Das Thema Armut gerät zunehmend in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Während meiner Recherchen bin ich immer wieder auf Zeitungsartikel über die stetig steigende Anzahl der Sozialhilfeempfänger in Deutschland gestoßen. Dies ist wiederum ein Zeichen für die zunehmende Anzahl einkommensschwacher Haushalte. Natürlich sind hiervon auch Kinder und Jugendlichen betroffen, da Kinderarmut das Resultat von Erwachsenenarmut ist. Ein Artikel des Münchner Merkurs vom 21. Februar 2003 beginnt mit folgenden Worten:
„Die Zahl der Sozialhilfeempfänger in der Landeshauptstadt ist im Vergleich zum Jahr 2001 um etwa sieben Prozent gestiegen. ... Trotzdem steht München damit noch gut da. Das belegt der jüngste Vergleich mit 15 anderen deutschen Großstädten ...“.
Am selben Tag lautete eine andere Überschrift der gleichen Zeitung:
„Kein Geld für eine Portion Pommes“.
Am 29. Oktober 2002 schreibt der Starnberger Merkur „...Wenn in München jedes 16. Kind von der Sozialhilfe leben muss, sind die Weichen verkehrt gestellt ...“
Ist von Armut die Rede, denken die meisten von uns an Menschen in Entwicklungsländern.
Natürlich ist Armut immer relativ zu sehen und im Vergleich zu Ländern der sogenannten Dritten Welt, in denen Menschen verhungern, geht es den Armen bei uns ungleich besser. Jedoch gibt es auch in Deutschland Armut, in jeder Stadt und in ländlichen Gebieten.
Doch was heißt es, in einer reichen Gesellschaft arm zu sein? Welches Ausmaß hat Kinder- und Jugendarmut, wie sind die Sozialisationsbedingungen, wer ist am meisten von Armut betroffen und welche Folgen und Reaktionen kann die Armutslage mit sich ziehen? Dies sind Fragen, die ich mit Schwerpunkt auf Kinder und Jugendliche diskutieren möchte.
Die Aktualität des Themas wird mir des weiteren durch den im Frühjahr 2001 erschienenen ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung deutlich.
Die vorhandene Armut ist somit regierungsamtlich anerkannt worden.
Dennoch steckt die Beschäftigung mit dem Thema Armut bei Kindern- und Jugendlichen noch in den Kinderschuhen und wird in der Literatur wenig beachtet.
Da Armut ein zentrales Anliegen der Sozialen Arbeit ist, überrascht es, dass bisher hierauf theoretisch, methodisch und konzeptuell noch nicht genügend eingegangen worden ist.
Ziel dieser Arbeit ist es daher, zu versuchen, die Lücke ein Stück weit zu schließen.
