswelt stammt aus der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit. „Lebensweltorientierung versteht schwieriges Verhalten als Versuch, auch unter erschwerten Bedingungen im Muster normaler Bewältigungsstrategien mit dem Leben zu Rande zu kommen“ (Grundwald & Thiersch 2018, S. 304). Alltägliche Lebenswelten, also der Ort, an dem sich der Alltag abspielt (Als Beispiel: Nachbarschaft, Familie, sozialer Kreis) unterscheiden sich von der Alltäglichkeit, also der Art und Weise, wie diese bewältigt wird. Alltägliche Lebenswelten und Alltäglichkeit bedingen sich gegenseitig und sind untrennbar miteinander verbunden (vgl. ebd.). Die alltägliche Lebenswelt ist von Lebenslagen geprägt, also von sozialen Strukturen. Unter diese Lebenslagen fallen ethnische, materielle, politische, soziale und kulturelle Ressourcen, die wiederum die Kapitalformen nach Bourdieu verbinden. Man könnte hier auch von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital sprechen, da diese die Lebensumstände und Strukturen in denen Menschen leben, maßgeblich beeinflussen und bestimmen.
Die Relevanz der Bildungsforschung zeigt sich zudem in der hohen Bedeutung von Bildung: Sie hat Effekte auf die Beschäftigungschancen eines Menschen, seine gesellschaftliche Teilhabe und die Fähigkeit, seine eigene Biografie aktiv zu gestalten (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020, S. 67). Die Humankapitaltheorie unterstreicht die Bedeutung von Investitionen in die Bildung als Investition in das Wissen und die Fähigkeiten der Arbeitskräfte einer Nation (vgl. Kugler & Wößmann 2019, S. 234). Bildung vermittelt das Wissen und die Fähigkeiten, die es dem Einzelnen ermöglichen, mit den sich ändernden Bedingungen der Arbeit, aber auch Gesellschaft sowie dem schnellen technologischen Wandel umzugehen und so sein Beschäftigungspotenzial zu erhöhen, was wiederum die Arbeitslosigkeit verringert und die Einkommen erhöht. Folglich kann höhere Bildung dazu beitragen, Armut zu verhindern, soziale Ausgrenzung zu verringern und soziale Ungleichheit zu bewältigen (vgl. Kugler & Wößmann 2019, S. 234; Wilmes 2011, S. 30).
Das deutsche Bildungssystem hat zum Ziel „jeder Person unabhängig von zugeschriebenen (von der Person nicht beeinflussbaren) Merkmalen wie der sozialen Herkunft, dem Migrationshintergrund und dem Geschlecht die gleichen Bildungschancen zu ermöglichen.“ (Maaz & Dumont 2019, S. 299). Zahlreiche Studien haben aber gezeigt, dass der Bildungserfolg in Deutschland nicht unabhängig von diesen Merkmalen ist. Dies hat besonders für Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland eine große Bedeutung. Aus vielen empirischen Forschungen und amtlichen Statistiken geht hervor, dass Kinder aus Migrantenfamilien ein signifikant geringeres Bildungsniveau aufweisen als ihre einheimischen Altersgenossen, wesentlich geringere Kompetenzen in den Domänen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften und im Vergleich zu deutschen Schülerinnen die Förder- und Hauptschule öfter besuchen als das Gymnasium (vgl. Nauck & Schnoor, 2015; Kemper 2015; El-Mafaalani & Kemper 2017; Weis et al. 2018; Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, 2022; Destatis 2022c). Als Erklärungen für diese Benachteiligung wurden bis heute verschiedene theoretische Erklärungsansätze entwickelt, die in Kapitel 2.3 näher erläutert werden.
Nach Nauck und Schnoor liegt die Erklärung für den Bildungserfolg von einheimischen Kindern und Kindern mit Migrationshintergrund hauptsächlich in der erhöhten Verfügbarkeit von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital, die in Migrantenfamilien aber geringer ausfällt (vgl. Nauck & Schnoor, 2015, S. 633). Die Erklärung dieser Kapitalsorten ist auf die Kapitaltheorie des Soziologen Pierre Bourdieu (1983) zurückzuführen, der damit bereits früh die Korrelation der sozialen Herkunft und des schulischen Erfolgs von Kindern nahelegte (vgl. S. 186). Nach dieser Theorie ist der schulische Erfolg von Kindern abhängig davon, welche Stellung ihre Eltern in der Gesellschaft durch ihre Kapitalausstattung haben (vgl. ebd.). Diese Kapitalformen sind das ökonomische, soziale und kulturelle Kapital, das jeder Mensch nach Bourdieu besitzen würde (vgl. Bourdieu 1983, S. 185). Im Kontext der sozialen Herkunft spielen aber auch weitere Faktoren eine wesentliche Rolle, wie zum Beispiel das Bildungsniveau der Eltern und der sozioökonomische Status der Familie. So veröffentlichte das Statistische Bundesamt im Jahr 2016 eine Pressemitteilung mit der Aussage, dass das Bildungsniveau der Eltern nach wie vor signifikant an den schulischen Erfolg der Kinder gebunden sei (vgl. Kahle, 2016, S. 1). Während also „Kinder hochgebildeter Eltern“ (ebd.) mehrheitlich das Gymnasium besuchen und am seltensten eine Hauptschule, ist Letzteres für Kinder aus Familien mit niedriger Bildung kein Randphänomen und der Gymnasialbesuch kommt nur für jedes siebte dieser Kinder in Frage (vgl. ebd.). Kinder aus Familien mit niedriger Bildung haben sehr häufig einen Migrationshintergrund. Das heißt, dass ihre Eltern in einem anderen Land geboren und im Laufe ihres Lebens nach Deutschland zugewandert sind (vgl. Maaz & Dumont 2019, S. 316). Heute hat statistisch gesehen jede vierte Person in Deutschland einen Migrationshintergrund. Im Jahr 2021 hatten mehr als ein Drittel der Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen einen Migrationshintergrund (vgl. Destatis 2022c, S. 49). Das Phänomen ist also sehr weit verbreitet.
Weiterhin ist wichtig zu erwähnen, dass der Umgang mit sozialen und kulturellen Differenzen, besonders im Kontext von Migration, ein grundlegender Arbeitsmodus der Sozialen Arbeit ist. Hinzu kommt, dass alle Handlungsfelder der Sozialen Arbeit, die sich mit Kindern und Jugendlichen beschäftigen, die noch zur Schule gehen oder die Schule gerade verlassen haben, direkt oder indirekt mit den Bedingungen des Bildungssystems verbunden sind (vgl. Spies 2018, S. 134). Für Menschen mit Migrationshintergrund ist besonders der Erwerb von hochwertiger Bildung für den sozialen Aufstieg und Chancengerechtigkeit umso bedeutsamer, da sie sich teilweise viel stärker beweisen müssen als die Mehrheitsgesellschaft. Zudem kann höhere Bildung im Sinne der Humankapitaltheorie nicht nur das Einkommen erhöhen und das Risiko für Arbeitslosigkeit verringern (vgl. Kugler & Wößmann 2019, S. 234). Bildung kann auch dazu beitragen, Armut zu verhindern, soziale Ausgrenzung zu verringern und soziale Ungleichheit zu bewältigen. Daher ist gerade im Hinblick auf die gesellschaftlich angenommene generelle Bildungsbenachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund ein besonders differenzierter Blick notwendig, auch aus der Sicht der Sozialen Arbeit. Denn wie die Ergebnisse zeigen, sind vietnamesische Schüler:innen kaum von der generellen Bildungsbenachteiligung von Schüler:innen mit Migrationshintergrund betroffen. Daher kann sich für die pädagogische Arbeit mit diesen beiden Migrantengruppen, beispielsweise im Rahmen der Schulsozialarbeit ganz unterschiedlicher Unterstützungsbedarf ergeben.
