Schon die Unterlassungssünde mit den Aprilthesen gibt einen ersten Hinweis auf die Tendenz des Buches, die Oktoberrevolution positivistisch zu nivellieren, ihren Glanz eines weltgeschichtlichen Ereignisses zu vernebeln, ihre Einzigartigkeit bezüglich der Konstituierung von Anarchie zu schleifen, nachdem die Hoheit des Begriffes der Demokratie sich inflationär verbraucht hat. Die Oktoberrevolution gebar nur am Anfang eine Sternstunde der Demokratie, ihrem Gehalt nach war sie primär auf Anarchie mit sowjet-diktatorischer Demokratie als Zwischenstufe angelegt.
DIE SOWJETUNION VON DER OKTOBERREVOLUTION BIS ZUM UNTERGANG – DIALEKTIK VERSUS METAPHYSIK
Kritik des Buches von Susanne Schattenberg: ‘GESCHICHTE DER SOWJETUNION‘, Von der Oktoberrevolution bis zum Untergang
Heinz Ahlreip
Susanne Schattenberg, Geschichte der Sowjetunion, Von der Oktoberrevolution bis zum Untergang, Beck Wissen, Beck Verlag, München, 2022.
Susanne Schattenberg lehrt als Professorin für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas an der Universität Bremen und ist Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa.
Hannover
Am 14. Juli 2022, ausgerechnet am Jahrestag des Sturms auf die Bastille, hat die an der Universität Bremen Zeitgeschichte lehrende Professorin Susanne Schattenberg im Beck Verlag auch als Direktorin der ebenfalls in Bremen ansässigen Forschungsstelle Osteuropa ein Buch veröffentlicht, dem sie den Titel gegeben hat: Geschichte der Sowjetunion, Von der Oktoberrevolution bis zum Untergang. Das Ganze des Aufstiegs und Falls, das Ganze zwischen Lenins Ankunft am 16. April 1917 auf dem ‘Finnischen Bahnhof‘, Gagarins Raumflug am 12. April 1961 und der Katastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 wird auf 125 Seiten in sehr knapp gehaltenen Kapiteln abgehandelt, die Periode der Doppelherrschaft vom Februar bis zum Oktober 1917 zum Bsp. auf einer Seite (!), wobei die weltgeschichtliche Bedeutung der Weichenstellung durch die Aprilthesen unter den Tisch fällt, die Kuba-Krise im Oktober 1962 auf einer halben (!). Das ist bedenklich genug, zumal die Doppelherrschaft nicht vom Himmel fiel, sondern ihre Vorgeschichte in der zunehmenden Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki in der russischen Arbeiterbewegung seit dem Jahrhundertwechsel hatte. Aber auch sonst hält die Dame sich bedeckt: “Noch im Frühjahr 1991 sagten in einer repräsentativen Umfrage drei Viertel der Bevölkerung, dass die Sowjetunion erhalten bleiben sollte“ (Seite 112). Das Repräsentative sollte hier doch näher erläutert werden. Um was für eine Umfrage handelte es sich? Schon die Unterlassungssünde mit den Aprilthesen gibt einen ersten Hinweis auf die Tendenz des Buches, die Oktoberrevolution positivistisch zu nivellieren, ihren Glanz eines weltgeschichtlichen Ereignisses zu vernebeln, ihre Einzigartigkeit bezüglich der Konstituierung von Anarchie zu schleifen, nachdem die Hoheit des Begriffes der Demokratie sich inflationär verbraucht hat. Die Oktoberrevolution gebar nur am Anfang eine Sternstunde der Demokratie, ihrem Gehalt nach war sie primär auf Anarchie mit sowjet-diktatorischer Demokratie als Zwischenstufe angelegt. Es ist bezeichnend, dass Schattenberg die über die Sowjetentwicklung Anarchie ebenfalls zum Inhalt habenden Thesen übergeht, aber haargenau die blassen