Eines der schwerwiegendsten Argumente gegen jegliches Fortbestehen der Metaphysik ist anscheinend in einem von Bertrand Russell vorgetragenen mathematischen Konzept enthalten, zu dem Guido Stepken (2004) schreibt: "Das Ende der Metaphysik!"
Hauptargument gegen Metaphysik bleibt das Problem der Russell'schen Antinomie. Diese beschreibt das Problem von Mengen, die sich selber enthalten. Betrachtet man Metaphysik als absolut und die allem anderen übergeordnete Theorie, so muss man jedoch einsehen, dass Metaphysik nicht ohne den Menschen, der Teil des Ganzen ist, gedacht werden kann. Metaphysik ist einerseits Teil der Welt, andererseits der Welt übergeordnet, ein innerer Widerspruch.
Inhalt
Einleitung
Habermas‘ „Nachmetaphysisches Denken“
Nietzsches Vernunft- und Metaphysik-Kritik
Nietzsches verfehlte Kritik an Kants Ethik
Fazit I
Grundlagen einer nicht-absoluten, kritischen Metaphysik
Fazit II
Subjekt-Objekt-Philosophie
Subjekt-Objekt-Dialektik
Demokratischer Öko-Sozialismus
Literaturhinweise
Einleitung
Eines der schwerwiegendsten Argumente gegen jegliches Fortbestehen der Meta-physik ist anscheinend in einem von Bertrand Russell vorgetragenen mathemati-schen Konzept enthalten, zu dem Guido Stepken (2004) schreibt:
„Das Ende der Metaphysik!
Hauptargument gegen Metaphysik bleibt das Problem der Russell'schen Antinomie. Diese beschreibt das Problem von Mengen, die sich selber enthalten. Betrachtet man Metaphysik als absolut und die allem anderen übergeordnete Theorie, so muß man jedoch einsehen, daß Metaphysik nicht ohne den Menschen, der Teil des Ganzen ist, gedacht werden kann. Metaphysik ist einerseits Teil der Welt, andererseits der Welt übergeordnet, ein innerer Widerspruch.
Russell stellte hierzu schon 1911 in der "principia mathematica" treffende Überlegungen an, die zwar weitreichende Konsequenzen hatten, bis heute jedoch von Philosophen unbeachtet blieben:
1. Eine Menge, die sich selber nicht enthält, enthält sie sich selber, oder nicht?
2. Was ist mit der leeren Menge, die sich selber enthält, und ihrer Negation ?
Die Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre bzw. Russellsche Typentheorie erlaubt es, rekursiv definierte Mengen zu definieren (Typenklassen), jedoch konnte Gödel beweisen, daß solche Mengen unvollständig sind, siehe Gödels Unvollständigkeitssatz. Bei unvollständigen Mengen kann man aus zwei wahren Aussagen keine wahre Aussage mehr ableiten, ein elementares Problem dann für die Metaphysik.
Egal, wie man es dreht und wendet, das bedeutet das AUS für jede Art Diskus- sion über Metaphysik, metaphysische Argumente, o.a. R.I.P“1
Für Stepken ist also die Metaphysik gestorben. „R.I.P“ – möge sie in Frieden ruh’n! Allerdings: Die Möglichkeit einer nicht-absoluten, nicht-dominanten, lebendigen Metaphysik zieht Stepken nicht in Betracht.
Habermas‘ „Nachmetaphysisches Denken“
In frappierender Weise stimmt Stepkens Ergebnis mit demjenigen von Jürgen Habermas überein, der – in seiner Aufsatzsammlung Nachmetaphysisches Denken – ebenfalls auf die angebliche Paradoxie der Metaphysik verweist, wenn auch ohne die Zuhilfenahme mathematischer Logik, so wenn er feststellt:
„Das Eine ist also, um Alles zu sein, in Allem, und zugleich, um das Eine selbst zu bleiben, über Allem – allem Innerweltlichen voraus- und zugrundeliegend.“2
Die Metaphysik habe sich „in solche paradoxen Formulierungen“ verstrickt, weil es ihr nicht gelungen sei, „das Eine, das als Ursprung, Grund und Gesamtheit alles Seienden erst die Perspektive bildet, aus der das Viele zur Mannigfaltigkeit des Seienden vergegenständlicht werden kann, selber noch vergegenständlichenden Bestimmungen zu subsumieren.“ (ebd.)
Darüber hinaus hebt Habermas vor allem auf drei Gründe ab, die das Ende der Metaphysik besiegelt hätten, und zwar:
1. die „Verfahrensrationalität der Naturwissenschaften“. Diese widerspräche „dem metaphysischen Unterfangen, alles Gültige im Rückbezug auf gründende Ursprünge zu sichern“3,
2. die Unvereinbarkeit des letztgenannten Rückbezugs der Metaphysik mit „der unhintergehbaren Situiertheit der Vernunft in geschichtlichen und sozialen Kontexten“ (ebd.),
3. der nicht begründbare Vorrang, den die Metaphysik der Theorie gegenüber der Praxis einräumt. (vgl. ebd.)
Aus diesen Gründen hält Habermas sein „nachmetaphysisches Denken“ für „alter-nativlos“. Aber: Auch diese Gründe werden hinfällig, wenn sich eine neue, nicht-absolute Metaphysik konzipieren lässt (s.u. S. 10 ff.).
Und daran ändert auch nichts die Tatsache, dass Habermas erste Einbrüche der Metaphysik schon bei den Junghegelianern, darunter Feuerbach und Marx, und erst recht bei Nietzsche ausmacht, der sich in „radikaler, sich ihrerseits totali-sierend überschlagenden Vernunftkritik“4 ergangen habe. Auf diese – vielleicht bedeutsamste Kritik überhaupt – geht Habermas dann allerdings nicht ein.
