Inwiefern eignet sich Erich Fromms Entwurf einer humanistischen Ethik für den Ethikunterricht der Sekundarstufe II? Dieser Frage soll in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden. Die Untersuchung wird sich in drei Schritte unterteilen. Im ersten Teil der Arbeit wird eine Untersuchung des Gegenstands der Psychologie in der Geschichte der Philosophie durchgeführt. Hierbei soll anhand einer Auswahl von Philosophen dargestellt werden, wie sich im Laufe der Jahrhunderte die Psychologie als eigenständige Wissenschaft aus den Sphären der Philosophie emanzipierte. Ein besonderer Fokus wird hierbei auf Sigmund Freuds Psychoanalyse liegen. Im zweiten Teil der Arbeit wird daraufhin untersucht, wie die Erkenntnisse der Psychologie von der Philosophie genutzt wurden, um mit Hilfe dieser Erkenntnisse eigene ethische Theorien zu entwickeln.
Hierbei soll Erich Fromms Ansatz demjenigen von John Dewey gegenübergestellt werden. Beide nutzten die Erkenntnisse der Psychoanalyse und der Psychologie aus unterschiedlichen Bereichen und mit unterschiedlichen Motiven. Diese Gegenüberstellung eignet sich insofern, dass sie die Individualität beider Ansätze verdeutlicht und die Vielfältigkeit der Interdisziplinarität aus Psychologie und Philosophie illustriert. Im dritten und letzten Teil der Arbeit soll anschließend untersucht werden, warum gerade Erich Fromms Ansatz als geeignetes Unterrichtsthema für den Ethikunterricht der Sekundarstufe II erscheint. Diese didaktische Untersuchung läuft in drei Schritten ab: Zunächst wird anhand Fromms eigener Aussagen zu Pädagogik und Erziehung eine psychoanalytische Perspektive eingenommen, die vor allem Fromms Untersuchungen zum (Un-)Gehorsam und zur Autorität in den Blick nimmt.
Im zweiten Schritt soll anhand Wolfgang Klafkis Theorie der kategorialen Bildung eine allgemeindidaktische Untersuchung der humanistischen Ethik Fromms stattfinden. Dies soll dazu beitragen, den Blick vom Unterrichtsgegenstand hin zu den Schüler*innen zu lenken, vor allem aber das Potential einer wechselseitigen Erschließung von Subjekt und Objekt im Sinne Klafkis zu analysieren. Im letzten Schritt wird abschließend erörtert, wie Ekkehard Martens Philosophiedidaktik mit Erich Fromms Ansatz harmoniert. Der Fokus liegt hierbei auf Martens Definition von Philosophie, die er vor allem als Tätigkeit und Kulturtechnik versteht. All dies soll schließlich dazu beitragen, die Frage nach einer Eignung von Fromms Ansatz für den Ethikunterricht zu beantworten.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Seele des Menschen
2.1 Aristoteles
2.2 René Descartes
2.3 John Locke
2.4 Gottfried Wilhelm Leibniz
2.5 Immanuel Kant
2.6 Johann Friedrich Herbart
2.7 Philosophie und Psychologie am Scheidepunkt
3 Sigmund Freud und die Psychoanalyse
3.1 Ich/Es/Über-Ich
3.1.1 Das Ich und das Es
3.1.2 Das Ich und das Über-Ich
3.2 Freuds Anthropologie und Kulturkritik
3.3 Die Ethik des (Kultur-)Über-Ichs
3.4 Von Freud zu Fromm
4 Erich Fromm – Intellektuelle Kurzbiographie
4.1 Erich Fromm – Psychoanalyse und Ethik
4.1.1 Humanistische Ethik als Kunst des Lebens
4.1.2 Die Natur des Menschen
4.1.3 Existenzielle und historische Dichotomien
4.2 Humanistische Charakterologie
4.2.1 Die nicht-produktiven Charakterorientierungen
4.2.2 Die produktiven Charakterorientierungen
4.3 Das Prinzip der humanistischen Ethik
4.4 Utopischer Humanismus
5 John Dewey
5.1 John Dewey und die menschliche Natur
5.1.1 Impulse, Habit und Deliberation
5.1.2 Menschliches Verhalten und Werturteile
5.2 John Deweys Ethik
5.3 Erich Fromm und John Dewey – Die menschliche Natur und Ethik
6 Philosophie und Psychologie – Ein Fazit
7 Erich Fromms humanistische Pädagogik
8 Wolfgang Klafki
9 Fachdidaktische Perspektive
9.1 Wozu Philosophie?
9.2 Philosophieren als Kulturtechnik
9.3 Erich Fromm im Lichte von Martens‘ Philosophiedidaktik
9.3.1 Humanistische Ethik als Weltanschauung
9.3.2 Humanistische Ethik als Lebenskunst
9.3.3 Humanistische Ethik als Kulturtechnik
10 Humanistische Ethik in der Schule
11 Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Wer im 21. Jahrhundert von der ‚Seele des Menschen‘ und deren Erforschung spricht, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit diese Erforschung mit der Psychologie in Verbindung setzen. Die Seele des Menschen, insofern sie noch als solche bezeichnet wird, verliert zunehmend den Charakter eines metaphysischen Phänomens und wird durch die Psychologie, aber auch durch die Neurowissenschaften, ihrer Schleierhaftigkeit entbunden. Empirische Forschung ersetzt zunehmend die Entwicklung philosophischer Theorien und schließt automatisch jegliche dieser Theorien aus, die ihr widersprechen. Wenn Christian Wolff bereits Mitte des 18. Jahrhunderts die empirische von der theoretischen Psychologie trennte, so ist diese Trennung in der Gegenwart endgültig vollzogen.1 Doch ob Naturwissenschaft oder Geisteswissenschaft: Die gegenwärtige Psychologie versteht sich als empirische Wissenschaft und stellt somit implizit die Möglichkeit eines Erkenntnisgewinns seitens der Philosophie – zumindest auf dem Gebiet der ‚Seele‘ – in Frage.2
Aus dem empirischen Charakter der Psychologie folgt jedoch auch, dass sie (abgesehen von der therapeutischen Praxis, der im Rahmen dieser Arbeit aufgrund mangelnder Fachkenntnisse nur wenig bis gar keine Beachtung geschenkt werden kann) vor allem eine beschreibende Wissenschaft ist. Auf dem Gebiet der Ethik kann die Psychologie (und die Soziologie) nach Ayer somit zwar durchaus „Phänomene moralischer Erfahrung und ihre Ursachen beschreiben“3, jedoch sei sie nicht in der Lage, normative Urteile über moralische Handlungen zu fällen. Als ein Vertreter des Non-Kognitivismus dementierte er jedoch ebenso das Vermögen der Philosophie, normative Urteile zu fällen.4 Aufgabe der Moralphilosophie sei es hingegen, „durch eine Analyse ethischer Begriffe die Kategorien aufzuzeigen“5, in die „ethische Meinungen“6 einzuordnen seien.
