Was genau ist unter sozialer Ungleichheit zu verstehen? Was sind ihre Dimensionen? Und wie zeigt sich soziale Ungleichheit konkret in unterschiedlichen sozialstaatlichen Systemen? In welchen Bereichen sind diese angesiedelt und welche Bevölkerungsgruppen sind besonders davon betroffen? Welche Erkenntnisse lassen sich daraus ziehen? Und nebenbei – was bedeutet das für die Soziale Arbeit? Das Ziel dieser Arbeit ist es, Bereiche sozialer Ungleichheit in den Wohlfahrtssystemen in Deutschland und Großbritannien herauszuarbeiten und in einem abschließenden Vergleich zu analysieren, wo sich in den beiden Sozialsystemen soziale Ungleichheiten ansiedeln.
Die Präsenz des Themas soziale Ungleichheit ist allgegenwärtig und in vielen Industrieländern von besonderer Relevanz. Es ist zu beobachten, dass auch hier soziale Ungleichheiten wachsen und zunehmend mehr Menschen als arm gelten. So ergeben sich auch in vielen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit Berührungspunkte mit Personen, die von sozialer Ungleichheit betroffen sind. Denn soziale Probleme entstehen oftmals infolge eines Mangels an Bildung, Armut, Erwerbs- oder Wohnungslosigkeit. Daraus ergibt sich für die Soziale Arbeit die Aufgabe, die durch soziale Ungleichheit entstehenden ungleichen Lebensbedingungen von Klienten zu lindern oder je nach Arbeitsfeld auch ungleiche gesellschaftliche Bedingungen zu ändern.
Für eine in der Sozialen Arbeit tätige Person besteht die Notwendigkeit, dieses Thema zu reflektieren, um die Lebenswelt der Betroffenen im ganzheitlichen System besser verstehen zu können. Das Problem der sozialen Ungleichheit stellt den Schwerpunkt dieser Arbeit dar. Es wird anhand der Untersuchung und des Vergleichs zweier verschiedener sozialstaatlicher Systeme – das Deutschlands und das Großbritanniens – beleuchtet.
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Dimensionen sozialer Ungleichheit
2.1 Definition sozialer Ungleichheit
2.2 Klassen-und Schichttheorien
3 Wohlfahrtssysteme im Vergleich
3.1 Einordnung der Vergleichsländer in Typologien
3.1.1 Typologie nach Esping-Andersen
3.1.2 Das Bismarck-Modell in Deutschland
3.1.3 Das Beveridge-Modell in Großbritannien
3.2 Institutionelle und politische Rahmenbedingungen
3.2.1 Soziale Sicherung und Bildung in Deutschland
3.2.2 Besonderheiten der deutschen Sozialpolitik
3.2.3 Soziale Sicherung und Bildung in Großbritannien
3.2.4 Besonderheiten der britischen Sozialpolitik
4 Soziale Ungleichheit innerhalb Deutschlands
4.1 Gesundheit
4.2 Berufliche Integration und Erwerbsstatus
4.3 Bildung
4.4 Armut
5 Soziale Ungleichheit innerhalb Großbritanniens
5.1 Gesundheit
5.2 Berufliche Integration und Erwerbsstatus
5.3 Bildung
5.4 Armut
6 Deutsch-britischer Vergleich: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
6.1 Vergleich der sozialen Ungleichheit innerhalb und zwischen Deutschland und Großbritannien
6.1.1 Gesundheit
6.1.2 Berufliche Integration und Erwerbsstatus
6.1.3 Bildung
6.1.4 Armut
6.2 Soziale Ungleichheit zwischen den beiden Vergleichsländern im Überblick bei Betrachtung von drei Ungleichheitsmaßen
7 Zusammenfassung, Schlussfolgerungen und Ausblick
8 Literaturverzeichnis
9 Abbildungsverzeichnis
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
ARB Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung
BIP Bruttoinlandsprodukt
BMAS Bundesministerium für Arbeit und Soziales
BMFSFJ Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
bpb Bundeszentrale für politische Bildung
EHCI Euro Health Consumer Index
EU Europäische Union
EU-SILC European Union Statistics on Income and Living Conditions
GBP Great Britain Pound
GII Gender Inequality Index
GKV Gesetzliche Krankenversicherung
GP General Practioner (=Hausarzt in Großbritannien)
HDI Human Development Index
NGOs Non-Governmental Organizations
NHS National Health Service
NICs National Insurance Contributions
OECD Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
SGB Sozialgesetzbuch
SGI Sustainable Government Indicators
SOEP Sozio-oekonomisches Panel
UK United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland
UNDP United Nations Development Programme
Hiermit erkläre ich, dass ich des besseren Leseflusses wegen in dieser Arbeit für personenbezogene Bezeichnungen stellvertretend das generischeMaskulin verwenden werde. Damit beziehe ich mich auf Männer und Frauen in gleicher Weise.Ich habe mich bemüht, soweit möglich geschlechtsneutrale Formulierungen zu verwenden. Es ist jedoch möglich, dass an manchen Stellen Formulierun- genin Form des generischen Maskulinszu lesen sind.
1 Einleitung
Die Präsenz des Themas ,soziale Ungleichheit ist allgegenwärtig und in vielen Industrieländern von besonderer Relevanz. Es ist zu beobachten, dassauchhier sozialeUngleichheiten wachsen und zunehmendmehrMenschen alsarmgelten. So ergeben sich auch in vielen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit Berührungspunkte mit Personen, die von sozialer Ungleichheit betroffen sind. Denn soziale Probleme entstehen oftmals infolge eines Mangels an Bildung, Armut, Erwerbsoder Wohnungslosigkeit. Daraus ergibt sich für die Soziale Arbeit die Aufgabe, die durch soziale Ungleichheit entstehenden ungleichen Lebensbedingungen von Klienten zu lindern oder je nach Arbeitsfeldauchungleiche gesellschaftliche Bedingungen zu ändern (vgl. Diezinger/Mayr-Kleffel 2009, S. 5). Für eine in der Sozialen Arbeit tätige Person besteht die Notwendigkeit, dieses Thema zu reflektieren, um die Lebenswelt der Betroffenen im ganzheitlichen System besser verstehen zu können. Das Problemder sozialen Ungleichheit soll den Schwerpunkt dieser Arbeit darstellen. Es wird anhand der Untersuchung und des Vergleichs zweier verschiedener sozialstaatlicher Systeme - das Deutschlands und das Großbritanniens1 - beleuchtet.
Doch was genau ist unter sozialer Ungleichheit zu verstehen? Was sind ihre Dimensionen? Und wie zeigt sich soziale Ungleichheit konkret in unterschiedlichen sozialstaatlichen Systemen? In welchen Bereichen sind diese angesiedelt und welche Bevölkerungsgruppen sind besonders davon betroffen? Welche Erkenntnisse lassen sich daraus ziehen? Und nebenbei -was bedeutet das für die Soziale Arbeit? Diese Fragestellungen bilden die Grundlage für die theoretische Untersuchung der Thematik und sollen im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen.
Die Auswahl von Deutschland und Großbritannien als Untersuchungsgebiet hat mehrere Gründe. Auf den ersten Blick scheinen sich die Lebensbedingungen in den beiden Ländern nicht wesentlich zu unterscheiden - sowohl Deutschland als auch Großbritannien sind westeuropäische Nationen mit hohem Wohlfahrtsniveau. Der Hauptgrund für eine vergleichende Betrachtung ist, dass beide Länder jeweils Prototypen unterschiedlicher Wohlfahrtsregime sind, worauf im weiteren Verlauf der Arbeit näher eingegangen werden soll.Das Ziel der Arbeit soll sein, Bereiche sozialer Ungleichheit in den jeweiligen Wohlfahrtssystemen herauszuarbeiten und in einem abschließenden Vergleich zu analysieren, wo sich in den beiden Sozialsystemen soziale Ungleichheiten ansiedeln.