Überdies zeigt sich bei ihm ein krasser Widerspruch in der Tatsache, dass er seit 1988 wiederholt das „Ende der Metaphysik“ verkündet, zwischenzeitlich aber – im Jahr 2001, angesichts von ‚Nine Eleven‘, dem islamistischen Angriff auf die New Yorker Twin Towers, – Folgendes erklärt:
„Das Christentum ist für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur eine Vorläufergestalt oder ein Katalysator gewesen. Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik. In der Substanz unverändert, ist dieses Erbe immer wieder kritisch angeeignet und neu interpretiert worden. Dazu gibt es bis heute keine Alternative. Auch angesichts der aktuellen Herausforderungen einer postnationalen Konstellation zehren wir nach wie vor von dieser Substanz. Alles andere ist postmodernes Gerede.“5
Der Widerspruch besteht offensichtlich darin, dass die jüdisch-christliche Tradition, zu deren Wirkmächtigkeit Habermas sich hier bekennt, zweifellos essentieller Bestandteil der abendländischen Metaphysik ist, deren angebliches Ende Habermas andernorts wiederholt konstatiert. Sowohl dieses „Ende der Metaphysik“ als auch ihr Fortbestehen in der jüdisch-christlichen Tradition hält er für „alternativlos“! Aus diesem Widerspruch erklärt sich wahrscheinlich auch, warum er im Jahr 1988 (s.o.) auf eine Auseinandersetzung mit Nietzsches umfassender Verdammung der abendländischen Metaphysik und insbesondere der sie bestimmenden jüdisch-christlichen Tradition verzichtet. Daher halte ich es für unumgänglich, an meine folgenden Analysen zu erinnern:
Nietzsches Vernunft- und Metaphysik-Kritik
Die „Wende zur absoluten Subjektivität“ vollzieht sich, wie Walter Schulz erklärt, seit Beginn der Neuzeit.6 Der mittelalterliche Mensch versteht sich wesentlich als Hypokeimenon Gottes, als völlig Gott unterworfen. In der Renaissance-Zeit ändert sich dieses Verhältnis radikal zu Gunsten der Vorstellung, dass „Ich und Welt“ einander gegenübertreten, und zwar so, dass der Mensch Natur und Geschichte rational, d.h. wissenschaftlich untersuchen kann und muss. „Centro dell’universo è l’uomo, individuo razionale“, sagt schon Poggio Bracciolini (1380-1459): als rationales Individuum stelle der Mensch den Mittelpunkt des Universums dar!
Dagegen steht, was Nietzsche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konstatiert: „Seit Copernikus rollt der Mensch vom Centrum ins X“.7 An die Stelle (angeblicher) wissenschaftlicher und weltanschaulicher Souveränität setzt Nietzsche völlige Verunsicherung und Unbestimmtheit. Wahrheit sei stets mit Irrtum verbunden, so dass es keine Verbindlichkeit mehr gebe und die Welt allenfalls noch „einen Text in Bruchstücken, Rätseln und Differenzen darstellt, so ist sie ein Spiel von Kraft“.8 – Aber welches Spiel und welche Kräfte sollen nun die zerstörte bzw. zu zerstörende Metaphysik ersetzen? Zumal Nietzsche hieran keinen Zweifel lässt: Die metaphysische Tradition von Plato bis Hegel sei ein Trümmerhaufen, „Gott ist tot“ und „die Subjektivität als solche muß destruiert werden“.9 Traditionelle Definitionen der Subjektivität durch Begriffe wie Ich, Vernunft, Schellings „Wollen“, Freiheit usw. sind unhaltbar geworden. Der „Wille zur Macht“ ist nicht der Wille als solcher, mit dem „eine bewußte, von einem Zentrum ausgehende und von ihm her gesteuerte Aktivität“ gemeint war. Ein solches Zentrum wäre z.B. das traditionelle, auch das christliche, moralisch begründete Ich, das Nietzsche, wie das gesamte Christentum – auch im Gegensatz zum Deutschen Idealismus einerseits und zu Kierkegaard andererseits –, als pure Illusion entlarven will.
Tatsächlich übt Nietzsche radikale Kritik nicht nur an den frühchristlichen Werten, sondern am Christentum und der Kirche im Ganzen der Geschichte . Auf diese Kritik gründet er auch seine berühmte Forderung nach der „Umwertung aller Werte“, nachzulesen in seinen Schriften „Zur Genealogie der Moral“ (1887) und „Der Antichrist“ (1888).
Dabei dürfte Nietzsche in einigen Aspekten – trotz teilweise völlig übertriebener Polemik – durchaus Recht haben, so, wenn er bestimmte Auswüchse brandmarkt, insbesondere diejenigen der seit dem 4. Jahrhundert mit der Würde einer Staats-religion ausgestatteten ‚Ecclesia triumphans‘, der triumphierenden Kirche (Kreuzzüge, lebensfeindliche Scheinmoral der „asketischen Priester“, Kultur-verfall usw.). Als einen für solche Fehlentwicklungen Hauptverantwortlichen bezeichnet Nietzsche allerdings den Apostel Paulus, den er gegen Jesus auszu-spielen versucht.
Grundlage seiner umfassenden Kritik am Christentum ist zweifellos seine radikale Ablehnung der frühchristlichen Werte. Dies gilt zunächst für seine Stellungnahme zur Bergpredigt. Sein Vor-Urteil hierzu lautet, in der Psychologie des Neuen Testamentes fehlten völlig die Begriffe Schuld, Strafe und Belohnung – ein Fehlurteil, wie ein Blick auf die tatsächlichen Aussagen der Evangelisten und Apostel zeigt.