Eine ‚Entdeckung‘, die dieser metaethischen Perspektive zweifelsfrei zuträglich war, ist die des Unterbewusstseins, welche vor allem durch Sigmund Freud zu Beginn des 20. Jahrhunderts popularisiert wurde. Die im Zuge der Aufklärung triumphierende Vernunft schien abgelöst und die Willens- und Handlungsfreiheit des Menschen zur Illusion degradiert. Die sog. dritte große Kränkung des Menschen (s. Kapitel 3) schien normative Werturteile überflüssig zu machen und verdrängte die normative Ethik zugunsten einer deskriptiven sowie einer Metaethik.
Umso mehr überrascht es, dass es gerade ein Psychoanalytiker war, der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht nur behauptete, die Psychologie müsse dazu beitragen, falsche ethische Urteile zu demaskieren, sondern sie könne ebenfalls bei der Aufstellung „objektiver und gültiger Normen der Lebensführung als Grundlage dienen“7. Während Freud selbst immer wieder betonte, die Ethik sei in der Psychoanalyse lediglich von deskriptivem Charakter8, findet sich hier ein Psychoanalytiker, der in seinem Werk Man for Himself. An Inquiry into the Psychology of Ethics (1947) sein gesamtes Konzept einer humanistischen Ethik auf dem der Psychoanalyse aufbaut. Erich Fromm postulierte, humanistisch-ethische Wertesysteme der Vergangenheit seien bisher immer auf der Grundlage einer Idee der Natur des Menschen aufgebaut worden. Nun, da die Psychoanalyse einen erheblichen Beitrag dazu geleistet habe, die ‚verborgene‘ Natur des Menschen in Form des Unterbewusstseins aufgedeckt zu haben, müsse gerade dies Anlass dazu geben, eine neue Ethik zu entwickeln, die auf den neu gewonnenen Erkenntnissen beruhe.9
Fromms Anliegen war hierbei nicht nur akademischer Natur: die Degradierung ethischer Normen zu einer „Angelegenheit des Geschmacks“10 präparierte für ihn den Nährboden für irrationale Wertesysteme in Form autoritärer Ethiken. Folgt man dieser Logik, gerät vor allem die Pädagogik in den Blick, wird doch in Bildung und Erziehung der Grundstein für das gesellschaftliche Zusammenleben gelegt. Gerade hier scheint Fromms humanistische Ethik als Gegenstück zu einer autoritären Ethik also von Bedeutung. Doch reicht dies aus, um Erich Fromms Entwurf einer humanistischen Ethik im Ethikunterricht der Sekundarstufe II als dauerhaften Bestandteil zu rechtfertigen? Dieser Frage soll in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden.
Die Untersuchung wird sich in drei Schritte unterteilen. Im ersten Teil der Arbeit wird eine Untersuchung des Gegenstands der Psychologie in der Geschichte der Philosophie durchgeführt. Hierbei soll anhand einer Auswahl von Philosophen dargestellt werden, wie sich im Laufe der Jahrhunderte die Psychologie als eigenständige Wissenschaft aus den Sphären der Philosophie emanzipierte. Ein besonderer Fokus wird hierbei auf Sigmund Freuds Psychoanalyse liegen.
Im zweiten Teil der Arbeit wird daraufhin untersucht, wie die Erkenntnisse der Psychologie von der Philosophie genutzt wurden, um mit Hilfe dieser Erkenntnisse eigene ethische Theorien zu entwickeln. Hierbei soll Erich Fromms Ansatz demjenigen von John Dewey gegenübergestellt werden. Beide nutzten die Erkenntnisse der Psychoanalyse und der Psychologie aus unterschiedlichen Bereichen und mit unterschiedlichen Motiven. Diese Gegenüberstellung eignet sich insofern, dass sie die Individualität beider Ansätze verdeutlicht und die Vielfältigkeit der Interdisziplinarität aus Psychologie und Philosophie illustriert.
Im dritten und letzten Teil der Arbeit soll anschließend untersucht werden, warum gerade Erich Fromms Ansatz als geeignetes Unterrichtsthema für den Ethikunterricht der Sekundarstufe II erscheint. Diese didaktische Untersuchung läuft in drei Schritten ab: Zunächst wird anhand Fromms eigener Aussagen zu Pädagogik und Erziehung eine psychoanalytische Perspektive eingenommen, die vor allem Fromms Untersuchungen zum (Un-)Gehorsam und zur Autorität in den Blick nimmt. Im zweiten Schritt soll anhand Wolfgang Klafkis Theorie der kategorialen Bildung11 eine allgemeindidaktische Untersuchung der humanistischen Ethik Fromms stattfinden. Dies soll dazu beitragen, den Blick vom Unterrichtsgegenstand hin zu den Schüler*innen zu lenken, vor allem aber das Potential einer wechselseitigen Erschließung von Subjekt und Objekt im Sinne Klafkis12 zu analysieren. Im letzten Schritt wird abschließend erörtert, wie Ekkehard Martens Philosophiedidaktik mit Erich Fromms Ansatz harmoniert. Der Fokus liegt hierbei auf Martens Definition von Philosophie, die er vor allem als Tätigkeit und Kulturtechnik versteht.13 All dies soll schließlich dazu beitragen, die Frage nach einer Eignung von Fromms Ansatz für den Ethikunterricht zu beantworten.
2 Die Seele des Menschen
Zwischen einem psychologischen und nicht-psychologischen Kontext in der Geschichte der Philosophie zu unterscheiden, ist ein kompliziertes Unterfangen. Ähnlich verhält es sich mit der Frage nach dem Beginn der ersten ‚psychologischen‘ Untersuchungen. Im Zuge der hiesigen Darstellung wird sich an der Einteilung Eckardts14 orientiert: Dieser sieht bei Aristoteles den ersten Versuch einer systematischen Darstellung der menschlichen Psyche.15 Im Vergleich zu Platon, der in seiner Darstellung der menschlichen Seele noch auf die Idee einer ‚Götterseele‘ zurückgreift, die vom Menschen nur in begrenzter Weise verstanden werden könne, versucht Aristoteles die Seele als das „Prinzip für die Lebewesen“16 zu postulieren und eben dieses zu ergründen. Aristoteles‘ Ansatz soll somit den Beginn psychologischer Untersuchungen in der Philosophie markieren.