Regierungswechsel in der Periode der Doppelherrschaft der Chronik gemäß aufführt. Die Faktensklavin verfügt nicht frei über ihren Stoff, Geschichte verkommt zu einem problemfreien Faktenpuzzle. Fakten zu puzzeln, weist noch nicht die Tragik dieser roten Revolution nach, sie war eine weltgeschichtliche und blieb eine weltgeschichtliche ohne entscheidenden überspringenden Funken, sie steigerte sich nicht, wie allseits erwartet, in eine weltrevolutionäre. Das Wort ‘Weltrevolution‘ übte und übt eine ungeheure Suggestivkraft aus. Im Buch Schattenbergs ist untergegangen, dass die Oktoberrevolution die erste Revolution in der Geschichte mit einem Plan B war. Rosa Luxemburg hat die Sache falsch dargestellt, wenn sie in ihrer Kritik an der russischen Revolution die Behauptung aufstellt, die Bolschewiki hätten ein fertiges Revolutionskonzept aus der Tasche gezogen. Lenin hatte mehrmals darauf hingewiesen, dass auf Grund der ökonomisch ungleichmäßigen Entwicklung der einzelnen Länder in der Ära des Imperialismus, der keine eigenständige ökonomische Gesellschaftsform darstellt, sondern das höchste Stadium des Kapitalismus, der Sieg des Sozialismus auch in einem Land möglich sei. Die Existenz dieses Plan B mit dem Schwerpunkt der Entwicklung der Schwerindustrie ist unumstritten. Los geht es, wenn Trotzki im Gegensatz zu Lenin die Sowjetunion als grundsätzlich zurückgebliebenes Land ausgibt und verneint, dass die Sowjetarbeiter und Sowjetingenieure in der Lage seien, den hundertjährigen technologischen Rückstand gegenüber dem Westen in 10 Jahren aufzuholen. Wer nach dem 8. Mai 1945 noch Anhänger Trotzkis oder Hitlers ist, gehört ganz einfach mit dem Lasso eingefangen und unter die Kängurus Australiens ausgesetzt. “Über den Trotzkismus bin ich zum Faschismus gelangt“, hatte Sinowjew vor dem Richter Ulrich gebeichtet, als er sich als Hauptorganisator des Mordes an Kirow schuldig bekannte.
Die Oktoberrevolution war eine weltgeschichtliche und blieb eine weltgeschichtliche ohne entscheidenden überspringenden Funken, sie steigerte sich nicht, wie allseits erwartet, in eine weltrevolutionäre. Alle Bolschewiki waren im Revolutionsjahr 1917 uroptimistisch, sahen die ganze Welt in Flammen, der deutsche Marxist Mehring hatte im Ausklang des 19. Jahrhunderts bereits geschrieben, dass das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der Erfüllung für das klassenbewusste Proletariat werden würde.1 In diesem Ende 1899 von Franz Mehring ausgesprochenen Wort ‘Erfüllung‘ liegen mehrere weltgeschichtliche Dimensionen. Es fällt an der Schwelle des Übergangs vom klassischen Konkurrenzkapitalismus zum imperialistischen Monopolkapitalismus. Lenin wird diesen 1916 als bereits sterbenden Kapitalismus charakterisieren, die Weltkatastrophe des ersten Weltkrieges führte zu seinem Ende die Revolutionäre zu dem verzeihbaren Kurzschluss, dass die Zeit bereits auch weltweit gekommen sein müsse. Aber statt der Schlag auf Schlag zündenden Kettenreaktion kam es zu einem langen und qualvollen Prozess, den Marx im ‘Achtzehnten Brumaire‘ als Grundzug der proletarischen Revolution prognostiziert hatte. Im Gegensatz dazu sei die bürgerliche Revolution in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts in Feuerbrillanten gefasst gewesen. Soweit Marx. Durch das Scheitern dieser 1815 bei Waterloo, nach