Gleiches gilt für Nietzsches Ablehnung des christlichen Gottesbegriffs, den er – entgegen der Logos-Lehre – als völlig lebensfeindlich, nämlich als „zum Widerspruch des Lebens abgeartet“ missversteht (a.a.O. S. 498). Zudem erkennt er in keiner Weise die Schutzfunktion der Bergpredigt und anderer Aussagen Jesu zur Verteidigung der Armen, Schwachen und Unterprivilegierten. Stattdessen polemisiert er dagegen, dass der Christ „dem, der böse gegen ihn ist, weder durch Wort, noch im Herzen Widerstand leistet. Daß er keinen Unterschied zwischen Fremden und Einheimischen, zwischen Juden und Nicht-Juden macht (>der Nächste< eigentlich der Glaubensgenosse, der Jude). Daß er sich gegen nie-manden erzürnt, niemanden geringschätzt. Daß er sich bei Gerichtshöfen weder sehen läßt, noch in Anspruch nehmen läßt …“ (ebd. S. 511 f.). Nietzsche sieht offenbar nicht, dass Jesus nicht nur eine neue Moral verkündet, sondern den – oftmals höchst gefährdeten – Gläubigen durch und durch pragmatische Verhaltensregeln mit auf den Weg gibt.
Die Moral Jesu wertet er ohnehin als „Moral des gemeinen Mannes“ und sogar als „Sklavenmoral“ ab. Diese beruhe auf einem „Aufstand“ der Schwachen und Armen gegen die „Herrenmoral“ der Herrschenden, was letztlich auf ein „Ressentiment“, ein rachsüchtiges Minderwertigkeitsgefühl, zurückzuführen sei. Der unterdrückte „kleine Mann“ wolle Rache nehmen dafür, dass er von den herrschenden, „vornehmen“ Tatmenschen zur Untätigkeit gezwungen werde (ebd. S. 192-195). Als den „größten Wert-Gegensatz, den es gibt“ erkennt Nietzsche denjenigen zwischen „christlichen“ und „vornehmen“ Werten (ebd. S. 514).
Dahinter steht jedoch nichts anderes als der anscheinend unüberwindliche Gegensatz von Arm und Reich, Unterdrückern und Unterdrückten, Herren und Knechten. Diesen Gegensatz erhebt Nietzsche quasi zu einem Naturgesetz, an dem nicht zu rütteln sei, so dass die „Sklavenmoral“ – und mithin die Moral der frühchristlichen Werte – auf keinen Fall die Oberhand gewinnen dürfe. Damit entpuppt Nietzsche sich nicht nur in ideologischer und sozialer, sondern auch in politischer Hinsicht als radikaler Widersacher der Ideale des Evangeliums. Für Nächsten-, Fernsten- und Feindesliebe hat er fast nur Hohn und Spott übrig. Wie sehr er den berechtigten Kampf Jesu gegen Unterdrückung, Machtmissbrauch und Korruption verkennt, geht aus der folgenden Bibelstelle hervor, in der es heißt, Jesus habe die Jünger zu sich gerufen und ihnen erklärt: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“ (Matth. 20, 25-28).
Unmittelbar verstehbar wird hier, woher Nietzsches Begriff „Sklavenmoral“ stammt. Unmissverständlich ist jedoch auch Jesu mitreißende Botschaft, die ich für durchaus revolutionär halte. Eine Liebes-Gemeinschaft ohne Herrschaft von Oberen über Untergebene wird für möglich gehalten; Willkür und Macht-missbrauch sollen durch eine neue Moral des Dienens und der Nächstenliebe ersetzt werden. Mit jeglicher Oben-Unten-Hierarchie, wie sie z.B. der von Nietzsche ausdrücklich gelobte Platon in seiner Staatslehre anpreist, ist Jesu neue Gemeinschafts-Ordnung, sein Neuer Bund, unvereinbar.
Zur Herrenmoral passt vortrefflich Nietzsches aggressiver Anti-Feminismus, im ‚Zarathustra‘ kurz und bündig: „So will ich Mann und Weib: kriegstüchtig den Einen, gebärtüchtig das Andre“ (S. 55), wobei er überdies Frauen zumutet, ständig „in sklavenähnlichen Verhältnissen leben“ zu müssen (S. 54). – Ebenso vortrefflich passt dazu Nietzsches Verehrung und Verherrlichung von Gewalt-Herrschern wie Cäsar und Napoleon. Entscheidend ist für ihn stets „der Wille zur Macht“ und das „Recht des Stärkeren“ – im Privaten ebenso wie in Politik und Gesellschaft, wobei er stets auch „die Gewaltsamkeit und Grausamkeit des Willens zur Macht“ betont (S. 90). Er sieht darin sogar ein Grundprinzip der Natur: „Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung – …“ (S. 90 f.). Auch dieses Bekenntnis zur Gewaltherrschaft wirkt zweifellos wie eine Vorwegnahme des Faschismus (s.o.)!
Nicht verwunderlich ist daher auch Nietzsches Ablehnung der marxistischen Kritik des Klassenkampfes, der im Kapitalismus auf der Ausgestaltung der Produktionsverhältnisse beruht. Diese interessieren jedoch Nietzsche überhaupt nicht. Stattdessen entwirft er eine fragwürdige Theorie der „Tauschökonomie“. Die ökonomischen Tauschverhältnisse hält er sogar für die „Grundlage aller menschlichen Zivilisation“ (S. 92. Das Verhältnis zwischen Käufer und Verkäufer sei das älteste und ursprünglichste aller Personen-Verhältnisse. Der Mensch sei – auf Grund seines ständigen Wertens und Messens aller Dinge – das „abschätzende Thier an sich“ (ebd.), das dabei stets auch „Macht an Macht“ vergleiche. Aus marxistischer Perspektive: ein durch und durch bürgerlich-kapitalistisches Denken! Nietzsche sieht zwar, ähnlich wie Marx und Engels, den Ursprung der Geschichte in der Klassengesellschaft, hält aber deren Beseitigung nicht für den Beginn des (Marxschen) Reichs der Freiheit, sondern das „Ende“ der Geschichte „im negativen Sinne“ (S. 94).