Anschließend stellt sich folgerichtig die Frage, welcher Philosoph das Ende der psychologischen Untersuchungen in der Geschichte der Philosophie (wenn davon überhaupt die Rede sein kann) markiert und somit den Übergang zur Darstellung der Theorien Freuds ermöglicht. Wie auch in der restlichen Auswahl der repräsentativen Philosophen für den Gegenstand des Psychologischen in der Philosophie wird sich hierbei an der Listung Eckardts orientiert, welcher Johann Friedrich Herbart als letzten Vertreter der Philosophie in der nun nahezu eigenständigen Domäne der Psychologie setzt.17 Zwar ist es auch hier beinahe unmöglich, einen Punkt zu finden, der die Trennung der beiden Wissenschaften endgültig besiegelt, jedoch gibt es Mitte des 19. Jahrhunderts erste Versuche, die Physiologie und die Psychologie zu verbinden und zu einer naturwissenschaftlichen, sowie empirisch arbeitenden Wissenschaft zu erheben. Diese Versuche kulminieren in den Publikationen Wilhelm Wundts im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, welche in der Fachliteratur weitgehend übereinstimmend als Fixpunkt für die Etablierung der Psychologie als eigenständige Wissenschaft anerkannt werden.18
Mit dieser Bestimmung des Start- und Endpunktes der Psychologie als Teilgebiet der Philosophie soll im Folgenden nun die Geschichte dieses Teilgebiets anhand der erwähnten Listung Eckardts dargelegt werden: Hierbei handelt es sich namentlich um Aristoteles‘ Konzept der Seele, Descartes‘ Leib-Seele Dualismus und dessen Konzept des kartesianischen Subjekts, Lockes Theorie des Geistes als tabula rasa, Leibniz‘ psychologische Aspekte seiner Monadentheorie, Kants Psychologiekritik und Herbarts Versuch einer Psychologie als angewandte Metaphysik. Diese werden jeweils nur angedeutet, ohne dabei einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.
2.1 Aristoteles
Wie bereits angedeutet, ist die Seele für Aristoteles das „Prinzip für die Lebewesen“19. Ein Lebewesen besitzt somit grundsätzlich eine Seele, unabhängig davon, ob es sich um eine Pflanze oder ein Tier handelt. Die Seele wird also zu dem Kriterium, von dem das Prädikat lebendig oder leblos abhängt.20 Primäres Kriterium für etwas Lebendiges ist hierbei das Potential zum Wachstum bzw. der Ernährung, was grundsätzlich alles von der Pflanze bis zum Menschen zu etwas Lebendigem macht.21 Beim Tier kommt nach Aristoteles außerdem das Wahrnehmungsvermögen hinzu. Beim Menschen letztlich vereinen sich Wachstum und Wahrnehmung mit der Vernunft.
Die Seele unterscheidet sich somit von Lebewesen zu Lebewesen, doch welche Form besitzt sie selbst und ist sie als eigene Substanz vom Körper abtrennbar? Im Gegensatz zu Platon verneint Aristoteles Letzteres. Aus seiner Materie-Form-Relation (Hylemorphismus) lässt sich schließen, dass der Körper ohne Seele lediglich Materie, die Seele aber formgebendes Prinzip ist und sich in der Materie selbst verwirklicht. Der Körper ohne Seele ist somit potenzielles Sein und wird erst durch die formgebende Seele zum Lebewesen. Die Seele ist somit die Entelechie des Körpers. Gleichzeitig verwirklicht sich die Seele lediglich in der Materie und ist somit an den Körper zweckgebunden. Weder (lebendiger) Körper noch Seele existieren unabhängig voneinander, aus ihrer Verbindung ergibt sich jedoch ein ‚Sein‘ in Form eines Lebewesens. Und diese Form eines beseelten Lebewesens wird von Aristoteles zusätzlich in unterschiedliche Stufen (s. O.) eingeteilt.22
Doch welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Einteilung und dem Vermögen der Lebewesen auf der jeweiligen Stufe? Für die Thematik dieser Arbeit scheinen vor allem die Schlüsse interessant, die Aristoteles aus dem Wahrnehmungsvermögen der Tiere und Menschen zieht. Aus der Fähigkeit zur Wahrnehmung folgt nach Aristoteles nämlich die Einteilung in positive und negative Wahrnehmung bzw. in Lust und Schmerz. Hieraus wiederum folgt die Begierde, Lust zu empfinden bzw. Schmerz zu vermeiden.23 Das Wahrnehmungsvermögen impliziert also „emotionale und volitive Prozesse“24.
Das letzte seelische Unterscheidungskriterium, die Vernunft (nous), kommt nach Aristoteles nur dem Menschen zu. Unter Vernunft versteht Aristoteles den Teil der Seele, „womit die Seele diskursiv denkt und Annahmen macht“25. Dieser Teil der Seele besitzt hierbei, im Gegensatz zum wahrnehmenden Teil der Seele, keine materielle Manifestation (wie bspw. das Sehvermögen im Auge). Erst im Prozess des Denkens selbst konstituiert sich also die Vernunft.26
Des Weiteren teilt Aristoteles diesen Teil der Seele in einen „rezeptiven“27 (nous pathetikós) und einen „wirkenden“28 (nous poiêtikos) Teil auf. Der rezeptive Teil der Vernunft-Seele ist für das Abstrahieren von Wahrnehmungsgegenständen zuständig. Hierbei wird aus der materiellen Wahrnehmung ein immaterieller Gegenstand des Verstands. Der wirkende Teil der Vernunft-Seele ist anschließend der Teil der Seele, der diese transzendierte Wirklichkeitswahrnehmung interpretiert.29 Aristoteles verdeutlicht diesen Vorgang mit einer Analogie: Erst das Licht bzw. die Helligkeit kann „die dem Vermögen nach seienden Farben zu Farben der Wirklichkeit“30 machen. Mit anderen Worten: Der rezeptive Teil der Vernunft-Seele ist zuständig für die Abstraktion, der wirkende Teil für die Interpretation, die ‚Sichtbarmachung‘.
Aristoteles versucht also systematisch, die Seele als Prinzip des Lebens zu definieren und unterschiedliche Stufen der Seele zu differenzieren. Er grenzt den Menschen von den Tieren durch eine Erweiterung der Seele ab, ohne den Tieren oder gar den Pflanzen dabei eine Seele abzusprechen. Die den Menschen eigene Vernunft ist nach Aristoteles die Fähigkeit, Objekte der Wirklichkeit in den Bereich des Verstandes zu transzendieren sowie die reine „Tätigkeit des Denkens überhaupt“31.