dem Scheitern der 48er Revolution und nach der Niederlage der Pariser Commune 1871 ging die Hauptinitiative der revolutionären Umgestaltung der bürgerlichen Gesellschaft nach Deutschland über. Die disziplinierte deutsche Sozialdemokratie mit ihren Hauptrepräsentanten Wilhelm Liebknecht und August Bebel an der Spitze geriet zum Zugpferd der proletarischen Weltrevolution. Auch am 1. August 1914 richteten sich die Augen der proletarischen Welt auf sie. Und dann das kaum in Worte zu kleidende Versagen in der Frage der Kriegskredite, das Franz Mehring noch miterleben musste. Bebel war 1913, Liebknecht 1900 verstorben. Lenin hielt die Nachricht darüber zunächst für eine Fälschung des russischen Geheimdienstes. Zudem taten sich die deutschen Spartakisten schwer mit der Notschlachtung des zur wilden konterrevolutionären Bestie gewordenen Zugpferdes, insbesondere Rosa Luxemburg hing der konterrevolutionär gewordenen SPD lange am Hals, obwohl sie verbal die schärfte Kritikerin dieser volksfeindlich gewordenen Partei war. Sie sprach vom “kühnen Wurf“ der Bolschewiki und ging so weit, dem internationalen Proletariat die Schuld zu geben, dass die russische Revolution isoliert geblieben war. Das ist doch ein bemerkenswerter Gedanke, den Frau Schattenberg außer Acht lässt, der Name Luxemburg fällt nicht einmal, obwohl von ihr etliche Schriften zur Oktoberrevolution vorliegen, die zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Jahrhundertereignis unverzichtbar sind. Durch diese Isolation wurde das 20. Jahrhundert nicht eines der Erfüllung, sondern eines der Extreme, wie Eric Hobsbawm es charakterisierte. So brachen durch die Extreme hindurch die dialektischen Konturen der Geschichte im 20. Jahrhundert sehr deutlich hervor. Wenn die Oktoberrevolution im 20. Jahrhundert auch am 8. Mai 1945 überlebte, so wird sie sich nicht schrecken lassen, wenn die Revolutionäre extrem und dialektisch denken: Gerade der Sieg der Konterrevolution im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt, dass die Niederlage der Revolution nichts Endgültiges ist. Die Imperialisten nehmen nach ihrem Sieg über die den Weltfrieden anstrebende Rätedemokratie zurzeit Anlauf zu einem dritten Weltkrieg, durch den sie die Frage: Weltfrieden im Sinne Lenins und des Sowjetgedankens oder atomarer Weltsupergau auf die Tagesordnung setzen - dank den Imperialisten. Dank den Imperialisten!
Zum Beispiel bleibt von der Professorin vor lauter Puzzeln auch die Frage unerörtert, ob die Oktoberrevolution als proletarische unzeitgemäß kam, zu früh, wie die Gegner Lenins, allen voran Kautsky, behaupteten. Der Positivismus erzählt Geschichte daher, wobei die Faktentreue als Ausweis wissenschaftlicher Herangehensweise vorgelegt wird. Von dieser Seite her ist nichts zu bemängeln, aber durch diesen Ansatz kommt es immer wieder zu inhaltlichen Kurzschlüssen. Es wird nicht herausgearbeitet, dass der ökonomische Höhepunkt der Entwicklung der SU mit dem Namen Stachanow, der politische und juristische mit dem Namen Bucharin verbunden ist. Diese Trauben hingen ihr zu hoch und an der Spitze des von der Schlange der Wissenschaft umwundenen Baumes hängt der bitterste und zugleich süßeste Apfel: Wie hängen die 1935 beginnende Stachanow-Bewegung, von Schattenberg auf einer halben Seite abgehandelt, und die von bürgerlichen