Ausgangspunkt unseres Ausfluges in die Eigenheiten der Sinne wird eine Schrift sein, die in einmaliger Weise aufzeigt, wie Wahrnehmung aus einer phänomenologischen Perspektive sich zeigt, wie sie uns erscheint. Maurice Merleau-Ponty liefert mit seiner „Phänomenologie der Wahrnehmung“ ein Dokument, das sich in seiner einmaligen Vielfalt auch nahezu 60 Jahre nach der Ersterscheinung dazu eignet, Unzulänglichkeiten gängiger und populärer Meinungen bezüglich des Status und der Bedeutung unserer Wahrnehmung aufzuweisen und zu korrigieren. Wir wählen diese Schrift deshalb, weil es eine zentrale Fragestellung des französischen Autors ist, wie die Empfindungen dazu beitragen eine Welt zu erfahren, die undurchdringlich und unfertig ist und dabei jeden Bereich stellt, in dem wir leben. Die Bedeutung der Wahrnehmung ist dabei eine grundlegende, ihr Modus ist, wie noch zu zeigen sein wird, der einer „originären Erfahrungsweise“ (PdW,254)1.
Der erste Teil der Untersuchung widmet sich dem Leib als Ursprung unseres Verhältnisses zur Welt. Nach einer kurzen Überschau leiblicher Typiken werden die einzelnen Sinne isoliert dargestellt, dies unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion für die Erfahrung von Widerstand innerhalb der Lebenswelt. Schließlich bleibt zu klären, wie sinnliche Leistungen erfahren werden und warum intellektualistische wie auch empirische Verfahren zur Bestimmung ihrer Eigenheiten die Gänze des Phänomens nicht zu umfassen vermögen.
Danach wenden wir unsere Erkenntnisse an auf Umgebungen, die in einem weiten Sinne als „virtuelle“ zu bezeichnen sind. Wir sind um die Beantwortung der Frage bemüht, inwiefern diese Medien, diese Spielarten bildlicher Darstellungen uns Widerstand bieten können. Beleuchtet wird deren Beschaffenheit immer im Kontrast zu zentralen Thesen Merleau-Pontys.2 Daran anknüpfend verlagert sich der Themenschwerpunkt auf Mikrotechnologien, die gezielt um, im oder sogar als Leib „arrangiert“ werden, um Nuancierungen oder Perfektionierungen jeglicher Wahrnehmungen vorzunehmen und dabei aber vielfach auf Grenzen stoßen, die nicht zu umgehen sind. Materialität und Widerständigkeit scheinen dort nur denkbar als gedachte Momente.
Letztlich wird zu zeigen versucht, warum virtuelle „Welten“ streng genommen keine Welten sind. Ob Mißverständnis, begriffliche Unschärfe oder gar Absicht: Jene imaginären Welten gerieren sich rücksichtslos als mögliche Verdoppelung bzw. Verbesserung der Lebenswelt.
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Die Wahrnehmung: Zugang zum Sein.
2.1. Der Leib als „Mittel überhaupt, eine Welt zu haben.“
2.2. Die Tastempfindungen.
2.3. Das Sehen.
2.4. Das Hören.
3 Zusammenspiel: Die „Gesamterfahrung“.
3.1. Das Feld der Synästhesien.
3.2. Der Dialog.
4 Das Netz: „Raum“ des Imaginären.
4.1. Kalküle und das anthropomorphe Raster.
4.2. Jenseits des Horizonts.
5 Materialität im Zwielicht.
6 Zur Weltgeltung virtueller Welten.
7. Zusammenfassung.
„Die »Vernunft« ist die Ursache, dass wir das Zeugnis der Sinne fälschen. Sofern die Sinne das Werden, das Vergehen, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht ...“
Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung
„Das Imaginäre ist ohne Tiefe, antwortet nicht auf unsere Bemühung, unseren Gesichtspunkt abzuwandeln, leiht sich nicht unsere Beobachtung. Niemals vermögen wir fest in ihm Fuß zu fassen.“
Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung
1. Einleitung
Wenig verfänglich erscheint es uns, von Wahrnehmung zu sprechen. Immer schon haben wir eine Ahnung von ihr, wir kommen in der alltäglichen Rede auf sie zurück, wenn es um die Art und Weise unseres leiblichen Zugangs zur Welt geht. Selbstverständlich sind die wahrgenommenen Dinge dabei keineswegs. Vor dem Hintergrund je neuer Entwicklungen in Optik, Kybernetik und Informationstechnik wird fraglich, was Wahrnehmung noch sein kann, wenn bildgebende Geräte, das Gesichtsfeld ausfüllende Apparaturen oder gar körperinvasive Techniken zur „Steigerung“ oder Umgestaltung gewisser Sinnesleistungen imstande sind und auch genutzt werden – nicht nur aus medizinischen Gründen.
