Tradierte Geschlechterrollen lassen sowohl Männer als Betroffene ebenso wie Frauen als Täterinnen im gesellschaftlichen Diskurs um sexualisierte Gewalt unsichtbar werden. Diese Masterarbeit erforscht besondere Hemmnisse in Aufdeckungsprozessen männlicher Betroffener von sexualisierter Gewalt durch Frauen sowie deren Ursachen. Zudem beschäftigt sie sich mit Möglichkeiten, adäquate Rahmenbedingungen für gelingende Aufdeckungsprozesse herzustellen. Diese sollen es ermöglichen, dass professionell an Aufdeckungsprozessen Beteiligte angemessen auf diese Gewalt- bzw. Opfer-TäterInnen-Konstellationen reagieren und somit männliche Betroffene adäquate Hilfs- bzw. Unterstützungsangebote erhalten.
Nach eingehender Literaturrecherche und -analyse wurde mittels qualitativer ExpertInneninterviews herausgearbeitet, dass es in erster Linie eines gesellschaftlichen Bewusstseins über diese Gewaltkonstellation bedarf. Dieses kann durch unterschiedliche Maßnahmen, welche die männliche Betroffenheit sowie Frauen als Täterinnen im Kontext sexualisierter Gewalt öffentlich sichtbar machen, angeregt werden.
Inhaltsverzeichnis
Abstract
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Forschungsstand
1.2 Forschungsgegenstand
1.3 Erkenntnisinteresse
1.4 Forschungsliteratur
1.5 Forschungsfragestellungen
1.6 Aufbau der Arbeit
2 Forschungskonzept
2.1 Qualitative Sozialforschung
2.2 Erhebungsmethoden qualitativer Forschung
2.2.1 ExpertlnneninterviewszurDatengewinnung
2.3 Von der Datensammlung zu interpretierbaren Daten
2.3.1 DatenauswertungnachMeuserundNagel(1991)
3 Theoretische Grundlagen zum Forschungsgegenstand
3.1 Sozialisations- und Geschlechterforschung
3.2 Wann ist ein Mann ein Mann?
3.2.1 HabitualisierungvonMännlichkeit
3.2.2 TiefenpsychologischeDimensionenmännlicherSozialisation
3.2.3 Rollenerwartungen
3.3 Sexualisierte Gewalt | Sexueller Missbrauch
3.3.1 HistorischerAbriss
3.3.2 Sexueller Missbrauch - ein umstrittener Begriff
3.3.3 Das Ausmaß sexualisierter Gewalt an Jungen und Männern durch Frauen
3.4 Tabu, Scham und Schuld
3.4.1 Tabu
3.4.2 Scham
3.4.3 Schuld
3.5 Wer sind die Täterinnen?
3.5.1 Typologie
3.5.2 TatmusterundStrategien
3.5.3 AuslöserundTatmotive
3.5.4 Gesellschaftliche Wahrnehmung von Täterinnen sexualisierter Gewalt
3.6 Aufdeckung/Disclosure
3.6.1 Aufdeckungsprozesse und deren Dimensionen
3.6.1.1 Hemmnisse in Aufdeckungsprozessen männlicherBetroffener von sexualisierter Gewalt
3.6.2 Aufdeckungsverläufe männlicher Betroffener von sexualisierter Gewalt
3.6.3 Hilfreiche Faktoren in Aufdeckungsprozessen männlicher Betroffener von sexualisierterGewalt
4 Empirische Forschung
4.1 Der qualitative Forschungszugang
4.2 Interviews mit professionell an Aufdeckungsprozessen Beteiligten (Expertinneninterviews)
4.3 Datenauswertung in Anlehnung an Meuser und Nagel (1991)
4.4 Darstellung der Ergebnisse
4.4.1 Besondere Hemmnisse in Aufdeckungsprozessen männlicher Betroffener von sexualisierter Gewalt durch Frauen
4.4.2 Worauf sind diese besonderen Hemmnisse zurückzuführen?
4.4.3 Vor welchen Herausforderungen stehen professionell an Aufdeckungsprozessen Beteiligte
4.5 Diskussion
5 Fazit und möglicher Ausblick
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Anhang I
Anhang II
Abstract
Tradierte Geschlechterrollen lassen sowohl Männer als Betroffene ebenso wie Frauen als Täterinnen im gesellschaftlichen Diskurs um sexualisierte Gewalt unsichtbar werden. Die vorliegende Masterarbeit erforscht besondere Hemmnisse in Aufdeckungsprozessen männlicher Betroffener von sexualisierter Gewalt durch Frauen sowie deren Ursachen. Zudem beschäftigt sie sich mit Möglichkeiten, adäquate Rahmenbedingungen für gelingende Aufdeckungsprozesse herzustellen. Diese sollen es ermöglichen, dass professionell an Aufdeckungsprozessen Beteiligte angemessen auf diese Gewalt- bzw. Opfer-Täterlnnen-Konstellationen reagieren und somit männliche Betroffene adäquate Hilfs- bzw. Unterstützungsangebote erhalten. Nach eingehender Literaturrecherche und - analyse wurde mittels qualitativer Expertinneninterviews herausgearbeitet, dass es in erster Linie eines gesellschaftlichen Bewusstseins über diese Gewaltkonstellation bedarf. Dieses kann durch unterschiedliche Maßnahmen, welche die männliche Betroffenheit sowie Frauen als Täterinnen im Kontext sexualisierter Gewalt öffentlich sichtbar machen, angeregt werden.
The traditional gender roles render male victims and female perpetrators invisible within the social discourse on sexualised violence. The present Master's thesis investigates specific obstacles in the processes of detecting the male victims of sexualised violence by female perpetrators, as well as the causes thereof. It further deals with the possibilities of creating an adequate framework for successful detection processes. They aim to enable the professionals involved in the processes of detection to react appropriately to such violent, victim-perpetrator constellations, thus providing the male victims with adequate help and support. Following a comprehensive search and analysis of the literature, expert interviews were used for qualitative data collection. The data thus generated indicate that increased attention to, and a heightened social awareness of, such violence constellations is required. It can be achieved by various measures that make the male victims and female perpetrators in the context of sexualised violence more visible.
Danksagung
An dieser Stelle soll allen Personen gedankt werden, die mich während der Erstellung der vorliegenden Masterarbeit unterstützt und motiviert haben. Mein besonderer Dank gilt Herrn Ao.Univ.-Prof. Mag. Dr. Georg Gombos für die Betreuung und Begutachtung meiner Arbeit sowie für die entschleunigenden Antworten auf meine Mails. Den befragten Experten, ohne die diese Arbeit nicht hätte entstehen können, danke ich für ihre Informationsbereitschaft sowie die interessanten Beiträge zu meinem Thema. Ebenfalls möchte ich mich bei meiner Freundin Brigitte, für die hervorragende fachliche Beratung sowie einer stets offenen Tür und meiner Arbeitskollegin Sybille, für die emotionale Unterstützung sowie ihr beständiges Nachfragen, wann die Arbeit endlich fertig ist, bedanken. Ein besonderer Dank gilt meinen drei wundervollen Töchtern, Amélie, Maya und Lilja, meinem Partner sowie meiner Mutter für ihre unendliche Geduld und ihrer Unterstützung injeder Hinsicht.
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Sexualstraftäterinnen | Studie Roßmanith (2020) (eigene Darstellung)
Abbildung 2: Empfehlungen für die (sozialpädagogische) Praxis (eigene Darstellung)
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Daten der PKS 2018&2019 (eigene Darstellung)
Tabelle 2: Darstellung einer Kategorie-Entwicklung (eigene Darstellung)
1 Einleitung
Von sexualisierter Gewalt betroffene Jungen und Männer scheinen vor besonderen Herausforderungen in Aufdeckungsprozessen zu stehen, so Scambor (2019). Daher sind diese Prozesse bei männlichen Opfern in neuerer Zeit stärker in den Fokus der Forschung gerückt. Hierbei hat sich gezeigt, dass in gesellschaftlichen Diskursen ein heteronormatives Bild von sexueller Gewalt unterstützt und gefestigt sowie die Betroffenheit männlicher Kinder und Jugendlicher kaum vermerkt wird. Täterschaft wird als männlich und Betroffenheit als weiblich konstruiert (vgl. Scambor 2019: 110). Für männliche Betroffene ist sexualisierte Gewalt das Gebiet, worüber Jungen am wenigsten Informationen haben, worüber man(n) sich nicht austauscht“ (Mörchen 2014: 187). Dies entspricht hegemonialen Bildern von Männlichkeit als heterosexuell, souverän, dominant, aktiv, machtvoll und sicher. Ohnmacht sowie Opferschaft von Männern und Jungen, im Kontext sexualisierter Gewalt, widerspricht dieser Norm und wird deshalb marginalisiert (vgl. Rieske 2016: 75ff). Dies gilt vor allem für sexualisierte Gewalterfahrungen durch Täter.
Die genannten Männlichkeitsnormen, die auf Souveränität, Sicherheit und Macht basieren, wirken hemmend in Aufdeckungsprozessen, da sie den Ausdruck von Emotionen - wie beispielsweise Angst und Unsicherheit - einschränken. Diese sind in Aufdeckungsprozessen jedoch kaum vermeidbar (vgl. Scambor 2017: 74). Angesichts der daraus resultierenden Ambivalenz und der erwarteten sozialen Reaktionen stellt das Schweigen der Betroffenen häufig die vorerst bessere Alternative dar. Demnach geben etwa die Hälfte bis zwei Drittel der männlichen Betroffenen von sexualisierter Gewalt in retrospektiven Studien an, ihre Gewalterfahrungen entweder bisher gar nicht oder erst im Erwachsenenalter aufgedeckt zu haben (vgl. Scambor 2019: 109). So werden geschlechtertypische Konstruktionen von Gewalt reproduziert, welche bereits von Jungnitz et al. (2007) wie folgt erläutert wurden: Gewalt gegen Männer und Jungen wird entweder normalisiert, indem sie in ein heteronormatives Muster einsortiert wird, oder sie wird verschwiegen, weil sie Männlichkeitsnormen verletzt und somit schambesetzt ist (vgl. Jungnitz et al. 2007 zit. n. Scambor 2017: 74).
Gewaltkonstellationen mit weiblicher Täterinnenschaft scheinenjedoch die heteronormative Struktur im Sinne der hegemonialen Männlichkeit zu bestätigen (vgl. Scambor 2017: 74).
