Gegenstand dieser Hausarbeit soll sein, anhand einer kritisch-rezeptions-ästhetischen Analyse des Textes „In der Strafkolonie“ von Franz Kafka aufzuzeigen, an welchem Punkt die hermeneutische Rezeptionsästhetik an ihre eigenen Grenzen stößt und durch eine empirische Literaturwissenschaft ergänzt werden müsste.
Inhalt
1. Einleitung
2. Rezeptionsästhetik
2.1. Allgemeine Definition und geschichtliche Einordnung
2.2. Theorie nach W. Iser und H.R. Jauß
2.3. Rezeptionsästhetik als Methode der Textanalyse
3. „In der Strafkolonie“– Eine Textanalyse
3.1. Erwartungshorizonte
3.2. Interpretation unter Berücksichtigung der ‚Leerstellen'
3.3. Grenzen einer hermeneutischen Rezeptionsästhetik
4. Schluss
5. Literaturverzeichnis
5.1. Quellen
5.2. Forschungsliteratur
1. Einleitung
Gegenstand dieser Hausarbeit soll sein, anhand einer kritisch-rezeptions-ästhetischen Analyse des Textes „In der Strafkolonie“ von Franz Kafka aufzuzeigen, an welchem Punkt die hermeneutische Rezeptionsästhetik an ihre eigenen Grenzen stößt und durch eine empirische Literaturwissenschaft ergänzt werden müsste.
Es werden zuerst die beiden Theorien nach W. Iser und H.R. Jauß knapp skizziert, wobei nur die Begriffe und Zusammenhänge eingeführt werden, die eine zentrale Rolle in der anschließenden Analyse einnehmen. Es folgt die allgemeine und auf kein spezielles Werk eingehende Darstellung der Rezeptionsästhetik als Methode der Textinterpretation.
Im Hauptteil wird die Analyse des Textes sich darauf richten, sog. ‚Unbestimmt-heitsstellen’ aufzuzeigen und diese sinngemäß zu füllen. Die persönliche Sinnkonstitution dieser Stellen zeigt teilweise die Abgrenzung zu einer gängigen Interpretation auf, da sie von anderen ‚Erwartungshorizonten’ und historischen Hintergründen geprägt ist. Ziel ist es, anhand der daraus resultierenden Ergebnisse, die Grenzen der hermeneutischen Rezeptionsästhetik zu ziehen und sinnvolle Möglichkeiten der empirischen Umsetzung innerhalb der rezeptionsästhetischen Theorie und auf den vorliegenden Text bezogen, aufzeigen.
Der Schluss soll einen Ausblick über Stärken und Schwächen, auf die im Hauptteil untersuchten Vorgehensweisen der Rezeptionsästhetik, bieten. Warum wählte ich einen Text von Franz Kafka aus? Nicht nur, weil er zu den bedeutsamsten deutschsprachigen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gehört. Seine Werke stehen prototypisch für die Probleme der Interpretation. Das ausgewählte Werk „In der Strafkolonie“ weist eine Vielzahl von sog. ‚Leerstellen’ auf. Aufgrund dieser kafkaesken Eigenschaft eignet sich der genannte Text außerordentlich gut für eine Interpretation nach den Prinzipien der Rezeptionsästhetik.
2. Rezeptionsästhetik
2.1. Allgemeine Definition und geschichtliche Einordnung
Der Begriff der ‚Rezeptionsästhetik’ ist streng genommen eine Begriffskomposition aus der historisch-hermeneutischen Rezeptionstheorie nach Hans Robert Jauß und der phänomenologischen Wirkungstheorie nach Wolfgang Iser.[1]
Beide Hauptvertreter dieses neuen Konzeptes innerhalb der Literaturwissenschaft gelten als die Begründer der sog. ‚Konstanzer Schule’.[2] 1967 hält H. R. Jauß seine Konstanzer Antrittsvorlesung „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“[3]. Der damit eintretende Paradigmenwechsel von der werkimmanenten Interpretationsmethode zu einer dialogischen d.h. die drei Instanzen (Werk, Autor und Leser) berücksichtigende Rezeptionsästhetik, fand weltweites Echo.[4]
Bis Ende der 60er-Jahre galt unter den meisten Literaturwissenschaftlern, dass Analysen, die nicht auf den eigentlich zu betrachtenden Gegenstand selbst gerichtet waren, höchstens eine hilfswissenschaftliche Bedeutung zuteil kam.[5]
Aufbauend auf der hermeneutischen Betrachtungsweise eines Textes, bezieht die rezeptionsästhetische Theorie den Rezipienten mit in den kommunikativen Literaturprozess ein. Grundsätzlich zielt Isers Konzept auf das Wirkungspotential des Textes, welches sich erst durch den wechselseitigen Prozess zwischen Leser und Text individuell entfaltet kann. Die Sinnkonstitution erfolgt demnach erst durch den Lese-Akt und ist in ihren Inhalten vom jeweiligen Leser abhängig.[6]