Diese Arbeit widmet sich einem Thema, das mit Wahrnehmung auch, jedoch nicht ausschließlich zu tun hat. Es geht um die Erfahrung von Widerständigkeit in einer Welt, deren imaginierte Abbilder sie selbst zu verdecken drohen und deren Sinngehalte allzuleicht als hausgemachte erscheinen. Diskutiert werden problematische Züge moderner Theorien und Technologien, die darin darin bestehen, dass sie Ansprüche der Welt an uns leugnen, indem sie dieselbe als virtuelle Konstruktion generieren oder sich ihrer epistemologisch bemächtigen, um letztlich ihre Widerständigkeit, ihre Widersinnigkeit zu umgehen oder gar aufzuheben.
Ausgangspunkt unseres Ausfluges in die Eigenheiten der Sinne wird eine Schrift sein, die in einmaliger Weise aufzeigt, wie Wahrnehmung aus einer phänomenologischen Perspektive sich zeigt, wie sie uns erscheint. Maurice Merleau-Ponty liefert mit seiner „Phänomenologie der Wahrnehmung“ ein Dokument, das sich in seiner einmaligen Vielfalt auch nahezu 60 Jahre nach der Ersterscheinung dazu eignet, Unzulänglichkeiten gängiger und populärer Meinungen bezüglich des Status und der Bedeutung unserer Wahrnehmung aufzuweisen und zu korrigieren. Wir wählen diese Schrift deshalb, weil es eine zentrale Fragestellung des französischen Autors ist, wie die Empfindungen dazu beitragen eine Welt zu erfahren, die undurchdringlich und unfertig ist und dabei je den Bereich stellt, in dem wir leben. Die Bedeutung der Wahrnehmung ist dabei eine grundlegende, ihr Modus ist, wie noch zu zeigen sein wird, der einer „originären Erfahrungsweise“ (PdW,254)[1].
Der erste Teil der Untersuchung widmet sich dem Leib als Ursprung unseres Verhältnisses zur Welt. Nach einer kurzen Überschau leiblicher Typiken werden die einzelnen Sinne isoliert dargestellt, dies unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion für die Erfahrung von Widerstand innerhalb der Lebenswelt. Schließlich bleibt zu klären, wie sinnliche Leistungen erfahren werden und warum intellektualistische wie auch empirische Verfahren zur Bestimmung ihrer Eigenheiten die Gänze des Phänomens nicht zu umfassen vermögen.
Danach wenden wir unsere Erkenntnisse an auf Umgebungen, die in einem weiten Sinne als „virtuelle“ zu bezeichnen sind. Wir sind um die Beantwortung der Frage bemüht, inwiefern diese Medien, diese Spielarten bildlicher Darstellungen uns Widerstand bieten können. Beleuchtet wird deren Beschaffenheit immer im Kontrast zu zentralen Thesen Merleau-Pontys.[2] Daran anknüpfend verlagert sich der Themenschwerpunkt auf Mikrotechnologien, die gezielt um, im oder sogar als Leib „arrangiert“ werden, um Nuancierungen oder Perfektionierungen jeglicher Wahrnehmungen vorzunehmen und dabei aber vielfach auf Grenzen stoßen, die nicht zu umgehen sind. Materialität und Widerständigkeit scheinen dort nur denkbar als gedachte Momente.
Letztlich wird zu zeigen versucht, warum virtuelle „Welten“ streng genommen keine Welten sind. Ob Mißverständnis, begriffliche Unschärfe oder gar Absicht: Jene imaginären Welten gerieren sich rücksichtslos als mögliche Verdoppelung bzw. Verbesserung der Lebenswelt. Eine Zusammenfassung der ausgemachten Probleme und Schlüsse runden diese Schrift ab. Doch kehren wir zu einem Anfang zurück...