Trotz der Beschränkung auf zwei Länder umfasst das Themengebiet ein sehr breites Spektrum. Viele Bereiche sind miteinander verwoben und lassen sich nicht einfach voneinander abgrenzen. Daher wird beim Erstellen dieser literaturbasierten Arbeit eine pragmatische Eingrenzung vorgenommen, die den Schwerpunkt auf Bereiche legt, die für die Soziale Arbeit relevant sind. Sie wird aus der Sicht der soziologischen Makroperspektive aufbereitet. Das bedeutet, dass die einzelnen als Hintergrund für den späteren Vergleich relevanten Bereiche in Form einer Vogelperspektive umrissen werden. Deshalb sind die jeweili- genBeschreibungenso angelegt, dass sie einen Überblick ermöglichen undzu- gleichnicht zu sehr ins Detail gehen sollen.
So wird in Kapitel zwei vorwiegend auf die theoretische Betrachtung und die Dimensionen sozialer Ungleichheit eingegangen, im Speziellen auf Schicht- und Klassenmodelle. Daran anschließend werden im dritten Kapitel die beiden Vergleichsländer Deutschland und Großbritannien in Typologien eingeordnet und diese theoretisch betrachtet. An dieser Stelle sind vor allem das Bismarck- und das Beveridge-Modell sowie die Typologie nach Esping-Andersen von Bedeutung. Zudem soll hier auch dem sozialen Sicherungssystem und dem Bereich Bildung sowie Besonderheiten der jeweiligen Sozialpolitik Beachtung geschenkt werden.Um die beiden Sozialsysteme daraufhin vergleichen zu können, werden nach der Beschreibung im vierten und fünften Kapitel verschiedene Bereiche der Sozialpolitik beider im Fokus stehender Länder anhand der konkreten aktuellen Lage beleuchtet und mit Blick auf soziale Ungleichheit untersucht. Hier sollen die Bereiche Gesundheit, berufliche Integration und Erwerbsstatus, Bildung und Armut jeweils im Vordergrund stehen.
Nachdem sowohl auf den Aspekt der sozialen Ungleichheit als auch auf die konkrete Ausgestaltung der Sozialpolitik beider Länder jeweils anhand von konkreten Bereichen und dem Einbezug aktueller Reporte und Studien einge- gangen wurde, sollen die beiden Länder im sechsten Kapitel miteinander verglichen werden. Dabei werdenkonzeptionelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Ländern in Hinblick auf soziale Ungleichheit herausgearbeitet. So wird zuerst die soziale Ungleichheit innerhalb und zwischen Deutschland und Großbritannien in Vergleich gesetzt. An dieser Stelle sollen die Ungleichheiten zwischen den beiden Ländern in den zuvor betrachteten Bereichen Gesundheit, berufliche Integration und Erwerbsstatus, Bildung und Armut im Mittelpunkt stehen. Dabei wird auch denjeweils besonders von sozialer Ungleichheit betroffenen Gruppen innerhalb der Länder Beachtung geschenkt. Anschließend wird ein Überblick über die soziale Ungleichheit zwischen den beiden Ländern geschaffen. Die Darstellung soll hier vor allem anhand des Gini-Koeffizienten, des Human-Development- und Gender-Inequality-Index erfolgen und anhand von Gegenüberstellungen veranschaulicht werden. Das siebte und damit letzte Kapitel soll eine Zusammenfassung der herausgearbeiteten Erkenntnisse, Schlussfolgerungen dazu sowie einen Ausblick auf zukünftige Entwicklungen enthalten.
Abb. 1: Übersicht
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: eigene Darstellung
2 Dimensionen sozialer Ungleichheit
DerBegriff der sozialen Ungleichheit wird sehr unterschiedlich gefasst.In dieser Arbeit wird zuerst die Definition nach Hradil aufgearbeitet. Dabei soll auch eine Einordnung nach absoluter und relativer Ungleichheit vorgenommen werden. Eine weitere Einteilung in vertikale und horizontale Ungleichheit wird kurz erläutert sowie verschiedene Dimensionen nach Hradilbetrachtet. Anschließend wird in einem Unterkapitel näher auf Klassen- und Schichttheorien eingegangen, da diese für die Sozialstruktur Großbritanniens und Deutschlands grundlegend sind. Hier werden zuerst Klassenmodelle betrachtet, da diese historisch früher entstanden sind. Zuletzt wird die Begrifflichkeitsozialer Lagen, sozialer Milieus und Lebenslagen geklärt. Diese sind grundlegend für viele Statistiken, die bei der späteren Betrachtung der beiden Vergleichsländer zum Tragen kommen.
Ein weiteres gängiges Modell ist das der Exklusion und Inklusion. Es ist das jüngste der aufgeführten Modelle. Es ist bipolar angelegt, indem nur dem ,Drin- nen‘ oder dem ,Draußen‘ Beachtung geschenkt wird. Da es lediglich einen eingeschränkten Blickwinkel ermöglicht (vgl. Geißler 2014), wird es in dieser Arbeit nicht genauer ausgeführt.
2.1 Definition sozialer Ungleichheit
Nach Hradil (2001) liegt soziale Ungleichheit vor,„wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den wertvollen Gütern einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten“ (S. 30). Der Begriff der wertvollen Güter ist hier zentral.Je mehr dieser wertvollen Güter jemand besitzt, desto besser sind die Lebensbedingungen. Die Güter werden dadurch wertvoll, dass in jeder Gesellschaft gewisse Werte vorrangig sind. Zum Beispiel haben die meisten Menschen eine genaue Vorstellung davon, was sie persönlich unter einem guten Leben verstehen. Um dieses zu verwirklichen, ist eine gewisse Menge an Gütern nötig. Des Weiteren ist die Verteilung selbiger wertvoller Güter und die Frage, ab welchem Punkt sie ungleich verteilt sind, zentral (vgl. Hradil 2001, S. 28). So kann soziale Ungleichheit zum Beispiel Unterschiede in dem Niveau von Einkommen, Ressourcen, Macht, Status, sozialem Kapital sowie sozialer Inklusion und Exklusion beschreiben (vgl. Warwick-Booth 2019, S. 2).
Bei der Betrachtung des Begriffs der Ungleichheit ist wichtig, dass zwischen absoluter und relativer Ungleichheit unterschieden wird. Absolut ist Ungleichheit, wenn ein Gesellschaftsmitglied von den wertvollen Gütern mehr als ein anderes erhält. Dahingegen erfasstder Begriff relative Ungleichheitvielmehr die Kriterien der Verteilung. Wenn hier der Faktor Verdienst berücksichtigt wird, kann dieser in gewissen Fällen auch höher sein alsdie tatsächliche Leistung der Person wert ist. Im soziologischen Fachjargon ist die absolute Ungleichheit bei Betrachtung sozialer Ungleichheit gemeint. So wird hier auch von sozialer Ungleichheitgesprochen, wenn ein Handwerker weniger Lohn erhält als ein Akademiker -obschon dasnicht als ungerecht angesehen werden kann.
Die Begriffsverwendung von sozialer Ungleichheitist somitnicht zwingend mit problematischen Ungleichheiten geleichzusetzen, wie im Volksmund oftmals verwendet. Ein letzter wichtiger Aspekt in Hinblick auf die Definition sozialer Ungleichheit ist, dass die wertvollen Güter regelmäßig absolut ungleich verteilt sind und diese Ungleichverteilung folglich von Dauer ist. Dieses Kriterium ist von Relevanz, wenn Macht-und Einkommensunterschiede betrachtet werden. Kurzweilige, aktuelle Ungleichheitenwerden in der Soziologie nicht als soziale Ungleichheiten bezeichnet, sondern als natürliche oder individuelle Ungleichheiten. Soziale Ungleichheit kann sowohl innerhalb einer Gruppe als auch zwischen verschiedenen Gruppen untersucht werden (vgl. Hradil 2001, S. 28ff). Soziale Ungleichheit kann durch verschiedene Verfahren gemessen werden - durch Verwendung von Armutsgrenzen, Prüfen von Einkommen und Lohn, Vergleich von Wachstum (z.B. Bruttoinlandsprodukt), Vergleich von menschlicher Entwicklung (Human-Development-Index), Messungen von Reichtum, Verwenden von Instrumenten wie dem Gini-Koeffizienten, Überprüfen der Kaufkraft, Betrachtung von sozialer Exklusion und Messungen des Wohlbefindens (vgl. Warwick-Booth 2019, S. 5).