„Men 'who had been abused by a woman have reported that theyfelt that in meeting with health professionals, some of these might have expectations like, ,this should be every man’s dream.’“ (Priebe/Svedin 2008: 1105)
Hinz (2001) konstatiert,dass sexualisierte Handlungen abhängig vom Geschlecht der handelnden Person unterschiedlich beurteilt werden.“ (Hinz 2001: 216f.) Häufig wird es für unmöglich gehalten, dass sexuelle Gewalt von Frauen ausgehen kann, bzw. werden Gewaltwiderfahrnisse dieser Art durch Täterinnen verharmlost, oder als frühe sexuelle Erfahrung gedeutet (vgl. Scambor 2019: 111). Frauen, die sexualisierte Gewalt verüben, unterliegen einem Tabu, welches von der tradierten Opferrolle der Frau und Weiblichkeitsstereotype geprägt wird (vgl. Roßmanith 2016: 235).
„Weil’, so schließt er messerscharf, ,nicht sein kann, was nicht sein darf.’“ (Morgenstern zit. n. Schulze 2016: 220)
Sie werden als das fürsorgliche, liebevolle, warmherzige und pflegende Geschlecht gesehen und die Obsorge sowie Pflege der Kinder obliegt auch aktuell noch überwiegend ihnen. Um zu glauben, dass auch Frauen sexuell missbrauchen oder Gewalt anwenden, um sexualisierte Übergriffe zu begehen, müssen Mütterlichkeits- und Weiblichkeitsstereotype, die unsere Gesellschaft bis heute prägen, hinterfragt werden (vgl. Roßmanith 2016: 236).
Für männliche Betroffene von sexualisierter Gewalt durch Täterinnen ergeben sich, aufgrund der geschlechtsspezifischen Zuweisungen sowie der unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen von Frauen und Männern, Besonderheiten im Aufdeckungsprozess (vgl. Schlingmann 2004: 5).
1.1 Forschungsstand
Bisherige Forschungsarbeiten (Priebe/Svedin (2008), Mosser (2009), Easton et al. (2014), Kavemann et al. (2016), Rieske et al. (2018)) zu Aufdeckungsprozessen von sexualisierter Gewalt haben bereits wichtige Erkenntnisse darüber erbracht, was Aufdeckung begünstigt oder erschwert. In diesen Untersuchungen standen Faktoren im Fokus, welche mit dem Ausbleiben oder Stattfmden von Offenlegungen durch Betroffene Zusammenhängen und Bedingungen, unter denen Offenlegungen positiv erlebt wurden. Sowohl das Erinnern als auch das Einordnen sexualisierter Gewaltwiderfahmisse wurden nur selten zum Gegenstand der Untersuchungen. Außerdem zählten sowohl weibliche als auch (weniger häufig) männliche Betroffene von sexueller Gewalt zu den Befragten. Die Studien von Mosser (2009), Easton et al. (2014) sowie Rieske et al. (2018) fokussierten auf männliche Betroffene, wobei hier Gewalterfahrungen sowohl durch weibliche als auch männliche Täterinnen für die Untersuchung herangezogen wurden. Für die vorliegende Arbeit konnte keine Studie recherchiert werden, die explizit Männer als Betroffene von weiblichen Täterinnen im Kontext sexualisierter Gewalt in den Fokus stellt.
Mit dieser Opfer-Täterlnnen-Konstellation, mit Blick auf die Aufdeckungsprozesse der männlichen Betroffenen, beschäftigt sich die vorliegende Forschungsarbeit, deren Inhalt in den folgenden Unterkapiteln kurz dargestellt wird.
1.2 Forschungsgegenstand
Um sich dem Forschungsgegenstand zu nähern, gilt es vor allem, Geschlechterkonstruktionen genauer zu betrachten sowie zu hinterfragen, denn eine solche Gewaltkonstellation widerspricht den gesellschaftlich vorherrschenden Rollenbildem und Geschlechterkonstruktionen. Aus traditioneller Sicht, hat ein Mann gegenüber einer Frau der sexuell Aktive zu sein. Er sucht sich seine Sexualpartnerinnen und lässt sich nicht durch das schwache Geschlecht zu sexualisierten Handlungen zwingen (vgl. Bange 2007: 96).
„Einem Missbrauch durch eine Frau haftet deshalb für einen Mann doppelte Schande an: Erstens, dass er überhaupt missbraucht wurde und zweitens dann auch noch durch eine Frau.“ (ebd.: 96)
So spricht auch der Fotograf Michael Reh, selbst Betroffener von sexualisierter Gewalt durch seine Tante, von einem Tabu in einem Tabu, als er von den Gewaltwiderfahrnissen in einem Interview mit Bettina Boettinger berichtet (vgl. Reh 2020: 01:30).
Sexualisierte Gewalt durch Frauen, insbesondere durch Mütter, wird aktuell noch sehr stark tabuisiert. Für die Tabuisierung weiblicher Täterschaft sieht Braun (2001) neben diversen anderen Gründen, folgenden möglicherweise ausschlaggebenden Hintergrund:
„Aber vielleicht ist der letzte Kern dieser Verleugnung ein ganz emotionaler kindlicher Aufschrei in uns allen: ,Mama ist nicht böse.’ Alle die sich mit 'weiblicher Täterschaft beschäftigen, sind im letzten mit der eigenen Mutter, mit ihren dunklen Seiten konfrontiert. Das ist nicht einfach, sind wir privat wie gesellschaftlich doch gewöhn!. dieMutter zu 'verteidigen bis zur Selbstverleugnung.“ (Braun 2001: 4)
Bange (2007) betont außerdem, dass die Verleugnung von weiblicher sexualisierter Gewalt ebenso bei vielen Professionellen zu beobachten ist. Auf diese Beobachtung verweisen auch Tozdan et al. (2019):
„Evenprofessionals in the healthcare orjustice system were shown to respond inappropriately in cases of child sexual abuse committed by women. As a result, offences of FCSO1 may be underreported and therefore difficult to research.“ (Tozdan etal.2019: 1)
Hierbei beziehen sich die Autorinnen auf die Studie von Mellor und Deering (2010), die 231 Psychiaterinnen, Psychologinnen sowie Mitarbeiterinnen im Kinderschutz mittels Fallvignetten, welche sowohl sexualisierte Gewalt durch männliche als auch durch weibliche Täterinnen beschrieben, befragten. Die sexuellen Übergriffe durch Frauen und die daraus resultierenden Folgen für die Betroffenen wurden hier durch die Professionellen häufig als milderbzw. „leniently“ eingestuft (vgl. Mellor/Deering 2010: 415).
„As a result, bothfemaleperpetrators of sexual abuse and their 'victims may go untreated, and in the case of perpetrators, their behaviour may go unsanctioned.“ (ebd.)
Bange (2007) zitiert des Weiteren Amendt (1982), der bereits Anfang der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts durch folgendes Beispiel diese unterschiedlichen Perspektiven auf die verschiedenen Handlungsspielräume von Frauen und Männer bzw. Mütter und Väter auf den Punkt gebracht hat:
„Der Blick ins Badezimmer von schrägoben aus der X'achbarswohnung von gegenüber: Ein Vater betupft 'vorsichtig die zarten Porzellanbrüste seiner elfjährigen Tochter, während - gleiche Szene, gleicher Ort - die Mutter den zwölfjährigen Sohn gewohnheitsmäßig in die Genitalhygiene einweist. Aus der Sicht eines denunziationsbereiten Nachbarn könnte sich der Waschvorgang als unzüchtige Haltung des Vaters, begangen an der minderjährigen Tochter, darstellen, während der entsprechende Vorgang von Mutterhand betrieben, Chancen hat, unter Mutterliebe rubriziertzu werden." (Amendt 1982: 154; zit. in Bange 2007: 97)
Jungen und Männer, die von sexualisierter Gewalt durch Frauen betroffen sind, müssen nicht zu Unrecht befürchten, dass ihnen kein Wort geglaubt wird, wenn sie über ihre Erfahrungen berichten würden (vgl. ebd.: 97).
1.3 Erkenntnisinteresse
Im vorangegangenen Kapitel wurde deutlich, dass aufgrund der mangelnden gesellschaftlichen Wahrnehmung von männlicher Betroffenheit sowie weiblicher Täterinnenschaft im Kontext sexualisierter Gewalt keine adäquate geschlechtersensible Opferarbeit implementiert wird, diese Gewaltkonstellation weitaus weniger häufig offengelegt und demzufolge Taten weniger oft sanktioniert werden (vgl. Tozdan et al. 2019; Mellor/Deering 2010). Aus diesem Grund will die vorliegende Arbeit unter anderem, einen Beitrag zur Enttabuisierung weiblicher Täterinnenschaft leisten. Würde sexualisierte Gewalt durch Frauen stärker in den Fokus der Öffentlichkeit und von Forschenden gerückt werden, könnten neue Forschungsvorhaben das Dunkelfeld erhellen, konkrete Präventionsprogramme und adäquate Hilfsangebote für Betroffene sowie für Täterinnen konzipiert werden. Des Weiteren kann Enttabuisierung dazu beitragen Weiblichkeitsstereotype sowie das idealisierte Mutterbild zur Diskussion zu stellen.
Aufdeckung von sexueller Gewalt ist von großer Bedeutung, um Gewaltverhältnisse zu beenden sowie die Folgen dieser Widerfahrnisse zu bearbeiten. „Dies bedeutet nicht, dass Aufdeckung generell positiv zu betrachten ist und um jeden Preis anzustreben ist“ (Rieske et al. 2018: 184). Aufdeckungsprozesse bergen ebenso enorme Risiken für die Betroffenen, weshalb diese häufig auf eine Offenlegung verzichten oder Erinnerungen an sexualisierte Gewalterfahrungen beiseitelegen, so Rieske et al. (2018). Opfer haben ein Recht darauf, Prozesse der Aufdeckung mitzubestimmen - dies kann bedeuten, Aufdeckung abzuwehren.
„Eine Freiheit von Aufdeckung istjedoch nur möglich, wenn es auch eine Freiheit zur Aufdeckung gibt, wenn also Möglichkeiten zur Aufdeckung bestehen, die für die Betroffenen Hilfe bringen.“ (ebd.)
1.4 Forschungsliteratur
Die für die vorliegende Forschungsarbeit herangezogene Literatur wurde mittels Literaturrecherche über das Internet gefunden. Sowohl Bücher als auch wissenschaftliche Artikel wurden vorerst mit diversen Schlagwörtern, wie beispielsweise sexualisierte Gewalt, männliche Betroffene sexualisierter Gewalt. Täterinnen, männliche Opfer, weibliche Täterschaft uvm. gesucht. Diese Literatursuche beinhaltete diverse Suchmaschinen, welche wissenschaftliche Texte zur Verfügung stellen (Springer, Research Gate, Google Scholar, Wiley etc.). Die recherchierte Literatur wurde schließlich über die Bibliothek der Alpen Adria Universität, der AK-Bibliothek sowie über Fernleihe von anderen Universitäten geliehen. Zusätzlich wurden gebrauchte Bücher über Webseiten wie Booklooker oder Medimops bezogen. Einige Publikationen konnten aufgrund von Direktanfrage an die Autorinnen herangezogen werden. Auf Basis der, für diese Forschungsarbeit recherchierten Literatur, wurden die im Folgenden angeführten Fragestellungen formuliert, welche es zu beantworten gilt.