Deshalb werden in dieser Arbeit die Bildungsdisparitäten zwischen Schülerinnen mit vietnamesischem und türkischem Migrationshintergrund in Deutschland untersucht. Dabei geht es vor allem um die zweite Generation. Das betrifft die in Deutschland geborenen Kinder, deren Eltern oder mindestens ein Elternteil einen Migrationshintergrund hat, also im Ausland geboren und nach Deutschland eingewandert ist (vgl. Maaz & Dumont 2019). Von Anpassungs- und Sprachproblemen über soziale Segregation bis hin zu Diskriminierung ist die erste Generation immer vielen Herausforderungen gestellt. Interessant wird es jedoch bei deren Kindern, die in dieser „neuen“ Mehrheitsgesellschaft aufwachsen und von klein auf das System, die Menschen sowie die Kultur kennenlernen. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern sich die Problemlagen ihrer Eltern sich auf das Leben der hier geborenen Kinder übertragen lassen oder deren Leben beeinflussen. Im Hinblick auf den Bildungsweg ist es daher wichtig zu erkennen, inwiefern ein Kind, dessen Eltern zahlreichen sozialen Problemen ausgesetzt waren und sind, von diesen beeinflusst wird. In diesem Fall ist es umso interessanter, da Schülerinnen mit Migrationshintergrund im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung häufiger aus Familien kommen, die migrationsbedingt über weniger Ressourcen und sprachliche Kompetenzen verfügen (vgl. Schnoor 2018, S. 7). Dennoch zeigen sich innerhalb von verschiedenen Migrantengruppen unterschiedliche Bildungsergebnisse, wie in diesem Falle, dass vor allem vietnamesische Schüler:innen aus solchen Familien teilweise sogar bessere Bildungserfolge als die einheimische Referenzbevölkerung erzielen. Aus diesem Grund stellt die zweite Generation eine so kritische Gruppe dar, welche die Lebens- und Bildungsbedingungen nachfolgender Generationen nachhaltig und maßgeblich beeinflussen können.
Ziel dieser Arbeit ist es einerseits die Unterschiede im Bildungserfolg der beiden Vergleichsgruppe darzustellen und dazu die Hintergründe dieser Disparitäten im Hinblick auf die Lebenswelten zu erörtern. Andererseits soll die Relevanz dieser Ergebnisse für die Soziale Arbeit diskutiert werden. Das Ergebnis der Thesis soll also nicht nur eine Darstellung der Bildungsdisparitäten von Kindern und Jugendlichen mit türkischem und vietnamesischem Hintergrund sein. Vielmehr sollen die Gründe für diese Unterschiedlichkeiten im Bildungserfolg vor dem Hintergrund der Lebenswelten aufgedeckt und Ansätze für sozialarbeiterische Handlungsmöglichkeiten erarbeitet werden. Ein weiterer Mehrwert dieser Thesis und den dargestellten Ergebnissen soll auch in der Vertiefung der interkulturellen Kompetenz von Sozialarbeiterinnen liegen. Eppenstein und Kiesel (2008) verstehen unter dem Begriff der Kompetenz in Verbindung mit der Sozialen Arbeit, dass Sozialarbeitende die Fähigkeit besitzen, effektiv und zielorientiert sozial zu interagieren (vgl. S. 138). Mit der Bedeutung von Interkulturalität dominiert die Frage nach dem kommunikativen Austausch zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Kulturen (vgl. Broszinsky-Schwabe 2017, S. 29). Kombiniert man beide Begriffserklärungen ist mit interkultureller Kompetenz gemeint, mit Menschen fremder Kulturen angemessen und erfolgreich umgehen zu können. Für die Soziale Arbeit hat sich Interkulturalität besonders vor dem Hintergrund der zunehmenden Zuwanderung der letzten Jahre und Jahrzehnte zu einer Kernkompetenz entwickelt. Im Bildungskontext ist es für Professionelle der Sozialen Arbeit daher sehr hilfreich zu wissen, welche kulturellen Hintergründe und Überzeugungen für Menschen mit bestimmtem Migrationshintergrund für deren Bildungserfolg entscheidend sind. Auch Kloha (2018) zählt zu den Kompetenzen von Fachkräften der Schulsozialarbeit ein breites Wissen über die Lebenssituation von Schülerinnen mit Migrationshintergrund sowie Kenntnisse über deren jeweiligen kulturellen Hintergründe, das Herkunftsland oder über die religiöse Zugehörigkeit (vgl. S. 350). Daraus kann sich eben ergeben, wie bereits erwähnt wurde, dass Kinder und Jugendliche mit türkischem und vietnamesischem Hintergrund nicht unbedingt gleichbehandelt werden können.
Methodisch wird hier eine literaturbasierte Arbeit geführt. Anfangs werden die theoretischen notwendigen Grundlagen dargelegt. Dabei wird zunächst erklärt, was unter Migrationshintergrund zu verstehen und wer die fokussierte Zielgruppe dieser Arbeit ist. Anschließend wird kurz auf die Bedeutung von Bildung eingegangen, sodass klar wird, weshalb die Auseinandersetzung mit dieser Thematik sinnvoll, aber auch notwendig ist. Im Zuge dessen wird das deutsche Bildungssystem erklärt. Dabei soll klargemacht werden, welche Schulformen eine wichtige Rolle spielen, vor allem hinsichtlich der Zielgruppe. Darin soll auch klargemacht werden, was unter Bildungserfolg zu verstehen ist. In Kapitel 2.3 werden die wichtigsten theoretischen Erklärungsmodelle für mögliche Einflussfaktoren auf die Bildung von Menschen dargestellt. Da es in der Literatur und Geschichte der Bildungsforschung eine Vielzahl solcher Erklärungsmodelle gibt, wurden drei wesentliche Modell ausgewählt, die besonders auf die in dieser Arbeit zielgerichtete Vergleichsgruppe bedeutend sind. Hierunter fallen die Kapitaltheorie nach Bourdieu, die soziale Herkunft und damit einhergehend die Bildung der Eltern, der sozioökonomische Status und die Sprache sowie als letztes theoretisches Modell, Humankapitalinvestitionen bzw.
Ressourcenausstattung in Migrantenfamilien.