Inhaltsverzeichnis
1.0 Vorwort
2.0 Arten der Armut
2.1 Versuch einer Annäherung an die verschiedenen Armutsansätze
2.1.1 Die Einkommensarmut/Ressourcenkonzept
2.1.2 Bekämpfte Armut
2.1.3 Verdeckte (latente) Armut
2.1.4 Relative Armut
2.1.5 Subjektive Einkommensarmut
2.2 Mehrdimensionales Armutskonzept
2.2.1 Der Lebenslagenansatz/Lebensstandardansatz
2.2.2 Milieubezogene und subjektive Armutskonzepte
2.2.3 Eine kind- und jugendgerechte Armutsdefinition
2.3 Die „Neue Armut“
3.0 Einkommensarmut bei Kindern
3.1 Umfang der Kinder und Jugendarmut
3.1.1 Alleinerziehenden-Haushalte
3.1.2 Kinderreiche Familien
3.1.3 Ausländische Familien
3.1.4 Familien mit Arbeitslosigkeit des/der Ernährers/In
3.2 Politik erzeugt Armut
4.0 Systemtheorie
4.1 Der prozessual-systemische Ansatz von Sylvia Staub-Bernasconi
5.0 Zeitliche Phänomene der Armut
5.1 Dauer der Armut
5.2 Vererbte Armut
6.0 Mögliche Folgen der Armut im Kindes- und Jugendalter -Eine Minderung der Lebensqualität?
6.1 Veränderungen im Wohnbereich/ Wohnumfeld
6.2 Auswirkungen auf die Gesundheit
6.2.1 Vernachlässigung
6.2.1.1 Was gewährleistet das Kindeswohl?
6.3 Freizeit und Konsum
6.3.1 Konsumverhalten der Kinder
6.3.2 Materielle Einschränkung
6.4 Auswirkungen auf Schule und Ausbildung
6.5 Auswirkungen im kulturellen Bereich
7.0 Umgang mit und Wege aus der Armut
7.1 Bewältigung nach Walper
7.2 Mögliche Bewältigungsstrategien
7.2.1 Verschuldungsproblematik bei Jugendlichen
7.2.2 Arbeitsaufnahme
7.2.3 Kriminalität
7.2.4 Resignation
7.2.5 Bewältigungsformen der Eltern
8.0 Herausforderung an die Soziale Arbeit und die Sozialpolitik
8.1 Institutionen
8.1.1 Das Jugendamt
8.1.2 Das Wohnungsamt
8.1.3 Allgemeiner Sozialdienst (ASD)
8.2 Hilfemöglichkeiten zur Verbesserung der Lebenssituation
8.2.1 Sozialpädagogische Familienhilfe
8.2.1.1 Empowerment als Denkrichtung
8.2.1.2 Merkmale der Sozialpädagogischen Familienhilfe
8.2.1.3 Die verschiedenen Ansätze der SPFH
8.2.1.4 Was muss noch getan werden
8.3 Verbesserung der gesundheitlichen Lage
8.3.1 Kritik
8.4 Möglichkeiten der Hilfe in Bezug auf Schule und Ausbildung
8.4.1 Kritik
8.5 Möglichkeiten in Bezug auf den kulturellen Bereich und dessen Verbesserung
8.6 Gemeinwesenarbeit und Sozialplanung
8.7 Sozialpolitik
9.0 Schlusswort
Literaturliste
Anhang
9.1 Interview und Fallbeispiel Frau U
9.2 Auswertung des Fallbeispiels
Erklärung nach § 31 Abs. 7 RaPo
Verzeichnis der Abbildungen, Diagramme und Tabellen
Tabelle 1: Differenzierung der Bezieher von Sozialhilfe nach Geschlecht und Altersgruppenzugehörigkeit (2001)
Tabelle 2: Kindliche Lebenslagendimensionen
Tabelle 3: Lebens- und Familienformen armer und nicht-armer Kinder im
Vergleich
Tabelle 4: Armutsquoten 1) von Kindern und Jugendlichen nach Nationalität, Familientyp und Haushaltsgröße (1998)
Tabelle 5: Einkommensarmut im Zeitraum 1991 bis 1995:
Tabelle 6: Ernährung von Kindern und Jugendlichen (11 bis 15 Jahre) nach sozialer Ungleichheit:
Grafik 1: Bedürfnispyramide nach Maslow
Grafik 2: Stresstheoretisches Modell nach Walper:
Diagramm 1: Entwicklung der Kinder- und Jugendkriminalität in Deutschland
1.0 Vorwort
Das Thema Armut gerät zunehmend in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Während meiner Recherchen bin ich immer wieder auf Zeitungsartikel über die stetig steigende Anzahl der Sozialhilfeempfänger in Deutschland gestoßen. Dies ist wiederum ein Zeichen für die zunehmende Anzahl einkommensschwacher Haushalte. Natürlich sind hiervon auch Kinder und Jugendlichen betroffen, da Kinderarmut das Resultat von Erwachsenenarmut ist. Ein Artikel des Münchner Merkurs vom 21. Februar 2003 beginnt mit folgenden Worten:
„Die Zahl der Sozialhilfeempfänger in der Landeshauptstadt ist im Vergleich zum Jahr 2001 um etwa sieben Prozent gestiegen. ... Trotzdem steht München damit noch gut da. Das belegt der jüngste Vergleich mit 15 anderen deutschen Großstädten ...“.
Am selben Tag lautete eine andere Überschrift der gleichen Zeitung:
„Kein Geld für eine Portion Pommes“.
Am 29. Oktober 2002 schreibt der Starnberger Merkur
„...Wenn in München jedes 16. Kind von der Sozialhilfe leben muss, sind die Weichen verkehrt gestellt ...“
Ist von Armut die Rede, denken die meisten von uns an Menschen in Entwicklungsländern. Natürlich ist Armut immer relativ zu sehen und im Vergleich zu Ländern der sogenannten Dritten Welt, in denen Menschen verhungern, geht es den Armen bei uns ungleich besser. Jedoch gibt es auch in Deutschland Armut, in jeder Stadt und in ländlichen Gebieten.
Doch was heißt es, in einer reichen Gesellschaft arm zu sein? Welches Ausmaß hat Kinder- und Jugendarmut, wie sind die Sozialisationsbedingungen, wer ist am meisten von Armut betroffen und welche Folgen und Reaktionen kann die Armutslage mit sich ziehen? Dies sind Fragen, die ich mit Schwerpunkt auf Kinder und Jugendliche diskutieren möchte.
Die Aktualität des Themas wird mir des weiteren durch den im Frühjahr 2001 erschienenen ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung deutlich. Die vorhandene Armut ist somit regierungsamtlich anerkannt worden.
Dennoch steckt die Beschäftigung mit dem Thema Armut bei Kindern- und Jugendlichen noch in den Kinderschuhen und wird in der Literatur wenig beachtet. Da Armut ein zentrales Anliegen der Sozialen Arbeit ist, überrascht es, dass bisher hierauf theoretisch, methodisch und konzeptuell noch nicht genügend eingegangen worden ist.
Ziel dieser Arbeit ist es daher, zu versuchen, die Lücke ein Stück weit zu schließen.
2.0 Arten der Armut
2.1 Versuch einer Annäherung an die verschiedenen Armutsansätze
Armut ist ein umfassendes Phänomen, das vielfache Defizite in den verschiedensten Bereichen wie Arbeit, Gesundheit, Bildung, Wohnen und die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben zur Folge haben kann. Armut ist mehr, als nur eine finanzielle Notlage. Aus diesem Grund, kann keine klare Definition, was unter Armut zu verstehen ist, gegeben werden. Weiter macht die politisch-normative Relevanz des Themas eine eindeutige Festlegung dieser Definition schwierig. Auf Grund seiner ganzheitlichen Einflüsse gibt es unterschiedlichen Kriterien für Armut, die zu verschiedenen Armutsbegriffen und abweichenden Größenordnungen der von Armut betroffenen Personengruppen, führen.
In der sozialpolitischen und wissenschaftlichen Armutsforschung haben sich Basiskonzepte herauskristallisiert, die eine Annäherung an das was unter Armut zu verstehen ist, liefern. Zu unterscheiden sind überwiegend am Einkommen orientierte eindimensionale Darstellungen, wie das sogenannte Ressourcenkonzept sowie mehrdimensionale Armutskonzepte, die auf die tatsächliche Versorgungslage der Betroffenen in ausgewählten Lebensräumen abstellen.
In Deutschland ist es nicht sinnvoll von Armut im absoluten Sinn zu sprechen (primäre Armut). „Menschen in absoluter A. verfügen nicht über die zu ihrer Lebenserhaltung notwendigen Güter wie Nahrung, Kleidung, Obdach und Mittel der Gesundheitspflege.“ (Stimmer, 2000, S. 49). Im Falle absoluter Armut ist die physische Existenz und Überlebensfähigkeit des Menschen nicht gesichert. Diese Form von Armut ist hauptsächlich in Ländern der sog. Dritten Welt sowie in osteuropäischen Staaten anzutreffen. In modernen Industriegesellschaften spricht man dagegen von einem „relativen“ Armutsbegriff. Armut wird hier in Bezug zum allgemeinen Gesellschaftswohlstand der jeweiligen Bezugsgruppe gestellt. Sie ist deshalb an die gesellschaftliche Entwicklung gebunden und dynamisch zu sehen.