Ideologen sogenannten drei großen Moskauer Schauprozesse, von Schattenberg auf etwas mehr als einer Seite abgehandelt, untereinander zusammen? Nach der Ermordung Kirows am 1. Dezember 1934 verkündete Stalin, dass sich der Klassenkampf verschärfe gemäß Lenins Lehre, dass der Widerstand der Konterrevolutionäre zunehme, je weiter der Sozialismus voranschreite. Die Revisionisten behaupten das Gegenteil. Einen Fortschritt des Sozialismus erkennt man daran, dass es in der Landschaft der politischen Parteien einen Kahlschlag gegeben hat, es gibt nur noch im Zuge der Emanzipation der Gesellschaft von Klassenkämpfen Kommunisten und Parteilose, ohne ein antagonistisches Verhältnis zueinander zu haben. Die entscheidende Frage im Komplex Moskauer Prozesse wird gar nicht aufgeworfen: Die von Trotzkisten 1937 in den USA gegründete Dewey-Kommission zwecks Untersuchung der Moskauer Prozesse kam 1938 zu dem Ergebnis, dass es sich nachweisbar um eine “judicial conspiracy“ (einen Justizkomplott) gehandelt habe. Wir verlangen von der Professorin ja nicht, dass sie die Frage der von trotzkistischer Seite behaupteten Moskauer Menschenrechtsverletzungen beantwortet, was in der Tat ein Extrathema wäre, aber die Frage aufzuwerfen, das darf doch wohl verlangt werden. Die Staatsanwaltschaft Moskaus sprach von konspirativen Treffen trotzkistischer Terroristen 1932 im Kopenhagener Hotel Bristol. In seinem `‘Rotbuch über die Moskauer Prozesse‘ behauptet Trotzkis Sohn Sedow, das Hotel sei 1917 geschlossen, das Gebäude 1917 abgerissen worden. Merkwürdig nur, dass man unter der Hotelliste im Kopenhagener Telefonbuch noch 1968 das Hotel Bristol aufgeführt finden konnte. Der Abriss muss also nichts bedeuten. Das nur als kleiner Anreiz für die Forschung. Aber nicht das Quantitative ist es eigentlich. Inhaltlich ist es ein dummes Buch, inhaltlich ist es ein dreistes Buch, inhaltlich ist es ein dummdreistes Buch, inhaltlich ist es ein metaphysisches Buch, ein parteiisches Buch nach dem Geschmack kapitalistischer Parasiten. Mit dieser Beurteilung kann man noch nicht ganz zufrieden sein – es ist vor allem ein schäbiges, antikommunistisches Buch, und bei einem schäbigen Buch darf man hinten, mit der Literaturliste, beginnen.
Sie offenbart, dass sich Schattenberg aus Feindmaterial bedient. Der letzte Schrei der augenblicklichen anglo-amerikanischen Pseudoforschung, der sich stets in Kürze als Schrott erweist, wird herangezogen, nicht aber, um sie kritisch zu durchleuchten, wie es sich gehört, sondern um sich aus ihr zu speisen. Das Gegengewicht fehlt völlig, die Namen Hegel, Marx, Engels, Lenin und Stalin finden wir nicht auf der Liste. Das Buch hat damit keine Fundamente bar der dialektischen Methode, zumal die Dame meint, auch ohne die offiziellen Geschichten der KPs auskommen zu können. Kein seriöser Historiker würde sich unterstehen, eine Geschichte der napoleonischen Kriege ohne Berücksichtigung der General Coulaincourt diktierten 12bändigen Memoiren Napoleons zu schreiben, bei den Arbeitern geht das offensichtlich. Es liegt also ein Buch vor, im Hintergrund ohne Klassiker, ohne Dialektik, ohne Primärliteratur. Auch fehlt die Lehre vom Klassenkampf. So muss Schattenberg die Frage offenlassen, war Stalin ein radikaler Modernisierer oder ein Fortsetzer der traditionalen Clan-Welt des Kaukasus? Wo