2. Die Wahrnehmung: Zugang zum Sein
2.1 Der Leib als „Mittel überhaupt, eine Welt zu haben“
Menschliches[3] Leben und Erleben, jegliches Verhalten überhaupt ist stets bezogen auf
eine Welt. Zur-Welt-sein[4] kann der Mensch allein aufgrund seiner leiblichen Verfasstheit: Sie fundiert und strukturiert Wahrnehmung, lässt ihn teilhaben an den vielfältigen Gestaltungen seiner Umwelt und ist gleichsam das Mittel, Anderen oder Anderem zu begegnen.
Die eminent wichtige Rolle der leiblichen Wahrnehmung innerhalb Merleau-Pontys Philosophie der Endlichkeit[5] kommt jedoch nicht von ungefähr. Sie kündigt eine Abkehr von intellektualistischen als auch empiristischen Versuchen an, das spannungsreiche Verhältnis zwischen Subjekt und Welt aufzuschlüsseln: Reflexive Analyse wie auch empirische Beschreibung „wahren der Wahrnehmung gegenüber Abstand, anstatt sich auf sie einzulassen“ (PdW,47). Der Wahrnehmung wird durch den Aufweis ihrer leiblichen Organisation eine Bedeutung zurückerstattet, die ihr z. B. von Descartes und Kant in nur unzureichendem Umfang zugestanden wurde. Sie ist Grundphänomen jeglichen Weltbezugs überhaupt.
Dieses Denken jenseits von Geistphilosophie und Materialismus entlarvt zwangsläufig die Unfähigkeit des Bewusstseins, jegliche Konstitution von Sinn übernehmen zu können. Wahrnehmung und Ding fallen keineswegs zusammen, da dem Leibkörper eine prekäre Zweideutigkeit (ambiguité) zueigen ist. Er eröffnet uns Spielräume möglichen Verhaltens, dies aber weder als reines Bewusstsein, noch als reine Natur, da beide ineinander greifen, ineinander verschränkt sind, ohne in einem Höheren aufzugehen.[6] Als empfindender und empfundener Leib zugleich ist er stets auf beiden Seiten des Konstitutionsgeschehens situiert, ist er handelnd und erleidend zugleich. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Doppelempfindung des Tastens.[7]
Berühre ich mit meiner rechten Hand die linke, so wird mir dies nicht in der Weise gewahr, als spielten „zweierlei Empfindungen in eins“ (PdW,118). Dieser Vorgang ist vielmehr als ein „alternieren“ (ebd.) der beiden Glieder in ihren Funktionen als Berührendes (Subjekt) bzw. Berührtes (Objekt) zu deuten. Der Leib zeichnet sich dabei durch eine ihm inhärente Reflexionsfähigkeit aus, die jedoch nicht an ein Erstes heranreicht: „Wenn meine linke Hand meine rechte berührt und ich mit meiner rechten Hand die linke Hand, die gerade berührt, bei ihrer Arbeit überraschen will, so mißlingt diese Reflexion des Leibes auf sich selbst immer im letzten Augenblick“ (SU,24). Der Leib wird durch diese Tasterfahrung mitkonstituiert, wenn auch bloß „unvollkommen“[8], da er sich aufgrund seiner fixen, perspektivischen Zuwendung zur Welt dabei selbst im Wege steht. Er ist keineswegs möglicher Gegenstand für ein »Ich denke«“ (PdW,185), ihm ist keine durchgängige Transparenz eigen und verweigert erfolgreich jede Bemächtigung seiner selbst durch ein reflektierendes Bewusstsein.
In der Annahme eines leiblichen Dialoges mit der Welt, der sich „diesseits ... von Aktivität und Passivität“ (Waldenfels,2001:59) vollzieht, wird das Bewusstsein selbst entscheidend transformiert: Es zeichnet sich nicht mehr allein verantwortlich für Sinnkonstrukte, weil es je schon Bestandteil dessen ist, was es konstruiert, stets ist es Antwort auf ein Geschehen, dass erst nachträglich seine begriffliche Fixierung erfährt.
Wenn nun der Sinn von etwas gerade nicht Resultat einer absoluten Vernunft ist, wie sie Husserl sich im Anschluss an Descartes noch vorstellte, und wenn das inkarnierte Subjekt sich durch eine beständig vollzogene „aktive Transzendenz“ (PdW,183) im Hinblick auf die Dinge auszeichnet, dann ist zu klären, in welchem Umfang jeder Sinn daran beteiligt ist, den handelnden Leibkörper als „Knotenpunkt lebendiger Bedeutungen“ (ebd.,182) in seinem ständigen Zur-Welt-sein, seiner „Ek-stase“ (ebd.,487) zu begründen. In eins mit folgenden, skizzenhaften Darstellungen zur Sinnesleistung erfährt auch das Problem der Erfahrbarkeit von Widerständigkeit erste begriffliche Konturierungen.