Nietzsches verfehlte Kritik an Kants Ethik
Hauptgründe dafür, dass Nietzsche nicht fähig bzw. nicht bereit war, Kriterien für gesellschaftliche Normen, z.B. in Form einer Allgemeinen Gesetzgebung, zu entwickeln, sehe ich in seiner Haltung gegenüber Kants Ethik. Gründlich missverstanden hat er nämlich den Kategorischen Imperativ. Denn er schreibt: „Wie? Du bewunderst den kategorischen Imperativ in dir? Diese „Festigkeit“ deines sogenannten moralischen Urteils? Diese „Unbedingtheit“ des Gefühls, „so wie ich, müssen hierin alle urteilen“? Bewundere vielmehr deine Selbstsucht darin! Und die Blindheit, Kleinlichkeit und Anspruchslosigkeit deiner Selbstsucht! Selbstsucht nämlich ist es, sein Urteil als Allgemeingesetz zu emp-finden; ... Wer noch urteilt „so müsste in diesem Falle jeder handeln“, ist noch nicht fünf Schritt weit in der Selbsterkenntnis gegangen; ...“10 – Daran anschließend versucht der Autor, den Nachweis zu führen, dass Handlungen grundsätzlich „unerkennbar“ seien, und zwar schon infolge der je subjektiven Meinungen und Wertungen, von denen sie begleitet werden, so dass sie keinesfalls als Urteilskriterien zu verwenden seien.
Nietzsches Missverständnis: Kant habe gefordert, die je eigene, subjektive Maxime zum allgemeinen Gesetz zu erheben; womit er Kants Forderung jedoch ins Gegenteil verkehrt, um sie ad absurdum zu führen. Tatsächlich hatte Kant doch lediglich eine Überprüfung der subjektiven Maximen durch die Allgemeine Gesetzgebung gefordert! Dagegen will Nietzsche die Autonomie der Person nicht mehr an irgendeine gesellschaftliche bzw. staatliche Gesetzlichkeit binden, vielmehr sollen alle Menschen „die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden“ werden (in: Gerhardt a.a.O. S. 82), um sodann erst als „Physiker ... Schöpfer“ werden zu können, mit der Begründung: „Hoch die Physik! Und höher noch das, was uns zu ihr zwingt – unsere Redlichkeit.“ (ebd.) – Womit Nietzsche den Menschen nunmehr nach eigenem Gutdünken bindet, und zwar a) an die „Physik“ und b) an seinen eigenen Logos der „Redlichkeit“, mithin seine eigene Weltanschauung. Womit er aber zunächst wieder genau dort landet, wo Kant schon längst erfolgreich war: bei dem Versuch, Autonomie, Moralität und Gesetzlichkeit mit-einander in Einklang zu bringen. Dies mit dem gewichtigen Unterschied, dass Nietzsche dabei nachweislich gescheitert ist, während Kants Ethik zwar nicht vollständig Bestand hat, aber auch nicht als obsolet bezeichnet werden kann, zumal sie weiterhin die Diskussion über Grundfragen der Ethik beflügelt.11
Fazit I
Nietzsches pauschale Ablehnungen der Metaphysik erweisen sich als größtenteils unhaltbar, so dass auch für Habermas‘ Konzept des „Nachmetaphysischen Denkens“ eine wesentliche Grundlage entfällt. Stattdessen gebe ich zu bedenken:
Grundlagen einer nicht-absoluten, kritischen Metaphysik
Gegen die Idee einer nicht-absoluten Metaphysik könnte der Einwand erhoben werden, dass von den drei Grunddisziplinen der Metaphysik – Ontologie, Kosmo-logie und Theologie – nur die beiden ersten, nicht aber die Theologie ohne das Absolute bzw. die Gottesfrage vorstellbar wären. Agnostisch lässt sich dieses Pro-blem jedoch relativ leicht lösen: Da niemand wissen kann, ob Gott existiert oder nicht, kann man religionsphilosophisch die Frage nach ihm getrost ausklammern bzw. ausblenden. Wenn, wie im Buddhismus, Religion ohne Gott möglich zu sein scheint, sollte in Theologie und Religionsphilosophie – als metaphysischen Disziplinen – auf das Absolute verzichten werden können, ohne dabei mit irgendeiner Glauben srichtung in Konflikt zu geraten. – Womöglich kann in einer neu konzipierten Metaphysik die Theologie durch Religionsphilosophie ersetzt werden, um den Verzicht auf das Absolute zu erleichtern. Christlich gesehen: Man könnte sich auf die Frage konzentrieren, was es bedeutet, dass Gott Mensch geworden ist. Ob dabei sogar, mit Ernst Bloch, ein „Atheismus im Christentum“ in Erwägung zu ziehen ist, steht auf einem anderen Blatt.12 – Auslösendes Moment für meine Idee einer nicht-absoluten und nicht-dominanten neuen Metaphysik war Folgendes:
Jedes Wort, jeder Begriff und jede Idee enthält nicht nur physische, sondern auch meta-physische Bezüge. Physische u.a. deshalb, weil Sprache als wesentliche Grundlage des Denkens im Gedächtnis gespeichert und im gesamten Gehirn, also materiell, verarbeitet wird. Im mündlichen Ausdruck, mithin in aktivem Gebrauch der Sprache, treten zum Gehirn weitere, materielle Medien hinzu: Kehlkopf, Stimmbänder, Mundhöhle, Gaumen, Zähne, Gesicht usw. (angeblich sogar die Kniescheiben!), kurzum: die lautbildenden Organe. – Darin erschöpft sich aber weder das Wesen der Sprache noch dasjenige des Denkens. Worte und Wörter, Gesprochenes und Geschriebenes werden als mentale Objekte im Gedächtnis ge-speichert. Rufen wir sie im aktiven Sprachgebrauch ab, treten zu den objektiv vor-handenen Bedeutungen der sprachlichen Einheiten subjektive hinzu. Wir verwen-den Sprache und versehen dabei die objektiv vorhandenen Denotationen (Hauptbedeutungen) und Konnotationen (Nebenbedeutungen) mit subjektiven Assoziationen, subjektiven Konnotationen.