Es wird in der soziologischen und sozial-epidemiologischen Diskussion oftmals von vertikaler oder horizontaler sozialer Ungleichheit gesprochen. Vertikale soziale Ungleichheit meint primär hierarchische gesellschaftliche Strukturen, wie Einkommen, beruflichenStatus und Bildung. Dahingegen beschreibt die horizontale soziale Ungleichheit Unterschiede nach Geschlecht, Nationalität und Familienstand (vgl. Mielck 2000, S. 357).
Es gibt eine Vielzahl an Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit. Um diese greifbar und allgemeinverständlich darzustellen, wurden diese Erscheinungsformen zu verschiedenen Dimensionen als beschreibende Kategorien ge- bündelt. Nach Hradil, dem Verfasser einer der Standardwerke zu sozialer Ungleichheit in Deutschland, sind die bekanntesten dieser Dimensionen vor allem materieller Wohlstand, Macht und Prestige. In heutigen Gesellschaften, wie unserer stark an Wissen und Information orientierten, spielt laut ihm Bildung in Hinblick auf soziale Ungleichheit als vierte Dimension eine führende Rolle. Mehr denn je hat Bildung in der Gesellschaft eine Art Schlüsselfunktion, indem sie sich auf angestrebte Werte wie Sicherheit oder Wohlstand zunehmend auswirken kann(vgl. Hradil 2001, S. 31).
Ferner wird in Hinblick auf die bereits genannten Dimensionen zwischen objektivenund subjektivenUngleichheitenunterschieden. Als objektiveUngleich- heit kann hier beispielsweise der formale Bildungsgrad gelten, da dieser unabhängig von persönlicher Einschätzung Vorteile oder Nachteile innehat. Folglich gilt als subjektive Ungleichheit, was Individuen jeweils aus persönlicher Sicht als Ungleichheit empfinden. Hier können Integration oder Prestige als Beispiele aufgeführt werden. Zur empirischen Erforschung sozialer Ungleichheit, sind geeignete Indikatoren notwendig. Bei Betrachtung der Dimensionen Bildung und materieller Wohlstand ist es für Sozialwissenschaftler beispielsweise hilfreich, wenn sie mithilfe von messbaren Faktoren wie Geld oder Bildungsabschluss Indikatoren bilden, um die Dimensionen erfassen zu können. Jedoch kann sich die Bildung von Indikatoren bei andersartigen Dimensionen schwieriggestalten. Hierfür sind Prestige und Macht beispielhaft. In ebendiesen Fällen kann es notwendig sein, verschiedene Indikatoren zu kombinieren oder sogar eigene Schlüsse zu ziehen und auf eine Dimension zu übertragen. Um von einer tatsächlichen Besserstellung wohlhabender Menschen sprechen zu können, müssen Konsequenzen im privaten und öffentlichen Leben miteinbezogen werden, da erst dort die Bedeutung sozialer Ungleichheiten in ihren speziellen Dimensionen ersichtlich werden kann. So misst sich Wohlstand beispielsweise nicht nur am Vermögen, sondern auch an Freiheitsgraden und sozialen Kontakten (vgl. Hradil 2001, S. 32ff). Die bereits erwähnten Ungleichheiten wie Bildungsabschlüsse, Einkommen und Macht haben heutzutage großen Einfluss auf Lebenschancen, Denken und Verhalten von Menschen, die in modernen Gesellschaften leben. Doch soziale Ungleichheiten bestehen nicht lediglich innerhalb dieser Dimensionen, da es weitere Einflussfaktoren gibt, die die Situation eines Menschen zum Besseren oder zum Schlechteren wenden können. Diese Einflussfaktoren sind Lebensbedingungen, die mehr von existenzieller Relevanz sind als Ressourcen darstellen. Diese Lebensbedingungen umfassen Arbeits-, Freizeit-, Wohn-, Umwelt-und Infrastrukturbedingungen und werden als neue soziale Ungleichheiten bezeichnet. Diese bekommen vermehrt Bedeutung zugesprochen (vgl. Hradil 2001, S. 299f.).
2.2 Klassen- und Schichttheorien
Bei der Betrachtung der Definition und der Dimensionen sozialer Ungleichheit innerhalb von Gesellschaften lässt sich ein Gefüge erkennen. Die europäische Sozialgeschichte kann auf eine Abfolge einiger dieser Gefüge schließen lassen - es ging von Ständen über Klassen bis hin zu Schichten und vielschichtigen Soziallagen (vgl. Hradil 2001, S. 37). An dieser Stelle stehen Klassen- und Schichttheorien im Vordergrund, da Großbritannien und Deutschland durch Unterschiede in der gesellschaftlichen Struktur gekennzeichnet sind. So weist die Gesellschaft in Großbritannien Merkmaleeiner Klassengesellschaft auf.Dortha- ben die gesellschaftlichen Klassen nach wie vor große Bedeutung. Klassenunterschiede sind in Großbritannien wesentlich gravierenderals in anderen westlichen Ländern, was auch zu einer verhältnismäßig geringeren sozialen Mobilität führt (vgl. Händel/Gossel 2002, S. 32f.). Dahingegen weist die Sozialstruktur Deutschlands eine höhere soziale Mobilität auf (vgl. Groß 2015, S. 53). Klassen- theorienhabeneinen theoretischen und erklärenden Charakter, wohingegenMo- delle sozialer Schichtung einen beschreibenden und empirischen Charakter in Bezug auf soziale Ungleichheit haben (vgl. Bendel 2015, S. 183f.). Wie im vorigen Kapitel beschrieben, ist eine zentrale Fragestellung bei der Untersuchung sozialer Ungleichheit, wie ungleich bewertete Güter in einer Gesellschaft verteilt sind. Klassen-und Schichttheorienkönnen darauf spezifische Antworten liefern, indem sie die Verteilung der ungleich bewerteten Güter durch eine Einteilung von Menschen in verschiedene größere Gruppierungen vornehmen. Die Theorien besagen, dass die Zugehörigkeit zu Klassen und Schichten Barrieren bedingen, die schwierig zu überschreiten sind(vgl. Groß 2015, S. 1).