Daran anschließend wird das Konzept der Lebenswelten bzw. der Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit erklärt. Infolgedessen werden für ein besseres Verständnis die Migrationsgeschichten türkischer und vietnamesischer Menschen in Deutschland nahegelegt. Dies gibt nicht nur eine historisch wichtige Perspektive, sondern lässt auch wichtige Schlüsse ziehen auf heutige Phänomene, die diese beiden Gruppen betreffen. Der Bildungserfolg dieser beider Gruppen wurde in der Literatur bisher nur wenig miteinander verglichen, obwohl Kinder und Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund häufig als Bildungsverlierer und solche mit vietnamesischem Hintergrund gerne als Paradebeispiel gelungener Integration und Bildungserfolg dargestellt werden. Zudem gibt es vereinzelt für beide Migrationsgruppen erforschte Studien. Daher werden in Kapitel 3.2 alle signifikanten Ergebnisse und Befunde zu migrationsspezifischer Bildungsforschung dargestellt, die für diese Arbeit von Relevanz sind. Dies betrifft einerseits internationale Schulleistungsvergleichsstudien wie PISA (2018) und nationale Bildungsberichte (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, 2020), die die Benachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund im Allgemeinen belegen. Andererseits werden aber vor allem wichtige Daten aus amtlichen Schulstatistiken bzw. des Statistischen Bundesamtes (Destatis 2021a, b; 2022c) von Bedeutung sein. Hinzu kommen spezifische empirische Erhebungen zu den in dieser Arbeit fokussierten Vergleichsgruppen (Walter 2011; Nauck & Schnoor 2015; El-Mafaalani & Kemper 2017; Schnoor 2018). Die Ergebnisse dieser Erhebungen werden dargestellt und anschließend in Kapitel 4 in der Diskussion ausgewertet, in Bezug auf die theoretischen Ansätze betrachtet sowie kritisch bearbeitet. Auch der Bezug und die Relevanz dieser Ergebnisse für die Soziale Arbeit werden in diesem Kapitel behandelt. Zum Schluss wird die Arbeit in einem Fazit resümiert.
2. Migration und Bildung
Dieses Kapitel soll die theoretische Grundlage der gesamten Thesis abbilden. Hier werden die wichtigsten Begriffe sowie theoretische Erklärungsansätze erläutert und definiert. Daher soll zunächst klargestellt werden, was unter Migrationshintergrund zu verstehen ist. Dabei ist es wichtig, vor allem die Zielgruppe zu definieren, die in dieser Arbeit fokussiert wird und abzugrenzen, um wen es nicht geht. Wie bereits erwähnt, handelt es sich um die sogenannte zweite Generation, was darunter zu verstehen ist, wird folgend erklärt. Außerdem ist es von Bedeutung, das Thema der Bildung kurz theoretisch aufzugreifen. Damit ist gemeint, Bildung einerseits zu definieren und andererseits die Bedeutung von Bildung hervorzuheben sowie Bildungserfolg zu definieren. Letzteres ist maßgeblich für diese Arbeit, da hier der Bildungserfolg bzw. Misserfolg der beiden Vergleichsgruppen im Fokus steht. Im Zuge dessen soll das deutsche Bildungssystem erklärt werden. Dies erweist sich als notwendig für das Verständnis, auf welchem Wege Schüler*innen in Deutschland einen erfolgreichen Bildungsweg hinlegen können.
Daraufhin folgt eines der Kernkapitel dieser Arbeit, nämlich theoretische Erklärungsansätze für Einflussfaktoren auf die Bildung von Menschen. Hierbei muss man sowohl positive als auch negative Wirkungen verstehen. Denn es soll zum einen herausgefunden werden, weshalb Schüler*innen mit vietnamesischem Migrationshintergrund bildungserfolgreicher sind als türkische und zum anderen, aus welchen Gründen Schüler*innen mit türkischem Migrationshintergrund eher bildungsbenachteiligt sind. Spricht man über Einflussfaktoren auf die Bildung von Menschen, könnte man eine durchaus lange Liste an Theorien und Forschungen heranbringen. Alle aufzuführen, würde aber den Rahmen dieser Arbeit übergehen. Um die wichtigsten theoretischen Modelle zu filtern und aufzuführen, wurde im Rahmen der Recherche darauf geachtet, in welcher Häufigkeit theoretische Erklärungsansätze in den wichtigsten empirischen Bildungsforschungen angeführt wurden. Dabei wurden solche ausgewählt, die einerseits in der migrationsspezifischen Bildungsforschung sowohl in Deutschland als auch international anerkannt sind und andererseits solche, die wichtige empirische Ergebnisse exakt zu der in dieser Arbeit erforschten Vergleichsgruppen liefern konnten. Sprich Studien, welche die Bildungsungleichheiten von Schüler*innen mit türkischem und vietnamesischem Migrationshintergrund erforscht haben. Im Rahmen der Recherche haben sich vor allem folgende Befunde als wichtigste Ergebnisse herausgestellt, die grundlegend in späteren Kapiteln dargestellt und diskutiert werden. Ergebnisse des Mikrozensus bzw. Statistischen Bundesamtes (vgl. Destatis 2021a, 2022c), Bildungsberichte (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, 2022), Walter (2011), Nauck und Schnoor (2015), El-Mafaalani und Kemper (2017), PISA 2018 (vgl. Weis et al. 2018) sowie Schnoor (2018). All diese aufgezählten Autorinnen und Berichte haben entweder Befunde zu den Bildungsbeteiligungen von Schüler*innen mit Migrationshintergrund oder direkt zu solchen mit türkischem und vietnamesischem Migrationshintergrund erfasst. Daher wurden sie zur Auswertung für diese Thesis ausgewählt. Bei der Überprüfung der theoretischen Grundsätze, auf die sich die genannten Forschungen beziehen, wurde darauf geachtet, welche Erklärungsmodelle in allen Werken am häufigsten genannt wurden. Auf Grund der Tatsache, dass sich all diese Forschungen auf drei Erklärungsansätze beziehen, die in allen vorkommen, wurden vor allem diese theoretischen Erklärungsmodelle in Erwägung gezogen: Die Kapitaltheorie nach Bourdieu, die soziale Herkunft und Humankapitalinvestitionen/Ressourcenausstattung in Migrantenfamilien. Diese genannten theoretischen Erklärungsansätze für Bildungsdisparitäten von Schüler*innen mit Migrationshintergrund werden in Kapitel 2.3 erläutert.
2.1 Migrationshintergrund und Zielgruppe
Statistisch gesehen hat aktuell jede vierte Person in Deutschland einen Migrationshintergrund. Im Jahr 2021 hatten mehr als ein Drittel der Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen einen Migrationshintergrund (vgl. Destatis 2022c, S. 49). Die Erfassung des Migrationshintergrundes in Deutschland hat eine lange Geschichte hinter sich. Bei der Volkszählung 2005 wurden erstmals nicht nur die Staatsangehörigkeit, sondern auch das Geburtsland, das Jahr der Einreise und Informationen über die Einbürgerung erfasst, zusätzlich zu den üblichen Fragen zur Staatsangehörigkeit und Einbürgerung. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die mit ihren Eltern im selben Haushalt leben, werden zusätzlich zu den Informationen über ihre Eltern auch nach ihrem Geburtsland, ihrer Staatsangehörigkeit und ihrer Einbürgerung gefragt. Auch die Großeltern werden befragt. Der Zensus 2005 ermöglichte es erstmals, zwischen verschiedenen Arten der Zuwanderung auf der Grundlage der individuellen und familiären Migrationserfahrung (erste oder zweite oder dritte Generation) sowie des rechtlichen Status (deutsch oder nicht-deutsch) zu unterscheiden (vgl. Maaz & Dumont 2019, S. 316). In der Bildungsforschung wird diese differenzierte Aufnahme durch zusätzliche Merkmale ergänzt, die vor allem für Bildungsprozesse wichtig sind. Darunter fällt zum Beispiel die gesprochene Sprache (vgl. Maaz & Dumont 2019, S. 316).