2.1.1 Die Einkommensarmut/Ressourcenkonzept
Die Unterausstattung mit ökonomischen Mitteln wird grundsätzlich als Armut definiert, wobei hier das Einkommen die einzige Bewertungsgrundlage darstellt (vgl. Hans-Uwe Otto u.a., 2001 S. 81; zit. n. Hanesch). Sowohl in Forschung und Wissenschaft wird diesem Konzept eine bedeutende Stellung eingeräumt. Grund hierfür ist erstens die Möglichkeit der einfachen quantitativen Erfassung des Einkommens, zum anderen, dass in unserer konsumorientierten Gesellschaft Geld eine wichtige Ressource für jeden Einzelnen sowie sein Familiensystem darstellt. Daher kann es als stellvertretende Größe zur Messung von Armut dienen. Zudem stellt die Einkommensarmut das zentrale Ausmaß der Armutsproblematik dar. Alle verfügbaren monetären Ressourcen wie Löhne, Vermögen, öffentliche oder private Transfereinkommen (z.B. Kinder- oder Erziehungsgeld, Unterhalt, Renten, Arbeitslosengeld, Wohngeld), gehören ebenso wie auch die nicht monetären Ressourcen wie z.B. die Resultate der hauswirtschaftlichen Erzeugung, zum Einkommen, (vgl. Hübinger, 1996, S. 60).
In Bezugnahme auf Kinder und Jugendliche ist ein eindimensionaler Ansatz, der nur das Einkommen der Familie im Blickfeld hat, nur bedingt aussagefähig. Denn hierbei wird nicht berücksichtigt, wie viel eine Familie tatsächlich für die Interessen der Kinder (0-12 Jahre) bzw. Jugendlichen/Heranwachsenden (13-18 Jahre) aufwendet. Der Ressourcenansatz differenziert zwischen bekämpfter Armut, verdeckter Armut und relativer Armut.
2.1.2 Bekämpfte Armut
Tabelle 1: Differenzierung der Bezieher von Sozialhilfe nach Geschlecht und Altersgruppenzugehörigkeit (2001)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: www.sozialpolitik-aktuell.de/zahleneinkommen.htm, vom 21.12.02
Einen Armutsindikator stellt, wie oben beschrieben, das verfügbare Haushaltseinkommen dar. Es wird vom Haushaltseinkommen ausgegangen, da auf diese Weise auch Personen, die kein eigenes Einkommen haben, wie Kinder, Hausfrauen etc. erfasst werden können. Fällt dies unter eine politisch normativ festgelegte Grenze, kommen staatliche Transferleistungen in Betracht. In Deutschland zählt der Bezug von Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) als amtliche Grenze der Einkommensarmut und wird als bekämpfte Armut bezeichnet. „ Wie das Statistische Bundesamt mitteilt, erhielten am Jahresende 2001 in Deutschland rund 2,70 Mill. Personen in 1,42 Mill. Haushalten laufende Hilfe zum Lebensunterhalt...“ (http://www.destatis.de/presse/deutsch/pm2002/p2900081.htm, vom 12.12.02). Diese Form der Definition von Armut ist am meisten an bürokratisch festgelegte Kriterien gebunden. Die Grenze ist einfach zu bestimmen und kann anhand von Statistiken auf einfachen Weg errechnet werden. Hiermit ist im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) ein sozialpolitisches Programm, welches ein Existenzminimum garantiert, gewährleistet. Somit steht dieser Armutsbegriff für kein theoretisches Armutskonzept, sondern für eine sozialrechtliche Gegebenheit.
„Aufgabe der Sozialhilfe ist es, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht.“ (§ 1, Abs. 2, Satz 1, BSHG).
Jedoch ist es politisch umstritten, ob Sozialhilfeempfänger noch zu den Armen der Gesellschaft gehören, oder nicht. Denn die Hilfe zum Lebensunterhalt entspricht häufig nur etwa 45% des durchschnittlichen Nettoeinkommens (vgl. Stimmer, 2000, S. 50). Meiner Meinung nach garantiert die Sozialhilfe daher keine unabhängige, menschenwürdige Existenzsicherung. Hübinger sieht in der bekämpften Armut noch keine besiegte Armut und betrachtet daher den Bezug von HLU immer noch als Armutsindikator (vgl. Bieligk, 1996, S. 16; zit. n. Hübinger). Er begründet dies mit dem Hinweis, dass eine Angleichung der Regelsätze der HLU an die steigenden Lebenshaltungskosten nicht statt findet. Somit sagt der Bezug von Sozialhilfe noch nichts über die Lebensbedingungen der Hilfebedürftigen und somit auch von diesen Abhängigen Kindern und Jugendlichen aus. Hanesch ist ebenso der Meinung, dass sich die HLU nur bedingt als Armutsgrenze eignet, da ihre Niveaubemessung de facto durch politische, administrative und fiskalische Erwägungen bestimmt ist (vgl. Hans-Uwe Otto u.a., 2001, S. 81). Das Sozialhilfeniveau ist demnach von der Ideologie, der finanziellen Situation des Staates und der Schwerpunktfestlegung der jeweiligen Regierung abhängig. Außerdem weist die Sozialhilfestatistik beträchtliche Fehler auf, wodurch eine genaue Registrierung und Auswertung der Empfängerzahlen erschwert wird. Eine Bindung der Armutsschwelle an die Höhe der staatlichen Leistungen hat zur Folge, dass bei einer Erhöhung des Sozialhilfeniveaus, die Anzahl der Armen bzw. der Leistungsberechtigten steigen würde. Andererseits muss gesehen werden, dass die Schwelle zur Sozialhilfe nur eine festgelegte Grenze darstellt, was härtestenfalls bedeuten kann, das sich arme und nicht arme Haushalte laut Statistik lediglich um einen Euro Haushaltseinkommen unterscheiden.