2.2 René Descartes
Während bei Aristoteles der Ursprung der ‚psychologischen‘ Untersuchungen in der Naturwissenschaft wurzelt, liegt er bei Descartes in der erkenntnistheoretischen Frage nach der Wahrheit. Descartes Ausgangspunkt liegt hierbei im Zweifel; dieser sei Hauptwerkzeug des Philosophen auf der Suche nach Erkenntnis. Der Zweifel befreit nach Descartes von Vorurteilen und verzerrten Sinneseindrücken und ermöglicht es dem denkenden bzw. zweifelnden Subjekt, grundsätzlich alles in Frage zu stellen. Ausgenommen davon ist einzig und allein die Tatsache, dass das zweifelnde Subjekt zweifelt. Somit sei gleichzeitig die Existenz des zweifelnden Subjekts bewiesen, was in Descartes weltberühmter Formel cogito ergo sum mündet.32
Diese Schlussfolgerung führt Descartes anschließend zu der Annahme, die Existenz entfalte sich ausschließlich im Denken, nicht in den materiellen und körperlichen Empfindungen. Die Seele sei somit „völlig verschieden“33 vom Körper. Descartes trennt somit die denkende Substanz (res cogitans) von der ausgedehnten Substanz (res extensa), das Geistige vom Materiellen. Das liefert das Fundament für Descartes‘ ontologischen Dualismus. Diese Trennung wirft jedoch einige Fragen auf, die für das Verständnis von Descartes‘ Theorie beantwortet werden müssen.34
Zunächst stellt sich die Frage, wo bzw. ob die Seele, wenn sie keine ausgedehnte Substanz ist, ihren Sitz im Körper hat. Nach Descartes befindet sie sich in der Zierbeldrüse im Gehirn, von der aus sie „das ganze System steuert und kontrolliert“35. Die Seele sendet hierbei mit Hilfe von Lebensgeistern Signale an die Glieder, welche sich daraufhin bewegen. Auch wenn der Begriff Lebensgeister hierbei äußerst unwissenschaftlich anmutet, so widerspricht er doch nicht der gängigen Vorstellung des 21. Jahrhunderts, nach welcher Nervenimpulse „vom Gehirn über das efferente Nervensystem an die Peripherie des Organismus weitergeleitet werden und dort Muskelkontraktionen auslösen können“36.
Fragwürdig erscheint jedoch, inwiefern die vorher beschriebene Trennung von denkender (immaterieller) und ausgedehnter (materieller) Substanz hierbei plötzlich überwunden werden kann. Dass es eine Wechselwirkung zwischen Seele und Körper geben muss, zeigt Descartes in einem Beispiel: Wenn ein Mensch seinen Fuß über eine Flamme hält, wird die Information der Hitze über den Fuß zum Gehirn getragen, in welchem die Seele wiederum auf diesen Reiz reagiert und den Fuß mit Hilfe der Lebensgeister zum Zurückziehen bewegt.37 Offen bleibt jedoch, wie ein Übergang von immaterieller zu materieller Substanz überhaupt möglich sein soll, da eine solche Trennung eine Wechselwirkung eigentlich ausschließen müsste. Bereits zu Lebzeiten Descartes‘ war dies ein vielfach vorgetragenes Argument gegen Descartes‘ ontologischen Dualismus. Er selbst gab diesem Widerstand, wie aus diversen Briefen hervorgeht, in gewisser Weise nach: Aus der Verbindung des Körpers mit der Seele gehe die Möglichkeit einer psychophysischen Wechselwirkung automatisch hervor.38 Diese Verbindung sei dabei eine notion primitive, „ein nicht weiter definierbarer oder erklärbarer Grundbegriff unseres Denkens“39. Eine Erklärung, die über die logische Inkonsistenz Decartes‘ Leib-Seele Dualismus nicht hinwegsehen lässt.
Zuletzt sei noch Descartes‘ Vorstellung der angeborenen Ideen erwähnt. Für Descartes gibt es neben den Ideen, die der Einbildungskraft entspringen und den Ideen, die aus der Sinneswahrnehmung entstehen, noch die angeborenen Ideen (ideae innatae).40 Hierbei handelt es sich beispielsweise um Begriffe wie Gott, Vollkommenheit oder auch Bewusstsein.41 Descartes hält den menschlichen Verstand somit nicht für unberührt vor der Erfahrung, sondern spricht ihm eine Struktur a priori zu. Eine Auffassung, der Locke mit seinem Empirismus vehement widersprechen wird.
2.3 John Locke
Für Locke ist im Gegensatz zu Descartes der Verstand bei der Geburt nicht bereits durch Ideen vorbeeinflusst, sondern er gleiche einem weißen Blatt Papier, „frei von allen Ideen“42. Die Theorie eines durch vorgefertigte Ideen beeinflussten Geistes hält Locke für inkonsistent, da in einem solchen Falle auch an Kindern oder bildungsfernen Erwachsenen („Idioten“43 ) diese Ideen nachweisbar sein müssten, was aber nicht der Fall sei. Ferner sei es abwegig anzunehmen, der menschliche Verstand sei von vorgefertigten Ideen oder Sätzen besetzt, da allein diese Sätze, addiert mit den Sätzen, die aus ihnen logisch folgen, immense Ausmaße annehmen müssten.44
Für Locke ist es einzig und allein die Erfahrung, die dem menschlichen Verstand „das gesamte Material des Denkens“45 liefert und somit zur Erkenntnis führen kann. Diese Erfahrung speist sich hierbei aus zweierlei Quellen: Zum einen gibt es solche, die der Mensch anhand seiner sinnlichen Wahrnehmung gewinnt. Hierbei handelt es sich um Qualitäten wie „gelb, weiß, heiß, kalt, weich, hart, bitter, süß“46. Diese Quelle der Erfahrung nennt Locke die sensation. Zum anderen verfüge der Mensch über die Fähigkeit der „Wahrnehmung der Operationen des eigenen Geistes“47. Diese Dinge liegen für Locke nicht im Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren, sondern sind vielmehr ein „innerer Sinn“48. Die hierbei gewonnen Ideen bezeichnen dabei weniger Qualitäten als Tätigkeiten, und schließen solche wie „wahrnehmen, denken, zweifeln, glauben, schließen, erkennen, wollen“49 ein. Diese zweite Quelle der Erfahrung nennt Locke die reflection.