Personen mit Migrationshintergrund (auch Zuwanderungshintergrund) werden unabhängig von ihrem Geburtsort und ihrer Staatsangehörigkeit zu den Personen gezählt, die selbst nach Deutschland eingewandert sind oder deren Vorfahren dies getan haben. Das heißt, die erste Generation mit Migrationshintergrund besteht aus denjenigen, die selbst nach Deutschland eingewandert sind. Bei der zweiten Generation sind die Eltern, bei der dritten Generation die Großeltern, nach Deutschland eingewandert (vgl. Maaz & Dumont 2019, S. 317). Wichtig ist auch, ob oder wie viele der Eltern oder Großeltern zugewandert sind. In der Forschung wird der Generationenstatus weiter unterschieden. Wichtig zu differenzieren sind Menschen mit Migrationshintergrund und Ausländerinnen. Menschen mit Ausländerstatus sind Personen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Personen mit Zuwanderungshintergrund können sowohl die deutsche als auch eine ausländische Staatangehörigkeit haben (vgl. Maaz & Dumont 2019, S. 317).
Das Statistische Bundesamt, das die oben genannte Volkszählung regelmäßig durchführt, definiert Migrationshintergrund wie folgt: „Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt. Die Definition umfasst im Einzelnen folgende Personen:
1. zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländer/-innen
2. zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte
3. (Spät-)Aussiedler/-innen
4. Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit durch Adoption durch einen deutschen Elternteil erhalten haben
5. mit deutscher Staatsangehörigkeit geborene Kinder der vier zuvor genannten Gruppen“ (Destatis 2022c, S.5)
Damit ergänzt sich die obige Beschreibung und Differenzierung des Migrationshintergrundes und Ausländerinnen. Bezieht man sich auf die Zahlen des Statistischen Bundesamtes zur Bevölkerung im Jahr 2020, so hatten zu dieser Zeit 21,9 Millionen Menschen der gesamten 81,9 Millionen Einwohnerinnen in Deutschland einen Migrationshintergrund (vgl. Destatis 2022c, S. 31). Dies entspricht 26,7 Prozent der gesamten Bevölkerung. Von diesen 21,9 Millionen Menschen mit Zuwanderungshintergrund hatten 11,5 Millionen Menschen (52,8 Prozent) die deutsche und 10,3 Millionen (47,2) Menschen eine ausländische Staatsangehörigkeit (vgl. ebd.). Von den Personen mit Migrationshintergrund waren 2020 etwa zwei Drittel selbst Migranten und gehörten somit zur ersten Generation. Fast 40 Prozent davon waren Ausländer:innen und knapp 20 Prozent Deutsche (vgl. Destatis 2022c, S. 32). Das restliche Drittel machten Menschen ohne eigene Migrationserfahrung aus. Davon waren knapp 30 Prozent Deutsche ohne eigene Migrationserfahrung und etwa 7 Prozent Ausländer:innen, die in Deutschland geboren wurden (vgl. ebd.). Zu erwähnen wäre auch die Präsenz in den Bundesländern, die bei der späteren Auswertung der Forschung relevant sein wird. Fast 95 Prozent der Personen mit Zuwanderungshintergrund lebte 2020 in Westdeutschland und Berlin. Dabei lebte mehr als jede vierte Person in Nordrhein-Westfalen und knapp jede sechste Person in Baden-Württemberg und Bayern (vgl. ebd., S. 33ff.). Weiterhin kann als relevante Zahl der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund hinzugezogen werden. Denn 2020 hatten mehr als 40 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren einen Zuwanderungshintergrund (vgl. ebd.). Mit 12,9 Prozent stammten im Jahr 2020 die meisten Menschen mit Migrationshintergrund aus der Türkei.
Im Fokus dieser Thesis steht vor allem die zweite Generation. Also alle die in Deutschland geborenen Kinder, deren Eltern oder mindestens ein Elternteil einen Migrationshintergrund hat. Die migrationsspezifischen Probleme für Einwanderer, die ihre Heimat verlassen und in einer neuen Gesellschaft Fuß fassen wollen, sind breit erforscht (vgl. Maaz & Dumont 2019). Von Anpassungs- und Sprachproblemen über soziale Segregation bis hin zu Diskriminierung ist die erste Generation immer vielen Herausforderungen gestellt. Interessant wird es jedoch bei deren Kindern, die in dieser „neuen“ Mehrheitsgesellschaft aufwachsen und von klein auf das System, die Menschen sowie die Kultur kennenlernen. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern sich die Problemlagen ihrer Eltern sich auf das Leben der hier geborenen Kinder übertragen lassen oder deren Leben beeinflussen. Im Hinblick auf den Bildungsweg ist es daher wichtig zu erkennen, inwiefern ein Kind, dessen Eltern zahlreichen sozialen Problemen ausgesetzt waren und sind, von diese beeinflusst wird und welche Hürden überwunden werden müssen, aber auch, mit welchen Vorzügen diese Kinder leben (können). Aus diesem Grund sollen in dieser Arbeit die Bildungsdisparitäten zweier migrantischer Schüler:innengruppen der zweiten Generation verglichen werden. Dies ist in diesem Falle deshalb von Bedeutung, da Schülerinnen mit Migrationshintergrund im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung, in diesem Fall zur deutschen, häufiger aus Familien kommen, die migrationsbedingt über weniger Ressourcen und sprachliche Kompetenzen verfügen (vgl. Schnoor 2018, S. 7). Dennoch zeigen sich innerhalb von verschiedenen Migrantengruppen unterschiedliche Bildungsergebnisse, wie in diesem Falle, dass vor allem vietnamesische Schülerinnen aus solchen Familien teilweise sogar bessere Bildungserfolge als die einheimische Referenzbevölkerung erzielen. Aus diesem Grund stellt die zweite Generation eine so kritische Gruppe dar, welche die Lebens- und Bildungsbedingungen nachfolgender Generationen nachhaltig und maßgeblich beeinflussen können (vgl. ebd.).