sind wir nur hingeraten? Die entscheidende Fragestellung liegt gar nicht vor: Wie und wann konnte die quantitative Entwicklung in der Sowjetunion in eine negative Qualität zurückschlagen, dass folgende Grundeinstellung der Mehrheit der russischen Völker zum Lebensinhalt der sowjetischen Republiken werden konnte: Die noch nicht begangenen konterrevolutionären Schandtaten lagen im Grunde der Herzen schon vor und zu ihrer Ausführung bedurfte es nur noch der Zusicherung der Straffreiheit. Die Konterrevolution ist feige, sie reiht sich beim Brechen von Tabus ins zweite Glied ein. Das erfolgte Schritt auf Schritt. So schlich sich die Konterrevolution heran, nie offen, sondern mit marxistisch-leninistischem Vokabular auf den Lippen. In seiner sogenannten Geheimrede, die sich lediglich auf die Zeit von 1934, also ab dem XVII. Parteitag, dem der Sieger, von dem 70 % der Mitglieder und Kandidaten des ZK liquidiert wurden, bis 1953 bezieht, ist Chruschtschow stets bemüht, die Verdienste Stalins über die seiner Mängel zu stellen, um zu belegen, dass eine Kritik an Stalin zu seinen Lebzeiten kontraproduktiv gewesen wäre. Er sei kultartig in übertriebenen Maßen herausgestellt worden. Die Sowjetvölker hätten eine solche Kritik nicht verstanden. So wird aber der Marxismus nicht als wissenschaftlicher Sozialismus wiedergegeben, sondern als Waffe zur Manipulierung von Massen. Schon in der Geheimrede deutete sich an, dass die KPdSU Stalin fünf Jahre neben Lenin im Mausoleum ohne viel Widerspruchsbisse liegen lassen konnte, ehe 1961 der führende Kopf der Bezwinger des Hitlerfaschismus ostentativ von seinem Lehrer losgerissen, aus dem Lenin-Stalin-Mausoleum entfernt wurde. Jetzt erst hatte die revisionistische Perversion ihren Höhepunkt erreicht. Die Geschichte der Sowjetunion ist vor allem als Perversion darzustellen. Zu dieser Fundamentaleinsicht muss sich illusionslos durchgerungen werden. Gerade aus der sowjetisch-marxistischen Tradition heraus speisten sich die Revisionisten und liefen rot an. Es gab auch unter der roten Sonne Revolution und Revolution, eine in aufsteigender und eine in absteigender Linie. Marx exemplifiziert diese in seiner Analyse der 48er Revolution in Frankreich (Siehe ‘Die Klassenkämpfe in Frankreich‘ und der ‘Achtzehnte Brumaire‘). Wenn man, wie Schattenberg, nicht über dieses Begriffspaar verfügt, kann die Darstellung der Geschichte der Sowjetunion leicht missraten. Befand sich die Sache der Entwicklungswege Richtung: Weiterentwicklung der Revolution oder Konterrevolution? bis 1958 noch in der Schwebe, so wurde das Land durch die Auflösung der MTS (Maschinen-Traktor-Stationen) im Jahr 1958 unwiderruflich zunehmend in die Bahn der Warenzirkulation geworfen. Monokausal kann der Zusammenbruch der SU nicht erklärt werden, die Auflösung der Stationen, vor der Stalin noch 1952 nachdrücklich gewarnt hatte, aber war der Hauptfaktor. Von nun an gings bergab. Es gab damals in der SU vereinzelte, warnende Stimmen, die den tauben Brei der Konterrevolution aber nicht mehr durchdringen konnten. Zu verweisen ist hier zum Bsp. auf das 1970 in Zürich erschienene Buch von Andrei Amalrik, der an der Lomonossow-Universität Geschichte ohne Abschluss (zwangsexmatrikuliert) studiert hatte: ‘Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 überleben?