1.5 Forschungsfragestellungen
- Welche besonderen Hemmnisse zeigen sich in Aufdeckungsprozessen männlicher Betroffener von sexualisierter Gewalt durch Frauen?
- Worauf sind diese Aufdeckungshemmnisse männlicher Betroffener von sexualisierter Gewalt durch Täterinnen zurückzuführen?
- Welche Herausforderungen ergeben sich somit, für professionell an Aufdeckungsprozessen Beteiligte?
1.6 Aufbau der Arbeit
Zunächst soll das Konzept der vorliegenden Untersuchung vorgestellt werden. Da die in dieser Masterarbeit fokussierte Gewaltkonstellation in der Wissenschaft bislang nur wenig Beachtung gefunden hat, wurde ein qualitativer Forschungszugang gewählt, welcher im nachfolgenden Kapitel im Detail erläutert werden soll. Im Fokus dieses Kapitels stehen das Expertinneninterview, das in der vorliegenden Forschungsarbeit als Erhebungsinstrument dient und die Interviewauswertung nach Meuser und Nagel (1991), welche für die Analyse der generierten Daten herangezogen wird.
Anschließend findet die theoretische Auseinandersetzung mit den, in Bezug auf den Forschungsgegenstand, relevanten Themen statt. Nach einer Darstellung von Leitgedanken der Sozialisations- und Geschlechterforschung, wird die männliche Identitätsfindung in den Fokus gerückt. Im Anschluss findet eine Auseinandersetzung mit weiteren relevanten Begrifflichkeiten und deren Verortung statt. Zudem werden die männliche Betroffenheit und Frauen als Täterinnen, im Kontext sexualisierter Gewalt sowie die Aufdeckungsverläufe der Opfer, näher betrachtet.
Im weiteren Verlauf steht die Darstellung der generierten Ergebnisse sowie die Diskussion dieser im Fokus. Ein Ausblick auf mögliche zukünftige Forschung beschließt die vorliegende Masterarbeit.
2 Forschungskonzept
Den Plan für das Sammeln und Analysieren von Daten, um die Forschungsfragen beantworten zu können, bezeichnet Flick (2009) als Forschungsdesign oder Forschungskonzept (vgl. Flick 2009: 36).
Für die vorliegende Arbeit wird ein qualitativer Forschungszugang gewählt, da Forschung, in der es überwiegend um persönliche Erfahrungen geht, mit qualitativen Methoden angemessener durchführbar ist (vgl. Lamnek 2010; Mayring 2016; Przyborski/Wohlrab- Sahr 2021).
„Mithilfe qualitativer Zugänge, wie etwa Interviews mit Betroffenen, gelingt es zu verstehen, wodurch Aufdeckungsverläufe gekennzeichnet sind und mit welchen Hemmnissen die Betroffenen konfrontiert sind.“ (Scambor et al. 2018: 32)
In der vorliegenden Untersuchung wurde allerdings bewusst auf Betroffenenbefragungen verzichtet, da diese besondere Herausforderungen mit sich bringen. Nach Scambor et al. (2018) und Schröttle (2016) muss bei der Durchführung von Interviews zu Gewalterfahrungen mit Betroffenen auf eine intensive und reflektierte Auswahl der Interviewmethoden, des Befragungssettings sowie der Interviewerinnen geachtet werden (vgl. Scambor et al. 2018: 41; Schröttle 2016: 112). Letztgenannte sollen vorzugsweise ein Interviewtraining absolviert haben, welches Grundkenntnisse zum Thema Gewalt, spezifische Befragungstechniken sowie den Umgang mit herausfordernden und belastenden Interviewsituationen schult. Schröttle (2016) betont, dass die Herangehensweise und Haltung der interviewenden Personen maßgeblich zur Qualität und dem Ausmaß der Gewaltaufdeckung sowie zu einer forschungsethisch vertretbaren Interviewsituation beitragen (vgl. Schröttle 2016: 113). Vor allem in der Forschung zu sexualisierter Gewalt, verlangt die Forschungsethik, alle nur denkbaren Vorkehrungen zu treffen, um die interviewten Personen zu schützen, so Hagemann-White (2016).
„Die Forschenden können im Voraus kaum die Risiken abschätzen, die aus dem Reden über erlebte Gewalt erwachsen können.“ (Hagemann-White 2016: 20)
Diesen diffizilen Anforderungen konnte im Rahmen der vorliegenden Arbeit, vor allem aufgrund der fehlenden spezifischen Interviewschulung der Forscherin, nicht Rechnung getragen werden. Dementsprechend wurden Interviews mit professionell an Aufdeckungsprozessen Beteiligten - Expertinneninterviews - als Erhebungsinstrument gewählt.
In einem ersten Schritt fanden eine umfassende Sichtung sowie Analyse einschlägiger Literatur statt. Hierfür wurden relevante Fachartikel, Studien sowie theoretische Arbeiten aus dem deutsch- und englischsprachigen Raum herangezogen. Die Literaturrecherche diente dazu, Daten und Fakten, die sich sowohl auf männliche Betroffenheit als auch auf Täterinnenschaft im Kontext sexualisierter Gewalt beziehen, herauszuarbeiten. Die Erkenntnisse dieser Literaturstudie dienten dazu, die Forscherin für den Forschungsgegenstand zu sensibilisieren und wurden für die Entwicklung des Interviewleitfadens herangezogen sowie in der Auswertung der Daten berücksichtigt.
Als geschlechtergerechte Sprache, wird in der vorliegenden Forschungsarbeit das Binnen-I (Binnen-Majuskel; beispielsweise Expertinnen, Täterinnen, Mitarbeiterinnen) verwendet, wenn beide Geschlechter angesprochen bzw. gemeint werden. Zu berücksichtigen gilt jedoch, dass in dieser Untersuchung beispielsweise konkret auf die Typologie weiblicher Täterinnen eingegangen wird oder die für die vorliegende Masterarbeit durchgeführten Interviews ausschließlich mit männlichen Interviewpartnern abgehalten wurden. Dementsprechend wird beispielsweise von Täterin(nen), Experte(n) oder Interviewpartner(n) gesprochen, wenn sich Aussagen ausschließlich auf eine oder mehrere männliche oder weibliche Personen beziehen.
Bevor schließlich konkret auf die, für die vorliegende Forschungsarbeit relevanten Erhebungs- und Auswertungsmethoden eingegangen wird, sollen im Folgenden die zentralen Merkmale qualitativer Sozialforschung dargestellt werden.
2.1 Qualitative Sozialforschung
Qualitative Sozialforschung steht als Begriff in Abgrenzung zu quantitativer Sozialforschung und unterscheidet sich von dieser vor allem durch die Gewinnung sowie die Art des verwendeten Datenmaterials (vgl. Strübing 2018: 12; Stigler/Reicher 2012: 95). Im Gegensatz zu quantitativer Forschung, bei der Beobachtungsausschnitte gemessen sowie quantifiziert und mit Hilfe statistischer Methoden ausgewertet werden, erhebt die qualitative Forschung nichtnumerische Daten (vgl. Stigler/Reicher 2021: 95).qualitative research, that is, non-numerical research“ so auch die britischen Sozialpsychologen Bauer und Gaskeil (2000: 5). Erfahrungsrealität wird hierfür basierend auf Beobachtungen, Beschreibungen, Erhebungen und Texten erfasst. Dies geschieht beispielsweise mithilfe von Artikeln, Protokollen und Transkripten, welche erst in qualitative Daten transformiert werden müssen, um schließlich interpretativ ausgewertet werden zu können (vgl. Stigler/Reicher 2021: 95). Die Unterschiede in den Forschungsparadigmen liegen allerdings nicht nur in der Erhebung und Verwendung des Datenmaterials, sondern auch im erforschten Gegenstand, in den angewendeten Forschungsmethoden sowie im Wissenschaftsverständnis. Nach Stigler/Reicher (2012) wurde der Paradigmenstreit - welcher Forschungszugang nun der bessere wäre - inzwischen entschärft. Es gilt, sich der unterschiedlichen Vor- und Nachteile bei der Erstellung eines Forschungskonzept bewusst zu werden, anstatt die Verwendung verschiedener Datenarten in Konkurrenz zu sehen (vgl. ebd.: 96).
Mayring (2016) sieht die „qualitative Wende“ - den Trend zu qualitativen Erkenntnismethoden im 20. Jahrhundert - als eine tiefgreifende Veränderung der Sozialwissenschaften [...]“ (Mayring 2016: 9). Der Autor erläutert, dass sich unter dem Oberbegriff Qualitative Sozialforschung unterschiedliche Forschungsansätze sammeln, welche sich in ihrer Kritik an einer allein quantitativen Vorgehensweise einig sind. Demnach würden Skalen, Fragebögen, Tests sowie andere standardisierte Instrumente die Versuchspersonen nicht zu Wort kommen lassen, sondern lediglich auf das Reagieren auf vorgegebenen Kategorien reduzieren. In der qualitativen Sozialforschung versucht man hingegen an die Tradition amerikanischer Feldforschung anzuknüpfen, welche sich der sozialen Wirklichkeit oftmals mit offenen Befragungen sowie formlosen Beobachtungen in natürlichen Alltagssituationen annähert (vgl. Mayring 2016: 9f.).
Eine klare Bestimmung, was nun unter qualitativer Forschung zu verstehen ist, stellt, angesichts der oben erwähnten unterschiedlichen Forschungsansätze, eine Herausforderung dar. Flick et al. (2013) definieren ein deutendes und verstehendes Vorgehen als Zugang zu einer, durch Interaktionen konstruierten sozialen Realität als ein Merkmal, welches Qualitative Sozialforschung kennzeichnet (vgl. Flick et al. 2013: 14).
„Qualitative Forschung hat den Anspruch, Lebenswelten ,von innen heraus’ aus der Sicht der handelnden Menschen zu beschreiben. Damit 'will sie zu einem besseren Verständnis sozialer Wirklichkeit(en) beitragen und auf Abläufe, Deutungsmuster und Strukturmerkmale aufmerksam machen.“ (Flick etal.2013: 14)
Ähnlich argumentiert Bennewitz (2013). Die Autorin erläutert, dass qualitativ arbeitende Forscherinnen soziale Kontexte, biographische oder episodische Verläufe sowie unterschiedliche Akteursgruppen beschreiben und analysieren (vgl. Bennewitz 2013: 44).
„Sie untersuchen Interaktions-, Soziahsations- und Bildungsprozesse ebenso wie subjektive Sichtweisen, (latente) Sinnstrukturen oder Handlungs- und Deutungsmuster.“ (ebd.)