Locke belässt es jedoch nicht bei diesem simpel anmutenden Dualismus, sondern teilt die Ideen sowie die Wege ihres Erwerbs in unterschiedliche Klassen bzw. Untergruppen ein. Er unterscheidet grundsätzlich einfache von komplexen Ideen. Die einfachen Ideen sind hierbei direkt aus den Sinneseindrücken oder der Reflexion ableitbar sowie aus der Kombination dieser Beiden. Ein wichtiges Abgrenzungsmerkmal zu den komplexen Ideen ist hierbei die Passivität. Die einfachen Ideen werden nach Locke automatisch (passiv) aus den Sinneseindrücken oder der Reflexion abgeleitet. Die Idee der Festigkeit entspringe bspw. aus dem Ertasten eines festen Objekts. Die Idee bzw. Vorstellung eines immateriellen Objekts, das jenseits des Prinzips der Festigkeit liegt, bedürfe jedoch weit mehr als der Ableitung und setze einen aktiv arbeitenden und kombinierenden Geist voraus.50
Aktiv wird der Geist nach Locke erst dann, wenn er die komplexen Ideen bildet. Komplexe Ideen sind hierbei immer das Resultat des Kombinierens „mehrerer einfacher Ideen zu einer zusammengesetzten“51. Sie sind somit immer abhängig von den einfachen Ideen und somit auch immer auf sie zurückzuführen. Gleichzeitig hat das wahrnehmende Subjekt bei Locke keinen Einfluss auf die Ableitung der Ideen aus der Sinneswahrnehmung. Daraus lässt sich wiederum erschließen, dass das denkende Subjekt bei Locke erst dann wahrhaftig beginnt ein denkendes Subjekt zu sein, wenn es die einfachen Ideen, die es aus den Sinneswahrnehmungen ableitet, beginnt zu komplexen Ideen zusammenzufügen. Locke steht somit nicht nur Descartes‘ Theorie der ideae innatae fundamental entgegen. Das Zweifeln des Subjekts, das für Descartes nicht nur die Existenz ebendieses Subjekts beweist, sondern ebenso Ursprung für dessen Erkenntnis ist, wird bei Locke durch die den Objekten innewohnende Kraft, beim Menschen durch Sinneswahrnehmung Ideen zu produzieren, ersetzt.52
2.4 Gottfried Wilhelm Leibniz
Auf Lockes Essays folgte 1765 Leibniz‘ Werk Neue Abhandlung über den menschlichen Verstand (Nouveaux Essais sur l’entendement humain). In diesem auf Lockes empiristischer Theorie aufbauenden Werk geht Leibniz einen Schritt in Richtung Descartes und fügt der empiristischen Formel „nichts ist im Intellekt, was nicht in den Sinnen gewesen ist“ den Zusatz „außer dem Intellekt selbst“53 hinzu. Dennoch lässt sich Leibniz weder der Kategorie der Rationalisten noch der der Empiristen zuordnen.54
Leibniz bettet den Begriff der Seele in seine Monadentheorie ein. Dabei ist die Seele selbst, so wie alles in der Welt, Monade. Somit ist die Seele Teil des Universums, gleich wie das Universum Teil der Seele ist. Die Seele kann also nach Leibniz‘ Monadentheorie keine tabula rasa sein.55 Sie könne außerdem nicht, wie bei Locke, lediglich ein Werkzeug zur Verarbeitung der Sinne sein, da dies nichts weiter als ein Vermögen ohne Tätigkeit wäre; etwas, dass die Natur nach Leibniz nicht kennt.56 Sie könne jedoch genau so wenig bloß Ideen in sich tragen, ohne dass der menschliche Verstand die Fähigkeit besitze, diese Ideen zu identifizieren, da das Bewusstsein ihre Existenz überhaupt erst realisiere. Was den menschlichen Verstand ausmacht ist seine Disposition: Er besitzt eine
„Eignung, eine Präformation, die unsere Seele bestimmt und die bewirkt, daß [sic!] die notwendigen Wahrheiten aus ihrem Grund herausgeholt werden können“57.
Der menschliche Verstand kann also zweierlei: Er ist grundsätzlich dazu in der Lage, die angeborenen Ideen zu verstehen und somit auch, sofern er ‚richtig‘ gebraucht wird, diese in sich selbst zu finden.58
Doch wie genau legt der Mensch nach Leibniz die in ihm liegenden Ideen frei? Leibniz zufolge ist der Mensch mit der Fähigkeit zur Perzeption ausgestattet.59 Unter Perzeption versteht Leibniz die Wahrnehmung, genauer gesagt die Unfähigkeit, nicht wahrnehmen zu können. Dies erschließt sich aus Leibniz‘ Gesetz der Kontinuität, nachdem sich ein Körper niemals gänzlich in Ruhe befinden kann. Und da, wie bereits angemerkt, die Seele, genauso wie alle anderen Körper bei Leibniz, aus Monade besteht, gilt diese Ruhelosigkeit ebenso für die Seele. Sie zeichnet sich durch eine konstante Perzeption aus, die dabei allerdings noch nicht bewusst wahrgenommen wird.60 Leibniz führt als Beispiel das Wellenrauschen an, das zwar aus vielen Einzelgeräuschen besteht, vom Menschen jedoch als ein einheitliches Rauschen aufgefasst wird.61 Hierbei verhalte sich die Seele weitestgehend passiv. Aktiv wird die Seele nach Leibniz erst dann, wenn sie apperzipiert, also aktiv und bewusst wahrnimmt. Während die Apperzeption in einen zeitlichen Rahmen eingegliedert werden kann, ist die Perzeption konstant und somit zeitlos.62
Im Gegensatz zu Locke liegen die Ideen bei Leibniz also keineswegs außerhalb der menschlichen Seele, sondern sind in ihr selbst gebunden. Im Gegensatz zu Descartes ist bei Leibniz jedoch noch nichts über die Wahrnehmung dieser Ideen gesagt. Entscheidend ist bei Leibniz hingegen die Disposition der Seele, die die wechselseitige Erschließung der angeborenen Ideen und des menschlichen Verstandes prinzipiell ermöglicht.
2.5 Immanuel Kant
Während die bisher behandelten Philosophen vor allem die Möglichkeiten einer Psychologie darzulegen versuchten, ging es Immanuel Kant vor allem darum, ihre Grenzen aufzuzeigen. Im Folgenden soll anhand von drei Argumenten Kants seine Haltung zur empirischen Psychologie nachvollzogen werden.