H.R. Jauß Theorie versucht die Textrezeption in historisch-hermeneutischer Sicht zu analysieren. Der historisch längst vergangene Sinn des Textes soll durch die rezeptionsästhetische Interpretation in der Gegenwart rekonstruiert werden.[7]
Die auch heute noch nicht abgeschlossene Entwicklung der rezeptionsästhetischen Theorie, ist vor allem in der einfachen Integrierbarkeit in andere literaturwissenschaftliche Verfahrensweisen zu begründen.[8]
2.2. Theorie nach W. Iser und H.R. Jauß
Grundlegend für die Theorie nach Iser ist, dass ein Text nur eine Leerform darstellt, an der sich unterschiedliche Aktualisierungsprozesse durch den Interpreten vollziehen. Aufgrund dessen erlangt der Text eine Zeitlosigkeit auf die noch genauer bei der Theorie von Jauß eingegangen wird.[9]
Wie kommen diese‚ Unbestimmtheitsstellen’ im Text zustande? Vorkommende ‚Leerstellen’ beziehen sich in einem fiktionalen Text immer auf einen unformulierten Horizont.[10] Fiktionale Texte berufen sich nicht auf Situationen, die im Leben des Rezipienten vorkommen, somit kann der Leser‚ Unbestimmtheiten’ nicht auf reale Situationen zurückführen, es entsteht ein Bruch.[11]
Dem Leser, als ästhetischer Sinnproduzent, dient zur individuellen und rezipientenspezifischen Aktualisierung der ‚Leere’ letztendlich nur seine eigene Erfahrung.[12] In welchen Ebenen kann ein fiktionaler Text‚ Unbestimmtheiten’ enthalten?
Befinden sich Brüche in der Textsyntax, sind der sichtbare Textaufbau und/oder vorhandene einzelne Satzgefüge nicht immer stringent und es entsteht ‚Unbestimmtheit’. Ist der Zweck von bestimmten im Text realisierten Situationen, Dialogen oder auch die Gesamtfunktion nicht erkennbar, dann liegen die ‚Leerstellen’ in der Textpragmatik. Können im Lektüreprozess einzelne Satzsequenzen, vorkommende Begriffe oder die Gesamtsituation, zu keiner eindeutigen Bedeutung generiert werden, dann existiert ‚Unbestimmtheit’ in der Textsemantik. In jedem Fall spielen die vorkommende Häufigkeit und die Verteilung der einzelnen Typen eine große Rolle auf die jeweilige Leserreaktion.[13]
Nach Jauß und Iser wird der Text erst dann zum eigentlichen Werk, wenn er durch den Interpreten aktualisiert wurde. Das Werk wird nicht als feststehendes Objekt betrachtet, sondern bietet zu verschiedenen historischen Zeiten, differenzierte Anblicke.[14] Da der zu erschließende Sinn ständig überholbar ist, ermöglicht die Rezeptionsästhetik, ein Nebeneinander scheinbar widersprüchlicher Interpretationen.[15] Es gibt keine verbindliche Auslegung eines Textes, sondern immer nur Mögliche.
Jauß vertritt die Auffassung, dass der zeitgenössische Leser den Text durch seine ‚Aktualisierung’ wieder in den ursprünglichen geschichtlichen Kontext zurückführt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Wiederherstellung des damaligen ‚Erwartungshorizontes’ der im ersten Augenblick des Erscheinens vorherrschte. Erst danach wird es dem gegenwärtigen Leser eines Textes möglich sein, die hermeneutische Differenz zu erkennen, die innerhalb des historisch vergangenen Verständnisses und seinem eigenen besteht.[16]
Was beinhaltet der von Jauß eingeführte Begriff des ‚Erwartungshorizontes’ vor dem die Rezeption eines Textes betrachtet werden sollte?
Jedes Werk befindet sich beim ersten Erscheinen, der Gattung gegenüber der es zugeteilt wird, in einer gewissen Erwartungshaltung. Es wird zweitens, in Zusammenhang mit anderen bekannten Werken, die in Form und/oder Thematik ähnlich sind, beurteilt. Das letzte Bezugssystem bildet der Gegensatz zwischen poetischer und praktischer Sprache, dieses ermöglicht dem Leser den ständigen Vergleich zwischen Fiktion und Wirklichkeit.[18] Berücksichtigt der zeitgenössische Leser diese drei Instanzen, dann kann er bei der Rezeption Fragen entwickeln auf die der Text damals Antworten gab.