Zusätzlich weist sie auf eine erkenntnistheoretische Annahme hin, die den vielfältigen Untersuchungsansätzen zugrunde liegt:
„Das wesentliche Verbindungsstück Hegt in der Auffassung, dass soziale Wirklichkeit nicht einfach ,positiv’ gegeben ist. Soziale Systeme bestehen nicht unabhängig von Individuen und deren Sicht- und Handlungsweisen als 'vorgefertigte, an sich existierende Größen. Sie gewinnen ihre Bedeutsamkeit erst durch Interpretationsleistungen der Handelnden. Die soziale Welt wird als eine durch interaktives Handeln konstituierte Welt verstanden, diefür den Einzelnen aber auch für Kollektive sinnhaft strukturiert ist. Soziale Wirklichkeit stellt sich somit als Ergebnis von sozial sinnhaften Interaktionsprozessen dar.“ (ebd.: 45)
Auf Basis von Gemeinsamkeiten aus den unterschiedlichen qualitativen Ansätzen hat Mayring (2016) seine fünf Postulate ausgearbeitet, die das Grundgerüst qualitativen Denkens darstellen. Diese Grundsätze sind, „die Forderung stärkerer Subjektbezogenheit der Forschung, die Betonung der Deskription und der Interpretation der Forschungssubjekte, die Forderung, die Subjekte auch in ihrer natürlichen, alltäglichen Umgebung (statt im Labor) zu untersuchen, und schließlich die Auffassung von der Generalisierung der Ergebnisse als Verallgemeinerungsprozess.“ (Mayring 2016: 19) Demnach soll das Subjekt immer in seiner Ganzheit gesehen werden - in seiner Historizität. Subjektorientierte Forschung meint auch immer, an den konkreten Problemen des jeweiligen Subjekts anzusetzen. Das Postulat der Subjektorientierung steht auch in engem Zusammenhang mit dem Postulat der Alltagsorientierung (vgl. Mayring 2016: 24). Die sorgfältige Deskription impliziert nach Mayring (2016) drei methodische Grundsätze. Zum einen erfordert eine genaue Beschreibung, dass am einzelnen Fall bzw. am Subjekt (Einzelfallbezogenheit) angesetzt wird. Des Weiteren ist eine genaue Beschreibung nur möglich, wenn dem Subjekt bzw. dem Forschungsgegenstand mit größtmöglicher Offenheit gegenübergetreten wird. Zusätzlich müssen die methodischen Schritte einer genauen Kontrolle unterworfen werden. Mit dem Postulat der Interpretation verweist Mayring (2016) darauf, dass vorurteilsfreie Forschung nicht möglich ist - es gilt das Vorverständnis bezüglich des Forschungsgegenstandes darzulegen. Das Weitern sieht der Autor Introspektion - das Zulassen subjektiver Erfahrungen mit dem Gegenstand der Forschung - als legitimes Erkenntnismittel. Dem zufolge ist Forschung als Prozess der Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand zu sehen {„Forscher-Gegenstands-Interaktion“') (vgl. Mayring 2016: 25).
Ähnlich beschreibt auch Bennewitz (2013) die Datengewinnung als kommunikativen Prozess zwischen den Forscherinnen und den ,Beforschten‘ [Hervorh. i. O.] und betont ebenso die Offenheit der Forschungsperspektive als zentrales Merkmal qualitativer Forschung (vgl. Bennewitz 2013: 47). Der Autorin zufolge bedarf es in qualitativen Untersuchungen einer zirkulären Forschungsstrategie. Hiermit ist gemeint, dass in qualitativen Forschungsprojekten „eine bestimmte Aufeinanderfolge von Forschungsschritten idealerweise mehrmals durchlaufen wird; zumindest, wenn es die zeitlichen, personellen und finanziellen Ressourcen erlauben“ (ebd: 48). Qualitative Forschungsprojekte werden grundsätzlich durch Fragestellungen angeleitet. Zu Beginn der jeweiligen Forschungstätigkeit bestehen theoretische sowie methodische Vorannahmen, auf deren Basis erste Entscheidungen in Bezug auf die Dauer, die Auswahl der zu beobachtenden oder zu befragenden Personen bzw. Personengruppen, die Durchführung sowie den Einsatz von Erhebungs- und Auswertungsmethoden gemacht werden. Im Anschluss an die erste Erhebungsphase bzw. nach der Auswertung der ersten erhobenen Daten werden zusätzliche Schritte geplant und umgesetzt (vgl. ebd.: 48).
„Die Erhebungs- und Auswertungsphasen laufen idealiter so lange im Wechsel, bis keine grundlegend neuen Erkenntnisse, die zur Erhellung des Untersuchungsfeldes beitragen, gewonnen werden können.“ (ebd.)
Nachjeder dieser Teilphasen werden somit Entscheidungen über weitere Schritte getroffen, die schließlich den Fortgang des Forschungsvorhabens mitbestimmen. Ziel ist es, das bestehende Vorverständnis zu erweitern und zu präzisieren, so Bennewitz (2013).
Festzuhalten gilt, dass die qualitative Sozialforschung „auf eine Passung zwischen Fragestellung/Erkenntnisinteresse, Untersuchungsgegenstand, Forscher/in, Forschungsmethode und wissenschaftstheoretischerRahmung zielt.“ (ebd. 49)
2.2 Erhebungsmethoden qualitativer Forschung
Methoden sind einzelne Verfahren, welche für die Erhebung sowie Auswertung empirischer Daten herangezogen werden. Die qualitative Sozialforschung setzt eine Vielzahl an Methoden ein, welche auf unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen, wie der Hermeneutik, dem Symbolischen Interaktionismus, der Ethnomethodologie, Phänomenologie, Wissenssoziologie oder der Verstehenden Soziologie, aufbauen. Die Wahl der Erhebungs- und Auswertungsmethoden hängt von den Forschungsfragen sowie dem Untersuchungsgegenstand ab. Von Bedeutung ist hierbei, so Bennewitz (2013), dass die Forschungsmethoden am Forschungsgegenstand auszurichten sind und nicht umgekehrt.
Die Erhebungsmethoden in der qualitativen Forschung zielen üblicherweise darauf ab, Daten zu produzieren, welche für die Auswertung schließlich zu Texten verschriftlicht werden können (vgl. Bennewitz 2013: 49). Zu den häufigsten Methoden der Datenerhebung in qualitativen Untersuchungen zählen beispielsweise Transkripte von Audio- und Videoaufnahmen von Einzelinterviews oder Gruppendiskussionen und Beobachtungs- und Feldnotizen, welche anschließend zu Protokollen verdichtet werden. Zu den qualitativen Interviewverfahren zählen unter anderem das problemzentrierte Interview, biographisch- narrative Interviews, das Verfahren der Gruppendiskussion, ethnographische Interviews sowie das Expertinneninterview (vgl. ebd.: 50).
Auf letztgenanntes soll im folgenden Abschnitt konkret eingegangen werden, da das Expertinneninterview für die vorliegende Forschungsarbeit als Erhebungsinstrument gewählt wurde.
2.2.1 Expertinneninterviews zur Datengewinnung
Nach Meuser und Nagel (2013) gilt das Expertinneninterview, verglichen mit klassischen Methoden der empirischen Sozialforschung - wie beispielsweise der standardisierten Befragung oder der Beobachtung - als randständiges Verfahren. Dieses eignet sich zur Rekonstruktion komplexer Wissensbestände und findet sowohl als eigenständiges Verfahren als auch im Rahmen eines Methodenmix Verwendung. Allerdings wird der Stellenwert dieser Interviewvariante unterschiedlich beurteilt, so Meuser und Nagel (2013). So sieht Flick (2000) das Expertinneninterview als „Abkürzungsstrategie“ - als Instrument bzw. Methode zur einfachen Generierung von Informationen - welche primär aus forschungsökonomischen Gründen herangezogen wird. (vgl. Flick 2000: 263f.; Bogner et al. 201: 2). Es wird angenommen, dass sich die Forschenden lange Wege ersparen, sofern die angefragten Expertinnen über relevantes Insiderwissen verfügen. Zudem wird hier von einer Art Erfolgsgarantie ausgegangen, denn die an Interviewsituationen gewöhnten Expertinnen lassen sich leicht motivieren bzw. mobilisieren, haben ein hohes Maß an Wissen und artikulieren sich gut (Bogner et al. 2014: 3). Andererseits verweisen Autorinnen auf Besonderheiten gegenüber anderen Interviewverfahren. Przyborski und Wohlrab-Sahr (2021) zitieren nach Hitzler et al. (1994), welche betonen, dass diese Besonderheiten essenziell mit dem Status und der gesellschaftlichen Funktion von ,Experten’, mit der daraus resultierenden spezifischen Beziehung zwischen Interviewer und dem Experten sowie mit den Besonderheiten des ,Expertenwissen’“ (Hitzler et al. 1994: öS. zit. n. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2021: 213) Zusammenhängen. Demnach wird das Expertinneninterview als ein Instrument der Datenerhebung eingesetzt, welches sich auf einen spezifischen „Modus des Wissens“ (Meuser/Nagel 2013: 459) bezieht - auf das Expertinnenwissen (vgl. ebd.).
Die zuvor erwähnte Randständigkeit, welche diesem Interviewverfahren in der Methodenliteratur zukommt, hat zur Folge, dass die Auswahl der Personen, welche in der Forschungspraxis als Expertinnen herangezogen werden, oft keinen konkreten Kriterien folgt (vgl. Meuser/Nagel 2013: 460). Wer gilt nun als Experte bzw. als Expertin? In der Methodendebatte zum Expertinneninterview haben unterschiedliche Autorinnen darauf aufmerksam gemacht, dass Expertinnen das Konstrukt unseres Forschungsinteresses sind (vgl. Pfadenhauser 2009; Meuser/Nagel 2013; Bogner 2014). Demnach ist das Expertentum keine personale Eigenschaft oder Fähigkeit, sondern eine Zuschreibung. Wenn aufgrund bestimmter Erkenntnisinteressen spezifische Personen mittels Interviewanfrage als Expertinnen adressiert werden, findet diese Zuschreibung statt. Somit werden Personen zu Expertinnen gemacht, weil, wie auch immer begründet angenommen wird, dass diese über ein Wissen verfügen, welches sie zwar nicht alleine besitzen, das allerdings nicht jeder Person in demjeweiligen Handlungsfeld zugänglich ist (vgl. Meuser/Nagel 2013: 460f.).