Zunächst ging es Kant um die Abkopplung der empirischen Psychologie von der Metaphysik. Das Vermengen dieser beiden Disziplinen gehe hierbei aus einer begrifflichen Verwirrung hervor: In der Metaphysik ist die Erkenntnisgrundlage (weitestgehend) das Subjekt selbst, unabhängig davon, ob die Ideen oder Grundsätze, mit denen das Subjekt arbeitet, angeboren sind oder nicht. Diese Vorgänge gründen nach damaliger Auffassung in der Seele. Gleichzeitig gründen aber auch psychologische Prozesse in der Seele, wodurch letztlich in einem induktiven Verfahren Schlüsse vom denkenden Subjekt auf die Seele im Allgemeinen gezogen werden. Damit ist eine gewisse Ambiguität hergestellt, die die Vermengung von Metaphysik und Psychologie zu rechtfertigen scheint. Kant widerspricht dieser Auffassung jedoch: Seiner Theorie zufolge arbeitet die Metaphysik mit reinen Begriffen, die auf der Vernunft basieren, wohingegen die empirische Psychologie mit empirisch beobachtbaren, psychischen Phänomenen arbeite. Eine Vermengung oder Hierarchisierung der zwei Disziplinen sei somit nur wenig sinnvoll.63
Bedeutet dies jedoch, dass nach Kant empirische Erkenntnisse über die Psyche des Menschen aus der Introspektion kommen sollten? Kant legt zwei Einwände gegen diese Möglichkeit vor. Erstens sei man bei der Introspektion nicht in der Lage, die Gegenstände der eigenen oder fremden Introspektion beliebig zu variieren oder zu manipulieren. Sie besäßen keine Raum-Dimension und seien somit nicht experimentell behandelbar. Zweitens könne bei der Introspektion nie gewährleistet werden, dass die introspektive Beobachtung ein tatsächliches Abbild der vergangenen psychischen Erfahrung darstellt, da durch die Beobachtung selbst der introspektive Bericht beeinflusst sei. Beide Einwände ergänzen und erhärten sich hierbei.64
Zuletzt sei Kants Einwand gegen die Mathematisierbarkeit der empirischen Psychologie genannt. Da es sich für Kant bei der Seele um ein transzendentales Objekt handelt und sie somit immateriell ist, fehlt ihr die Raumdimension. Den ‚Sitz‘ der Seele im Körper zu suchen ist nach Kant folglich ein sinnfreies Unterfangen. Die Raumlosigkeit der Seele bedeutet somit allerdings, dass sie mathematisch nicht behandelt werden kann, da einzig eine Zeitdimension hierfür nicht ausreicht. Somit lasse sich die empirische Psychologie auch nicht den Naturwissenschaften zuordnen, da bei diesen die Raumdimension niemals fehlen könne.65
Doch bedeutet Kants Kritik, dass er die Existenz einer empirischen Psychologie für unmöglich hält? Diese Schlussfolgerung scheint sich nur bedingt aus seiner Kritik zu ergeben. Die Hauptkritik Kants an der empirischen Psychologie seiner Zeit scheint die an der Methode der Introspektion gewesen zu sein. Gleichzeitig schlägt er jedoch vor, wie eine Wissenschaft aussehen könnte, die die psychischen Phänomene des Menschen erforscht: Das Erleben innerer Erfahrung müsse an äußere, beobachtbare Erfahrung gekoppelt sein. Ein allgemeiner begrifflicher Rahmen, der bspw. Affekte differenziert, müsse eingeführt werden. Und zuletzt müsse die Introspektion, sofern sie wissenschaftlich verwertbar sein soll, diesen begrifflichen Rahmen auch bei der Beobachtung wahren.66
2.6 Johann Friedrich Herbart
Nachdem Kant die Möglichkeit einer Psychologie als Naturwissenschaft zwar nicht gänzlich ablehnte, jedoch scharf eingrenzte, versuchte sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl in Königsberg die Etablierung der Psychologie als eigene Wissenschaft voranzutreiben. Johann Friedrich Herbart stellte die Psychologie auf ein Fundament bestehend aus Erfahrung, Metaphysik und Mathematik.67
Bei diesem Versuch orientierte er sich, insofern dies möglich war, an den Prinzipien der Naturwissenschaften. Ziel war es, die Wissenschaft von der Seele quantifizierbar und somit mathematisierbar zu machen. Möglich sollte dies durch seine Metaphysik werden, die die Erfahrungsgegenstände metaphysisch aufschlüsselte und zu Realen machte.68 Doch was ist hierbei mit metaphysischer Aufschlüsselung gemeint? Nach Herbart sind Eindrücke oder Erfahrungen immer vom ‚Sein‘ beeinflusst und verlieren somit ihren Wirklichkeitsanspruch; das ergebe sich bereits aus der zeitlichen Verschiebung von Erleben und Erinnern. Dies bedeute jedoch nicht, dass einer Erfahrung keine wirkliche bzw. reale Ebene zugrunde liegen könne. Um mit dieser Ebene jedoch arbeiten zu können, müsse sie zunächst metaphysisch entschlüsselt werden.69 Nach dieser Entschlüsselung sei es sodann möglich, mit den gewonnenen Realen mathematisch gearbeitet werden. Diesen psychischen Realen liegt in Herbarts System ein Prinzip zugrunde: Das Prinzip der Selbsterhaltung.70
Nach dem Prinzip der Selbsterhaltung manifestieren sich die Realen in der Seele als Vorstellungen, welche sich selbst erhalten. Aus der Interaktion dieser sich selbst erhaltenden Vorstellungen ergeben sich sowohl bewusste als auch unbewusste Dynamiken: Wenn zwei oder mehr Vorstellungen sich verbinden, so kann die Kombination dieser Vorstellungen bspw. die Vorstellung eines bestimmten Gegenstands ins Bewusstsein rufen. Gleichzeitig werden jedoch andere Vorstellungen im Sinne einer Druck-Gegendruck-Mechanik unter die Bewusstseinsschwelle gedrückt. Diese unterdrückten Vorstellungen sind hierbei jedoch keinesfalls in einem Zustand der Inaktivität. Stattdessen entwickelt sich hierbei ein Druck und ein Streben, die Schwelle des Bewusstseins wieder zu überschreiten. Eine Überschreitung geschieht dann, wenn die unterbewusste Vorstellung eine Assoziationsbeziehung mit bereits im Bewusstsein etablierten Vorstellungen eingeht.71
Mit dieser Mechanik wollte Herbart nun die Mathematisierbarkeit der Psychologie beweisen. Dieser Mathematik legte er die Kräfte der Vorstellungen zugrunde. Sie besitzen innerhalb Herbarts Theorie unterschiedliche Intensitäten, was sie der Theorie nach mathematisierbar macht, da sie nun der Quantität nach (der Stärke der Kräfte der gegenseitigen Einwirkungen) differenzierbar sind. Die Kräfte fügte Herbart dann in mathematische Formel ein, die seiner Theorie zufolge die Kausalität von Bewusstseinsinhalten beweisen sollte. Da es sich bei diesen Kräften jedoch nicht um empirisch messbare Daten handelt, wie es bspw. in der Physik der Fall ist, sondern um metaphysische Größen, die keinerlei empirische Basis besitzen, ist der empirische Wert der Formeln als äußerst gering einzuschätzen.72
Die Frage nach einer Verbindung zu Freud, der bekanntermaßen den Begriff des Unbewussten geprägt hat wie kein anderer, ist durchaus berechtigt. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Freud die Verdrängung qualitativ begründete, während Herbart lediglich mechanische Gesetze als Ursache für die Unterdrückung bestimmter Vorstellungen hielt. Eine Verbindung zwischen Freud und Herbart ist somit nur auf der elementarsten Ebene gegeben.73
2.7 Philosophie und Psychologie am Scheidepunkt
Die philosophiegeschichtliche Untersuchung der Psychologie soll an diesem Punkt enden. Es konnte gezeigt werden, dass die Psychologie tief in der Philosophie verwurzelt ist und die Philosophie zunächst die Voraussetzungen schaffen musste, die die Psychologie zur Emanzipation von der Philosophie benötigte. Zwar unterscheidet sich die Psychologie von Aristoteles bis Herbart deutlich von der des 20. und 21. Jahrhunderts und ist wohl eher als ‚Seelenkunde‘ denn als Psychologie zu bezeichnen. Doch sind es die Gegenstände dieser Seelenkunde – Sitz der Seele, Wahrnehmung, Introspektion, Unterbewusstsein – die noch in der Gegenwart die Psychologie beschäftigen, auch wenn sich stellenweise Methodik und Begriffe einem intensiven Wandel unterzogen haben.