2.2 Die Tastempfindungen
Immer schon ist mir eine Welt gegenwärtig. Die motorischen Vermögen des Leibes erlauben es, meine Position in ihr zu variieren und meine Stellung den Dingen gegenüber zu arrangieren. Begrenzt wird dies nur durch den Eigenleib als „Nullpunkt aller Orientierungen“ (Meyer-Drawe,1989:295): Er erscheint mir selbst teilweise perspektivisch verzerrt oder, im Falle des Gesichtes, eben gar nicht. Im tastenden Erkunden meines Umfeldes bin ich stets auf diese „leibliche Komponente“ angewiesen (PdW,364).
Dabei ist es keine Vielzahl einzelner Impressionen, die in der Reflexion synthetisiert das getastete Objekt ausmachen: „Nicht das Bewusstsein berührt oder tastet, sondern die Hand“ (Ebd.,366). Es gelingt niemals, die überaus komplexe Struktur des Tastphänomens auseinander zu nehmen, da dem Subjekt die „Impressionskomponenten ... gar nicht gegeben sind“ (Ebd.). Ist das vor mir ausgebreitete Ding, eine Pflanze etwa, uneben bzw. nicht glatt gestaltet, so ist der Raum zwischen den Blättern nicht derart aufzufassen, als sei dort ein „taktiles Nichts“ (Ebd.). Wenn Merleau-Ponty in diesem Zusammenhang einerseits von einem stofflosen „Tastraum“ (ebd.), der als taktile Unterlage zuvor genannte bzw. jedwede Tasterfahrung begleiten muss, oder andererseits von „Tastfeldern“ (ebd.,262) spricht, die in bezug auf das Körperschema eindeutig lokalisierbar sind, so wird leicht einsichtig, wie wichtig die räumliche Tiefe für jeglichen Kontakt mit den Dingen ist. Nicht umsonst spricht er von ihr auch als „«existenziellste(r)»“ (ebd.,299) aller Dimensionen, ohne die Widerstand seitens der Welt undenkbar wäre: „Sie also (die Tiefe; M.R.) bewirkt, daß die Dinge Fleisch[9] haben: das heißt, daß sie meiner Betrachtung Hindernisse und einen Widerstand entgegensetzen, der gerade ihre Realität, ihre >Offenheit<, ihr totum simul ausmacht“ (SU,279).
Der räumliche und stets zeitliche Vollzug jeder Bewegung bestimmt maßgeblich das Phänomen der Tasterfahrung. Deutlich wird dies, wenn meine Hand auf glatten Oberflächen bewegungslos ruht, wodurch eine Identifikation eben dieser Flächen nahezu unmöglich wird. Es bleibt nichts als ein kaum „identifizierbares Phänomen“ (Katz, zit. n. Merleau-Ponty,1966:365). Für die Formgebung jeglichen Dinges sind Bewegung und Zeit schlichtweg unverzichtbar.
Überaus mannigfaltig sind dabei die Erscheinungsweisen von Gegenständen. Es findet sich neben „Oberflächentastungen“ (ebd.), die sich zweidimensionalen Feldern zuordnen lassen, nicht nur ein dreidimensionales „Tastmilieu“ (PdW,365), das sich dem Subjekt etwa in Form eines Luftzuges darbietet, sondern auch weitaus komplexere Phänomene wie Feuchtes, Öliges oder Klebriges. Dabei erkundet die Hand das Ding nicht allein unter Leitung des Willens bzw. einer Absicht: Die Berührung gleitet nicht über in punkto Taktilität nichtssagende Objekte hinweg, sie folgt keinem schon vorher bekannten Weg, da Oberflächen die Handbewegung ständig modulieren: „Ein Gegenstand, der durch seine Textur, seine Form, seine Gestalt bestimmte Handlungen nahe legt und andere wiederum ausschließt“ (Becker,2000:61), „ver führt“ gleichsam die Hand. Maler oder auch Bildhauer besitzen kein bruchloses Bild ihres künftigen Werkes, höchstens eine Ahnung, deren materiale Ausprägung sich im Arbeitsprozess erst zeigt und verwirklicht. Diese uns auffordernde „Bewegungsintention“ (PdW,367) des Gegenstandes, die sich zeitlich durchhält, lässt sich mit der Vermutung, der Stuhl z. B. sei bleibender Begriff oder Bewusstsein objektiver Eigenschaften, nicht hinreichend erklären. Getastetes bietet sich uns nur als „Wiedergefaßtes“ (ebd.) an, es konstituiert sich je neu im Rückgriff auf schon Bekanntes, wobei der „Zirkel von Berührtem und Berührendem“ (SU,188) sich deshalb bildet, weil ich mit dem Ding „kommuniziere“ (PdW,367). Was nach der Tasterfahrung in der Erinnerung verbleibt, sind keine sinnlichen Inhalte mehr.[10] Die „Konstanz des Tastgegenstandes“ ist allein „Konstanz-für-meinen-Leib“ (Ebd.). Bin ich tastend einem Ding zugewandt, so fällt meinerseits kein Urteil bezüglich des Gegenstandes, welches diesem seine Eigenschaften erst zuschreibt. Jegliche in den Grenzen des Tastfeldes stattfindende Berührung schreibt sich zuvor ein in einen Komplex, den mein Leib mit dem Gegenstand zusammen bildet. Das „Ich“ kommt dabei je zu spät.