2.1.3 Verdeckte (latente) Armut
Aus verschiedensten Gründen verzichten Leistungsberechtigte auf ihren Rechtsanspruch auf Sozialhilfe. Sei es aus Stolz, Scham, Scheu vor zu großem bürokratischen Aufwand, mangelnden Informationsstand oder um Regress Verwandten gegenüber zu vermeiden, um nur einige Gründe zu nennen. Geht man 1995 noch von einer Dunkelziffer von 60% für Westdeutschland aus ( vgl. Münchner Armutsbericht, 1995, S. 17) beträgt 1996 die Zahl derer, die auf ihren Sozialhilfeanspruch verzichten, schätzungsweise rund 100% (vgl. Kreft u.a., 1996, S. 71) Daraus folgt, dass nur die Hälfte der Sozialhilfeberechtigten die ihnen zustehenden Leistungen in Anspruch nehmen. In diesem Bereich ist somit eine deutliche Zunahme der verdeckten Armut zu vermuten. „Die politische Festlegung der Einkommens- und Vermögensgrenze für den Bezug von Sozialhilfe macht diesen A.-Indikator überdies anfällig für fiskalische Erwägungen, die den finalen Charakter der Sozialhilfe unterminieren“ (Stimmer, 2000, S. 50).
Die deutlich erhöhte Dunkelziffer in Kleinstätten und in ländlichen Gebieten, gegenüber Städten mit über einer halben Million Einwohner ist überwiegend auf den anonymen Charakter von Großstädten, sowie auf die zunehmende Individualisierung, die eine Verminderung der familiären Strukturen zur Folge hat, zurückzuführen.
2.1.4 Relative Armut
„Armut wird verstanden als eine extreme Ausprägung sozial-ökonomischer Ungleichheit bei der der Lebensstandard der Armen im Verhältnis zum durchschnittlichen Lebensstandard einer Gesellschaft betrachtet wird.“ (Hans-Uwe Otto u.a., 2001, S. 81; zit. n. Hanesch). Mit dem Begriff der relativen Armut wird somit der Zusammenhang zwischen dem Armutsproblem und der Verteilungsfrage in der Bevölkerung deutlich und spiegelt die politische, soziale und wirtschaftliche Bedeutung der Armutsdebatte wieder. „In der Tat ist die Schieflage auch in unserem Land erheblich, wenn auch im internationalen Vergleich eher noch moderat. Die 5 Prozent reichsten Haushalte besitzen in unserem Land 31 Prozent des Bruttogeldvermögens: Das ärmste Viertel verfügt dagegen über nur 1 Prozent“ (http://www.venro.org/global/download/handreichung.doc, vom 10.01.03).
Bei der Verteilung der Einkommen werden normalerweise drei Einkommensgrenzen unterschieden.
Nach der Empfehlung und Definition der Europäischen Gemeinschaft von 1984 (jetzt Europäische Union; EU) zählen die Personen oder Haushalte zu den Armen, die über weniger als 50 % des durchschnittlichen Nettoeinkommens (Äquivalenzeinkommen) im jeweiligen Mitgliedsstaat pro Kopf verfügen. Das monatliche Äquivalenzeinkommen Deutschlands lag im Jahr 2000 bei 1109,00 € (vgl. http://www.gesis.org, vom 28.12.02). Internationale Vergleiche sind bei der Messung der sozialen Unterschiede möglich. An dieser Definition orientiert sich ebenfalls der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der im Jahr 2001 erschienen ist. Durch unterschiedliche Haushaltsgrößen bedingte Bedarfsunterschiede werden bei der Berechnung berücksichtigt (vgl. Kreft u.a., 1996, S. 71).
Liegt die Einkommensgrenze bei 40 % oder darunter, spricht man von strenger Armut. Als Niedrigeinkommensbezieher und daher von Armut bedroht, gelten Personen bzw. Haushalte, deren Einkommen zwischen 50 und 60 Prozent liegen (working poor) (vgl. SOS Dialog, 1999, S. 21). Eine allgemein gültige Definition der verschiedenen Armutsschwellen sorgt für Schwierigkeiten in Hinsicht auf die statistische Betrachtungsweise, da schon ein minimal oberhalb der Grenzen liegendes Einkommen die Statistik karikieren könnte. Auch sieht die Bundesregierung die 50 %-Schwelle für Deutschland als nicht geeignet an, um die soziale Realität darzustellen (vgl. Münchner Armutsbericht, 1995, S. 18), da es so in Ländern mit einem niedrigen Einkommensniveau kaum Armut geben würde. Ebenso könnte die 50 % Grenze bei einer Senkung der Einkommen zu einer unberücksichtigten Verschärfung der Mangelsituation führen.
Dies verdeutlicht, dass bei einer Armutsdefinition über Einkommensquoten keine Berücksichtigung des tatsächlichen Bedarfs erfolgt.
2.1.5 Subjektive Einkommensarmut
Die Höhe des für notwendig gehaltenen Einkommens wird hier, mit Hilfe von Befragungen, von den Betroffenen selbst festgelegt. Aus der Auswertung der Antworten werden die verschiedenen Armutsgrenzen hergeleitet. Die Frage nach der subjektiven Einkommensarmut geht vor allem auf niederländische Forschungsergebnisse zurück. Zunächst erscheint diese gewissermaßen „demokratische“ Festlegung der Grenzwerte sinnvoll, da sie frei von normativen politischen und wissenschaftlichen Ansichten getroffen wird. „Es bestehen jedoch ernsthafte Zweifel, ob die ermittelte Grenze nicht eher etwas mit „subjektiver Subsistenzunsicherheit“ als mit Einkommensmindestbedarf zu tun hat.“ (Hock u.a., Abschlußbericht, 2000 S. 24; zit. n. Burkatzki1995).
2.2 Mehrdimensionales Armutskonzept
2.2.1 Der Lebenslagenansatz/Lebensstandardansatz
Schon in den dreißiger Jahren wurde das Lebenslagenkonzept von dem Nationalökonomen und Philosophen Otto Neurath formuliert. Die Lebenslage war für ihn „... der Inbegriff aller Umstände, die verhältnismäßig unmittelbar die Verhaltensweise eines Menschen, seinen Schmerz, seine Freude bedingen. Wohnung, Nahrung, Kleidung, Gesundheitspflege, Bücher, Theater, freundliche menschliche Umgebung, all das gehört zur Lebenslage...“ (Hock u.a., Abschlußbericht, 2000 S 24, zit. n. Neurath).