2.2 Das deutsche Bildungssystem
Nachdem nun die relevanten Fakten und Definitionen bezüglich des Migrationshintergrundes und der in dieser Arbeit relevanten Zielgruppe aufgeführt wurden, soll folgend das Thema Bildung behandelt werden. Da es sich um eine Arbeit im Kontext migrationsspezifischer Bildungsforschung handelt, ist es sinnvoll nach Abarbeitung des Themas Migrationshintergrundes das der Bildung aufzugreifen. Hierbei steht vor allem die Bedeutung von Bildung, vor allem im Bezug auf Migration, und das deutsche Bildungssystem. Daher wird im Folgenden zunächst ein Überblick über die Bedeutung und Relevanz von Bildung gegeben. Es sollen vor allem theoretische Erträge von Bildung auf individueller, aber auch auf gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene aufgezeigt und der Zusammenhang zwischen Bildung und wirtschaftlichem Wohlstand verdeutlicht werden. Daraufhin folgt eine kurze Erklärung über die Funktion des deutschen Bildungssystems mit Fokus auf den in dieser Arbeit relevanten Bereich.
Bildungsabschlüsse sind ein Maß für den Bildungsstand einer Person. Sie beeinflussen die Beschäftigungschancen, den Zugang zu Weiterbildung, die gesellschaftliche Teilhabe und die Fähigkeit, die eigene Biografie aktiv zu gestalten. Köller und Zimmer (2019) führen dies weiter, indem sie ergänzen, dass die berufliche, soziale und kulturelle Teilhabe eines jeden Einzelnen auf den Bildungsgrundlagen basiert, die Schüler:innen während ihrer Ausbildung erwerben (vgl. S. 229). Eine der grundlegendsten Theorien, die den Zusammenhang zwischen Bildung und wirtschaftlichem Wohlstand beschreibt, ist die Humankapitaltheorie (vgl. Kugler & Wößmann 2019, S. 233). Die Humankapitaltheorie unterstreicht die Bedeutung von Investitionen in die Bildung als Investition in das Wissen und die Fähigkeiten der Arbeitskräfte einer Nation. Investitionen in die Bildung kosten, wie Investitionen in Maschinen, zunächst Geld, in der Hoffnung, dass sie sich in der Zukunft auszahlen. Bildung ermöglicht es dem Einzelnen, seine Arbeitsaufgaben effizienter zu erledigen. Darüber hinaus vermittelt sie das Wissen und die Fähigkeiten, die es dem Einzelnen ermöglichen, neue Ideen zu entwickeln und anzuwenden, die wiederum die Innovation und den technischen Fortschritt vorantreiben (vgl. ebd.). Durch Bildung kann der Einzelne seine Fähigkeit verbessern, mit den sich ändernden Bedingungen der Arbeit, aber auch Gesellschaft sowie dem schnellen technologischen Wandel umzugehen und so sein Beschäftigungspotenzial erhöhen, was wiederum die Arbeitslosigkeit verringert und die Einkommen erhöht (vgl. Kugler & Wößmann 2019, S. 234). Folglich können Investitionen in die Bildung und die Fähigkeiten der Bevölkerung dazu beitragen, Armut zu verhindern, soziale Ausgrenzung zu verringern und soziale Ungleichheit zu bewältigen. Auch Wilmes (2011) sagt: „Menschen mit einem niedrigen Schulabschluss sind in Deutschland von einem erhöhten Risiko der Arbeitslosigkeit betroffen" (S. 30). Neben höheren kognitiven Fähigkeiten aufgrund besserer Bildung, wie dem Erkennen von Zusammenhängen oder Erbringen höherer Leistungen, kommen auch bessere nicht-kognitive Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale einher (vgl. Kugler & Wößmann 2019, S. 235). Zwar lassen sich in empirischen Studien die unterschiedlichen Arten von Fähigkeiten nicht klar trennen, gerade weil nicht-kognitive Fähigkeiten wie Geduld, Beharrlichkeit oder Selbstwertgefühl auch wichtige kognitive Komponenten bergen. Jedoch ist es offensichtlich, dass die meisten Bildungsprozesse tatsächlich darauf abzielen, mehrere relevante Produktivitätsfähigkeiten gleichzeitig zu stärken und nicht eine Dimension von Fähigkeiten auf Kosten einer anderen (vgl. ebd.).
Bei all den wirtschaftlichen Vorteilen muss klar unterstrichen werden, dass Bildungserträge über Einkommen, Beschäftigung und Wachstum hinausgehen und auch nicht-monetäre Vorteile umfassen (vgl. Lochner 2011). Maaz und Dumont (2019) betrachten Bildung sowohl für Individuen als auch für die Gesellschaft als wertvolles Gut, „...da sie die Teilhabe am gesellschaftlichen und sozialen Leben ermöglicht und langfristige Auswirkungen auf individuelle Lebenschancen hat.“ (S. 300). Wo sich Menschen sozialstrukturell in der Gesellschaft eingliedern können, wird über deren Bildung und den davon erworbenen Kompetenzen und Abschlüssen signifikant mitbestimmt. Zudem wird in vielen theoretischen Ansätzen die Idee erörtert, dass Bildung die Gesundheit verbessern und die Lebensspanne verlängern kann, indem sie den Konsum über die gesamte Lebensspanne erhöht. Menschen möchten ihren eigenen Nutzen über die Lebensspanne durch Konsum steigern. Daher sind sie bestrebt, gesünder und länger zu leben. Wie bei der Humankapitaltheorie kann der Einzelne auch in seine Gesundheit investieren und dadurch seine Gesundheit oder Lebenserwartung erhöhen. Ein höheres Bildungsniveau kann in dieser Hinsicht zu mehr gesundheitsförderndem Verhalten führen und sich somit positiv auf die Lebenserwartung und die zukünftige Rendite der aktuellen Gesundheitsinvestitionen auswirken (vgl. Lochner 2011; Kugler & Wößmann 2019, S. 237). Neben gesundheitlichen Vorteilen von höherer Bildung kann zudem auch die soziale Teilhabe und das politische Engagement beeinflusst werden, wodurch demokratische Konstrukte gefördert werden (vgl. Lochner 2011). Hintergrund dazu ist, dass gebildete Bürgerinnen besser informiert sind und damit besser begründete politische Entscheidungen, zum Beispiel bei Wahlen, treffen können (vgl. Kugler & Wößmann 2019, S. 237). Außerdem sind auch Wirkungen auf gesellschaftliche Teilhabe sowie das eigene soziale Netzwerk zu verzeichnen.
Eines der bedeutendsten Ziele moderner Bildungssysteme, auch in Deutschland, ist es, „.jeder Person unabhängig von zugeschriebenen (von der Person nicht beeinflussbaren) Merkmalen wie der sozialen Herkunft, dem Migrationshintergrund und dem Geschlecht die gleichen Bildungschancen zu ermöglichen. Die Forschung hat jedoch gezeigt, dass der Zugang zu Bildung sowie der Bildungserfolg in Form von Bildungsabschlüssen und Kompetenzen nicht unabhängig von diesen Merkmalen sind.“ (Maaz & Dumont 2019, S. 299). Zahlreiche Forschungen haben gezeigt, dass dieser Grundsatz in der sozialen Wirklichkeit in Deutschland nicht umgesetzt wird und viele Faktoren die Bildung von Menschen beeinflussen und somit zu Ungleichheit führen (vgl. ebd.). Vor der Darstellung dieser Faktoren, soll zur besseren Einordnung dieser das deutsche Bildungssystem kurz erklärt werden.