Auf diese Weise entstehen im Rahmen der Sprachverwendung vielfältige Subjekt-Objekt-Bezüge und somit geistige, also meta-physische Phänomene. Wobei die Besonderheiten des Denkens zu beachten sind, die Walter Schulz wie folgt be-schreibt:
„Das Denken ist … noch weniger als die anderen Fähigkeiten, Fühlen und Wollen, als Dimension für sich zu setzen. Es steht mit diesen Vermögen in Wechselbeziehungen. Denken ist von Stimmungen abhängig und von Gefühlen begleitet, und ebenso ist es auf den Willen bezogen, nicht nur in der Weise des instrumentellen Denkens, sondern eines jeden zweckhaften Tuns. Aktiv tätig konzentriert es sich auf das, worum es in den Gedanken geht. Im Nachdenken geschieht eine Freigabe für die Probleme als solche auch unter dem Gesichtspunkt des Handelns.
Denken ist aber auch auf die Phantasie angewiesen. Zur Phantasie gehört es, daß das Bildern geschieht, und daß das Ich sich dem Bilderstrom als Zuschauer hingibt. Bedeutungszusammenhänge werden hergestellt durch eine im wesentlichen nicht bewußt gelenkte und insofern passive Syn-thesis. Die Bilder fallen mir ein, unter Umständen überfallen und bedrängen sie mich.
Denken greift auf die Phantasie zurück im Zirkelschluß. Es entnimmt ihr nicht einfach Bilder, im Ausdenken ist immer ein die Phantasie als das Ge-gebene überschreitender Entwurf anwesend. Vom Wollen her aber wird, wie schon angedeutet, die Phantasie in Richtung auf mögliche Verwirkli-chung gesteuert.“13
Es ist eine kaum überschaubare Komplexität, die immer wieder, sei es u.a. durch das Unterbewusste oder durch Außenwelt-Einflüsse, erhöht wird, so dass es nicht Wunder nimmt, dass es nicht immer gelingt, die eigenen Gedanken in Worte zu fassen, adäquate sprachliche Bezeichnungen und Bedeutungen zu finden. Wie dem auch sei: Aus den genannten Gründen sind die Inhalte sowohl des sprach-lichen als auch des nicht-sprachlichen Denkens mentale Objekte, die wir als lebende Subjekte benutzen und damit folglich Subjekt-Objekt-Bezüge herstellen. Es sind geistige und somit meta-physische Bezüge. Ergo ist in Sprache und Denken stets auch Metaphysik enthalten.
So dass zu fragen ist, ob hier nicht jeglicher Willkür Tür und Tor geöffnet wird. Was aber nur dann der Fall wäre, wenn es keinerlei Kriterien objektiver Über-prüfung der Konstrukte von Sprache und Denken gäbe. Ein ausgesagtes Wort führt leicht in die Irre, wenn es nicht stimmt, d.h. wenn es nicht auf den ausgesag-ten Sachverhalt zutrifft. Hier schon kommt stets die Korrespondenztheorie der Wahrheit zum Zuge, mit der Möglichkeit, die Ergebnisse der Überprüfung da-durch zu verbessern, dass man, falls erforderlich, auch die Kohärenz- und die Konsens-Theorien der Wahrheit heranzieht14 Und wo dies in besonders kompli-zierten Fällen, z.B. bei der Beurteilung philosophischer Konzepte, nicht ausreicht, besteht immer noch die Möglichkeit, die hinter oder über einem Konzept stehenden Theorien zu überprüfen, das Theorien überprüfende Verfahren.
Metaphysik spielt folglich überall dort eine Rolle, wo gesprochen oder geschrie-ben bzw. vernehmbar gedacht wird. Sie ist daher nicht wegzudenken und nicht ab-zuschaffen, zumal sie weitgehend identisch ist mit dem menschlichen Geist, inso-fern dieser wesentlich als dialektische Subjekt-Objekt-Beziehung zu verstehen ist. Dabei fällt Metaphysik nicht der Willkür anheim, zumal ihre Ergebnisse nur so lange Gültigkeit beanspruchen können, wie sie nicht durch neue oder zuvor nicht berücksichtigte Tatsachen widerlegt werden. Womit allerdings auch die X-Belie-bigkeit der sogenannten „Postmoderne“ hinfällig wird! Nicht alle Konzepte der Vergangenheit sind gleichermaßen gültig. Und dies bedeutet zugleich, dass berechtigte Kritik an der herkömmlichen Metaphysik entsprechend zu würdigen ist. Als falsch erweist sich dagegen die Behauptung, die Metaphysik als Ganze sei „tot“.