„Dass sich der Expertenstatus einer Person im methodologischen Sinne dem jeweiligen Forschungsinteresse verdankt - nicht jede in einem Handlungsfeld als Expertin anerkannte Akteurin ist notwendig Adressatin von Experlinneninlerviews - heißt nicht, dass eine Person völlig unabhängig von der vor Ort vorgenommenen Zuschreibung als Expertin interviewt wird, dass es Expertinnen nur ,von soziologischen Gnaden‘gibt.“ (Meuser/Nagel 2013: 461)
Mit dieser Bestimmung wird der Expertinnenbegriff von einem Verständnis abgegrenzt, welches im Grunde alle Personen zu Expertinnen des eigenen Lebens bzw. des eigenen Alltags macht. Diesbezügliches Wissen kann sowohl mittels narrativen als auch problemzentrierten Interviews erfasst werden. In Expertinneninterviews wird nicht nach individuellen Biografien gefragt und keine Einzelfälle betrachtet, sondern die Befragten werden als Repräsentantinnen einer Organisation oder Institution angesprochen. Die Interviewpartnerinnen erhalten einen, in Bezug auf das Forschungsinteresse verliehenen Expertinnenstatus und sind als im Funktionskontext eingebundene Akteure, und nicht als Privatpersonen mit ihren individuellen Biografien, interessant (vgl. Meuser/Nagel 1991: 444). Somit kann festgehalten werden, dass sich die von den Forschenden vorgenommene Etikettierung von Personen als Expertinnen notwendigerweise auf eine, im entsprechenden Feld vorab erfolgte sowie institutionell-organisatorisch zumeist abgesicherte Zuschreibung bezieht, so MeuserundNagel (2013).
In Bezug auf das wissenssoziologische Erkenntnisinteresse am Expertinnenhandeln, sehen Meuser und Nagel (2013) ein leitfadengestütztes offenes Interview als adäquates Erhebungsinstrument. Dem Prinzip einer flexiblen und offenen Interviewführung entsprechend, enthält der Leitfaden die anzusprechenden Themen, nicht aber ausformulierte und konkrete Fragen. Auf diese Weise werden unerwartete Themendimensionierungen der Expertinnen nicht verhindert und es kann sichergestellt werden, dass die Erfahrungen und das Wissen der Befragten möglichst umfänglich in das Gespräch bzw. Interview einfließen.
Den Autorinnen zufolge sollten die Interviewfragen so gestellt werden, dass sie auf überpersönliches, funktions- bzw. institutionsbezogenes Wissen zielen und Erzählungen generieren (vgl. Meuser/Nagel 2013: 465).
„Es sind oft die narrativen Passagen, die sich als Schlüsselstellenfür die Rekonstruktion des Expertinnenwissens erweisen.“ (ebd.)
Zentrale Themenkomplexe bzw. Fragen, welche an alle Expertinnen in Bezug auf ein Forschungsvorhaben gerichtet werden, haben dennoch die wichtige Funktion, die Vergleichbarkeit der einzelnen Interviews zu gewährleisten (vgl. Meuser/Nagel 1991: 486).
2.3 Von der Datensammlung zu interpretierbaren Daten
Das Ziel qualitativer Auswertung ist, unbekannte Phänomene zu untersuchen, um schließlich neue Theorien zu generieren. Soziale Lebenswelten können auf diese Weise „von innen heraus“ verstanden und beschrieben werden. Zusätzlich können bereits bestehende Vorannahmen deduktiv im erhobenen Datenmaterial gefunden und zu Theorieergänzung herangezogen werden, so Kohlbrunn (2020).
„Der hermeneutische Verständnisprozess verfolgt das Ziel, Regelmäßigkeiten, Analogien, Sinn- und andere -Strukturen, aber auch Funktionen aus dem vorhandenen Datenmaterial herauszuarbeiten.“ (Bennewitz 2013: 50 zit. n. Goodman 2021: 44)
Die Datenauswertung umschließt nun jene Verfahren bzw. Instrumente, mit denen die generierten Daten analysiert und interpretiert werden können. Zu den häufigsten Methoden der Datenauswertung für qualitative Forschungsvorhaben zählen die Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2002), Theoriebezogene Analysen (Friebertshäuser et al. 2013), Kodierverfahren nach Glaser/Strauss (1998), Diskursanalysen nach Keller (2001), Konversationsanalysen nach Kallmeyer/Schütze (1976); Bergmann (1991); Deppermann (2001), tiefenhermeneutische Verfahren nach Lorenzer (1981); Heinzel (1997) sowie fallrekonstruktive Verfahren nach Oevermann et al. (1979); Kraimer (2000) und Fabel- Lamla/Tiefel (2003) (vgl. Bennewitz 2013: 50).
Bei der Wahl der qualitativen Auswertungsmethode gilt es vor allem das Erkenntnisinteresse und die Fragestellung zu beachten. Die Auswahl des Verfahrens hängt schließlich davon ab, ob sich die Auswertungsmethode überhaupt dafür eignet, Antworten auf die jeweilige Fragestellung zu generieren (vgl. Kohlbrunn 2020: öS.).
In unterschiedlichen Lehrbüchern wird die Vielzahl an Auswertungsmethoden in diverse Gruppen zusammengefasst, um die Auswahl einer adäquaten Methode zu erleichtern. Kohlbrunn (2020) führt hierbei inhaltsanalytische (beispielsweise nach Mayring oder Kuckartz), rekonstruktive (nach Oevermann oder Bohnsack), hermeneutische (wie beispielsweise die dokumentarische Methode nach Bohnsack), explorative (nach Strauss und Corbin oder Mayring) und diskursanalytische (nach Keller oder Jäger) Verfahren an, welche nach eingehender Überlegung mittels Ausschlussverfahren gewählt und schließlich im Forschungsdesign begründet sowie abgefasst werden (vgl. ebd.).
Die wesentliche Aufgabe Forschender, welche qualitative Verfahren anwenden, ist, so Kühlmeyer et al. (2020), eine regelgeleitete Übertragung von generierten Daten in eine „abstrakt-konzeptionelle“ Form. Die Verwendung von bereits beschriebenen sowie erprobten Methoden bietet Forschenden eine Erleichterung in Bezug auf die Plan-, Wiederhol- sowie Darstellbarkeit einer Untersuchung (vgl. Kühlmeyer et al. 2020: öS.). Neben der Orientierung an vorhandenen Auswertungsmethoden, erfordert die Analyse von qualitativen Daten auch einen offenen und kreativen Umgang mit dem generierten Material. Dementsprechend können theoretisch formulierte Methoden nicht kritiklos auf neue Forschungsvorhaben übernommen, sondern müssen den jeweiligen Untersuchungen adäquatangepasstwerden(vgl. Strauss 1991: 32f.).
Um schließlich zu der, für das jeweilige Forschungsvorhaben, geeigneten Auswertungsmethode zu gelangen, bedarf es Überlegungen dazu, mit welchem Instrument die forschungsleitende Fragestellung aus dem vorhandenen Datenmaterial am ehesten erschöpfend beantwortet werden kann. Hierzu gehört ebenso die konkrete Definition der Analyseeinheit. Diese umfasst das gesamte Datenmaterial, welches für die weitere Verarbeitung herangezogen wird und gegebenenfalls aufbereitet werden muss. Findet eine computergestützte Datenanalyse statt, muss die Analyseeinheit in digitalisierter Form vorliegen (vgl. Kittl-Satran 2021: 301).
Für die vorliegende Untersuchung wurden die Expertinneninterviews mit Hilfe der Videokonferenzsoftware Zoom geführt und sowohl als Video- als auch als Audiodatei aufgezeichnet. Im Anschluss an die Interviews wurdejeweils ein Postskriptum angefertigt, welches Anmerkungen zu den Rahmenbedingungen und dem Verlauf des Interviews, sowie zu dem Rollenverständnis der Interviewten, zu Schwerpunktsetzungen und zu ersten Interpretationsideen beinhaltet (vgl. Friebertshäuser/Langer 2013: 442). Anschließend wurden die aufgezeichneten Interviews transkribiert.
Mit der Transkription von aufgezeichneten Interviews beginnt die Auswertung des Datenmaterials, so Langer (2013).
„Die Übersetzung des Gehörten in Schriftsprache enthält bereits Interpretationen und die Form der Transkription entscheidet über die Möglichkeiten der Auswertung.“ (Langer 2013: 515)
In Anlehnung an Meuser/Nagel (2013) und Langer (2013) wurden hier, anders als beim biographischen Interview, ausschließlich die thematisch relevanten Passagen transkribiert. Den Autoren zufolge ist die Transkription des gesamten Expertinneninterviews nicht der Normalfall (vgl. Meuer/Nagel 2013: 466; Langer 2013: 518f.). Die Entscheidung welche Interviewpassagen transkribiert bzw. paraphrasiert wurden, erfolgte in Hinblick darauf, welcher Informationsgehalt den jeweiligen Passagen innewohnte. Wörtlich transkribiert wurde, wenn die Interviewabschnitte relevante Informationen in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand bzw. die Forschungsfragen enthielten. Andere Gesprächspassagen wurden paraphrasiert - d.h. sinngemäß, jedoch mit eigenen Worten zusammengefasst. Notationen von nonverbalen Äußerungen, Pausen, Stimmlagen uvm. wurden in den Abschriften nicht vorgenommen, da diese für die Interpretation nicht von Bedeutung waren (vgl. Meuser/Nagel 2013: 466; Scambor et al. 2018: 37).
Die Auswertung von Expertinneninterviews orientiert sich, anders als bei der einzelfallinteressierten Interpretation, an inhaltlich zusammengehörige, über die einzelnen Texte verteilte Passagen und nicht an der Sequenzialität von Aussagen des jeweiligen Interviews (vgl. Meuser/Nagel 2013: 466).
„Das Zielt ist vielmehr, im Vergleich mit den anderen Expertinnentexten das Überindividuell-Gemeinsame herauszuarbeiten, Aussagen über Repräsentatives, über gemeinsam geteilte Wissensbestände, Relevanzstrukturen, Wirklichkeitskonstruktionen, Interpretationen und Deutungsmuster zu treffen. Es sind die Texte des Aggregats ,ExpertInnen‘, die wir als Ganzes zum Objekt der Interpretation machen; auf der Suche nach der Typik des Objekts behandeln wir die einzelne Expertin von vornherein als Repräsentantin ihrer ,Zunft“‘ (Meuser/Nagel 1991: 452).
Das Vorgehen des thematischen Vergleichs ermöglicht es, Unterschiede und Gemeinsamkeiten festzustellen, wobei diese nicht durch Fallbeispiele, sondern durch typische Aussagen dokumentiert werden (vgl. ebd.). Zusätzlich zu der leitfadenorientierten Interviewführung, sichert der gemeinsam geteilte institutionell-organisatorische Kontext der Expertinnen [...]“ die Vergleichbarkeit der Interviewabschriften (vgl. Meuser/Nagel 2013: 466).
Im Folgenden eine kurze Darstellung der Auswertungsstrategie nach Meuser und Nagel (1991), welche auf Wissensbeständen interpretativer Sozialforschung basiert und für die Datenauswertung der vorliegenden Forschungsarbeit herangezogen wurde.