Eine der ältesten und bekanntesten TheorienzursozialenUngleichheit ist die Klassentheorie von Karl Marx, welche von vielen Seiten stark kritisiert wurde (vgl. Bendel 2015, S. 181f.). Dennoch spielt der Klassenbegriff hier eine Rolle, da Klassen in Großbritannien immer noch bedeutend für die Sozialstruktur des Landes sind(vgl. Händel/Gossel S. 33). Das Konzept der Klassen beruht auf dem Gesamtwerk von Karl Marx (vgl. Groß 2015, S. 15). Bei Marx wird die Gesellschaft primär als wirtschaftende Gesellschaft gesehen. Die Art, in der eine Gesellschaft wirtschaftet, ist durch die zur Verfügung stehenden Produktivkräfte bestimmt. Die Auswertung der Produktivkräfte bestimmt in der Folge die Produktionsverhältnisse (vgl. Geiger 1955, S. 432). Als Produktionsverhältnisse bezeichnet Marx die ökonomischen Verhältnisse, auf die in der Folge eingegangen wird (vgl. Bendel 2015, S. 181). Es wird zwischen einem abstrakten Klassenmodell und einem, das spezifische Merkmale von Klassen beschreibt, unterschieden. Das abstrakte Modell ist zweigliedrig. Es bezieht sich darauf, welche Stellung Einzelne im Produktionsprozess haben. Marx spricht von Industriegesellschaften. In diesen stünden sichdemnachKapitalisten und Proletarier gegenüber. Die Produktionsmittel wie Maschinen gehörten demnach nur den Kapitalisten. Die Proletarier besäßen hingegen ausschließlich ihre Arbeitskraft. Daher könnten beide Parteien allein keine Waren oder Dienstleistungen hervorbringen, seien also aufeinander angewiesen. Somit bliebeden Proletariern nichts anders übrig, als ihre Arbeitskraft an die Kapitalisten zu verkaufen (vgl. Groß 2015, S. 16; Bendel 2015, S. 182). Diese nutzten die gekaufte Arbeitskraft, um in Kombination mit ihren Produktionsmitteln Waren herzustellen. Dadurch entsteheeine Asymmetrie der Machtverhältnisse, da die Proletarier auf die Kapitalisten angewiesen seien, wodurch es den Kapitalisten möglich werde, die Proletarier auszubeuten. Das Modellvon Marx erntete Kritik wegen seiner Dichotomie (vgl. Groß 2015, S. 17). Vor allem der deutsche Soziologe Theodor Geiger übte Kritik an Marx Modell (vgl. Bendel 2015, S. 182). Diese besteht darin, dass soziale Ungleichheiten in modernen Gesellschaften vielschichtiger bedingt seien. Darüber hinaus moniert er, dass Marx'Aussagen sich als nicht verrückbar darstellen. Dadurch lassen sie eine erfahrungswissenschaftliche Überprüfung nicht zu (vgl. Bendel 2015, 182f.; Geiger 1955, S. 433). Auch Marx selbst sah ein, dass das zweigliedrige Modell sich nicht empirisch anwenden ließ, da in der Realität viele unterschiedlich abgestufte Klassen existieren, die sich nicht so leicht einstufen lassen. Mit diesem abstrakten Modell skizziertMarx die ökonomischen Strukturen des Kapitalismus auf. Das Klassenkonzept von Marx hat bis heute Einfluss auf die Analyse sozialer Ungleichheit. Der Klassenbegriff begründet sich lediglich durch die Stellung im Produktionsprozess, da ein Proletarier durch fehlende Mittel keine Möglichkeit hat, etwas an seiner Klassenlage zu ändern. Daher sind Klassen bei ihm nicht als Gruppen von Individuen zu sehen, sondern vielmehr als zu besetzende Stellen. Dadurch bietet das Modell die Grundlage für ein kausales Modell der Entstehung sozialer Ungleichheit, da die Nachteile der einen Klasse (Ausbeutung der Proletarier) zugleich die Vorteile der anderen Klasse (Kapitalisten) darstellt. Somit spielt es dabeikeine Rolle, wie viel die jeweiligen Beteiligten verdienen. Darüber hinaus wird der Begriff der Klassenstruktur von dem der Klassenbildung unterschieden. Denn bei letzterem stellt sich die Frage, wie sich die leeren Stellen zu einer Gruppe vereinen. Aufgrundder entgegengesetzten Interessen von Proletariern und Kapitalistenkommt es zu Klassenbildung. Der dadurch entstehende Konflikt bedingt sozialen Wandel. Eine Essenz des Marx'schen Modells ist, dass Kritik an ungerechten Ungleichheitsstrukturen ausgeübt wird, da die Kapitalisten, ohne am Erschaffen der Waren oder Dienstleistungen beteiligt zu sein, sich an diesen bereichern können (vgl.Groß 2015, S. 17ff).
NebenKarl Marx war auch Max Weber ein klassischer soziologischerVer- treter der Klassentheorie. Er setzte den Klassenbegriff in Kombination mit einem ,Standesbegriff‘ (vgl. Groß 2015, S. 24). Demnach beruhen soziale Ungleichheiten nicht nur auf der Stellung zu Produktionsmitteln, sondern auch auf diesen beiden Begriffen. Weber führt mit dem Standesbegriff noch die Bedeutung von Lebensverhältnissen ein (vgl. Bendel 2015, S. 183). Klassen sind der Wirtschaftsordnung zuzuteilen, wohingegen Stände auf einer sozialen Ordnung beruhen (vgl. Weber 1976, S. 177ff). Hier ist danach zu differenzieren, dass bei Klassenlagen die Stellung im Markt zählt und Stände einen Einfluss auf diese haben. So können sich Standesmitglieder leichter ökonomische Vorteile verschaffen, indem sie Personen, die einem niedrigeren Stand angehören, ausschließen (vgl. Groß 2015, S. 27f.). Webers Modell hat einen kausalen Charakter sozialer Ungleichheit - sie entsteht dadurch, dass Ressourcen auf dem Markt verwertet werden und nicht wie nach Marx durch Ausbeutung. Die Grenzen zwischen Klassen sind bei Weber fließender als bei Marx. Obschon Weber nicht darauf hingearbeitet zu haben schien, hat er damit eine Vorarbeit für spätere Schichtungsmodelle geleistet (vgl. Groß 2015, S. 31f.).
Das Konzept der Schichtung bildet den Zusammenhang zwischen Beruf und Bildung, Einkommen und Lebensstandard deutlich ab. Auch das ist ein Grund dafür, dass es seit den 1960er Jahren vorwiegend Verwendung findet.
Ungleichheit wird hier in Zusammenhang mit allgemein verfügbaren Ressourcen gesetzt, deren Niveau unterschiedlich sein kann (vgl. Diezinger/Mayr-Kleffel 2009, S. 39). Eine der ersten und wichtigsten Ausarbeitungen des Schichtkonzepts stammt von Theodor Geiger. Dieser entwickelte den Schichtbegriff als er sich mit Marx'Theorien auseinandersetzte. Wie bereits beschrieben, hatte er an selbigenKritik geübt. Geigers Ausgangspunkt war, dass durch Schichten Personen mit vergleichbarem sozialem Status zusammengefasst werden. Der soziale Status umfasst dabei unter anderem Chancen und Risiken (vgl. Groß 2015, S. 33). Nach einer Definition Theodor Geigers (1955) bedeutet Schichtung „Gliederung der Gesellschaft nach dem typischen Status (den Soziallagen) ihrer Mitglieder, ohne nähere Bestimmung dieser Soziallagen oder der Merkmale, an die sie im geschichtlichen Sonderfall geknüpft sind“(S. 432). Geigerhatte den Begriff der Schicht von den Erdschichten aus dem Gebiet der Geologie abgeleitet und auf soziale Ungleichheit in der Gesellschaft übertragen (vgl. Diezinger/Mayr-Klef- fel 2009, S. 39f.). Die Struktur innerhalb einer Gesellschaft wird als Schichtung bezeichnet und beinhaltet meist mindestens zwei, in der Regel aber mehrere Schichten (vgl. Geiger 1955, S. 432). Geiger hatte bereits eine Dreiteilung der sozialen Schichtung vorgenommen, die für die heutige Dreiteilung in Ober-, Mittel- und Unterschicht grundlegend war. Auf Basis dieser Dreiteilung und einer Zuordnung von fünf Schichten hatte er in den Jahren von 1925 bis 1932 eine empirisch gestützte Untersuchung angestrengt,bei der er unter anderem Berufsstatistiken und Umfrageergebnisse auswertete. Hierdurch bildete er die Größe der drei Lagen und fünf Schichten ab. Geiger hatte somit einen Grundstein gelegt (vgl. Diezinger/Mayr-Kleffel 2009, S. 40f.). Einzelne Schichten bestehen aus mehreren Personen, die ein gemeinsames Merkmal verbindet. Diese gemeinsamen Merkmale werden als Schicht-Determinanten bezeichnet. Als Merkmalsträger hat die Schicht sowohl einen Status in der Gesellschaft als auch einen Status im Verhältnis zu anderen in der Gesellschaft existierenden Schichten. Als Schicht bezeichnet Geiger (1955)„die Gesamtheit der Personen innerhalb einer Bevölkerung, denen irgendein Merkmal gemein ist“ (S. 433). Damit erfolgt die Feststellung einer Schicht dadurch, dass zählbare Merkmale identifiziert werden (vgl. Geiger 1955, S. 432f.).