Zusammenfassend bleibt festhalten, das zu den wichtigen phänomenalen Eigenschaften des Tastsinnes zum einen die präreflexive leibliche, zeitliche und räumliche[11] Organisation der Tasterfahrung gehört. Entscheidend ist zum anderen auch, dass das Tasten, bezogen auf den ganzen Leib, verortbare Tastfelder bzw. Empfindungsfelder konstituiert. Bedeutend wird dieser Umstand in späteren Kapiteln dieser Arbeit, wenn es darum gehen wird, die Möglichkeit von Widerstand in digitalen Umgebungen zu untersuchen. Wie verhält es sich zunächst mit den übrigen Sinnen, genauer: dem Sehen?
2.3 Das Sehen
Die intellektualistische Analyse wird auch in bezug auf die Beschreibung der Phänomenalität des Sehens, des Blickens zurückgewiesen: „Sehen ist etwas Vorpersönliches“[12] (ebd.,254), das erfahrende Sehen ist gekennzeichnet durch einen „vordem anders gerichteten“ (Husserl,1962:279), nicht reflektierenden Blick. Neben dem taktilen Bezug zur Welt erscheint diese uns durch den forschenden Blick[13] in ihrer Struktur um Details reicher, die keine Berührung je zu vermitteln vermag. Wie die haptischen Vermögen auch ist das Sehen an Felder gebunden, innerhalb deren Welt nur bruchstückhaft, perspektivisch erscheint. Auch die sichtbare Welt ist nicht „schlechthin die ganze Welt“ (ebd.), stets ist sie eingefasst in einen Horizont von Noch-zu-sehendem. Welche Rolle spielt nun der Leib bei der visuellen Wahrnehmung? Warum erscheint diese uns „wahrer als die taktile“ (Ebd.,273 Anm.)?
Kurz gesagt ist das Sehen ein „Habhaftwerden auf Entfernung“ (PrW,19). Im Unterschied zum Tasten werde ich der Gegenstände auf Entfernung gewahr, ich finde sie in einer Distanz zu meinem Leib vor. Zumeist entziehen sie sich meinem Zugriff, es gelingt nicht, „bloß“ Sichtbares, wenn es auch in meiner Nähe sich zeigt, an ein lokalisierbares, leibliches Empfindungsfeld zu binden. „Sehen ist durch Reizbarkeit gekennzeichnet und ist so auch nicht auf die extensive Dimension der Natur angewiesen“ (Meyer-Drawe,1989:295).
Meinem Leib kommt in Hinblick auf seine Möglichkeit meiner Blickausrichtung eine ähnlich wichtige Rolle zu, wie es beim Tasten der Fall ist. Der Unterschied[14] besteht jedoch darin, dass dem sehenden Leib eine utopische Position eigen ist, eine scheinbare Allgegenwärtigkeit in bezug auf die um ihn versammelten Dinge, die Merleau-Ponty als „Illusion“ (PdW,366) demaskiert. Dennoch kann das Subjekt, das seine Welt sehend erkundet, sich schmeicheln, diese „zu konstituieren“ (ebd.), dies aber nur aufgrund seiner notwendigen Entfernung zu räumlich um ihn positionierten Dingen. „Allgegenwärtig und nirgends“ (ebd.) erscheint dem Subjekt die Welt als sein vermeintliches Konstrukt. Visuelle Qualitäten sind eben „nur minder unmittelbar mit dem Leib verknüpft“ (PdW,371).