Fazit II
Da Nietzsches pauschale Ablehnungen der Metaphysik sich als größtenteils unhaltbar erweisen, entfällt auch für Habermas‘ Konzept des „Nachmetaphysi-schen Denkens“ eine weitere, wesentliche Grundlage. Stattdessen gebe ich zu bedenken, dass eine kritische, nicht-dominante Metaphysik nicht in einer neuen „Subjekt-Philosophie“, wohl aber in einer neuen dialektischen
Subjekt-Objekt-Philosophie
Zum Zuge kommt, deren von mir verfasste Grundlegung ich wie folgt resümiere:
1. In der Personalität kommt die Ganzheit des Mensch-Seins (bei Emmanuel Mounier: „le volume total de l’homme“) zum Tragen; denn das Person-Sein umfasst sowohl die Individualität von Leib-Seele-Geist als auch die Bezüge zum kollektiven, gesellschaftlichen Sein.
2. Was Ethik und Moral ist, bestimmt weitgehend die Gesellschaft, aber einige Mitglieder der Gesellschaft verfügen – zu bestimmten Fragen und Problemen – zweifellos über mehr Erfahrung und Durchblick als andere. An Theoretikern wie Aristoteles, Epikur, Kant, Hegel, Marx, Nietzsche, Freud und Bloch kommt keiner vorbei, der in ethischen Fragen auch nur einigermaßen Bescheid wissen und „durchblicken“ möchte. Und was die Maßstäbe angeht, so bietet Kants Kategorischer Imperativ – in seiner personalistischen Fassung – immer noch Orientierungsmöglichkeiten: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel gebrauchst.“ Der Mensch ist Person als Rechtsperson.
3. Wenn die Person „Teil der Natur“ ist, muss sie sich demgemäß verhalten., was aber häufig nicht der Fall ist, wie sich an der Zerstörung von Natur und Umwelt durch bestimmte Personen immer wieder gezeigt hat. Ökologie lässt sich personalistisch nicht zufriedenstellend begründen, weil der Mensch – auch und gerade als Person – Gefahr läuft, sich in selbstherrlicher, überheblicher Art und Weise als „Kulturwesen“ und nicht auch als Naturwesen zu verstehen und in solcher Hybris die Natur zu verachten, und zwar nicht zuletzt auf Grund der angeblichen „Geistbestimmtheit“ der Person. In der Subjekt-Objekt-Beziehung versagt die Person, wenn sie sich selbst und die Natur verachtet und die natürlichen Grundlagen und Ressourcen der Objekt-Welt zerstört.
4. Für die Analyse des Person-Seins gewinnt die Sprachlichkeit des Menschen höchste Bedeutsamkeit dadurch, dass Personalität und Mensch-Sein wahrscheinlich identisch sind. Personalität betrifft jedenfalls die Gesamtheit des Menschen („le volume total de l’homme“, wie Emmanuel Mounier feststellte, s.o.). Im indo-europäischen Sprachraum haben erst bestimmte Besonderheiten der Sprachstruktur, wie die der vorherrschenden Beziehungsmuster „Subjekt-Prädikat“ und „Subjekt-Prädikat-Objekt“, den „Ausbau des personalen und subjektiven Bereichs wie auch seine Verselbständigung gegenüber den Dingen und Vorgängen geradezu in Gang gebracht“ (W. Luther 1970, S. 193, s. auch Robra 2003, S. 173 ff.).
Die Vorrangstellung der Sprache, das sogenannte Sprachapriori, beruht nicht zuletzt auf der Tatsache, dass unsere Sprache uns – als Innere Sprache – ständig begleitet. Sprache ist immer zugleich diejenige einer Einzelperson und die eines Kollektivs, einer bestimmten Sprachgemeinschaft. Daher müssen Sprachtheorien u.a. mit entsprechenden Theorien der Psycho- und Soziolinguistik, der Kommunikation und der Gesellschaft verbunden werden.
Subjekt-Objekt-Dialektik
Dialektisch-materialistisch analysierbare Information vermittelt zwischen Leib und Seele; dialektisch durchaus mit Schellings Bestimmung des Subjekt-Objekt-Bezugs; dialektisch-materialistisch, weil Information auf der Basis der neuro-wissenschaftlich erklärbaren Trias Träger – Muster – Bedeutung als In-Form-Setzung verstanden werden kann. Das Gehirn – indirekt also der ganze Körper – dient als Träger von neuronal bestimmbaren (synaptischen) Mustern, die ihrerseits Träger von Symbolik sind, z.B. in sprachlichen und nicht-sprachlichen Bedeutungen. Außerdem kann Information qua Kommunikation auch als ein Verhältnis von Subjekt-Objekt, Objekt-Subjekt verstanden werden. Was mich schließlich zu der Folgerung veranlasst hat: „Dialektik als Einheit von Identität und Nicht-Identität betrifft voll und ganz die leib-seelische Befindlichkeit des Menschen, wobei Grenzen der Erklärbarkeit, z.B. außer-halb der von Empfängnis und Tod begrenzten leib-seelischen Identität des Menschen, erkennbar werden. Anfang und Ende des Ganzen, dessen Teile wir sind, kennen wir ohnehin nicht. Damit sind auch die Grenzen benannt, in denen sich eine dialektisch-materialistische Theorie der leib-seelischen Existenz des Menschen bewegen kann.“ (a.O. S. 151) – Überschaubar ist also nicht die Person als Ganze (Mouniers „volume total de l‘homme“), wohl aber ein Kern-Aspekt ihrer leiblich-seelischen Verfasstheit, ihrer „Grund-befindlichkeit“. Das Ganze des Person-Seins analysieren zu wollen, dürfte ohnehin ein aussichtsloses Unterfangen sein.