Bei Geiger ist von großer Relevanz, dass bei ihm im Vergleich zu den Klassenmodellen bestimmte Mentalitäten eine zentrale Position einnehmen -der Schichtbegriff kommt lediglich in Zusammenhang mit der jeweiligen Mentalität zustande (vgl. Groß 2015, S. 37). Hradil (2001) sieht den Begriff der sozialen Schichtung infolge der Entwicklung der Industriegesellschaften dagegen vor allem im Kontext Beruf, da dieser im vergangenen Jahrhundert zunehmend in den Mittelpunkt der Gesellschaft rückte und im Zuge dessen das Besitztum von dieser Position ablöste, welches dem Klassenbegriff nach Marx zuzuordnen war. So beschreibt er den Terminus Schichtals „Gruppierung[en]von Menschen mit ähnlich hohem Status innerhalb einer oder mehrerer berufsnaher Ungleichheitsdi- mensionen“(S. 40).Diese Definition zeigt, dass soziale Ungleichheiten innerhalb der Dimensionen gesehen werden, die in Verbindung mit dem Beruf stehen,wie Einkommen oder Berufsprestige. Wenn Berufshierarchie in einer Gesellschaft besondere Bedeutung gewinnt, folglich das dadurch geprägte Gefüge sozialer Schichtung andere Gefüge überschattet, wird diese Gesellschaft als Schichtungsgesellschaft bezeichnet. Es wird gesagt, dass diese auch offener hinsichtlich vertikaler Mobilität sei als zum Beispiel eine Klassengesellschaft oder historisch weitere Gefüge. Denn Schichtbegriffe bedingen durch den beruflichen Bezug Möglichkeiten des Auf-und Abstiegs(vgl. Hradil 2001, S. 40). Schichtmodelle fanden in den 1950er und 1960er Jahren erstmals bedeutendeVerwendung. Die ersten Schichtmodelle waren quantitativer Art. Sie gingen davon aus, dass Bevölkerungsgruppen mit knappen Ressourcen quantitativ unterschiedlich ausgestattet sind, daher mehr oder weniger davon besitzen. Das führt zu einem Unterschied in den unterschiedlichen Lebenslagen der Bevölkerungsgruppen. Zusammengefasst ginges um die Verteilung. Die Anordnung der Schichten ist vertikal, was sich mit der bereits erwähnten Orientierung Geigers an den Erdschichten verdeutlichen lässt. Eine gängige Anordnung ist die der Dreiteilung in Ober-, Mit- tel-und Unterschicht, die zum Teil jeweils nochmal untergliedert werden. Ferner tritt bei diesem Schichtmodell auch der Begriff soziale Mobilität ein, der davon ausgeht, dass die Schichten durchlässig sind (vgl. Diezinger/Mayr-Kleffel 2009, S. 41).Moderne Schichtmodelle sind überwiegend Konzepte mehrerer Dimensionen sozialer Ungleichheit und beziehen sich in der Folge auf mehrere Merkmale sozialer Relevanz. Diese Merkmale werden als empirisches Maß verwendet. Unterschiedliche Ausprägungen in Dimensionen lassen auf den sozialen Status einer Person schließen. Die Anzahl der zu kombinierenden Merkmale ist von Modell zu Modell unterschiedlich. In den meisten Fällen ist von Bildungs-, Berufs- und Einkommensstatus auszugehen. Das zeigt, dass die materiellen Lebenslagen dadurch bestimmt sind, wie die individuellen Merkmale kombiniert werden. Moderne Schichtmodelle sind folglich deskriptiver, wohingegen die ersten Schichtmodelle quantitativer Art waren. Demgegenüber haben quantitative Unterschiede auch bei modernen Modellen Relevanz, denn sich auf Schicht beziehende Lebensbedingungen handeln auch von einem ,Mehr‘ oder ,Weniger‘ an Ausstattung (vgl. Diezinger/Mayr-Kleffel 2009, S. 42ff).
Ein bis heute relevantes Modell sozialer Schichtung ist ein von Ralf Dahrendorf konstruiertes Modell in der Form eines Hauses. Dieses Modell wurde von Rainer Geißler fortentwickelt und ausdifferenziert, besonders in Hinblick auf den Dienstleistungssektor.Es zeigt insgesamt neun verschiedene Schichten (vgl. Bendel 2015, S. 185f.):
Abb. 2: Soziale Schichtung der deutschen Bevölkerung 2009 nach Rainer Geißler
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Geißler 2014
Bei Geißler ist das wichtigste Kriterium die Berufsposition. Auffallend ist, dass Geißler die Schichten horizontal anordnet und die Schichtgrenzen außerdem durchlässiger zu werden scheinen. Bei bisherigen Schichtmodellen war die Anordnung überwiegend vertikal (vgl. Diezinger/Mayr-Kleffel 2009, S.51f.).Es lässt sich also festhalten, dass die Zahl der Schichten zugenommen hat und die Übergänge zwischen den Schichten fließender geworden sind (vgl. Bendel 2015, S. 185). Neuere Schichtmodelle wie das Geißlers verdeutlichen, dass der Blick hinsichtlich Analysen der Sozialstruktur zunehmend auf differenzierte Merkmale gerichtet wird, wie zum Beispiel Ressourcen oder die Mentalität Betroffener.Für die Soziale Arbeit könnte sich so eine Möglichkeit bieten, die Lebenssituationen von Klienten differenzierter zu erfassen, da in Geißlers Modell Schichteinflüsse auf Lebensbedingungen und das soziale Handeln gestaffelt dargestellt werden. Dadurch könnten Attributionen bezüglich der Schichtzugehörigkeit vermieden werden (vgl. Diezinger/Mayr-Kleffel 2009, S. 57).
Die herkömmlichen Schichtmodelle sind in Hinblick auf die Soziale Arbeit kritisch zu betrachten, da ein großer Teil der Zielgruppen durch sienicht erfasst wird. Das betrifft vor allem Klienten, die keinen Beruf oder keinen Beruf mehr haben, da die Dimensionen eine eindeutige Nähe zum Kontext Beruf aufweisen. Sie sind dennoch nicht irrelevant und bestimmen professionelle Wahrnehmung. So sind zum Beispiel die Ausstattung von Klienten mit materiellen Ressourcen, das daraus resultierende gesellschaftliche Ansehen sowie die vertikale Abstufung der Lebensumstände von Relevanz. Bei Betrachtung der Schichtkonzepte zeigt sich der soziale Status einer Person, wodurch sich die Defizite erkennen lassen. Es lässt sich darauseine Forderung nach Kompensation ableiten, die die Lebenschancen von Personen, die unter benachteiligten Bedingungen leiden, erhalten soll. In Schichtmodellen werden Gruppen relativ grob in Rastern verortet. Viele Klienten teilen sich selbst bestimmten Gruppen des Sozialgefüges zu, weshalb dem Modell auch aus der professionellen Sicht eines Sozialpädagogen trotzdem noch Beachtung geschenkt werden muss (vgl. Diezinger/Mayr-Kleffel 2009, S. 47).
Zuletzt wird das Konzept der sozialen Lagen, der sozialen Milieus und des Lebensstils umrissen. Während in herkömmlichen Schichtmodellen, wie bereits beschrieben, vor allem vertikale Ungleichheiten zwischen oben und unten zugrunde liegen, beziehen Modelle der sozialen Lagen zudem horizontale Ungleichheiten, wie zum Beispiel das Alter, mit ein (vgl. Geißler 2014). Bolte und Hradil begründeten Mitte der 1980er Jahre die Ungleichheit in der Bundesrepublik als eine Wohlstandsgesellschaft, die von der Mittelschicht dominiert ist. Sie differenzierten diese Überlegung dahingehend aus, dass auch individuelle Merkmale und Einzelfälle mit einbezogen werden müssen. So sollte die vertikale Ausrichtung der Dreiteilung dadurch ergänzt werden, dass horizontal differenziert wird (vgl. Diezinger/Mayr-Kleffel 2009, S. 45f.). In Soziallagen besitzen Menschen einen speziellen Status. Soziallagen beschreiben einen Zustand, in dem die Lebensumstände der Menschen in spezieller Artund Weise gekennzeichnet sind (vgl. Geiger 1955, S. 433). Hradil bezieht den Begriff soziale Lage auf die bereits im vorigen Kapitel erwähnten neuen sozialen Ungleichheiten, die infolge veränderter Lebensbedingungen zunehmend an Bedeutung bekommen haben und hat damit eine andere Auffassung von dem Begriff als Geiger. Hierzu gehören auch Freizeitbedingungen, da sich soziale Ungleichheit von der Ausschließlichkeit des Berufsbezugs langsam abwendet und sich auch auf das Umfeld von Personen beziehen kann. „Als soziale Lage bezeichnet man die Situation einer Bevölkerungsgruppe, deren Lebensbedingungen maßgeblich durch eine bestimmte soziale Position (Determinante) geprägt und ähnlich gestaltet werden“ (Zapf/Habich 1996, zit. nach Hradil 2001, S. 43). Es lassen sich beispielsweise auch Studierende als sich in einer bestimmten sozialen Lage befindend bezeich- nen(vgl. Hradil 2001, S. 43).