Gerhard Weisser beschreibt in den fünfziger Jahren die Lebenslage als „... Spielraum, den einem Menschen (einer Gruppe von Menschen) die äußeren Umstände nachhaltig für die Befriedigung der Interessen bieten, die den Sinn seines Lebens bestimmen“ (ebd., S. 24, zit. n. Weisser). Diese Spielräume erstrecken sich nicht nur auf Einkommen und Versorgung.
Der Lebenslagenansatz fragt nach dem Ergebnis der Ressourcenverwendung, d.h. die konkrete Versorgungssituation der Individuen in ausgewählten, sozial bedeutsamen Lebensbereichen steht im Vordergrund. Hierunter sind die Bereiche der Wohnsituation, Ernährung, Freizeit, schulische und berufliche Ausbildung und der daraus resultierenden Arbeit des Gesundheitswesen sowie die Teilnahme am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben zu verstehen (vgl. Kamensky u.a., 2000, S. 15). Mit diesem Definitionsmodell werden materielle und immaterielle Aspekte, sowie ökonomische und psychosoziale Dimensionen berücksichtig. Der Ansatz der Lebenslagen ist kein fertiges Forschungskonzept, sondern vielmehr eine Sichtweise. Eine klare und eindeutige Definition von Armut kann mit diesem Konzept nicht erfolgen, da es allenfalls beschreibt, was eine Problemlage im jeweiligen Lebensbereich charakterisiert.
„Eine komplexe Form der Messung der materiellen Lebenslage Armut hat der britische Forscher Peter Townsend (1979) entwickelt, der mit Hilfe eines sog. Relativen Deprivationsindex den Versuch unternahm, die tatsächliche Versorgungslage anhand einer Vielzahl von Einzelindikatoren zu messen und daraus einen Gesamtindex der Deprivation abzuleiten“ (Hans-Uwe Otto u.a., 2001, S. 82; zit. n. Hanesch).
Townsend fordert die Bestimmung von Minimalstandards, um dem typischen Lebensstandard einer Gesellschaft gerecht zu werden, da nicht jeder Zustand mangelnder Bedarfsdeckung als Armut bezeichnet werden kann. Die Unterschreitung, bzw. das Fehlen wichtiger Ressourcen, in einem oder mehreren Lebensbereichen ist die Bezeichnung für eine prinzipiell deprivierte Lebenssituation, bzw. eine Unterversorgung. Die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist nicht mehr gesichert und die Betroffenen sind von sozialer Ausgrenzung bedroht. Deprivation und Armut sind für Townsend zwei unterschiedliche Begriffe.
Andress führt noch den Begriff der doppelten Armut in die Diskussionen ein. Hiermit sind Personen und Haushalte gemeint, die sowohl von Einkommensarmut als auch von Deprivationsarmut betroffen sind. Nach Andress leben ca. 3% (Westdeutschland) und 6% (Ostdeutschland) der Bevölkerung in doppelter Armut (vgl. Andress u.a., 2000, S. 8).
2.2.2 Milieubezogene und subjektive Armutskonzepte
Hier geht es im Unterschied zu den bereits genannten multidimensionalen Armutskonzepten um die ganz individuelle Bewertung der Lebenssituation und Wahrnehmung. Hiermit werden die „objektivierenden Armutskonzepte vervollständigt, da die Sichtweisen der Betroffenen im Mittelpunkt der Betrachtungsweise stehen und ... im Falle der milieubezogenen Betrachtung das Eingebettetsein in teilweise recht geschlossene Gruppen mit eigenen Normen und Gesetzen nicht verleugnen“ (Hock u.a., Abschlußbericht, 2000, S. 27).
Lebenslagenkonzepte ermöglichen ein verbessertes Verständnis der Thematik „Armut“ und gerade in Hinblick auf den facettenreichen Bereich der Kinder- und Jugendarmut ist eine mehrdimensionale Sichtweise der konkreten Lebenssituationen aussagekräftiger und liefert ein differenzierteres Bild der jeweiligen Unterversorgungslage, da Armut als ein multidimensionales Phänomen betrachtet wird. Wenn sich ein geringes Einkommen tatsächlich in einem unzureichenden Lebensstandard niederschlägt, kann man die hiervon Betroffenen tatsächlich als arm bezeichnen. Entscheidend ist das Resultat, denn gleiche Ausgangslagen bedeuten nicht unmittelbar identische Lebenschancen. Zudem ist der Lebenslagenansatz bei charakterisierenden Befragungen einfacher auszuwerten. „Gegenüber detaillierten Anschreibungen von Ausgaben und Aktivitäten eines Haushalts in Verbrauchererhebungen und Zeitverwendungsstudien stellt das Erhebungsinstrument sehr viel weniger Ansprüche an Interviewer und Befragungspersonen und benötigt auch weniger Erhebungszeit“ (Andress u.a., 2000 S. 7).
In der Armutsforschung findet das Konzept der Lebenslagen immer mehr Anerkennung und Tragweite. Die von mir verwendeten Definitionen beziehen sich ebenfalls auf das mehrdimensionale Armutskonzept.
Unabhängig davon, ob eine ressourcenbezogene oder lebenslagenbezogene Definition zu Grunde gelegt wird, spielt die zeitliche Dimension der von Armut Betroffenen, eine wichtige Rolle.
2.2.3 Eine kind- und jugendgerechte Armutsdefinition
Eine auf das Kind, bzw. den Jugendlichen zentrierte Definition enthält folgende Punkte:
- Sie geht von der Lebenswelt des Kindes bzw. Jugendlichen aus, d.h. die signifikante Lebenssituation der jeweiligen Altersklasse, ihre Entwicklung, persönliche Wahrnehmung und Fördermöglichkeiten müssen bemessen werden.