5. Hegel hat die Subjekt-Objekt-Dialektik fälschlich in die „Selbstbewegung des Begriffs“ und damit in die rein geistige Tätigkeit verlegt. Dagegen sieht Marx nicht die philosophischen Theorien, sondern die gesell-schaftliche, von bestimmten Klassen-Verhältnissen geprägte menschliche Arbeit als den Motor der Geschichte an. Nur dort, wo Theorie und Praxis vermittelt auftreten, wird Geschichte erzeugt. „Das begreifende Subjekt ist, in dialektischer Wechselwirkung, auf die geschichtliche Fälligkeit oder Reife des zu begreifenden Objekts angewiesen.“ (Ernst Bloch) – Als eine solche Subjekt-Objekt-Dialektik kann man allerdings, mit Schelling, auch den menschlichen Geist auffassen. Insofern tritt der Geist, anders als von Bloch behauptet, sehr wohl auch bei Marx als geschichtlicher Akteur auf, wenn auch zumeist indirekt. Zweifellos wusste Marx, was geistige Arbeit ist.
Jedenfalls kritisiert Bloch, wie Marx, Hegels Substanzdenken und erweitert es um die Zukunftsdimensionen der Utopie (die Hegel per se stets verschlossen blieben!). „Unentfremdetes Fürsichwerden, das Substanz und Subjekt ineins anführt“, gibt es bislang nur im „Höchsten Gut“ (summum bonum) – womit traditionell Gott, materialistisch das Reich der Freiheit gemeint ist, wozu Bloch präzisiert: „ … das höchste Gut bezeichnet die einzige Stelle, wo das Subjekt zugleich Substanz, die Substanz zugleich Subjekt ist; und diese Stelle liegt eben in der Zentralutopie des Ideals, noch nicht im Zentrum fertiger Realität.“15 – Blochs Substanzdenken geht hier in seinen Gedanken einer „Zentralutopie des Ideals“ ein, ohne deshalb die Konkrete Utopie und die gelehrte Hoffnung (docta spes) zu entkräften, im Gegenteil: Um Utopie, Prozessualität und Substanzbegriff miteinander zu verbinden, unterscheidet Bloch zwischen ‚Substanz‘ und ‚Sub-stanzialität‘. Substanz stehe für Identität und „vollendetes Werk“, während nur die Substanzialität „voll am Werke“ sei. Substanz sei zu verstehen als ergon (Werk), Substanzialität als energeia (Wirken, Arbeit, actus, mithin auch Handeln), wobei Übergänge zu erklären seien. Substanz als Identität fasst Bloch u.a. als „sein-sollende Identität“ auf, die insofern auch als „Prozeß-Substanz“ oder „utopische Substanz“ gelten kann. Identität verwandelt sich dabei in „prozessuale Identifizierung“, das heißt in eine „zentral durchgehende Kategorie des Bewegungs- und Zielinhalts im Prozeß“.16
Dies stimmt überein mit Blochs fester Überzeugung, dass der Sozialismus weder staatssozialistisch noch staatskapitalistisch zu verwirklichen ist17, und zwar gemäß der urmarxistischen Forderung nach dem Absterben des Staates, einer Forderung, die schon im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus (von 1796 oder 1797) zu finden ist.18
6. Zum sozialistischen Revolutionsbegriff
Laut Lenin ist eine „revolutionäre Situation“ dann gegeben, wenn „die Oberen nicht mehr können wie bisher und die Unteren nicht mehr wollen wie bisher“. Genau dies ist aber – zumindest in den hochentwickelten Industriestaaten – gegenwärtig nicht der Fall. So gibt es z.B. in Deutschland zwar eine Unterklasse, die aber nur ca. ein Drittel der Gesellschaft ausmacht und in der Klassen-Bewusstsein allenfalls sporadisch anzutreffen ist, während die oberen zwei Drittel anscheinend keine Mühe haben, jegliche von der Unterklasse ausgehende Rebellion in Schach zu halten. Außerdem bleibt den Herrschenden im Zeitalter des Überwachungskapitalismus praktisch nichts verborgen. Revolutionäre würden ertappt, noch ehe sie zur Tat schreiten könnten.
Gravierend kommt hinzu, dass sich die Anmaßung einer selbsternannten „Avant-Garde“, die Revolution mittels einer „an kein Gesetz gebundenen Diktatur des Proletariats“ (Lenin) durchzuziehen, häufig als krimineller Irrweg erwiesen hat, so z.B. von Lenin zu Stalin, Mao und Pol Pot.
Nichtsdestoweniger bin ich inzwischen zu der Auffassung gekommen, dass eine Revolution (bzw. ein Volksaufstand) dann gerechtfertigt ist, wenn sie in kollektiver Notwehr als Antwort auf menschenunwürdige, unerträglich gewordene Zustände herbeigeführt wird. Sie wäre dann wohl auch mit dem Kategorischen Imperativ vereinbar, könnte also stets jedermann Gerechtigkeit widerfahren lassen – ohne Terror, Willkür, Machtmissbrauch und Gesetzlosigkeit.
Demokratischer Öko-Sozialismus
Da ich diesen Vorschlag schon mehrfach vorgetragen habe (2017, 2018, o.J. 2021), kann ich mich hier mit der folgenden schematischen Darstellung begnügen.
Nah- und Fernziele eines Demokratischen Öko-Sozialismus:
Wenn ich in der folgenden Übersicht zwischen Nahzielen und Fernzielen von Ökologie, Demokratie und Sozialismus unterscheide, so dient dies vor allem der besseren Verständlichkeit. In Wirklichkeit bedingen die fünf Begriffe sich wechselseitig, stellen die Rubriken keine „fensterlosen Monaden“ dar.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Und wie kann ein Demokratischer Öko-Sozialismus Wirklichkeit werden? Zur Teleo-Logik des Sozialismus in Übergangsgesellschaften.