2.3.1 Datenauswertung nach Meuser und Nagel (1991)
Zu Beginn der Forschungsplanung wurde für die vorliegende Arbeit an die Datenauswertung mit Hilfe der Grounded Theory nach Glaser und Strauss (1998) gedacht. Nach der Durchführung der Interviews mit professionell an Aufdeckungsprozessen Beteiligten, hat sich schließlich die Auswertungsmethode nach Meuser und Nagel (1991), vor allem aufgrund der Expertise der Autorinnen in Bezug auf die Durchführung und Auswertung von Expertinneninterviews, als zielführender erwiesen.
Meuser und Nagel (1991) unterscheiden zwischen zwei Untersuchungsanlagen. Einerseits können die Expertinnen die Zielgruppe des Forschungsvorhabens sein. Hierbei sind die Interviews darauf ausgerichtet, dass die jeweiligen Expertinnen Auskunft über ihr spezifisches Handlungsfeld geben (vgl. Meuser/Nagel 1991: 445).
„Entsprechende Studien stammen lypischerweise aus der industriesoziologischen, der Eliten-, Implementations- und Professionalisierungsforschung.“ (Meuser/Nagel 1991: 445.)
Andererseits repräsentieren die ausgewählten Expertinnen eine zur jeweiligen Zielgruppe „komplementäre Handlungseinheit“ (ebd.). In diesem Fall wird das Ziel verfolgt, Informationen über die jeweiligen Kontextbedingungen des Handelns der entsprechenden Zielgruppe zu generieren. Hierfür findet man Beispiele in der Ungleichheits- und der Soziale-Probleme- sowie in derBetroffenenforschung (vgl. ebd.).
„Das Interesse an den Expertinnen ist hier ein abgeleitetes Interesse, d.h. abgeleitet von einer Forschungsfrage, für deren Bearbeitung auf Expertinnenwissen nicht verzichtet werden kann.“ (ebd.)
Demzufolge wird das Erfahrungswissen der Expertinnen im erstgenannten Fall als Betriebswissen und im letztgenannten Fall als Kontextwissen bezeichnet, so Meuser und Nagel (1991). Für die vorliegende Untersuchung sind sowohl das Kontext- als auch das Betriebswissen der ausgewählten Expertinnen von Bedeutung, denn ausgehend von den oben angeführten Forschungsfragen, waren sowohl die Kontextbedingungen des Handelns der männlichen Betroffenen von sexualisierter Gewalt durch Frauen als auch das spezifische Handlungsfeld der Interviewpartnerinnen Gegenstand der Interviews.
Transkription
Die Auswertung der Interviews setzt die Transkription dieser voraus. Wie bereits erwähnt, wird bei Expertinneninterviews, da es hier primär um gemeinsam geteiltes Wissen geht, auf aufwendige Notationssysteme verzichtet. Nonverbale und parasprachliche Element sowie Pausen und Stimmlagen sind hier nicht Gegenstand der Interpretation. Das Ausmaß der wörtlichen Transkription hängt einerseits vom Diskursverlauf und andererseits davon ab, ob es sich um Kontext- oder Betriebswissen handelt. Dementsprechend wird die Transkription umfangreicher sein, wenn es um die Analyse von Betriebswissen geht und das Interview ideal verläuft. Sollten die Expertinnen das Interview zum Anlass nehmen, etwas mitzuteilen, was ihnen schon lange am Herzen liegt, was aber nichts mit dem Forschungsinteresse bzw. den Forschungsfragen zu tun hat, wird die Abschrift, so Meuser und Nagel (1991) kurz und sehr selektiv ausfallen. Bei gelungenen Diskursverläufen erweisen sich vollständige Transkriptionen als sinnvoll (vgl. Meuser/Nagel 1991: 455f.)
Paraphrase
Im Hinblick auf die forschungsleitenden Fragen wird somit entschieden, welche Abschnitte der Interviews transkribiert und welche paraphrasiert werden. Paraphrasen müssen der Chronologie des Interviewverlaufs folgen und inhaltsgetreu wiedergeben, was die Expertinnen insgesamt geäußert haben (vgl. ebd.: 456).
„Die Sequenzierung des Textes nach thematischen Einheiten erfolgt hier gleichsam mühelos in der Manier des Alltagsverstandes. Man verfolgt den Text in der Absicht, die Gesprächsinhalte der Reihe nach wiederzugeben und denpropositionalen Gehalt der Äußerungen zu einem Thema explizit zu machen: die Interviewte spricht über, äußert sich zu und berichtet von, sie hat beobachtet und meint, interpretiert dies als das, gelangt zu dem Urteil, erklärt sich etwas, hält sich anjene Faustregel.“ (ebd.)
Die Paraphrasierung stellt den ersten Schritt der Verdichtung des Datenmaterials dar. Nach Meuser und Nagel (1991) entwickelt sich bereits nach wenigen Interviews ein Muster der Paraphrasierung, welches schließlich auch bei den weiteren Texten zur Anwendung kommt. Somit werden Trennlinien zwischen Themenkomplexen deutlich, Argumentationsmuster und Erfahrungsbündel werden sichtbar, Beobachtungsdimensionen und Relevanzen können verdeutlicht werden (vgl. Meuser/Nagel 1991: 457).
Kodieren
Ein weiterer Schritt der Verdichtung des Textmaterials besteht in der thematischen Zuordnung der paraphrasierten Passagen. Hierbei wird textnahe vorgegangen und die Terminologie der Expertinnen wird aufgegriffen. Ob einer Textpassage schließlich ein oder mehrere Codes zugeordnet werden, hängt davon ab, wie viele Themen angesprochen wurden (vgl. Meuser/Nagel 2013: 465).
„Das Auflösen der Sequenziahtät des Textes auch innerhalb von Passagen ist erlaubt und notwendig, weil nicht die Gesamtperson in ihrem Lebenszusammenhang Gegenstand der Auswertung ist. Bezugsgröße ist immer noch das einzelne Interview; die Verdichtungen, Typisierungen, Abstraktionen verbleiben in dessen Horizont." (Meuser/Nagel 2013: 465)
Thematischer Vergleich
An diesem Punkt geht die Auswertung über die einzelnen Texteinheiten hinaus, wobei die Logik des Vorgehens weiterhin der der Kodierung entspricht. Nun werden thematisch vergleichbare Abschnitte aus allen Interviews zusammengefasst. Den Autorinnen zufolge soll auf eine theoriesprachliche Abstraktion verzichtet und weiterhin eine textnahe Kategorienbildung beibehalten werden. Eine Überprüfung der vorgenommenen Zuordnung ist an dieser Stelle unbedingt notwendig, da beim thematischen Vergleich eine Fülle an Daten verdichtet wird (vgl. ebd.: 467)
„Die Resultate des thematischen Vergleichs sind kontinuierlich an den Passagen der Interviewszuprüfen, aufTriftigkeit, aufVollständigkeit, auf Validität." (ebd.)
Soziologische Konzeptualisierung
Hier erfolgt nun die Ablösung von den Texten sowie von der gewählten Terminologie der Interviewpartnerinnen. Im Rekurs auf theoretische Wissensbestände werden Differenzen und Gemeinsamkeiten begrifflich gestaltet - „d.h. in die Form einer Kategorie gegossen". (Meuser/Nagel 1991) In den Kategorien wird nun das Besondere des gemeinsam geteilten Wissens der Expertinnen verdichtet und expliziert (vgl. Meuser/Nagel 1991: 462; Meuser/Nagel 2013: 467).
„Der Prozess der Kategoriebildung impliziert einerseits ein Subsumieren von Teilen unter einen allgemeine Geltung beanspruchenden Begriff, andererseits ein Rekonstruieren dieses für den vorgefundenen Wirklichkeitsausschnitt gemeinsam geltenden Begriffs. Die Abstraktionsebene ist die der empirischen Generalisierung. Es werden Aussagen über Strukturen des Expertinnenwissens getroffen. Die Anschlussmöglichkeit an theoretische Diskussionen ist gegeben, die Verallgemeinerung bleibt aber auf das vorliegende empirische Material begrenzt, auch wenn sie in einer Begrifflichkeit geschieht, die in diesem selbst nicht zu finden ist.“ (Meuser/Nagel 2013: 467)
Hierbei wird das Ziel einer Systematisierung von Deutungsmustern, Verallgemeinerungen, Relevanzen und Typisierungen verfolgt, wobei es auf Verknüpfungsmöglichkeiten einzelnerKonzepte zu achten gilt.“ (Meuser/Nagel 1991: 462)
Theoretische Generalisierung
Nun werden die begründeten Kategorien ihrem internen Zusammenhang theoretisch zugeordnet, wobei die Darstellung der Ergebnisse aus einer theoretisch informierten Perspektive auf die empirisch generalisierten ,Tatbestände‘ [...]“ (Meuser/Nagel 2013: 467) geschieht. Für den Auswertungsprozess gilt, dass alle Stufen durchlaufen werden müssen und keine vernachlässigt bzw. übersprungen werden darf. Je weiter die Auswertung vorangeschritten ist, erweist es sich häufig als notwendig auf eine vorangestellte Stufe zurückzugehen, um sowohl die Angemessenheit einer Generalisierung als auch ihre Begründung in den Daten zu kontrollieren (vgl. ebd.).
Noch vor der Durchführung der Interviews mit professionell an Aufdeckungsprozessen Beteiligten wurde eine umfassende Literaturrecherche und -analyse durchgeführt. Im folgenden Abschnitt werden die Ergebnisse dieser dargestellt.
3 Theoretische Grundlagen zum Forschungsgegenstand
Die forschungsleitenden Fragen verweisen in der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand anfangs unweigerlich auf das Thema der Geschlechterunterschiede und somit auf die Sozialisations- und Geschlechterforschung. Demzufolge werden zu Beginn Leitgedanken dieser Forschungsdisziplinen angeführt. Anschließend wird die männliche Identitätsfindung in den Fokus gerückt. Hierfür werden theoretische Zugänge und Leitgedanken unterschiedlicher Autorinnen betrachtet. Da die forschungsleitenden Fragen eine intensive Auseinandersetzung mit dem Phänomen sexualisierte Gewalt verlangen, folgt schließlich ein historischer Abriss, ein Definitionsversuch sowie eine Darstellung des Ausmaßes sexualisierter Gewalt an Jungen und Männer durch Täterinnen. Bevor schließlich Frauen als Täterinnen sowie Aufdeckungsprozesse männlicher Betroffener in das Zentrum der Betrachtung gerückt werden, sollen noch die, für den Forschungsgegenstand relevanten Begrifflichkeiten Tabu, Scham und Schuld näher betrachtet werden.