Im internationalen Vergleich sticht Deutschland vor allem durch eine hierarchisch abgestufte Schulstruktur heraus. Hinzu kommt ein stark verbreiteter Föderalismus, der im Grundgesetz verankert ist: „Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder, soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt“ (Art. 30 GG). Das bedeutet, dass sich alle 16 Bundesländer eigenständig organisieren und somit auch verschiedene Schulformen und unterschiedliche Gewichtungen des Besuchs dieser Schulformen entstehen (vgl. El- Mafaalani & Kemper, 2017, S. 218). Die Tatsache, dass die Länder diese Aufgabenzuweisung priorisierend erhalten, kommt immer noch zugunsten des Bundes. Die sich überschneidenden Zuständigkeiten des Bundes und der Länder führen zu Verflechtungen und Verschränkungen. Insbesondere Fragen des Bildungswesens werden typischerweise vom Bund mitverwaltet, gehören aber auch zu den spezifischen Zuständigkeiten der Länder (vgl. Füssel 2019, S. 102).
Im aktuellen deutschen Bildungssystem gibt es fünf verschiedene Bereiche, die Menschen in Deutschland vom Kindesalter bis zur Erwerbstätigkeit durchlaufen können. Mit zunehmendem Alter besucht man also immer eine neue institutionelle Bildungseinrichtung. Im Elementarbereich finden sich vor allem Kindertageseinrichtungen, die von Kindern vor dem Einzug in den Primarbereich (Grundschule) besucht werden. Normalerweise wird die Grundschule für vier und in wenigen Bundesländern, wie Berlin und Brandenburg, für sechs Jahre besucht (vgl. El- Mafaalani & Kemper, 2017, S. 218). In den meisten Bundesländern kann man nun nach der Grundschule zwei allgemeinbildende Wege einschlagen. Neben den traditionellen Gymnasien gibt es nun auch "Sekundarschulen" und "Stadtteilschulen", an denen die Schüler nach der Grundschule das Abitur machen können, wobei die Dauer der Schulformbesuche unterschiedlich sind. Aufgrund dieser Einheitlichkeit hat sich ein neuer Standard für die Bildungswege etabliert; sie führen alle zu einer höheren Bildung und heben damit die alte Trennung zwischen "höherer" und "niederer" Bildung auf (vgl. Tenorth 2019, S. 79). Nach der Grundschule werden die Schüler:innen in die unterschiedlichen Schulformen der Sekundarstufe I getrennt, die alle ein eigenständiges Profil aufweisen. Dies geschieht - abhängig vom Bundesland - auf Grundlage von verbindlichen oder unverbindlichen Empfehlungen zum Schulübergang. In letzterem Fall entscheiden die Eltern der Schüler*innen. Schülerinnen können neben dem Gymnasium auch die Real-, Haupt- oder Gesamtschule besuchen. Auf diese Stufe folgt die Sekundarstufe II, auch Oberstufe genannt. Einigkeit besteht in der Schulform des Gymnasiums. Sie ist bundesweit die Schulform mit dem höchsten Leistungsniveau und bereitet auf die akademische Ausbildung der Schülerinnen vor (vgl. El-Mafaalani & Kemper, 2017, S. 218). Ein Abschluss dieser Schulform gilt somit als Zugangsberechtigung für eine Hochschule. Demgegenüber stehen Förderschulen. Das sind Schulformen mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten, die spezielle und intensive pädagogische Betreuung bieten für Schülerinnen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen sowie jene mit Lernschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten (vgl. ebd.). Will man in Deutschland also von Bildungserfolg sprechen, so meint der Begriff mit Blick auf die nationale und internationale Migrationsforschung einheitlich das Erreichen von guten und weiterqualifizierenden Schulabschlüssen sowie die Aufnahme eines Studiums bzw. einer akademischen Laufbahn im Zuwanderungsland (vgl. Dalhaus 2013, S. 205). Bezieht man diese Erklärung auf das deutsche Schulsystem, spricht man hierzulande von Bildungserfolg, wenn Schüler:innen ihr Abitur machen. Dieses kann wie oben beschrieben auf unterschiedlichen Wegen erworben werden. Demgegenüber steht also der Besuch von Förderschulen, der nicht für eine akademische Laufbahn qualifiziert, nicht für Bildungserfolg. Eine weitere ausführliche Behandlung des Schulsystems würde den Rahmen dieser Arbeit weit übertreffen, da nun die für diese Arbeit wichtigsten Schulformen und Informationen zum Schulsystem dargestellt wurden. Für diese Arbeit ist besonders die gesamte Sekundarstufe relevant, also ab dem Übergang von der Grundschule in Sekundarstufe I bis hin zum Übergang in den tertiären Bereich. Im Fokus stehen die Schulformen des Gymnasiums und Förderschulen, da sie in diesem Falle die beiden großen Gegensätze im System darstellen. Daher soll in dieser Arbeit signifikant sein, mit welchem Anteil Schülerinnen mit türkischem und vietnamesischem Migrationshintergrund diese Schulformen besuchen. Das Ergebnis soll die Untersuchung der Bildungsdisparitäten dieser beiden Gruppen unterstützen. Um diese jedoch erklären zu können, ist es notwendig, die wichtigsten theoretischen Erklärungsansätze zu erläutern.
2.3 Mögliche Einflussfaktoren auf Bildung
Nachfolgend soll ein Überblick über die wichtigsten Theorien gegeben werden, die aus bildungssoziologischer Sicht die Ursachen für Bildungsunterschiede von Schülerinnen mit Zuwanderungshintergrund erklären. Wie bereits erwähnt, wurde im Rahmen der Recherche vor allem darauf geachtet, in welcher Häufigkeit theoretische Erklärungsansätze in den empirischen Forschungen herangeführt wurden. Also sowohl migrationsspezifische Bildungsforschung, die in Deutschland sowie international anerkannt sind als auch empirische Studien zu der in dieser Arbeit erforschten Vergleichsgruppen - also solche, die die Bildungsungleichheiten von Schüler*innen mit türkischem und vietnamesischem Migrationshintergrund erforscht haben. Auf Grund der Tatsache, dass sich die ausgewählten Forschungen auf drei Erklärungsansätze beziehen, die in fast allen vorkommen, wurden vor allem diese theoretischen Erklärungsmodelle in Erwägung gezogen: Kapitaltheorie nach Bourdieu, Soziale Herkunft und sowie Humankapitalinvestitionen/Ressourcenausstattung in Migrantenfamilien. Diese genannten Erklärungsansätze für die Bildungsdisparitäten von Schülerinnen mit Migrationshintergrund sollen nachfolgend vertiefend dargestellt werden.