Die Begriffe der sozialen Milieus und Lebensstile werden erwähnt, da sie für das Verständnis folgender Statistiken von Bedeutung sein werden. Gemäß Hradil (2001) „fassen soziale Milieus Gruppen Gleichgesinnter zusammen, die gemeinsame Wertehaltungen und Mentalitäten aufweisen und auch die Art gemeinsam haben, ihre Beziehungen zu Mitmenschen einzurichten und ihre Umwelt in ähnlicher Weise zu sehen und zu gestalten“(S.45). Lebensstile beschrei- ben dagegen einen sich kontinuierlich wiederholenden Gesamtzusammenhang, in welchem sich ein Individuum verhält und auch, wie genau es seinen Alltag strukturiert (vgl. Hradil 2001, S. 45f.). Von Milieu- und Lebensstilkonzepten gibt es eine Vielzahl (vgl. Bendel 2015, S. 190).
3 Wohlfahrtssysteme im Vergleich
„Die wohlfahrtsstaatliche Politik - so die These - prägt Lebenschancen und strukturiert soziale Ungleichheit, indem sie Privilegien zuweist und entzieht, indem sie das Gefüge aus sozialen Rechten und Pflichten ordnet und justiert“ (Vogel 2010, S. 154).
Eine Einordnung in Typologien erleichtert das Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen verschiedenen Wohlfahrtsstaaten. Vorab ist zu erwähnen, dass die meisten Staaten Mischsysteme haben und die Eingruppierung als Tendenz zu sehen ist. Die klassische Wohlfahrtsforschung unterschied zweiSysteme -das Bismarck-und das Beveridge-Modell. Das BismarckModell basiert auf beitragsfinanzierten Sozialversicherungen, die in der Regel an Erwerbsarbeit geknüpft sind. Dahingegen stellt sich das Beveridge-Modell als steuerfinanzierte Mindestsicherung für alle Bürger dar (vgl. Oschmiansky/Kühl 2010):
Abb. 3: Beveridge-Modell und Bismarck-Modell des Wohlfahrtsstaats
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Oschmiansky/Kühl 2010
Mit dem Anwachsen der vergleichenden Forschung innerhalb der Sozialpolitik, stellte sich zunehmend die Frage nach einer sinnvollen Eingruppierung der teilweise sehr differierenden Sozialstaaten. Im Jahr 1990 präsentierte G0sta Esping-Andersen in seiner Studie „Three Worlds of Welfare Capitalism" einen Vorschlag der Einteilung, der aktuell häufig Verwendung findet. Die von ihm eingeführtendrei Typen liberal, sozialdemokratisch und konservativ wurden nachträglich um den garantistischen Typus erweitert (vgl. Opielka 2008, S. 34). Ein Grund für den deutsch-britischen Vergleich ist,dassbeideLänder jeweils Proto- typen unterschiedlicher Wohlfahrtsregime sind. Nach dem Schema Esping-Andersens repräsentiert Deutschland einen konservativen (Bismarck-Modell) und Großbritannien tendenziell einen liberalen Wohlfahrtsstaat (Beveridge-Modell) (vgl. Böhnke/Delhey 1999, S. 5). Aufgrund dessen werden in dieser Arbeit auch lediglich diese beiden Typologien genauer erläutert.
3.1 Einordnung der Vergleichsländer in Typologien
3.1.1 Typologie nach Esping-Andersen
Es wird an dieser Stelle auf die Typologie des Wohlfahrtsstaats nach EspingAndersen im Speziellen eingegangen, da diese für die Einordnung von Beveri- dge-und Bismarck-System von großer Bedeutung ist. Die Typologie soll das zugrundeliegende Verständnis der Wohlfahrtsregime fördern und veranschaulichen. Esping-Andersen wirftzu Beginn seiner Studiedie Frage auf, was die Kernelemente einer sozialen Staatsbürgerschaft seien und kommt zu folgendem Resümee -inerster Linie sollen die sozialen Rechte eines jeden gewährleistet sein (vgl. Esping-Andersen 2010, S. 60).
Um einzelne Länder zu einem Sozialstaatstypus (liberal, konservativ, sozialdemokratisch) zuordnen zu können, kommen bei Esping-Andersen drei zu verknüpfende Analysekriterien zum Einsatz, die letztlich zur Unterscheidung dienen sollen:
1. Das Ausmaß der Dekommodifizierung (vgl. Opielka 2008, S. 34). De- kommodifizierung „bezeichnet bei Esping-Andersen den Grad, inwieweit Menschen unabhängig von ihrer Marktposition Zugang zu Sozialleistungen haben" (Bundeszentrale für politische Bildung 2012). Hier wird folglich danach kategorisiert, inwieweit das Verhältnis zwischen Staat und Markt bei der Erbringung von Sozialleistungen logisch erscheint (vgl. Oschmi- ansky/Kühl 2010).
2. Das Ausmaß der Stratifizierung. Damit ist der Grad gemeint, in dem die Sozialpolitik eines Wohlfahrtsstaates gesellschaftlicheMachtverteilung undVerhältnisse strukturiert(vgl. Opielka 2008, S. 34; Oschmiansky/Kühl 2010).
3. Als letztes Kernelement wird aufgeführt, dass der Wohlfahrtsstaat als Schnittstelle zwischen Markt, Familie und Staat fungiert. Diese Prinzipien müssen vor jeder theoretischen Betrachtung von Wohlfahrtsstaaten konkretisiert werden (vgl. Esping-Andersen 2010, S. 60).
Esping-Andersen sah diese drei Analysekriterien als Idealtypen an. In der Empirie hat sich jedoch gezeigt, dass Mischformen der Idealtypen der Wirklichkeit heutiger Wohlfahrtsstaaten näherkommen (vgl. Opielka 2008, S. 34).
Abb. 4: Typen und Dimensionen moderner Wohlfahrtsstaaten nach Esping-Andersen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Oschmiansky/Kühl 2010
Nach Esping-Andersen wird Deutschland in ein konservatives und Großbritannien meistin ein liberales Wohlfahrtsregime eingeteilt.Allerdings stieß sein Konzept auch auf Kritik. Vor allem die Einordnung Großbritanniens in das liberale Cluster wurde infrage gestellt. Für diese Arbeit ist es jedoch von geringerer Bedeutung, welches Etikett genau passend ist.2 Entscheidend soll sein, dass beide Länder definitiv als unterschiedliche Wohlfahrtssysteme charakterisiert werden. Für die Gruppierung unterschiedlicherSystemein Typologiensindwie zuvor be- schriebender Grad der Dekommodifizierung von Sozialleistungen,die Stratifizie- rung durchSozialleistungen und der Mischungaus Markt, Familie und Staat maßgebend. Diese institutionellen Merkmale haben sich im historischen Verlauf der Wohlfahrtsregime entwickelt. Darauf sowie auf dieAuswirkungen der Sozialpolitik auf die Schichtung und moralische Grundsätze wird in den folgenden beiden Unterkapiteln jeweils eingegangen (vgl. Böhnke/Delhey 1999, S. 5f.; Oschmi- ansky/Kühl 2010).