‘ Das Buch wurde in mehrere Sprachen übersetzt, ohne aber in die Geschichte einzugehen. Das Siechtum dauerte über 30 Jahre, ein langsamer, qualvoller Tod, der erst gegen Ende Fahrt aufnahm. Ab 1987 waren Joint Ventures mit dem Ausland erlaubt. Schattenberg schreibt: “1988 bekamen Unternehmen das Recht, Arbeitskräfte zu entlassen und ihre Produktionspläne selbst zu festzulegen.“ (Seite 116). Das Wort ‘Unternehmen‘ ist unpassend, die es ja erst durch diese Rechtszusprechung wurden. Ab 1989 konnte Grund und Boden gepachtet und Sowchosen und Kolchosen in Privatwirtschaften verwandelt werden. Nun war es bereits viel zu spät. Die Warnung Rousseaus: ‘Ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde keinem‘ und die Warnung Stalins: ‘Der kapitalistische Wolf schläft nicht‘ galten nicht mehr und wurden von einer Polit-KGB-KP-Mafia, die die Bereicherungsorgie gar nicht abwarten konnte, in den `Wind of Change‘ zerstreut. Der Sprecher von Gorbatschows Außenminister Scherwardnadse sprach von einer grassierenden Sinatra-Mentalität in der Sowjetunion: “I did it my way“. Die proletarischen Gedanken der Solidarität und der Kollektivität waren bereits leichenblass. Statt Rousseau und Stalin folgte man den Scorpions und Frank Sinatra. Da haben wir die musikalische Umrandung der politischen Meisterwerke der Mafia, durch die heute Tausende und Abertausende ukrainische Arbeiter und Bauern ihr Leben einbüßen und durch die Tausende und Abertausende Arbeiter- und Bauernfamilien im kommenden Winter in der BRD, und nicht nur in ihr, vor Kälte bibbern werden. Auf den Straßen ist der Tod von Obdachlosen angesagt. Die Welt zappelt heute am Abgrund eines dritten Weltkrieges. Kein Wunder, wenn man von dem richtigen Weg abbiegt: Marx, Engels, Lenin, Stalin, Scorpions, Sinatra. 1990 veröffentlichten die Scorpions auf dem Album ‘Crazy World‘ den die Perestroika Gorbatschows anhimmelnden Song ‘Wind of Change‘ mit der Zeile: “Die Welt kommt sich näher, Dachtest Du jemals, wir konnten uns so nah sein wie Brüder“. Diese perverse und alberne konterrevolutionäre Variante der Brüderlichkeit ist heute völlig den Bach runtergegangen. Wir befinden uns heute immerhin schon wieder auf dem Niveau des großen antiken Dialektikers Heraklit: ‘Der Krieg führt die Menschen zusammen‘. Das ist ein Fortschritt. Es galt schon während der Perestroika gegen ihr ganzes humanistisches Geschwafel Kurs zu halten: Lösung der sozialen Klassenfragen durch Klassenkriege.
Spätestens seit dem großen neuzeitlichen Dialektiker Hegel wissen wir in Deutschland, dass man sich in den Kreis der Stärke der Logik des Gegners zu stellen hat, um ihn durch diese Logik selbst einer wissenschaftlichen Haltlosigkeit zu überführen. Die oberflächlichen Antihumanisten können sich eben der Methode der ‘immanenten Kritik‘ nicht bedienen. Wie originell, ein Buch über die ganze Geschichte der Sowjetunion zu schreiben, ohne eine Zeile von den Klassikern gelesen zu haben! So kann man zum Bsp. die ganze Geschichte der Sowjetunion ab 1950, also den größeren Teil ihrer Geschichte, ohne Stalins brillante Studie über die ökonomischen Probleme der SU gar nicht verstehen. Die Sowjetunion wurde am 30. Dezember 1922 gegründet, 28 bzw. 27 Jahre fallen in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, sie wurde am 26. Dezember 1991 aufgelöst, 41 in die zweite.