3.1 Sozialisations- und Geschlechterforschung
Der Begriff Sozialisation findet nicht nur in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, sondern auch im alltäglichen Sprachgebrauch Verwendung. Aussagen, wie beispielsweise „Das Kind ist gut sozialisiert“, weisen darauf hin, worauf diese Begrifflichkeit primär abzielt - auf die Übernahme gesellschaftlicher Werte und Normen; auf die Anpassung an die soziale Umwelt; auf die Vorstellung der Prägung des Individuums durch den sozialen Kontext, so Hurrelmann und Bauer (2015). Die Alltagssprache weiß aber auch, dass ein Kind seine Sozialisation hinter sich lassen kann, womit ausgedrückt werden soll, dass in das Sozial-werden stets auch eine eigenständige Persönlichkeit einfließt, die sich Umwelteinflüssen in einem gewissen Ausmaß entzieht und aktiv auf die Entwicklung der Umwelt Einfluss nimmt (vgl. Hurrelmann/Bauer 2015: 11). Dementsprechend folgt das Alltagsverständnis der wissenschaftlichen Debatte, in welcher die wechselseitige Beziehung zwischen der Person und ihrer Umwelt betont wird. Sozialisation kann auch als Prägung des Individuums durch sein gesellschaftliches Nahfeld verstanden werden. Es gilt die Variation der menschlichen Verhaltensweisen - die Fähigkeit, auch anders als traditionell genormt auf gesellschaftliche Erwartungen und Anforderungen zu reagieren, als ein Grundmerkmal der Persönlichkeitsentwicklung zu sehen (vgl. Hurrelmann/Bauer 2015: llf.). Demnach führt Sozialisation nicht nur zur Vergesellschaftung, sondern zugleich auch zur Individualisierung. Die jeweilige Individualität des Subjekts ist genauso als Ergebnis einer gelungenen Sozialisation zu sehen, wie die von allen geteilte Fähigkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe. Dem entspricht auch, dass als Zielsetzung des Sozialisationsprozesses nicht die möglichst problemlose gesellschaftliche Integration, sondern die Ausbildung einer individuellen Handlungskompetenz gesehen wird - die Fähigkeit, sich innerhalb eines bestehenden gesellschaftlichen Kontexts bewusst und bestenfalls auch erfolgreich verhalten zu können (vgl. Tillmann 2020: 205). Dies schließt sowohl die Fähigkeit ein, sich mit gegebenen Bedingungen zu arrangieren als auch die Kompetenz, auf Veränderungen des sozialen Umfelds hinzuwirken (vgl. Hurrelmann/Bauer 2015: 145). Selbst wenn die Einflüsse der sozialen Umwelt, des jeweiligen kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Milieus, in dem ein Mensch lebt, groß sind, langanhaltend wirken und nachhaltige Spuren in den Einstellungs- und Handlungsmustern hinterlassen, reicht dies allein nicht aus, um eine Persönlichkeitsentwicklung vollständig zu determinieren (vgl. ebd.: Iff). Gesellschaftliche Lebensbereiche vollziehen im historischen Verlauf eine permanente Wandlung - neue Einflüsse kommen hinzu, andere verschwinden. Dementsprechend ist auch ein einmal erlerntes Verhalten nicht für alle nachfolgenden Handlungssituationen gültig - hierfür ist der Aufwand für die Anpassung an neue oder veränderte Herausforderungen zu groß, so Hurrelmann und Bauer (2015). In der wissenschaftlichen Sozialisationstheorie, welche die Autoren vorstellen, gehen sie von einer dynamischen Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit aus. Sie erläutern, dass Umweltstrukturen nie so einheitlich und zwingend prägend sind, dass diese nur auf eine Art und Weise wirken können. Welche Auswirkung äußere Einflüsse schließlich auf das Verhaltens-, Handlungs- sowie Bewältigungsrepertoire eines Individuums haben, ist immer nur im Blick auf diejeweiligen Ausgangsbedingungen zu beantworten. Sozialisation findet nicht nur in der Person statt und ist auch nicht alleine abhängig von den Bedingungen, in denen wir handeln oder von denen wir geprägt wurden. In Interaktionen setzen wir Wissen und Erfahrungen zum Verständnis der Gegebenheiten ein und zugleich wird unser persönliches Wissens- und Handlungsrepertoire dadurch bestätigt, revidiert oder erweitert (vgl. ebd.: 14f).
„Im Kern bezeichnet Sozialisation also die Persönlichkeitsentwicklung als eine ständige Interaktion zwischen individueller Entwicklung und den umgebenden sozialen Strukturen, wobei diese Interaktionserfahrungen aktiv und produktiv verarbeitet und sowohl mit den inneren körperlichen und psychischen als auch mit den äußeren sozialen und physischen Gegebenheiten permanent austariert werden." (Hurrelmann/Bauer 2015: 15)
Geschlecht ist eine soziale Kategorie - eine mit der Geburt festgelegte Dimension sozialer Strukturierung und somit ebenso ein Bezugspunkt für die Zuweisung von sozialem Status, so Ostner (2018). Geschlecht wirkt, im intersektionalen Zusammenspiel mit anderen sozialen Kategorien als gesellschaftlicher Platzanweiser - beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt (vgl. Ostner 2018: 137).In ihren sozialen Interaktionen beziehen sich Menschen auf Zuschreibungen und Bewertungen von Geschlechterdifferenzen, beispielsweise in Eltern-Kind-Interaktionen. Gesellschaftliche Diskurse bringen geschlechtsbezogene Bedeutungen hervor, zum Beispiel zu Vorstellungen, was eine der Norm entsprechende Männlichkeit ausmachen soll. Außerdem ist die biografische Sozialisation von Menschen eng mit Geschlechtemormen sowie Selbstzuschreibungen als männlich bzw. weiblich oder mit der Zurückweisung solcher Zuordnungen verbunden (vgl. Beresweill/Ehlert2018: 32).
Nach wie vor prägt die Differenzierung nach Geschlecht sowohl das soziale als auch kulturelle Leben. Die Allgemeingültigkeit der geschlechtlichen Unterscheidung wird häufig aufbiologisch-natürliche Differenzen zurückgeführt (vgl. Ostner 2018: 137).
„Tatsächlich scheint es umgekehrt zu sein: Wahrnehmbare Unterschiede werden sozial fixiert und zum Ausgangspunkt von wechselseitigen Erwartungen, sich dem eigenen Geschlechtangemessen zu verhallen, gemacht." (ebd.)
Annahmen über Geschlechts-Charaktere, so Ostner (2018), stehen deshalb in einem engen Zusammenhang mit den Gestaltungsprinzipien der jeweiligen Gesellschaftsordnung. Was wir heute Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit nennen, ist das Ergebnis des Wandels des Geschlechterverhältnisses im 18. und 19. Jahrhundert. Sie wurzelt in dem damals schließlich modernen Bild getrennter Sphären. Dieses wurde von männlichen Bildungseliten ausgearbeitet und verbreitet, als sich die traditionelle geschlechtergetrennte, agrarisch geprägte Welt aufzulösen begann.“ (ebd.: 137) Der moderne Kapitalismus zerstörte die Balance in der Aufteilung von Ressourcen und Zuständigkeiten zwischen den Geschlechtern in der traditionellen Haushaltsfamilie sowie Familienproduktion. Schließlich wurden immer mehr Familien lohnabhängig. Die nicht oder lediglich eingeschränkt erwerbsfähigen, einkommenslosen Familienmitglieder waren auf völlig neue Art und Weise auf das Einkommen der Erwerbstätigen angewiesen (vgl. Ostner 2018: 137). Hierdurch verfestigten sich geschlechtsspezifische Zuweisungen, die schließlich unter Rückgriff auf vermeintlich natürliche Unterschiede zwischen Mann und Frau legitimiert wurden. „Das Ergebnis war eine historisch einmalige Polarisierung der Geschlechtscharaktere (ebd.: 138) Seit Ende des 19. Jahrhunderts förderte die entstehende staatliche Sozialpolitik in allen westlichen Ländern diese bipolare Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit und das männliche ErnährerModell. Die Entstehung der Neuen Frauenbewegung kann man als Reaktion auf diese bipolar gedachte Geschlechterordnung sowie als Katalysator der Auflösung dieser Ordnung interpretieren (vgl. ebd.: 138). Im Zuge der feministischen Kritik wurde schließlich vermehrt an der Position sowie Rolle der Frau in der Gesellschaft gearbeitet:
„Gender means Women: So lautete jahrzehntelang der Subtext der Geschlechtergleichstellung in Österreich und in den meisten anderen Ländern Europas. [...] Wissenschaftliche Analysen, politische Strategien, sowie Fördermaßnahmen und innovative Praxisprojekte wurden in der Vergangenheit hauptsächlich mit Blick auf Frauen diskutiert, während die hegemonial strukturierte Beziehung zwischen den Geschlechtern, die zentrale Lebensbereiche (Bildung, Arbeit, Familie, Gesundheit etc.) maßgeblich ausformt(e), weitgehend unangetastet blieb.“ (Bergmann etal. 2014: 7)
Die allmählichen Veränderungen der Lebensverhältnisse der Frauen blieben jedoch nicht folgenlos für die Lebensbedingungen der Männer. Jungen und Männer sahen sich, sowohl aufgrund des stetigen Wandels der Geschlechterverhältnisse als auch aufgrund der strukturellen Veränderung der Arbeitswelt und Wirtschaft, zunehmend mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Tradierte Männlichkeitsmuster erwiesen sich nur noch partiell als geeignet, um auf neue Anforderungen zu reagieren und verursachten zum Teil Probleme (vgl. BMFSFJ 2013: 13). Viele fühlten sich schließlich aufgefordert ihre Rolle und Position als Mann zu überdenken und neu zu definieren (vgl. Berchtold 2012: 376). Man(n) begann sich nun auch theoretisch mit der Kritik an der männerdominierten Kultur und den Auswirkungen patriarchaler Machtverhältnisse auseinanderzusetzen (vgl. von Bargen/Goosses 2012: 132). Zu dieser Zeit, im Jahr 1984, veröffentlichte der deutsche Musiker Herbert Grönemeyer sein Lied „Männer“ und stellte die Frage „Wann ist einMann einMann?“. (Grönemeyer 1984)
„Männer nehm’n in den Arm; Männer geben Geborgenheit; Männer weinen heimlich; Männer brauchen viel Zärtlichkeit; Oh, Männer sind so verletzlich; [...] Männer kaufen Frauen; Männer stehen ständig unter Strom; [...]Männer bestechen durch ihr Geld und ihre Lässigkeit; [...] Männer haben Muskeln; Männer sind furchtbar stark; [...] Männer fuhren Kriege; Männer sind schon als Baby blau; [...] Männer kriegen keine Kinder; Männer kriegen dünnes Haar; Männer sind auch Menschen; Männer sind etwas sonderbar; Männer sind so verletzlich; Männer sind auf dieser Welt einfach unersetzlich; Männer haben's schwer, nehmen's leicht; Außen hart und innen ganz weich; Werd'n als Kind schon auf Mann geeicht; Wann ist einMann einMann?“ (Grönemeyer 1984)
Mit diesen Zeilen wurde das Männlichkeitsdilemma auf den Punkt gebracht - Softie, Macho oder einfach nur Mann sein? Aber wie ist das möglich? Die Antwort darauf muss schließlich im kulturellen bzw. gesellschaftlichen Bereich, in der männlichen Sozialisation, liegen und lässt sich nicht einfach auf biologische Aspekte beschränken.