Die Emanzipation der Psychologie stellt in dieser Arbeit einen Scheidepunkt dar. Spätestens seit Wilhelm Wundt versteht sie sich als Naturwissenschaft und entzieht sich somit weitestgehend dem Aufgabenbereich der Philosophie. Diese Trennung führte jedoch zu einer „psychologischen Leerstelle“74 innerhalb der Philosophie, die seither nur bedingt gefüllt wurde. Psychologie und Philosophie sind seit ihrer Trennung „voneinander entfremdete Wissenschaften“75 und vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehr in Streitigkeiten verwickelt als an Zusammenarbeit interessiert, wie der Marburger Lehrstuhlstreit von 1912 passend illustriert.76
Es scheint jedoch offenkundig, dass die Philosophie und insbesondere die Ethik abseits psychologischer Erkenntnisse in der Gegenwart nur schwer operieren, mindestens jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, ist es doch mit Hilfe der Psychologie möglich, diverse menschliche Handlungsmuster zu erklären oder sogar mit hoher Wahrscheinlichkeit vorherzusagen. Gleichzeitig besteht jedoch das tradierte Problem der Interdisziplinarität, welches vor allem in Zeiten des exponentiellen Wachstums wissenschaftlicher Erkenntnis die interdisziplinäre Arbeit zu einer Sisyphusarbeit machen kann.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden dennoch verschiedene Versuche unternommen, die immer weiter divergierenden Wissenschaften zu vereinen. Eine zentrale Figur war hierbei Sigmund Freud; als Begründer der Psychoanalyse erschloss er – entgegen seiner Intention – eine Sphäre, die bis heute zwischen der Philosophie und der Psychologie steht und seit ihrer Gründung weder eine klare Zuordnung noch eine strikte Eigenständigkeit zugesprochen wird.77 Doch trotz dieser akademischen Schwerelosigkeit der Psychoanalyse zählt Sigmund Freud heute zu den einflussreichsten, populärsten, aber auch berüchtigtsten Wissenschaftlern des 20. Jahrhunderts. Seine Ideen führten nicht nur innerhalb der Psychoanalyse zur Bildung eigener Schulen, sondern erhielten auch in anderen Wissenschaftsbereichen wie Literatur, Soziologie, Politik, Philosophie, etc. tiefgreifende Rezeption.78
Das folgende Kapitel hat zweierlei zum Ziel: Zunächst soll Freuds Ansatz und seine Theorie vom menschlichen Seelenleben dargestellt werden. Es wird sich hierbei vor allem auf Freuds (implizite) Vernunftkritik und sein dreiteiliges Modell der menschlichen Seele bezogen. Die Traumdeutung, der Ödipuskomplex oder die Sexualtheorie werden wenig bis keine Beachtung finden, da ihre Darstellung bezüglich der auf diesem Kapitel aufbauenden Untersuchung kaum von Bedeutung wäre. Die Hinleitung zu dieser Untersuchung stellt das zweite Ziel des Kapitels dar: An die Darstellung von Freuds Theorien schließt sich seine Anthropologie und Kulturkritik an, denen Fromm in seiner Theorie maßgeblich widersprechen wird.
3 Sigmund Freud und die Psychoanalyse
Kopernikus – Darwin – Freud. In einem kurzen Artikel für eine Zeitschrift schreibt Sigmund Freud diesen drei Wissenschaftlern die drei größten Kränkungen des Narzissmus der Menschheit zu.79 Kopernikus löste die Illusion eines geozentrischen Universums auf; der Mensch ist nicht mehr Mittelpunkt der materiellen Welt. Darwin überwand den Graben zwischen Tieren und Menschen; der Mensch ist nicht mehr die Krone der Schöpfung. Zuletzt Freud: Der Mensch ist nicht mehr „Herr in seinem eigenen Haus“80 ; er ist sich seiner eigenen Handlungsmotive nicht bewusst. Was bleibt somit noch vom Menschen übrig?
Freud hält diese Verletzung des menschlichen Selbstverständnisses für die Ursache der zunächst nur schwach ausfallenden Resonanz seiner Thesen.81 Doch auch zu Beginn seiner akademischen Laufbahn fand sein Interesse an den unbewussten seelischen Vorgängen des Menschen nur wenig Anklang. Dieses Interesse wurde bei der Untersuchung von Hysterie-Fällen an der Pariser Anstalt für Nervenerkrankungen, der Salpêtrière, 1885 entfacht.82 Während Jean-Martin Charcot, Leiter der Salpêtrière, den Auslöser von Hysterie-Anfällen zwar in der Berührung der Patienten mit unangenehmen Erinnerungen sah, führte er dies zuletzt doch wieder auf organische Ursachen zurück. Freud erkannte jedoch den Primat des Psychischen bei der Auslösung der Anfälle und wendete sich von nun an in seiner Forschung diesem Phänomen der verdrängten Erinnerungen zu.83
Im Kontakt mit seinen Patienten gewinnt Freud die Erkenntnisse, die seine späteren Theorien nähren sollen. Anhand von Hypnose, freier Assoziation und Traumdeutung versucht Freud die verdrängten Erinnerungen seiner Patienten ausfindig zu machen und offenzulegen. Er entwickelt eine „klinische Theorie“84, welcher er die „Metapsychologie“85 zugrunde legt. Die klinische Theorie definiert die psychische Krankheit als die eines „innerpsychischen Konfliktes von Wunsch und Abwehr“86 und kategorisiert die Symptome dieses Konfliktes. Die Metapsychologie stellt das Fundament der klinischen Theorie dar und liefert die Grundvorstellung des Seelischen, auf welchem die spezifischen Fälle folglich aufbauen. Die Topik dieses Fundaments hat sich im Laufe der Entwicklung einem starken Wandel unterzogen und kulminierte zuletzt in Freuds berühmten Es/Ich/Über-Ich-Modell. Das Modell sowie dessen anthropologischen Implikationen sollen im Folgenden dargestellt werden.