- Der Gesamtzustand der Familie wird gesehen. Es wird betrachtet, was real für die Belange der Kinder und Jugendlichen aufgebracht wird.
- Die Multidimensionalität von Armut, um die konkrete Lebenswelt der jeweiligen Altersgruppe gerecht zu werden, ist für die Definition notwendig (vgl. Hock u.a., Abschlußbericht, 2000, S. 28).
Folgende Dimensionen für die Erweiterung eines umfassenderen Lebenslagenkonzepts mit Blick auf Kinder und Jugendliche sind von Bedeutung, da sie etwas über die Entwicklung und Teilhabechancen der jeweils Betroffenen aussagen:
Tabelle 2: Kindliche Lebenslagendimensionen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Hock u.a., Abschlußbericht, 2000 S. 28)
Zu den „Armen“ zählen Kinder und Jugendliche, bei denen auch familiäre Armut vorliegt. Das bedeutet, das Einkommen der Familie des Kindes oder Jugendlichen liegt bei 50 % (oder weniger) des gewichteten Äquivalenzeinkommens im jeweiligen Mitgliedsstaat. Auf Basis dieser Definition können weitere drei Lebenslagentypen unterschieden werden:
Wohlergehen: Hier ist das Wohl des Kindes sicher gestellt. Das Kind weist in keiner der Dimensionen eine gegenwärtige Einschränkung auf (vgl. Hock u.a., Abschlußbericht, 2000, S. 54).
Benachteiligung: Von einer Benachteiligung kann dann gesprochen werden, wenn das Kind in einigen wenigen Dimensionen aktuelle Einschränkungen aufweist (ebd., S. 54).
Multiple Deprivation: Hier sind in mehreren Dimensionen Einschränkungen festzustellen, so das eine positive Entfaltung des Kindes nicht mehr gesichert ist (ebd., S. 54).
Folgende Faktoren können das Kindeswohl begünstigen:
- Regelmäßige gemeinsame Aktivitäten in der Familie
- Gutes Familienklima (keine regelmäßigen Streitigkeiten)
- Deutschkenntnisse mindestens eines Elternteils (bei Migrantenkindern)
- Keine Überschuldung
- Keine beengten Wohnverhältnisse
Insbesondere die beiden ersten Punkte verweisen auf die große Bedeutung der „Leistung“ derjenigen Eltern, denen es trotz schwieriger materieller Verhältnisse gelingt, ihren Kindern förderliche Entwicklungsbedingungen zu bieten. Damit kommt neben der Einkommenssituation der Familie den sozialen und den kulturellen Ressourcen der Eltern zentrales Gewicht zu“ (Hock u.a., Abschlußbericht, 2000, S. XI).
Besteht keine familiäre Armut, aber trotzdem eine Unterversorgung in den oben benannten Dimensionen der Lebenslagen, sind die betroffenen Kinder oder Jugendlichen zwar als benachteiligt, aber nicht als von Armut betroffen anzusehen (ebd., 2000, S. 29). Abschließend bedeutet dies, dass Armut nicht als Sammelbegriff für benachteiligte Lebenslagen verwendet wird.
2.3 Die „Neue Armut“
Das traditionelle Armutsbild in Deutschland wird in den 60er und frühen 70er Jahren vor allem mit Randgruppen wie z.B. Obdachlosen, psychisch Kranken, Inhaftierten, Suchtkranken und Behinderten in Verbindung gebracht. Die gesellschaftliche Stigmatisierung und Marginalisierung wird ausschließlich abgrenzbaren Gruppen zugeschrieben.
In den späten 70er Jahren wurde die Armut in Deutschland neu entdeckt und es entstand der Begriff einer „neuen Armut“; einer Armut im Wohlfahrtsstaat. Mit seiner Schrift in der Studie zur „Neuen Sozialen Frage“, „in der die Entstehung von Armut nichtorganisierter gesellschaftlicher Gruppen aus der Lösung der „alten Sozialen Frage“ -insbesondere aus dem Wirken von Sozialstaat und Gewerkschaften- hergeleitet wurde“ (Hans-Uwe Otto u.a., 2001, S. 82; zit. n. Hanesch), führte der damalige rheinland-pfälzische Sozialminister Heiner Geißler (CDU), 1976 diesen Begriff ein und machte die Armutsdiskussion im Wohlfahrtsstaat wieder zu einem aktuellen Thema. Alte Menschen, überwiegend ältere Frauen, die häufig über geringe bzw. unzureichende Rentenansprüche verfügen und somit auf die Unterstützung durch Sozialhilfe angewiesen sind, sowie kinderreiche Familien sind für Geißler die „neuen Armen“. Bis zu dieser Zeit herrscht in Deutschland die Meinung, materielle Armut sei durch sozial-politische Maßnahmen weitgehend dauerhaft gelöst worden (vgl. Klocke, 1998, S. 51; zit. n. Zimmermann). Geißlers Aspekte lieferten Anregungen zu einer wissenschaftlichen Armutsforschung in der damaligen Zeit und Probleme der Armutsmessung sowie Bemühungen um eine verbesserte Sozialberichterstattung erhalten größere Bedeutung. Erste Versuche, das Phänomen Armut exakt zu messen und einzuordnen, werden unternommen. Die durch Geißler neu entfachte Armutsdebatte ist bis heute Bestandteil von Politik und Wissenschaft geblieben. Allerdings wurde dabei ein Zusammenhang zwischen Erwerbslosigkeit und Armut geleugnet.
In den 80er Jahren dagegen definiert die „neue Armut“, trotz beträchtlichen Wirtschaftswachstums, den Zusammenhang zwischen Armut und (Langzeit-) Arbeitslosigkeit, wodurch die Ursachen, die vermutlich zu Armut führen, präzisiert werden. Armut erhält in der Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit, da die Zahl der Sozialhilfeempfänger und die Armutsbetroffenheit immer weiter ansteigt. Dies stellt einen Widerspruch zum ökonomischen Aufschwung in Deutschland dar. Kulminiert wird daher die These von einer „Zwei-Drittel-Gesellschaft“. Die Vorstellung einer strukturellen Spaltung der deutschen Bevölkerung wird sichtbar (vgl. Leibfried u.a., 1995, S. 223 ff.).