Wenn die Wahrheit des Sozialen der Sozialismus ist, bedarf es sowohl einer Wahrheitstheorie als auch einer Theorie des Sozialen. Wenn das Soziale im Sozialismus zu voller Wahrheit aufblühen soll, muss es selbst als Ausgangsbasis der Umgestaltung dienen, so dass zunächst bei den bestehenden sozialen Errungenschaften, speziell des Sozialstaats, anzuknüpfen ist.19
Zur konkreten Analyse der konkreten Situation.
Unumgänglich ist es, sich über das bereits vorhandene Soziale einen möglichst klaren Überblick zu verschaffen. – Aufklärende Agitation und Propaganda, ‚Agit- prop‘ im besten und weitesten Sinne des Begriffs, sind vonnöten, um, möglichst über alle Partei- und Gesinnungsgrenzen hinweg, der gesamt-gesellschaftlichen Emanzipation, dem Vorschein des Reichs der Freiheit, näher zu kommen.20
Literaturhinweise
Bloch, Ernst 1959: Das Prinzip Hoffnung, 2 Bde., Frankfurt a.M.
Bloch, Ernst 1964: Geist der Utopie, Frankfurt a.M.
Bloch, Ernst 1977: Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Heraus-briingens, Praxis, Frankfurt a.M.
Bloch, Ernst 2000: Logos der Materie. Eine Logik im Werden. Aus dem Nach-lass 1923-1949, herausgegeben von Gerardo Cunico, Frankfurt a.M.
Dietzsch, Steffen 2013: Kant über die Revolution im Denken und als Recht, in: https://www.themen.iablis.de/2013/ dietzsch13.html
Eisler, Rudolf 1964: Kant-Lexikon. Hildesheim
Gerhardt, Gerd 1992: Grundkurs Philosophie Band 2, Ethik, Politik, München
Habermas, Jürgen 1988: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 1988
Habermas, Jürgen 2001: Zeit der Übergänge, Frankfurt a.M.
Nietzsche, Friedrich 1973: Der Antichrist, in: Werke in zwei Bänden, Bd. II, München Rezension Frankfurter Allgemeine Zeitung , 15.11.1988, S. L9, in: https://!xtheo.de/Record/1086333640?/ng=de
Robra, Klaus 2011: Substanz und Sozialismus bei Ernst Bloch, in: VorSchein Nr. 31, Nürnberg 2011, S. 69-92
Robra, Klaus 2020: Ethik der Verhaltenssteuerung. Eine Neubegründung, München o.J. (2020), https://www.grin.com/document/923015
Robra, Klaus 2022: Was ist Wahrheit? Eine wiederkehrende Frage, München (GRIN-Verlag)
Robra, Klaus o.J.: Ist das Christentum am Ende? München (GRIN-Verlag)
Schulz, Walter 1992: Subjektivität im nachmetaphysischen Zeitalter. Aufsätze, Pfullingen
Schulz, Walter 1994: Der gebrochene Weltbezug. Aufsätze zur Geschichte der Philosophie und zur Analyse der Gegenwart, Stuttgart
Stepken, Guido: Das Ende der Metaphysik! (2004) in: www.de.sci.philosophie.narkive.com>FR70EUac<das-ende-der
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1 Guido Stepken, in: www.de.sci.philosophie.narkive.com>FR70EUac<das-ende-der
2 Habermas 1988, S. 159
3 Rezension Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.1988, S. L9, in: https://!xtheo.de/Record/1086333640?/ng=de
4 Habermas a.a.O. S. 47
5 Habermas: Zeit der Übergänge (2001), S. 174 f.
6 Vgl. Walter Schulz. 1994, S. 140
7 Nietzsche, in: Walter Schulz 1992, S. 210 f.
8 Walter Schulz a.a.O. S. 206 Ders.. a.a.O. S. 210
9 Vgl. Friedrich Nietzsche: Der Antichrist, in: Werke in zwei Bänden, Bd. II, München 1973, S. 511. Kaum ins Gewicht fällt dagegen die Tatsache, dass Nietzsche gelegentlich Sympathie für Jesus erkennen lässt. Einige Kritiker sehen in Nietzsche nicht nur einen Gottesleugner, sondern auch einen (verzweifelnden) Gottsucher.
10 Nietzsche, in: Gerhardt, Gerd: Grundkurs Philosophie Band 2, Ethik, Politik, München 1992, S. 81
11 Vgl. K. Robra: Ethik der Verhaltenssteuerung. Eine Neubegründung, München o.J. (2020), https://www.grin.com/document/923015, S. 134 f. Darin auch Näheres zu Nietzsches Begriff „Redlichkeit“ und seiner „Ethik der Stärke“ (S. 135 f.)
12 Vgl. hierzu meine kritische Sicht in: K. Robra: Ist das Christentum am Ende? München o.J., S. 95 ff.
13 W. Schulz 1992, S. 295 f.
14 Zur Wahrheitsfrage, an der Nietzsche ja ebenfalls gescheitert ist, s. auch K. Robra 2022.
15 Bloch 2000, S. 370
16 Bloch 1977, S. 246
17 Vgl. Bloch 1959, S. 1061 bzw. ders.: Geist der Utopie, Frankfurt a.M. 1964, S. 297, 299
18 Vgl. Robra 2011, S. 84-88
19 Kant selbst war zwar kein Revolutionär, trotzdem enthält seine Philosophie viel Revolutionäres. Hierzu: Steffen Dietzsch: Kant über die Revolution im Denken und als Recht (2013), in: https://www.themen.iablis.de/2013/ dietzsch13.html, sowie Eisler 1964, S. 158 f., 473
20 Vgl. Robra o.J. (2020), S. 155 ff.
- Citar trabajo
- Dr. Klaus Robra (Autor), Nachmetaphysisches Denken. Ende der Metaphysik?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1283205
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