Kapitaltheorie
Nach Nauck und Schnoor liegt die Erklärung für den Bildungserfolg von einheimischen Kindern und Kindern mit Migrationshintergrund hauptsächlich in der Verfügbarkeit von wirtschaftlichem, soziokulturellem und sozialem Kapital, in dieser Migrantenfamilien aber beeinträchtigt sind (vgl. Nauck & Schnoor, 2015, S. 633). Die Erklärung dieser Sorten von Kapital ist auf die Kapitaltheorie des Soziologen Pierre Bourdieu (1983) zurückzuführen. Der Soziologe leistete damit einen essenziellen Beitrag, indem er eine deutliche Abhängigkeit zwischen der sozialen Herkunft und dem Erfolg in der Schule von Kindern bewies (vgl. Bourdieu 1983, S. 186). Aufgrund dieses Zusammenhangs erwerben Kinder ihren schulischen Erfolg nicht zufällig, sondern eher durch die Ausstattung der Eltern mit gewissen Kapitalformen und der damit einhergehenden Stellung in der Gesellschaft (vgl. ebd.). Diese Kapitalformen sind das ökonomische, soziale und kulturelle Kapital, das jeder Mensch nach Bourdieu besitzen würde (vgl. Bourdieu 1983, S. 185). Diese Kapitalsorten können auch als „verschiedene Arten von Macht“ (ebd.) bezeichnet werden.
Das ökonomische Kapital ist die Grundlage der anderen Kapitalsorten und „unmittelbar in Geld konvertierbar“ (Bourdieu 1983, S. 196). Neben dem Besitz von Eigentum ist vor allem der Beschäftigungsstatus und die berufliche Stellung der Eltern von entscheidender Bedeutung für den sozialen und sozioökonomischen Status (vgl. Söhn 2011, S. 153). Daraus ergibt sich auch die Menge der vorhandenen materiellen Güter, die wiederum den schulischen Erfolg beeinflussen kann (vgl. Stanat & Edele 2011, S. 186). So ist zum Beispiel eine Investition in die Bildung ihrer Kinder für Eltern erhöht risikohaft, wenn deren familiären (sozio-)ökonomischen Ressourcen als unzureichend angesehen werden (vgl. Esser 1999). Dies kann durch die Tatsache veranschaulicht werden, dass die Kosten für die Ausbildung der Kinder entsprechend den finanziellen Ressourcen der Eltern verteilt werden können. Mit anderen Worten: Der Bildungserfolg kann von den finanziellen Ressourcen abhängen. Zu erwähnen sind unterstützend wirkende Investitionen wie zusätzliche Lernmittel, Nachhilfeunterricht, Internatsbesuche und privater Unterricht (vgl. Esser 1999, S. 265ff.). Somit können wohlhabendere Familien mit weitaus höherem ökonomischem Kapital mehr in ihre Kinder und deren Bildung investieren als ärmere Familien (vgl. Kemper 2015, S. 16). Zuwandererfamilien verfügen aus verschiedenen Gründen im Durchschnitt über weniger ökonomisches Kapital. Das Qualifikationsniveau in der Herkunftsgesellschaft und in der Aufnahmegesellschaft könnte sich beispielsweise dadurch unterscheiden, dass nicht alle Bildungsabschlüsse im Aufnahmeland anerkannt werden. Kalter, Granato und Kristen (2011) sprechen dabei von der „Kontextabhängigkeit bestimmter Kapitalien“ (S. 265), die „eine naheliegende Erklärung für ethnische Nachteile“ erklärt (S. 265ff.). Außerdem waren die Arbeitsmigranten der 1950er und 1960er Jahre überwiegend gering qualifiziert, da sie in einfachen, aber körperlich anstrengenden Tätigkeiten beschäftigt wurden, für die nur geringe Löhne gezahlt wurden, so dass ihr spezifisches Kapital in der neuen Gesellschaft nicht so nützlich oder nutzbar war wie in der ursprünglichen Gesellschaft (vgl. Esser 1999, S. 151). Folglich hatten diese Menschen finanzielle Nachteile, da sie im Vergleich zum Herkunftsland nur schlecht vergütete Tätigkeiten ausüben konnten. Hieraus ergaben sich Ungleichheiten in Bildung und Einkommen sowie Unterschiede in den Handlungsmöglichkeiten der Menschen (vgl. Kemper 2015, S. 17).
Bourdieu (1983) versteht unter sozialem Kapital die „Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen" (S. 191). Von dieser Zugehörigkeit zu einer Gruppe können Individuen sowohl symbolisch als auch materiell profitieren, insbesondere wenn die Mitglieder in ihren Kapitalformen sehr reich ausgestattet sind (vgl. ebd., S. 192). Maaz und Dumont (2019) beschreiben das Sozialkapital „...als dauerhaftes Netzwerk mehr oder weniger institutionalisierter sozialer Beziehungen (...). Es wird in der Familie, in Verwandtschafts- und Nachbarschaftsgruppen, in religiösen oder ethnischen Gruppen, in Vereinen, Betrieben oder politischen Parteien gebildet“ (S. 302). Außerdem ist nach Bourdieu das soziale Kapital "das Kapital an sozialen Verpflichtungen oder .Beziehungen'“ (S. 185). Es manifestiert sich als "Netz sozialer Beziehungen, auf die eine Person zurückgreifen kann" (Stanat & Edele 2011, S. 186). Außerdem beeinflusst das soziale Kapital Migrationsentscheidungen und führt zum Beispiel zu Kettenmigration (vgl. Kemper 2015, S. 17). Aber auch die soziale Eingliederung und Integration in der Aufnahmegesellschaft hängt mit dem sozialen Kapital zusammen. Zu erwähnen ist hier vor allem, dass sich der Umfang des sozialen Kapitals durch Zuwanderung quantitativ verändern kann, wodurch Sozialkapital ebenfalls kontextabhängig ist (vgl. ebd.). So kann der schulische Erfolg von Kindern durch die Differenzen in den Selbsthilfepotentialen und dem Engagement der Migrantengruppen beeinflusst werden, zum Beispiel durch die familiäre Unterstützung im Kontext von Hausaufgaben oder Prüfungsvorbereitungen. Kemper erwähnt außerdem einen sichtbaren Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Engagement und schulischem Erfolg von Kindern in Bezug auf Elternvereine oder die Menge von Hausaufgabenhilfen (vgl. Kemper 2015, S. 18). Zudem existiert eine Abhängigkeit der Bildung von gruppenspezifischem Bildungsverhalten, wie beispielsweise in Gruppen von Gleichaltrigen oder Peers. Weiterhin kann der Schulerfolg durch die soziale Distanz zwischen Zuwanderern und der Aufnahmegesellschaft beeinflusst werden, zum Beispiel durch vermehrte Kontakte aus dem ethnischen Netzwerk, da so der Spracherwerb beeinträchtigt werden kann (vgl. ebd.). Jedoch gilt zu erwähnen, dass ein überwiegend eigenethnisches soziales Netzwerk durch soziale Distanzen oder Segregation erzwungen sein kann.