Das Bild der Armut in der Öffentlichkeit war eher finanziell geprägt, insbesondere vor dem Hintergrund vermehrter Kürzungen im Sozialbereich. Ein uniformes Bild von Armut und den davon Betroffenen hat sich in den 80er Jahren trotzdem nicht durchgesetzt. Qualität und Quantität der „neuen Armut“ stehen im Blickfeld der Armutsdebatte, so dass die steigende Arbeitslosigkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung gelangt. Daher ist der Begriff der „neuen Armut“ nicht explizit definierbar, da damit verschiedene politische Umstände, die zum Sozialhilfebezug führen, bezeichnet werden. Des weiteren ist zu berücksichtigen, dass die Zeit der 70er Jahre bis heute mehrere Konjunkturzyklen, zwei Ölpreisschocks Mitte der 70er und Anfang der 80er Jahre und die Wiedervereinigung welche massive strukturelle Veränderungen der Volkswirtschaft umfasst, beinhaltet.
Die „neue Armut“ zeigt grundlegend veränderte soziale Strukturen der von Armut gefährdeten bzw. betroffenen Personengruppen. „Ausdruck hierfür ist eine veränderte Zusammensetzung der Sozialhilfeempfänger: Nicht mehr alte und randständige Menschen bilden heute den Großteil der Leistungsempfänger, sondern Kinder und Jugendliche auf der einen Seite und Personen im erwerbsfähigen Alter auf der anderen Seite“ (Kreft u.a., 1996, S. 71). Nicht nur Familien mit vielen Kindern tragen ein erhöhtes Risiko eines Lebens in Armut, sondern Familien im Allgemeinen. Natürlich sind Familien mit nur einem Elternteil besonders betroffen. Die Ursachen, warum immer mehr Menschen auf Hilfe angewiesen sind, haben sich verändert. Da auch Personen im erwerbsfähigen Alter immer mehr von dem Risiko, zu verarmen bedroht sind, trifft dies auch immer mehr Kinder, da diese das Armutsschicksal ihrer Eltern teilen. Gründe für diese neue Form der „neuen Armut“ in den 90er Jahren sind also u.a. die weit verbreitete Massen und (Langzeit-) Arbeitslosigkeit und das Phänomen der Jugendarbeitslosigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse, kinderreiche Familien, Einelternhaushalte, sowie Überschuldungen.
3.0 Einkommensarmut bei Kindern
3.1 Umfang der Kinder und Jugendarmut
Seit geraumer Zeit findet sich ein neues Schlagwort im Vokabular der Armutsforschung. Die Rede ist von der Infantilisierung der Armut. Das heißt, Kinder und Jugendliche (im weiteren nur noch als Kinder bezeichnet) rücken immer mehr in das Zentrum der Armutsdebatte. Betrachtet man die Sozialhilfestatistik, wird die Bedeutsamkeit des Themas Kinderarmut deutlich, da Kinder zur am meisten von Armut betroffenen Risikogruppe zählen. In der Literatur wird zwar häufig auf die stetig steigende Zahl der in Armut lebenden Kinder hingewiesen, jedoch wird in unserer Gesellschaft Armut hauptsächlich anhand von sozial und monetär benachteiligten Erwachsenen dargestellt. Kinder werden dabei nur am Rande berücksichtigt.
Bundesweit steht die Thematisierung der Kinderarmut noch am Anfang. Die Erfassung von Kindern als eigenständige Armutsgruppe erscheint folglich schwierig zu sein (vgl. Bieligk, 1996, S. 21). Vermutlich aufgrund dieser Vernachlässigung sind keine oder nur wenige unmittelbare politischen Konsequenzen oder Gegenmaßnahmen in Sicht. Kinder haben geringe Möglichkeiten, das gesellschaftliche Leben mitzugestalten. Sie besitzen kein Wahlrecht und können in den Bereichen des politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Lebens kaum partizipieren. Folglich trifft Armut besonders die Gruppe der Bevölkerung, die keine Einflussnahmemöglichkeit auf das gesellschaftliche Leben hat. Da Kinder auf Bezugspersonen angewiesen sind und Kinderarmut die Folge von Erwachsenenarmut ist, kann der familiäre Hintergrund der Kinder nicht unberücksichtigt bleiben. Jedoch möchte ich die tatsächlichen Lebensbedingungen der betroffenen Kinder später in das Zentrum der Betrachtung stellen.
Nachdem sich die Gruppe der in Armut lebenden Menschen strukturell verändert hat und diese Veränderung den Anstieg der Kinderarmut bedingt, widme ich mich im folgenden den spezifischen Risikogruppen, die besonders von einem Leben in Armut bedroht sind.
Als Risikogruppen werden die Bevölkerungsgruppen definiert, die einen hohen Anteil der Sozialhilfeempfänger ausmachen. Die Sozialhilfestatistik wird seit 1963 jährlich vom Statistischen Bundesamt herausgegeben. Klocke macht auf folgendes aufmerksam:
„Neben einer wachsenden Minderheit der Kinder und Jugendlichen, die in Armutsverhältnissen aufwachsen, lebt auf der anderen Seite des sozialen Spektrums eine ebenfalls wachsende Zahl in sehr wohlhabenden Familien. Die Auseinanderentwicklung der Lebensbedingungen der heranwachsenden Generation hat erhebliche Auswirkungen auf deren Wohlbefinden, Teilnahmemöglichkeiten und Lebenschancen“ (Klocke u.a., 1998, S. 13). Hierauf soll im späteren Verlauf näher eingegangen werden.
Die im Weiteren beschriebenen Gruppen stellen nicht die Gesamtheit armutsgefährdeter Bevölkerungsschichten dar, sind jedoch die zum Verständnis des Themas Kinderarmut wesentlichsten Personengruppen, um die konkreten Lebenssituationen der betroffenen Kinder zu veranschaulichen.