Hätte die Professorin Stalins Studie intensiv studiert, wäre in der 1958 akuten Frage der eine Weichenstellung vornehmenden Auflösung der Maschinen-Traktor-Stationen nicht so ein Kuddelmuddel entstanden wie bei ihr. MTS waren in sozialistischen Ländern Einrichtungen, in denen die Bauern landwirtschaftliche Maschinen und Traktoren zur Nutzung ausleihen konnten. Der Schlüssel zum Zerfall liegt keineswegs in der revisionistischen Dekadenz einer KPdSU, diese kann nur Reflex ökonomisch bedingter Schwergewichtsverlagerungen in den Klassenkonstellationen sein, man muss tiefer gehen, zu Fehlentscheidungen an der ökonomischen Basis. Die Oktoberrevolution hat an dem dialektischen und historischen Materialismus keine markante, die Klassik entstellende Gesichtsoperation vorgenommen, im Gegenteil, selbst auch noch die Ergründung der Dekadenzphase der aus der Oktoberrevolution geborenen Gesellschaftsformation unterwirft uns äußerster dialektischer Disziplin. Der harte Kern der Marxisten-Leninisten hatte gut daran getan, sich gegen die Perestroika-Ideologie zu immunisieren, die überschwappte und durch einen gefährlichen Pluralismus des ‘anything goes‘ gerade in den Gesellschaftswissenschaften sich als gänzlich unfähig zeigte, den Gang der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu begreifen. Die ihr anhängenden Gesellschaftswissenschaftler landeten durch sie in der Gosse, auch wenn ein paar Professorenpöstchen für sie abfielen. Es war eine Zeit, in der das Pseudowissenschaftliche ins Quadrat erhoben wurde. Es ergab sich zwangsläufig eine Flut von Fälschungen der Sowjetgeschichte. Die Stunde der Gaukler, der Erzählkünstler schlug, die gegen die Auflage, sich den objektiven Geboten gesellschaftlicher Prozesse zu unterwerfen, aus subjektiver Erhabenheit heraus grinsten und einer ideologisch nicht sattelfesten Meute entgegenkam, die ihre eklektischen Bettelsuppen für das letzte Wort der Gesellschaftswissenschaften nahm. Man kann den Perestroika-Ideologen eine Aufklärungsgestik nicht absprechen, aber nur die Gestik nicht. Dass der Mensch auch in der Phase sich steigernder technisch-industrieller Revolutionen ohne Wissenschaft frei werden könne, das beinhaltete der inhumane Kern der Perestroika. Die Verheerungen erleben wir heute. Gelingt es nicht, die bürgerlichen Politiker, diese Zwergmissgeburten, ohne Rücksicht auf Verluste von der Kommandobrücke der Weltgeschichte zu stoßen, taumelt die Menschheit einer Krisenakkumulation entgegen, die direkt in einen dritten Weltkrieg führen muss. Es muss bis in den letzten Wirbel der Wirbelsäule, bis in die letzte Faser des Gehirns hinein begriffen werden, dass Kreaturen, die den kapitalistischen Parasiten hörig sind, Feinde der Völker und Feinde des Weltfriedens sein müssen, dass diese mit ihren sprachlichen Blendwerken in den sich rasant zuspitzenden Weltkrisen kein Existenzrecht beanspruchen dürfen. Wir müssen der bitterernsten Realität ins Auge schauen: Schon heute ist die Frage: Soll die arbeitende Menschheit oder soll eine Handvoll imperialistischer Parasiten dem Untergang entgegengehen? mehr als eine sich am fernen Horizont abzeichnende Kontur. Kurz vor dem roten Oktober ergab sich 1917 aus der russischen Februarrevolution heraus eine zugespitzte Klassenkampfkonstellation, die alternativ in die Namen: Lenin oder Kornilow? zusammengefasst wurde. Kornilow siegte 74 Jahre später. Einen Mittelweg zwischen Kapitalismus und Sozialismus kann es auch heute nicht geben, auf dem Mittelweg werden die Proletarier von Soldaten Kornilows totgeschlagen. Wenn Marx aus der Niederlage der Pariser Commune die auch in marxistischen Kreisen kaum beachtete Schlussfolgerung zog, dass “der heutige Bourgeois sich für den rechtmäßigen Nachfolger des ehemaligen Feudalherrn ansieht“2, um wieviel mehr muss das nach der Niederlage der Sowjetunion gelten? Die imperialistische Bourgeoise verfault mit sozialdemokratischem Support auf feudalistische Manier, denn Imperialismus bedeutet politische Reaktion auf der ganzen Linie. Hatte nicht schon der erste Weltkrieg den Vorhang beiseitegeschoben und auf dem Kriegstheater die SPD als stinkenden Leichnam präsentiert?
[...]
1 Franz Mehring, Gesammelte Schriften, Band 14, Berlin, 1975, 319
2 Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: Karl Marx / Friedrich Engels: Ausgewählte Werke, Progress Verlag Moskau, 1975, 321
- Quote paper
- Heinz Ahlreip (Author), Susanne Schattenberg. Geschichte der Sowjetunion, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1280656
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