3.2 Wann ist ein Mann ein Mann?
Die Kategorie Gender als gesellschaftliche Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit durchdringt, so wie andere gesellschaftlich verankerte Hierarchien, sowohl individuelle als auch soziale Erfahrungen, insbesondere sexualisierte Gewalterfahrungen. Dementsprechend nimmt der Umgang mit der eigenen Geschlechtsidentität in starkem Maße darauf Einfluss, wie Krisen und Traumata erlebt und bewältigt werden (vgl. Gahleitner 2018: 877).
Bezogen auf die Darstellung von Gahleitner (2018) sollen im Folgenden die männliche Identitätsfindung sowie der eben erwähnte Umgang mit der Geschlechtsidentität in den Fokus gestellt werden, da davon ausgegangen werden kann, dass diese Aspekte eine zentrale Rolle in der Psychodynamik und in weiterer Folge in der Aufdeckungsbereitschaft männlicher Betroffener von sexualisierter Gewalt durch Frauen darstellen. Hierfür werden exemplarisch Leitgedanken bzw. theoretische Zugänge von Scheibelhofer (2018), Süfke (2008) und Böhnisch (2019) herangezogen.
3.2.1 Habitualisierungvon Männlichkeit
In seinem Ansatz stützt sich Scheibelhofer (2018) auf das Konzept der hegemonialen Männlichkeit nach Connell (1999), welches er wiederum mit anderen theoretischen Zugängen verknüpft. In ihrem Konzept der hegemonialen Männlichkeit, geht Connell (1999) davon aus, dass in modernen westlichen Gesellschaften ein patriarchales2 Geschlechterverhältnis herrscht, welches Männer als Gruppe privilegiert und die Gruppe der Frauen strukturell benachteiligt (vgl. Scheibelhofer 2018: 36). Dieses ungleiche Geschlechterverhältnis wird durch die hegemoniale Männlichkeit legitimiert und gestützt. Hierbei greift Connell (1999) den Terminus Hegemonie von Antonio Gramsci auf und argumentiert, dass männliche Herrschaft sowohl auf symbolischer Ebene (Werte, Normen, Idealvorstellungen) als auch auf struktureller Ebene (beispielsweise Sozialpolitik, Arbeitsmarkt uvm.) verankert ist. Zentral für dieses Konzept ist eine Ausweitung des Fokus von der Analyse heterosozialer Machtverhältnisse zur Einbeziehung homosozialer Machtverhältnisse zwischen Männern.“ (ebd. 37) Beide sind miteinander verzahnt und verweisen aufeinander. Dementsprechend herrschen in patriarchalen Gesellschaften immer auch Machtgefälle zwischen Männern undjenen, die abgewertet werden (vgl. Scheibelhofer 2018: 37).
Hegemoniale Männlichkeit repräsentiert auch aktuell die gültige Norm und definiert damit auch was aus dem Kreis des legitim Männlichen ausgeschlossen sowie abgewertet wird. Gesellschaftliche Bilder über fehlerhafte Männlichkeit begleiten und legitimieren Marginalisierungs- sowie Ausschlussprozesse und führen dazu, dass betroffenen Männern der Zugang zu männlichen Privilegien erschwert wird, so Scheibelhofer (2018: 37). Trotz vielfältiger Verschiebungen und gesellschaftlichen Zugeständnissen - beispielsweise der zunehmenden Sichtbarkeit sowie gesellschaftlichen Anerkennung von Homosexualität, ist normative Männlichkeit noch eng mit Heterosexualität verknüpft. Diese bestimmt nach wie vor das Bild von richtiger Männlichkeit. Dementsprechend sind homophobe Abwertungen für junge Männer weiterhin ein effektives Mittel zur Vergewisserung von Männlichkeit in einer Phase, die von Suchbewegungen und Unsicherheiten geprägt ist (vgl. ebd.: 37ff). Der Autor beschreibt die Adoleszenz als Phase der Habitualisierung von Männlichkeit, in der vielfältige Entwicklungsaufgaben am Weg zum Erwachsenwerden gemeistert werden müssen. Da geschlechtliche Normenjeweils unterschiedliche Ziele vorgeben, unterscheiden sich die Entwicklungsaufgaben für junge Männer und Frauen. Die Ausbildung einer erwachsenen und sicheren Männlichkeit am Ende der Adoleszenz beschreibt der Autor als gesellschaftliche Erwartung, mit der sich junge Männer konfrontiert sehen. Empirische Forschung zeigt, dass viele Jungen dieses Ziel einer normalenMännlichkeit klar vor Augen haben, wenn sie an ihre Zukunft denken (vgl. Jösting 2007: 164). Allerdings zeigt die Forschung auch, dass die Entwicklung einer der Norm entsprechenden Männlichkeit kein reibungsloser, einfacher Prozess ist. Demzufolge ist die Adoleszenz junger Männer von vielschichtigen, sowohl auf sozialer, wie auch physischer und emotionaler Ebene stattfindenden Einarbeitungsprozessen in die Männlichkeit geprägt (vgl. Scheibelhofer 2018: 38f.). Der Rahmen, in dem viele dieser Prozesse stattfmden, ist die homosoziale Jungengruppe. Diese ist für Jungen ein wichtiger Lern- und Erfahrungsraum, in dem sie anderejunge Männer beobachten, Verhaltensweisen einüben sowie das Erlernte präsentieren können. Diese Einübungsprozesse finden nicht auf bewusster Ebene statt, sondern geschehen in der alltäglichen Interaktion. Hierbei werden spezifische Verhaltens- und Sichtweisen, Interpretationsschemata, Vorlieben und Abneigungen erlernt. Dieses erlernte Wissen ist implizit sowie inkorporiert und wird im Handeln aktiviert - es ist „habitualisiertes Wissen“, (ebd.: 39) Somit kann die Adoleszenz junger Männer als eine Phase beschrieben werden, in der eine Einübung in den männlichen Geschlechtshabitus stattfindet - das was später offenbar selbstverständlich und unbeschwert gelebt wird, muss in dieser Phase angeeignet werden. Dieser Habitualisierungsprozess wird jedoch gesellschaftlich nicht thematisiert sowie reflektiert. Dementsprechend erscheint Männlichkeit - und analog dazu Weiblichkeit nicht als etwas Erlerntes, sondern durch die Biologie determiniert (vgl. ebd.: 40).
Die hegemoniale Männlichkeit bildet den Kern des männlichen Geschlechtshabitus. Dieser verleiht Jungen und Männern nicht nur Sicherheit und einen Orientierungsrahmen, sondern legitimiert ebenso den Anspruch auf Vormachtstellung und Dominanz im Geschlechterverhältnis (vgl. ebd.: 40). Mit diesem Privileg - dem dominanten, starken und mächtigen Geschlecht anzugehören, geht auch die Aufgabe einher, die eigene Zugehörigkeit zu dieser Gruppe unter Beweis stellen zu müssen, so Scheibelhofer (2018). Nach Bourdieu (2005) sind es vor allem andere Männer, vor denen dieser Beweis erbracht werden muss, denn es ist die Anerkennung dieser, die Männlichkeit bestätigt sowie die Zugehörigkeit zur Gruppe der „wahren Männer“ (Bourdieu 2005: 94) beglaubigt. Ein Ausschluss hätte für die (jungen) Männer weitreichende Folgen. An diesem Punkt zeigt sich die Kehrseite des Privilegs der Männlichkeit „in der permanenten, bisweilen ins Absurde getriebenen Spannung und Anspannung, [...] seine Männlichkeit unter allen Umständen zu bestätigen“ (Bourdieu 2005: 92). Die Bestätigung von Männlichkeit findet überwiegend über die Abwehr bzw. Abwertung dessen, was in der Logik hegemonialer Männlichkeit als nichtmännlich definiert wird, statt. Diese Abwertungen markieren. Verhalten und helfen somit, die Grenzen normativer Männlichkeit zu verdeutlichen sowie die Einarbeitungsprozesse der jungen Männer zu steuern. Da sie diese dazu anhalten, unmännliche Tätigkeiten, Gefühle und Interessen aus ihrem Repertoire zu streichen bzw. zu verschweigen, stellen sich diese normierenden Prozesse als einschränkend dar. Es zeigt sich, dass sich die Konstruktion hegemonialer Männlichkeit noch immer über Heterosexualität definiert und alles Unmännliche in die Sphäre des Weiblichen/Homosexuellen verweist (vgl. Scheibelhofer 2018: 40ff).
3.2.2 Tiefenpsychologische Dimensionen männlicher Sozialisation
Winter und Böhnisch (1993) haben in der ursprünglichen Veröffentlichung „Männliche Sozialisation. Bewältigungsprobleme männlicher Geschlechtsidentität im Lebenslauf ‘ einen Grundstein für die weitere Entwicklung der akademischen Betrachtungen rund um Männlichkeiten und deren Implikationen im gesellschaftlichen Kontext gelegt. Dementsprechend ist ihr theoretischer Zugang an dieser Stelle von Relevanz. Nach Böhnisch und Winter (1993) verläuft die Entwicklung des Mannseins über den sukzessiven, sich über Kindheit und Jugend sozial erweiternden Aufbau von geschlechtsstereotypen bzw. geschlechtsbezogenen Interaktionen. Diese sind in ihrer sozial definierenden und den Lebenslauf strukturierenden Qualität wesentlich von der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung der patriarchal verfassten Industriegesellschaft geprägt (vgl. Böhnisch/Winter 1993: 17).
In seinem Ansatz zum männlichen Sozialisationsprozess, den er in vier Etappen gliedert, stützt sich Süfke (2008), Gesprächspsychotherapeut und Diplompsychologe, der hauptsächlich mit Männern aller Altersstufen arbeitet, überwiegend auf den theoretischen Zugang von Böhnisch und Winter (1993). Im Folgenden sollen die Leitgedanken von Süfke (2008) mit dem theoretischen Zugang von Böhnisch (2019) ergänzt werden.
[...]
1 FCSO - Female child sexual offender(s)
2 Nach Klimke et al. (2020) ist der BegnffPatnarchat eine Kurzbezeichnung für die Gesellschaftsformation, in der das männliche Geschlecht alle soziale - ergo die ökonomischen, politischen und kulturellen Beziehungen, zu Lasten der Frauen dominiert und nach seinen Interessen ordnet (vgl. Klimke et al. 2020: 574).
- Quote paper
- Alina Filip (Author), 2022, Männliche Betroffene von sexualisierter Gewalt durch Frauen. Aufdeckungsprozesse und besondere Herausforderungen für die sozialpädagogische Praxis, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1282533
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.