Abb. 5: Typen des Wohlfahrtsstaates
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Oschmiansky/Kühl 2010
Großbritannien lässt sich liberalen Wohlfahrtsstaaten zuordnen, in denen besonders die Rolle des freien Marktes und die Familie im Vordergrund stehen. Dieser Wohlfahrtstypus ist vorrangig steuerfinanziert und Transferleistungen beruhen in der Regel auf einer Prüfung der Bedürftigkeit. Die Voraussetzungen für Ansprüche sind hoch und die Leistungen als solche niedrig (vgl. Oschmi- ansky/Kühl 2010). In liberalen Systemen werden staatliche Interventionen genutzt, um Auswirkungen des Marktes zu reduzieren, was sich meist positiv auf soziale Ungleichheiten auswirkt (vgl. Warwick-Booth 2019, S. 224). Diesem Wohlfahrtstypus gehören unter anderem auch Kanada, die USA, Australien und die Schweiz an. Deutschland gehört dagegen zu den konservativen Wohlfahrtsstaaten. In diesen sind Versicherungsleistungen vordergründig. Geprägt ist diese Form durch das Sozialversicherungsmodell Bismarcks, das im folgenden Kapitel genauer beschrieben wird. In konservativen Staaten,zu denen neben Deutschland auch Frankreich und Österreich gehören, besteht eine starke Verknüpfung zwischen Lohnarbeit und Sozialleistungen. Das kann zur Folge haben, dass sich nicht am Erwerbsleben beteiligende Frauen oft von diesen ausgeschlossen werden. Zudem ist der Faktor der Umverteilung bei diesem Wohlfahrtstypus gering (vgl. Oschmiansky/Kühl 2010). In konservativen Systemen werden soziale Ungleichheiten als unvermeidlich angesehen. Durch öffentliche Sparmaßnahmen wird es schwer, ihnen entgegenzuwirken (vgl. Warwick-Booth 2019, S. 224). Die Theorie der Wohlfahrtsregime verdeutlicht, dass die konkrete Ausgestaltung eines Wohlfahrtsstaats wesentlich ist und zeigt den zentralen Stellenwert, den Sozialpolitik in modernen Gesellschaften einnimmt (vgl. Opielka 2008, S. 37).
3.1.2 Das Bismarck-Modell in Deutschland
Deutschland war eines der Länder, die als Wegbereiter für sozialstaatliche Sicherungssysteme fungierten. Der damalige Reichskanzler Otto von Bismarck führte Ende des 19. Jahrhunderts die Sozialversicherungsgesetze ein. Ursprünglich war sein Ansinnen, auf diese Weiserevolutionärem Gedankengut der sozialdemokratisch engagierten Bevölkerung vorzubeugen. Infolge der Industrialisierung traten ökonomischeund soziale Probleme zunehmendin den Vordergrund, wie das erhöhte Unfallrisiko der Arbeiter in den Fabriken. Dieses gesellschaftliche Problem wurde als ,soziale Frage‘ bezeichnet. Bismarck sah diese Entwicklung und reagierte darauf mit einer Sozialgesetzgebung. Im Jahr 1883 wurde die Krankenversicherung ins Leben gerufen und im darauffolgenden Jahr die Unfallversicherung. 1889 kamen die Alten- und die Invalidenversicherung hinzu. Die Arbeitslosenversicherung wurde erst einige Zeit später, im Jahr 1927, eingeführt. Diese Gesetzgebung führte jedoch letztendlich nicht zu dem, was sich Bismarck erhofft hatte. Stattdessen wurden Organisationen der Arbeiter gestärkt und ihre politischen Handlungsmöglichkeiten verbessert. Die Absicherungen durch die Sozialversicherungsgesetze waren anfangs ausschließlich für die Arbeitnehmer bestimmt und hatten keine existenzsichernde Funktion. Daraus entwickelte sich das bis heute geltende Prinzip, dass ein enger Bezug zwischen der Höhe der Beiträge und der Leistung besteht. Nach Esping-Andersen zählt Deutschland daher zu konservativen Wohlfahrtsstaaten und wird als Bismarck-Modell typisiert (vgl. Schmid 2002, S. 105f.).
In den folgenden Jahrzehnten differenzierte sich das System weiter aus. Zwar blieben die vier Grundpfeiler Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung in ihrer ursprünglichen Form weitestgehend bestehen, doch gab es Veränderungen in Hinblick auf Art und Umfang der Leistungen sowie den Adressatenkreis, der mit der Zeit nicht mehr ausschließlich die erwerbstätige Bevölkerung umfasste. 1995 wurden die vier Grundpfeiler durch die Einführung der Pfle- geversicherung erweitert und ergänzt. Über die Jahre kam es aber auch zu einigen richtungsweisenden Reformen. So wurde 1957 unter der Regierung Adenauers die Rente reformiert, indem die bis heute geltenden Prinzipien der Beitragsäquivalenz und der Einkommensbezogenheit eingeführt wurden. Dadurch sollte sichergestellt werden, dass Lebensstandard und Sozialstatus der Beitragszahler auch im Alter gewahrt werden können. Anfang der siebziger Jahre entstand in der Bevölkerung der Wunsch nach mehr sozialer Teilhabe (vgl. Schmid 2002, S. 106). Infolgedessen kames unter der damals sozialliberalen Regierung zu einer Erweiterung des Gebiets der Sozialpolitik. Unter anderem kam an dieser Stelle zur passiven die aktive Arbeitsmarktpolitik hinzu. Das bedeutete, dass der Fokus vermehrt auch auf Arbeitsvermittlung, Umschulung und Weiterqualifizierung gerichtet wurde, um es Arbeitnehmern zu erleichtern, am Arbeitsmarkt auch bei Problemen weiter teilzuhaben. Zudem kam es 1972 zu einer Rentenreform, in welcher eine flexible Altersgrenze eingeführt wurde und die Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige festgelegt wurde. Die Öl- und Wirtschaftskrise 1973/74 hatte großen Einfluss auf die Sozialpolitik in Deutschland, da unter anderem durch steigende Arbeitslosenzahlen die Ausgaben plötzlich deutlich anstiegen. Anschließend gab es einen Trend, bei dem es zu Kürzungen und Einschnitten in der Sozialpolitik kam. Eine weitere Hürde stellte bei historischer Betrachtung die Deutsche Einheit im Jahr 1990 dar. Hier mussten Finanzen und Regulierung des Sozialstaats neu gefasst werden. Rückblickend gelang der Transfer von Finanzmitteln und Institutionen in die neuen Bundesländer und das System der damaligen BRD konnte sich auch in den neuen Bundesländern gut etablieren (vgl. Schmid 2002, S. 107). Auf die Konsequenzen der Wiedervereinigung für den Osten und Westen Deutschlands wird im Unterkapitel 3.2.2 im weiteren Verlauf dieser Arbeit vertieft eingegangen.
Nach einem Abriss der historischen Entwicklung des Bismarck-Modells wird der Blick abschließend noch auf dessen politische Grundsätze gerichtet. Eine sozialethische Formel hat sich aus den Kernelementen der Französischen Revolution abgeleitet - Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Sie stellt eine Richtlinie dar, die gleichzeitig die Basis für Maßnahmen wie Umverteilung beschreibt. Des Weiteren existieren drei Prinzipien, die für die Ausgestaltung der sozialen Sicherung des Bismarck-Systems maßgebend sind - Versicherung, Fürsorge und Versorgung. Diese sind vor allem Grundlage bei der Absicherung der Bevölkerung in Hinblick auf soziale Notfälle und deren Finanzierung, falls sie eintreten. Das Versicherungsprinzip beinhaltet, dass soziale Risiken durch Beiträge abgedeckt werden. Diese sozialen Risiken werden dadurch als berechenbar angesehen. Die Leistungen stehen jedoch nicht in Verbindung mit der Höhe der gezahlten Beiträge. Das Versorgungsprinzip ist für Entschädigungen aus Steuermitteln zuständig, wie beispielsweise an Beamte, die Kriegsfolgen erlitten haben und damit dem Staat ein Opfer erbracht haben. Dahingegen besagt das Prinzip der Fürsorge, dass Menschen einen Rechtsanspruch auf Hilfe haben, wenn sie sich nicht mehr selbst zu helfen wissen und keine anderweitige Unterstützung erhalten. In diesem aus Steuermitteln finanzierten Prinzip werden auch Einzelfälle erkannt und berücksichtigt (vgl. Schmid 2002, S. 108ff).