3.1.1 Alleinerziehenden-Haushalte
Die strukturelle Zusammensetzung der Haushalte hat sich in der gesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland deutlich verändert. So ist z.B. „die Zahl der Ehepaare mit Kindern gesunken, demgegenüber hat die Zahl der Alleinerziehenden-Haushalte zugenommen. Es lässt sich also sagen, dass der kernfamiliale Haushaltstyp der Normalfamilie insgesamt gegenüber den anderen Haushaltsformen an Bedeutung verloren hat“ (Becker u.a., 1997, S. 140).
Durch die Individualisierung und Entstandardisierung der Lebenslagen sowie bedingt durch kulturelle Veränderungen wird die Haushaltsform von Ein-Eltern-Familien mittlerweile als etwas Alltägliches angesehen. Die Entstehung von Alleinerziehenden-Haushalten findet ihre Begründung in verschiedenen Faktoren, wobei hier beispielhaft die hohen Scheidungsquoten erwähnt, jedoch nicht die Vielfalt der Ursachen erörtert werden sollen (vgl. Bieligk, 1996, S. 34).
Frauen stellen mit 85 % den größten Anteil der Alleinerziehenden dar und machen des weiteren 95% der alleinerziehenden Sozialhilfeempfänger aus (ebd., S. 35). Somit kann man neben der Infantilisierung ebenfalls von einer Feminisierung der Armut sprechen. Besonders betroffen sind hiervon Frauen ohne berufliche Ausbildung, denen nur prekäre Arbeitsverhältnisse (Niedriglohnjobs) bleiben. Allerdings ist angesichts der Arbeitsmarktlage der berufliche Wiedereinstieg auch für Frauen mit beruflicher Qualifikation nach einer Erziehungspause schwierig. „Hier zeigt sich die Inkompatibilität von moderner Berufswelt und den privaten Lebensentwürfen vieler Frauen durch die nach wie vor in hohem Maße existierende strukturelle Unvereinbarkeit von Berufstätigkeit und Kindererziehung“ (Bieligk, 1996, S. 36).
Verantwortlich für die Verarmungstendenzen Alleinerziehender sind auch fehlende Betreuungsmöglichkeiten (vor allem mangelnde Ganztagesbetreuungsplätze) für Kinder, wodurch den Alleinerziehenden oft nur die Möglichkeit der Teilzeitbeschäftigung bleibt. Diese stellt wiederum einen Grund für Armut dar, da die Entlohnung in vielen Fällen nicht ausreichend ist.
Belastend ist für Ein-Eltern-Familien auch ihre Situation auf dem Wohnungsmarkt. Überproportional oft werden sie von Hauseigentümern –mit Hinweis auf finanzielle Risiken- als Mieter abgelehnt, wobei auch „Wohnungsgröße und Zahl der Zimmer richten sich bei Sozialwohnungen oft nicht nach der Zahl der Kinder, bzw. es wird oft nicht berücksichtigt, dass ein Zwei-Personen-Haushalt auch eine Ein-Eltern-Ein-Kind-Familie sein kann“ (ebd., S. 36; zit. n. Flade 1994).
Gerade bei Alleinerziehenden beansprucht die Miete einen erheblichen Teil des finanziellen Budgets. Für Alleinerziehende, die keine Geldprobleme haben, spielen die genannten Punkte nur eine untergeordnete Rolle, da sie über die notwendige Ressource Geld, die der Schlüssel zum gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben ist, verfügen. Trotz erhöhter Armutsgefährdung von Kindern in Ein-Eltern-Familien lebt die Mehrzahl arme Kinder in Familien mit beiden Elternteilen. Jedoch ist der relative Anteil geringer als bei nicht-arme Kinder.
Tabelle 3: Lebens- und Familienformen armer und nicht-armer Kinder im Vergleich
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: „Armut im Vorschulalter“ 1999, Berechnung des ISS ( in Hock u.a. 4/2000)
3.1.2 Kinderreiche Familien
Kinderreiche Familien sind eine weitere Gruppe, die von Armut bedroht ist. Der Lebensunterhalt von Kindern ist mit enormen monetären Investitionen verbunden. Die Wohnkosten erhöhen sich aufgrund des Mehrflächenbedarfs, um nur ein Beispiel zu nennen.
Allgemein formuliert steigen die gesamten Verbrauchsausgaben in der Familie und das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen fällt um so niedriger aus, je mehr Kinder sich in einem Haushalt befinden. Ausgaben für Reisen, Hobbys oder Kultur geraten somit in den Hintergrund, da die verfügbaren Finanzmittel allenfalls zur Deckung der elementaren Bedürfnisse ausreichen. Die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist hierdurch häufig stark eingeschränkt. Armut und hohe Kinderzahlen gehören zusammen und die Verarmungsgefahr steigt mit jedem weiteren Kind. Es findet eine Marginalisierung von kinderreichen Familien statt.
Familienpolitik und Sozialwissenschaft beschäftigen sich seit geraumer Zeit mit den Lebenshaltungskosten von Kindern. Eine genaue Gliederung der Kosten von privaten Haushalten, aufgeteilt in Kinder und Erwachsene, erweist sich als methodisch schwierig. Bis in die 80er Jahre waren für die Bundesrepublik daher nur geschätzte Zahlen verfügbar. Für die Betreuung der Kinder schränkt ein Elternteil häufig die Erwerbstätigkeit, zumindest phasenweise, ein. Bei zusätzlichem, meist unvorhergesehenem monetären Aufwand, stehen die Familien vor dem Problem der eingeschränkten Erwerbsmöglichkeit.
Bieligk sieht die Armut von Kindern nicht als private Armut. „Armut der Kinder und Jugendlichen ist eben keine beliebige, keine private Armut, sondern findet ihre Wurzeln zutiefst in der Verteilungsgerechtigkeit der Steuermechanismen“ (Bieligk, 1996, S. 33). Der Staat übernimmt schätzungsweise etwa ein knappes Drittel der Kosten für ein Kind.
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- Quote paper
- Christina Karoly (Author), 2003, Kinder- und Jugendarmut in Deutschland. Eine Herausforderung an die Soziale Arbeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/12753
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