Nach der Theorie von Bourdieu kann das kulturelle Kapital in drei Formen erscheinen: (1) als inkorporiertes Kapital, (2) als objektiviertes Kapital und als (3) institutionalisiertes Kapital (vgl. Bourdieu, 1983, S. 185). Ergänzend hierzu schreiben Maaz und Dumont (2019), wie die Formen in der Wirklichkeit auftreten: Das inkorporierte Kapital tritt in Form von Kompetenzen, Werteorientierungen und Einstellungen auf, das objektivierte Kapital als Besitztum von kulturellen Gütern, wie zum Beispiel Bücher und das institutionelle Kapital in Form von Bildungsabschlüssen (vgl. S. 302). Also ist das inkorporierte kulturelle Kapital das „körpergebundene (.) verinnerlichte (.) Wissen“ eines Menschen (Bourdieu, 1983, S. 187). Dieses hat er sich durch Sozialisationsprozesse innerhalb seiner Familie bzw. seinem Habitus angeeignet. Die materiellen Gegenstücke werden durch das objektivierte und institutionalisierte kulturelle Kapital dargestellt (vgl. Bourdieu, 1983, S. 189). Dazu gehören beispielsweise Bücher oder Musikinstrumente bzw. die Bildungstitel einer Person. Maaz und Dumont erfassen den höchsten erreichten Schulabschluss oder beruflichen Abschluss sowie die Bücheranzahl im Haushalt und die kulturelle Praxis (Besuch von kulturellen Einrichtungen) als signifikante Merkmale des kulturellen Kapitals, um das Bildungsniveau einer Person zu bewerten (vgl. 2019, S. 302f.). Das institutionalisierte kulturelle Kapital hält das vom Verfall betroffene inkorporierte Kapital beständig (vgl. Bourdieu 1983, S.190). Um sich kulturelles Kapital anzueignen, ist die Ressource Zeit notwendig. Zeit ist das Bindeglied zwischen dem kulturellen und ökonomischen Kapital, das Letzteres ein fundamentaler Faktor ist, der dem Menschen Zeit gibt (vgl. ebd.).
Für den Schulerfolg spielt das kulturelle Kapital eine entscheidende Rolle. Aus den Theorien von Bourdieu lässt sich ableiten, dass nicht nur die Menschen mit einem bestimmten inkorporierten Kapital ausgestattet sind, sondern auch das Schulsystem einen bestimmten Habitus aufweist. Folglich ist ein bestimmtes Wissen darüber erforderlich, wie man sich in der Schule zu verhalten hat, denn der Habitus sorgt dafür, dass ein bestimmtes Wissen darüber erforderlich ist. Aufgrund dieses Habitus werden die Kinder, die dieses Wissen verinnerlicht haben, d. h. die Kinder mit dem entsprechenden Habitus, durch das Schulsystem sanktioniert (vgl. Bourdieu 1983, S. 186). Dieser Habitus wiederum ergibt sich aus der Sozialisierung des Kindes in der Familie und dem kulturellen Kapital der Familie, weshalb das Schulsystem also wesentlich zur Reproduktion der sozialen Ordnung beiträgt (vgl. ebd.). Deshalb erhalten immer dieselben Personengruppen mehr materielle und symbolische Vorteile als andere, da das System immer wieder bestimmte Kapitalausstattungen belohnt. Hieraus leitet sich die Kernannahme Bourdieus‘ Theorie: Der schulische Erfolg eines Kindes ist an die soziale Herkunft des Kindes gebunden. Dadurch kann man den schulischen Misserfolg von Schülerinnen mit Migrationshintergrund an das unzureichende kulturelle Kapital ketten, da vor allem diese Gruppe schulische Misserfolge in Deutschland verzeichnet. Daraus lässt sich schließen, dass der Habitus von Kindern mit Zuwanderungshintergrund nicht zu dem des Schulsystems passt. Somit kann gesagt werden, dass die soziale Herkunft der meisten Kinder mit Migrationshintergrund nicht der von dem Bildungssystem erwarteten Kapitalausstattung gleicht und deshalb deren schulische Erfolge beeinträchtigt sind. Dies entspricht Kempers Erkenntnis, dass aus ressourcentheoretischer Perspektive die Bildungsunterschiede von Schülerinnen durch die Verfügbarkeit des (familialen) kulturellen Kapitals erklärbar sind (vgl. 2015, S. 18). Denn die Menge des familialen kulturellen Kapitals ist besonders relevant für die Bildung des Kindes aufgrund des „Beitrag[es], den das Erziehungssystem zur Reproduktion der Sozialstruktur leistet, indem es die Vererbung von kulturellem Kapital sanktioniert“ (Bourdieu 1983, S. 186). Auch das Bildungsniveau der Eltern ist von großer Bedeutung, welches zudem abhängig davon ist, ob im Aufnahmeland die Abschlüsse von Zuwanderern anerkannt werden und damit darüber entscheidet, ob und in welchem Verhältnis kulturelles Kapital in ökonomisches Kapital übertragen werden kann (vgl. Kemper 2015, S. 18). Weiterhin hängen vom Umfang des (familialen) kulturellen Kapitals neben dem Lernhabitus und der Wertschätzung von Bildung auch lernrelevante Handlungen und die außerschulische Freizeitgestaltung ab, wie beispielsweise durch Theater- oder Museumsbesuche (vgl. ebd., S. 18f.).
Soziale Herkunft
Die soziale Herkunft ist wahrscheinlich die am häufigsten untersuchte kontextuelle Variable in der Bildungsforschung (vgl. Weis et al. 2018, S. 129). In zahlreichen Studien wurde ein Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulleistungen im Allgemeinen sowie bereichsspezifischen Leistungen wie der Lesekompetenz festgestellt (vgl. ebd., S. 130). Aufgrund des signifikanten Zusammenhangs mit der Schulleistung ist die soziale Herkunft ein wichtiger Faktor bei der PISA-Studie (2018). Die PISA-Studie 2000, die eine sehr hohe Korrelation zwischen sozialer Herkunft und Lesekompetenz bei deutschen Jugendlichen aufzeigte, sorgte in der Bildungsforschung für viel Diskussionsstoff. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass Familien mit Migrationshintergrund in Deutschland häufig einen niedrigeren sozialen Status haben (vgl. Weis et al. 2018, S. 130). Zudem zeigte sich, dass diese sozialen Unterschiede in Zuwandererfamilien in Deutschland höher sind als in anderen Teilnehmerstaaten, wobei der Status der Migration, also ob selbst zugewandert oder in Deutschland geboren, eine wesentliche Rolle spielt (vgl. ebd.). Trotz des deutlich belegten Einflusses der sozialen Herkunft kann sie die Disparitäten von Schülerinnen mit Migrationshintergrund nicht allein vollständig erklären. Daher ist hier eine Differenzierung der Indikatoren notwendig, die die soziale Herkunft ausmachen. Denn hier kristallisieren sich weitere tiefgreifende Themengebiete und Einflussfaktoren, die einzeln betrachtet werden müssen und folgend im Kontext der sozialen Herkunft erläutert werden. Hierzu gehört die Bildung der Eltern, der sozioökonomische Status und die Sprache (vgl. Weis et al. 2018, S. 130ff.).
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- Citation du texte
- Orhan Gül (Auteur), 2022, Bildungsdisparitäten von Migranten in Deutschland. Ein Vergleich der Lebenswelten von Schüler:innen mit türkischem und vietnamesischem Migrationshintergrund, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1285479
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