3.1.3 Das Beveridge-Modell in Großbritannien
Da die Industrialisierung ihre Wurzeln in Großbritannien hatte, kamen hier im Vergleich zu anderen europäischen Ländernfrüh die daraus resultierenden sozialen Notlagen auf. Infolgedessen beschloss die damalige Regierung eine gesetzliche Neuregelung der Armenfürsorge namens Poor Law.3 Parallel zu diesen Entwicklungen kam es im 19. Jahrhundert auch zu Formen freiwilliger gegenseitiger Unterstützung, die vor allem besserverdienende Arbeiter als Zielgruppe hatten. Hierzu gehörten Gewerkschaften, Versicherungsgesellschaften sowie sogenannte ,Friendly Societies', welche Vereine gegenseitiger Unterstützung waren. Diese Ansätze zeigten Anfänge einer sich langsam entwickelnden kollektivistischen Wohlfahrtsvorstellung, die Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend größere Bedeutung gewann. Ein Wegbereiter dieser entscheidenden Entwicklung war das bereits 1897 verabschiedete Arbeitsunfallgesetz namens Workmen's Compensation Act. Es war das erste allgemeine System, das finanzielle Entschädigung bot, wenn es zu einem sozialen Risiko kam. Zudem sollte hier der entstandene Schaden zwischen Arbeitern und Arbeitgebern aufgeteilt werden, wodurch das System auch an das Prinzip der späteren allgemeinen Sozialversicherung erinnerte. Im Jahr 1906 wurde das Gesetz reformiert und der Versichertenkreis ausgedehnt, da der Geltungsbereich um nahezu alle Beschäftigungszweige und Berufskrankheiten erweitert wurde. Zwei Jahre später, im Jahr 1908, wurde ein Rentengesetz mit dem Namen Old Age Pensions Act erlassen, in welchem festgelegt wurde, dass Personen ab 70 Jahren eine pauschale und aus Steuern finanzierte Rente erhalten sollten. Es bestand kein Zusammenhang zwischen diesem Gesetz und der Armenfürsorge, die zu dieser Zeit stigmatisierenden Charakter besaß. Somit war zum ersten Mal ein rechtlicher Anspruch auf finanzielle Unterstützung geschaffen worden.
1911 kam es zum National Insurance Act, im Rahmen dessen eine verpflichtende, allgemeine, beitragsfinanzierte Kranken- und Arbeitslosenversicherung eingeführt wurde, bei der nahezu alle abgängig Beschäftigten als versicherungsberechtigt galten. In den folgenden Jahren gab es diesbezüglich kleinere Reformen. So wurden beispielsweise die Renten in die allgemeine Sozialversicherung integriert (vgl. Schmid 2002, S. 161f.).
Erst gegen Ende des zweiten Weltkriegs kam es erneut zu wesentlichen Veränderungen des sozialen Sicherungssystems in Großbritannien. Grundlegend dafür war der 1942 veröffentlichte sogenannte Beveridge Report. In diesem wurden die Grundprinzipien des künftigen Wohlfahrtsstaates festgeschrieben (vgl. Schmid 2002, S. 162): „Universalität, eine umfassende Risikoabsicherung ("comprehensiveness") sowie Angemessenheit der Leistungen“ (Schmid 2002, S. 162).
[...]
1 Der Begriff ,Großbritannien‘ wird der besseren Lesbarkeit wegen in dieser Arbeit überwiegend verwendet. Es können jedoch hinter der Bezeichnung auch Daten und Fakten stehen, die sich auf das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland (UK)als Ganzesbeziehen. Das hat den Hintergrund, dass in offiziellen statistischen Untersuchungen nahezu ausschließlich Daten über das Vereinigte Königreich vorliegen. Aufgrund der mangelnden Möglichkeit der Trennung werdenin derlei Fällen diese Ergebnisse verwendet, um Aussagen über Großbritannien zu treffen.
2 Schmid (2002) bezeichnet das Beveridge-System als eine „Hybridform verschiedener Wohlfahrtstypen“ (S. 164) und begründet diese Aussage damit, dass das System einerseits Züge des konservativen Wohlfahrtstypus aufweist, wie zum Beispiel, dass mehr in Form von Versicherungsleistungen unterstützt wird als durch Fürsorgeleistungen, die am Bedarf orientiert sind. Andererseits weist das System aber auch Züge des liberalen Wohlfahrtstypus auf, da diese pauschalierten Versicherungsleistungen das Einkommen nur in geringer Weise ersetzen und der Einzelne bezüglich weitergehender Absicherung auf private Vorsorge verwiesen wird. Zusätzlich lassen sich aber auch Elemente aus dem sozialdemokratischen Wohlfahrtstypus finden, wie zum Beispiel das universal ausgerichtete soziale Sicherungssystem und die öffentliche Produktion von Leistungen. Daher rührt auch die Bezeichnung des Beveridge-Systems als ,liberal-kollektivis- tisch‘, was bedeutet, dass die Institutionen Markt und Familie eine maßgebende Rolle spielen und der Staat nur bei deren Versagen hinzutritt. Demgegenüber stehen aber die öffentliche Wohlfahrtsbereitstellung, das Prinzip der Universalität und eine nationale Einheitlichkeit, worin sich kollektivistische Merkmale erkennen lassen (vgl. Schmid 2002, S. 164f.).
3 EXKURS ,Poor Law‘: Bei dieser Neuregelung gab es drei zentrale Merkmale: Erstens wurde zwischen hilflosen und arbeitsfähigen Armen unterschieden. Selbsthilfe galt als essentieller Umstand zur Überwindung von Armut. Diese Auffassung beruhte auf einer damals bei der Erstellung des Poor Law herrschenden individualistischen Grundhaltung. Somit wurden arbeitsfähige Arme nicht durch Armenfürsorge unterstützt, da ihre Arbeitskraft noch genutzt werden sollte. Stattdessen waren speziell für diese Gruppe sogenannte Arbeitshäuser eingerichtet worden, in denen harte Arbeits-und Lebensbedingungen herrschten. Die Unterstützungsleistungen wurden nur gewährt, wenn die als arbeitsfähig angesehenen Armen diese beschwerlichen Bedingungen hinnahmen und so ihre Bedürftigkeit eingestanden. Nur als hilflos bezeichnete Arme erhielten die bloße Unterstützung der Armenfürsorge. Zu diesen Leistungsempfängern gehörten zum Beispiel alte oder kranke Menschen, die nicht fähig waren, für ihren eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Die zwei weiteren Merkmale waren zum einen die Tatsache, dass die Ausgestaltung der Fürsorgeleistungen auf Abschreckung ausgelegt war und zum anderen, dass das Niveau der Fürsorgeleistungen den Betroffenen nur einen sehr niedrigen Lebensstandard ermöglichte. Dieser lag unter dem Lebensstandard, den die niedrigsten Lohngruppen zu dieser Zeit hatten (vgl. Schmid 2002, S. 161). Im Zuge der gesetzlichen Neuregelung des Poor Law wurde darauf spekuliert, dass die Ärmsten diese Unterstützung nicht in Anspruch nehmen und sich nicht in den Arbeitshäusern einbringen würden. Dafür maßgebend war, dass die daraus entstehenden Vorteile für diese Bevölkerungsgruppe sehr gering ausfielen und die resultierende Stigmatisierung sehr hoch war (vgl. Esping-Andersen 2010, S. 60).
- Arbeit zitieren
- Anonym,, 2019, Soziale Ungleichheit in Deutschland und Großbritannien. Ein Vergleich der Wohlfahrtssysteme, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1285452
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