3.1 Ich/Es/Über-Ich
Freud legt seinem Seelenmodell, wie auch dem Rest seiner psychoanalytischen Theorien, eine grundsätzliche Unterscheidung zugrunde, auf der all seine weiteren Überlegungen aufbauen: „die Unterscheidung des Psychischen in Bewußtes [sic!] und Unbewußtes [sic!]“87. Das Bewusstsein ist somit eine Qualität des Psychischen und alles Psychische ist nicht gleichzeitig auch Bewusstsein. Diesem Dualismus liegt eine Dynamik zugrunde: Ein seelischer Vorgang, bspw. eine Erinnerung, hat grundsätzlich das Potential, die Bewusstseinsschwelle zu übertreten und somit vom Subjekt wahrgenommen zu werden. Diesem Potential kann jedoch eine Kraft entgegenwirken, ein Widerstand, der das Bewusstwerden dieser Erinnerung verhindert. Diesen Vorgang nennt Freud „Verdrängung“88. Das Verdrängte ist hierbei „das Vorbild des Unbewußten [sic!]“ und das „an sich und ohne weiteres nicht bewußtseinsfähige [sic!]“89. Davon grenzt Freud wiederum das „latent“90 Unbewusste oder das Vorbewusste ab. Dieses ist im Gegensatz zum Unbewussten bewusstseinsfähig und kann somit leicht ins Bewusstsein gerufen werden. Zuletzt sei noch das Bewusste, das vom Subjekt aktiv wahrgenommene, genannt.91
In früheren Schriften beruhte Freuds Metapsychologie allein auf diesen drei Termini. Dies erschwerte allerdings die genauere Differenzierung der Wirkung der Verdrängung bzw. der Zensur und erforderte somit ein neues Modell, in welchem die drei Termini bewusst, vorbewusst und unbewusst nun als Qualitäten und nicht mehr als Instanzen dargestellt wurden.92 Als Instanzen wurden sie vom Ich, Es und Über-Ich abgelöst.
3.1.1 Das Ich und das Es
„Die Wahrnehmung spielt für das Ich die Rolle, welche im Es dem Trieb zufällt. Das Ich repräsentiert, was man Vernunft und Besonnenheit nennen kann, im Gegensatz zum Es, welches die Leidenschaften enthält.“93
[...]
1 Vgl. Schönpflug (2016), S. 1
2 Vgl. Eckardt (2010), S. 21
3 Ayer (1970), S. 136
4 Vgl. Rüther (2015), S. 33ff.
5 Ebd.
6 Ebd.
7 Fromm (1947), S. 3
8 Vgl. Göppel (1990), S. 498ff.
9 Vgl. ebd. S. 16f.
10 Ebd. S. 17
11 Vgl. Klafki (1959)
12 Vgl. ebd. S. 43f.
13 Vgl. Martens (2003), S. 25ff.
14 Vgl. Eckhardt (2010)
15 Vgl. Eckardt (2010), S. 22ff.
16 Aristoteles (De an), I, 402a
17 Vgl. Eckardt (2010), S. 45ff.
18 Vgl. Eckardt (2010), S. 71ff., Vgl. Schönpflug (2016), S. 3, Vgl. Myers (2014), S. 3
19 Aristoteles (De an), I, 402a
20 Vgl. Eckardt (2010), S. 23
21 Vgl. Rapp (2001), S. 175
22 Vgl. Eckardt (2010), S. 24, De anima II, 412 a-b
23 Vgl. Aristoteles (De an), II, 413b
24 Eckardt (2010), S. 25
25 Aristoteles (De an), IV, 429a
26 Vgl. Fashar (2013), S. 306
27 Flashar (2013), S. 307
28 Ebd.
29 Vgl. ebd.
30 Aristoteles (De an), III, 430a
31 Flashar (2013), S. 307
32 Vgl. Prechtl (2000), S. 72ff.
33 Descartes (1637), S. 55
34 Vgl Eckardt (2010), S. 36
35 Lauth (2006), S. 58
36 Ebd. S. 59
37 Vgl.ebd.
38 Vgl. Lauth (2006), S. 188
39 Ebd.
40 Vgl. Brands (1977), S. 44f.
41 Vgl. Eckardt (2010), S. 38
42 Locke (1690), S. 107
43 Ebd., S. 31
44 Vgl. Euchner (1996), S. 28
45 Locke (1690), S. 108
46 Locke (1690), S. 108
47 Ebd.
48 Ebd. S. 109
49 Ebd. S. 108
50 Vgl. Euchner (1996), S. 33ff.
51 Locke (1690), S. 186
52 Vgl. Eckhardt (2010), S. 40
53 Leibniz (1765), S. 84
54 Vgl. Eckardt (2010), S. 40
55 Vgl. Schüßler (1992), S. 134, S. 156f.
56 Vgl. Leibniz (1765), S. 83f.
57 Schüßler (1992), S. 72f.
58 Vgl. ebd.
59 Vgl. Eckardt (2019), S. 41
60 Vgl. Schüßler (1991), S. 164ff.
61 Leibniz (1765), S. 11
62 Vgl. Schüßler (1992), S. 164ff.
63 Vgl. Sturm (2009), S. 197ff.
64 Vgl. ebd., S. 212f.
65 Vgl. Eckhardt (2010), S. 44f.
66 Vgl. Sturm (2009), S. 260
67 Vgl. Eckhardt (2010), S. 46.
68 Vgl. ebd. S. 46f.
69 Vgl. Echkardt (2010), S. 47
70 Vgl. Heesch (1999), S. 69
71 Vgl. Heesch (1999), S. 69
72 Vgl. Eckhardt (2010). S. 49
73 Vgl. Heesch (1999), S. 71
74 Schmidt (1995), S. 9
75 Lailach-Hennrich et al. (2021), S. 12
76 Vgl. Benetka (2021), S. 32
77 Vgl. Schmidt (1995), S. 32ff.
78 Vgl. Schöpf (1982), S. 171ff.
79 Vgl. Freud (1917), S. 27ff.
80 Ebd. S. 31
81 Vgl. Ebd. S. 24
82 Berkel (2008), S. 13.
83 Vgl. Schöpf (1982), S. 69ff.
84 Schöpf (1982), S. 93
85 Ebd.
86 Ebd.
87 Freud (1923), S. 272
88 Ebd. S. 273
89 Ebd.
90 Ebd.
91 Vgl. Ebd. S. 273f.
92 Vgl. Schöpf (1982), S. 97f.
93 Freud (1923), S. 283
- Citar trabajo
- Frederik Bauer (Autor), 2022, Psychoanalyse, Humanismus und Ethik bei Erich Fromm. Interdisziplinarität im Ethikunterricht und ihre Grenzen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1282988
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