[...]
[1] Textnachweise zu Merleau-Ponty werden aufgrund ihrer Häufigkeit in einer verkürzten Form verwendet. Folgende Werke nebst den ihnen entsprechenden Abkürzungen werden benutzt: Phänomenologie der Wahrnehmung (PdW); Struktur des Verhaltens (SV); Das Auge und der Geist (AG); Das Sichtbare und das Unsichtbare (SU); Die Prosa der Welt (PrW). Diese Kürzel finden sich außerdem hinter den jeweiligen bibliographischen Angaben.
[2] Wir werden jedoch nicht allein Schriften des französischen Phänomenologen zur Darlegung unserer Thesen nutzen.
[3] PdW, S. 172
[4] Eine Nähe zu Heideggers Begriff des „In-der-Welt-Seins“ ist unverkennbar, wie der Übersetzer von Merleau-Pontys Schrift deutlich macht. Vgl. dazu: Ebd., S.7 (Anm.)
[5] Der Begriff der Endlichkeit erweist sich als epistemologischer Topos par excellence. Seine Verwobenheit in die Diskurse der jüngeren Philosophiegeschichte seit Kant wird in der Einleitung des Übersetzers ausführlich nachgezeichnet. Ebd. S. VII-XVII.
[6] Diese entgegengesetzten Denkrichtungen verdienen genauere Untersuchungen, die Merleau-Ponty letztlich nicht liefert. Er setzt sich mit seiner eigenen Position von Denkstilen ab, die so klar umrissen vermutlich nicht zu finden sind.
[7] Vgl. hierzu PdW, S. 118. Bleibt anzumerken, dass schon Husserl diese Erfahrung detailliert beschrieben hat.
[8] Vgl. Meyer-Drawe, 1989. Dort findet sich eine dicht formulierte Auseinandersetzung mit dieser Thematik.
[9] In späteren Schriften rückt, einhergehend mit einer „ontologischen Auslegung» (Waldenfels,2001:62) seiner Philosophie, das „Fleisch“ (chair) mehr und mehr in den phänomenologischen Blick des französischen Philosophen. Auf die damit verbundenen Implikationen bezüglich des Status des Leibes (corps), kann an dieser Stelle nicht ausreichend eingegangen werden. Dazu sei zunächst gesagt, dass Fleisch-sein bedeutet, chiasmatisch verflochten mit der Welt zu sein: Es markiert ein „anonymes Bündnis mit den Dingen.“ (Meyer-Drawe,2000:476) das seinerseits gemahnt, die Widerständigkeit der eigenen Existenz nicht aus den Augen zu verlieren bzw. diese zumindest zu bedenken. Vgl. dazu Kapitel 3.2 dieser Arbeit. Detaillierte Beobachtungen sind zu finden bei Meyer-Drawe, 2000:476 und etwa Merleau-Ponty 1994 oder, für einen kurzen Überblick, Waldenfels 2001:62 f.
[10] Merleau-Ponty spricht von der Erinnerung als einer „Symbiose“ mit je unterschiedlicher Ausprägung: Der Gegenstand dringt auf uns ein, wir nehmen ihn auf. (Vgl. PdW,367) Welch außerordentliche Rolle symbiotische bzw. synästhetische Momente in der Erfahrung spielen, siehe weiter unten in Kapitel 3.
[11] Was auf die anderen Sinne ebenso zutrifft. Die Kürze dieser Arbeit erlaubt es nicht, genauer auf den Leib-Raum bzw. die Tiefe einzugehen. Vgl. zu diesem Thema PdW, S. 123 – 172, 284 – 340.
[12] Warum Merleau-Ponty Sehen als „Denken“ von etwas markiert, bleibt zu klären. Vgl. PdW, 254.
[13] Das durch übergroße Lichteinstrahlung bzw. Blendung „blicklos“ und passiv gewordene Sehen ist vor dem Hintergrund unserer Problemstellung von geringerem Interesse. Vgl. PdW,365.
[14] Im Hinblick auf virtuelle „Welten“ wäre eher von einem gravierenden Unterschied zu sprechen.
- Citar trabajo
- Marcus Reiß (Autor), 2002, Von Widerstand und Eigensinn der Welt. Über das weiche Vermächtnis virtueller Umgebungen., Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/12851
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