Der Forscher K.R. Mandelkow definiert drei andere Erwartungshaltungen. Er bezeichnet sie mit den Horizonten der Epochenerwartung, Werkerwartung und der Autorerwartung. Der erste definierte Horizont beinhaltet Vorstellungen von bestimmten Traditionen und Konventionen, in die ein Werk bei Erscheinen eintritt. Die Werkerwartung soll die Verbindung zum prototypischen Werk des jeweiligen Autors, welches eine gewisse Maßstabfunktion für die Folgenden einnimmt, herausstellen. Die Kategorie der Autorerwartung versucht den Schriftsteller mit einem schöpferischen Merkmal zu typisieren und betrachtet die Rezeption unter diesem Gesichtspunkt.[19]
Nach der Rekonstruktion des vergangenen Erwartungshorizontes kann man anhand der damaligen Reaktionen der Rezipienten den ‚Kunstcharakter’ eines Werkes bestimmen. Eine ästhetische Distanz kann in diversen Leserreaktionen sichtbar werden, die von spontaner Zustimmung bis hin zur vollkommenen Abweisung und Entrüstung reichen können. Die Rezeption eines Werkes bei seinem ersten Erscheinen kann bei den Lesern einen ‚Horizontwandel’ zur Folge haben, wenn eine Distanz zwischen erwarteten ästhetischen Erfahrungen und den Dargebotenen besteht. Der ‚Kunstcharakter’ eines Werkes wird rezeptions-ästhetisch an der Spanne dieser Distanz festgemacht.[20]
[...]
[1] Vgl. Thomas Nißlmüller: Rezeptionsästhetik und Bibellese: Wolfgang Isers Lese-Theorie als Paradigma für die Rezeption biblischer Texte. Diss. Mainz 1995. Regensburg: S. Roderer Verlag 1995. S.74-75.
[2] Ebd. S.75.
[3] Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In:
Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Hrsg. von Rainer Warning. München: Fink 1975. S. 1.
[4] Vgl. Nißlmüller 1995: 74.
[5] Vgl. Hermann Kinder u. Heinz-Dieter Weber: Handlungsorientierte Rezeptionsforschung in der
Literaturwissenschaft. In: Methodische Praxis der Literaturwissenschaft. Modelle der Interpretation.
Hrsg. von Dieter Kimpel u. Beate Pinkerneil. O.O.: Scriptor Verlag Kronberg 1975. S. 224.
[6] Vgl. Nißlmüller 1995: 75., 81.
[7] Vgl. Jauß 1975: 8.
[8] Vgl. Neuhaus, Stefan: Im Namen des Lesers. Kafkas Das Urteil aus rezeptionsästhetischer Sicht.
In: Kafkas „Urteil“ und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen. Hrsg. von Oliver Jahraus u.
Stefan Neuhaus. Stuttgart: Reclam 2002. S. 78.
[9] Vgl. Mandelkow, Karl Robert: Probleme der Wirkungsgeschichte. In: Sozialgeschichte und
Wirkungsgeschichte. Dokumente zur empirischen und marxistischen Rezeptionsforschung.
Hrsg. von Peter Uwe Hohendahl. Frankfurt a. Main: Athenäum Verlag 1974. S. 85.
[10] Vgl. Nißlmüller 1995: 77.
[11] Vgl. Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte, Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung
literarischer Prosa. In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis . Hrsg. von Rainer Warning.
München: Fink 1975. S. 232.
[12] Vgl. Nißlmüller 1995: 80.
[13] Vgl. Iser 1975: 241.
[14] Vgl. Jauß 1975: 129.
[15] Vgl. Zens, Maria: Rezeptionsgeschichte. In: Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft.
Von Rainer Baasner unter Mitarbeit von Maria Zens. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1996. S.171
[16] Vgl. Jauß 1975: 136.
[17] Vgl. Warneken, Bernd Jürgen: Zu Hans Robert Jauß’ Programm einer Rezeptionsästhetik. In:
Sozialgeschichte und Wirkungsgeschichte. Dokumente zur empirischen und marxistischen
Rezeptionsforschung. Hrsg. von Peter Uwe Hohendahl. Frankfurt a. Main: Athenäum Verlag
1974. S. 290-298.
[18] Vgl. Jauß 1975: 132.
[19] Vgl. Mandelkow 1974: 90.
[20] Vgl. Jauß 1975: 133.
- Citation du texte
- Melanie Ellrott (Auteur), 2004, Über "In der Strafkolonie" von Franz Kafka: Eine kritisch-rezeptionsästhetische Analyse, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/128178
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