Das Ziel der Forschung ist die Konzeption eines neuartigen multimedialen Lehr-Lern-Materials, das aufgrund seiner didaktischen Grundlagen sowie gestalterischen Umsetzung die Widerlegung von Neuromythen zu fördern vermag. Aufgrund der theoretischen sowie methodischen Anlehnung an die conceptual change-Theorie wird das vorgestellte
Material als Konzeptwechselvideo bezeichnet. Anhand eines exemplarischen Videoentwurfs und eines dazugehörigen didaktisch-methodischen Kommentars sollen die Potenziale und Grenzen identifiziert und diskutiert werden.
Dazu soll in Kapitel 2.1 zunächst einer der am weitesten verbreiteten Neuromythen unter angehenden Lehrkräften – der Lerntypen-Mythos – genauer analysiert werden. Dabei wird knapp auf die Verbreitung dieser Alltagsvorstellung unter Lehrkräften eingegangen, um die Tragweite des Problems genauer zu erfassen. Ausgehend von der fachlichen Betrachtung des Mythos sollen Argumente herausgearbeitet werden, die zum Widerlegen dieser Fehlvorstellung
geeignet sind.
Im anschließenden Kapitel 2.2 werden didaktische Grundlagen und Methoden beschrieben, die eine beständige Veränderung individueller Vorstellungen fördern können. Zur Widerlegung von Neuromythen – beziehungsweise allgemein von prävalenten Fehlkonzepten – eignen sich hierzu vor allem die conceptual change-Theorie sowie daraus
abgeleitete theoretische sowie methodische Implikationen.
Ausgehend von den herausgestellten theoretischen Implikationen wird in Kapitel 3 ein fundierter Gestaltungsrahmen für Konzeptwechselvideos konstruiert, der die wesentlichen Bedingungen für die Produktion eines nachhaltigen Videos im Allgemeinen sowie en detail darlegt.
Für eine erste Einschätzung der Umsetzbarkeit von Konzeptwechselvideos wird in Kapitel 5 der exemplarische Entwurf eines Videos in Form eines Storyboards vorgestellt. Zur differenzierten Analyse wird zudem ein methodisch-didaktischer Kommentar zur Umsetzung angefügt, um mögliche Schwierigkeiten in der Gestaltung identifizieren zu können. Zur Reduktion des Umfangs der vorliegenden Arbeit wird auf die praktische Produktion des exemplarischen Videos verzichtet.
Die Ergebnisse der beispielhaften Videoentwicklung sollen in Kapitel 6 ausführlich diskutiert werden. Dabei soll die Umsetzung anhand der in Kapitel 4 dargelegten Kriterien bewertet werden. Anschließend sollen die allgemeinen Limitationen von Konzeptwechselvideos sowie die Grenzen der vorliegenden Arbeit herausgestellt werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretischer Rahmen
2.1 Neuromythen
2.1.1 Lerntypen-Mythos
2.1.2 Ursprünge und Fortbestehen des Mythos
2.1.3 Fachliche Betrachtung des Lerntypen-Theorie
2.1.4 Argumente gegen die Existenz von Lerntypen
2.2 Erklärvideos als didaktisches Medium
2.2.1 Merkmale eines guten Erklärvideos
2.2.2 Didaktische Grundlagen
2.2.3 Alltagsvorstellungen und Konzeptwechsel
2.2.4 Konzeptwechseltexte
2.2.5 Evidence-laden Narratives
2.2.6 Konzeptwechseltexte als Grundlage für Erklärvideos
2.2.7 Implikationen für die Gestaltung von Erklärvideos
2.3 Kognitionspsychologische Grundlagen
2.3.1 Cognitive Load Theory
2.3.2 Cognitive Theory of Multimedia Learning
2.3.2.1 Grundannahmen der CTML
2.3.2.2 Kognitive Belastungen
2.3.2.3 Umgang mit essential overloads
2.3.2.4 Reduktion von extraneous processing
2.3.2.5 Förderung des generative processing
2.3.3 Folgerungen für die Produktion effektiver Videos
2.4 Gehirngerechte Prinzipien
2.4.1 Aufmerksamkeit
2.4.2 Reduktion & Struktur
2.4.3 Wiederholung & Elaboration
2.4.4 Vorwissen aktivieren
2.4.5 Lernstrategierepertoire
2.4.6 Gedächtnissysteme
2.4.7 Metakognition & Struktur
2.4.8 Motivation, Emotion, Kontext & Reihenfolge
2.4.9 Zeit
2.5 Implikationen für die Gestaltung von Erklärvideos
3. Konzeptwechselvideos als Material zur nachhaltigen Widerlegung von Neuromythen
3.1 Konzeption von Konzeptwechselvideos
3.2 Spezifische Umsetzungshinweise
3.2.1 Aktivierung des Vorwissens
3.2.2 Aufgreifen von Alltagsvorstellungen
3.2.3 Widerlegungsimpuls setzen
3.2.4 Kontrastieren
3.2.5 Erweitern
4. Methodik
5. Konzeption eines exemplarischen Konzeptwechselvideos
5.1 Storyboard
5.2 Didaktisch-methodischer Kommentar
5.2.1 Allgemeines
5.2.2 Inhalt und Struktur
5.2.3 Visuelle und auditiv-verbale Umsetzung
6. Diskussion der Ergebnisse
6.1 Videoentwurf
6.2 Material Konzeptwechselvideo
7. Zusammenfassung und Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In Zeiten, in denen sich Lehr-Lern-Situationen immer weiter in das Digitale verlagern, kommt audiovisuellen Botschaften ein besonderer Anteil an der didaktischen und aufklärerischen Arbeit zu. Der seit nunmehr über 20Jahren anhaltende Prozess der Digitalisierung der Lehre erfährt vor dem Hintergrund der aktuell grassierenden SARS-CoV-2-Pandemie eine enorme Beschleunigung. Immer mehr digitale Formate werden geplant, produziert und genutzt. Zusätzlich sind Videos ebenfalls ein häufig genutztes Medium in informellen Lernkontexten, das heißt in der Freizeitgestaltung. Im Internet findet sich auf der Videoplattform YouTube zu beinahe jedem Themengebiet mindestens ein Video, das sich mit wissenschaftlichen Inhalten auseinandersetzt. Die Qualität dieser Produktionen schwankt allerdings deutlich; neben aufwändig produzierten, fachlich sauber recherchierten Videos und Kanälen, wie zum Beispiel MaiLab (Nguyen-Kim, 2020) oder Biologie - SimpleClub (Giesecke & Schork, 2020), finden sich viele laienhafte Erläuterungsversuche mit undifferenzierten Aussagen, die jedoch meist lediglich der Unterhaltung dienen sollen, wie beispielsweise das Video „Kann man das Gehirn hacken?“ (Interessante Welt, 2017). Durch solche unqualifiziert recherchierten Materialen können fachliche Fehlvorstellungen weiterverbreitet werden. Vor allem im Hinblick auf die schulische sowie universitäre Ausbildung kann dies ein Lernhindernis darstellen – insbesondere wenn auf der Suche nach Lerntipps naive Konzepte von Lernen gefunden und adaptiert werden. An dieser Stelle treten häufig sogenannte Neuromythen zutage, die auf Fehlkonzeptionen zur Funktion des Gehirns respektive der kognitiven Architektur und Prozesse basieren. Daraus abgeleitete Lernvorstellungen können nicht nur unwirksam, sondern auch lernhinderlich sein. Aufgrund dessen stellen Neuromythen ein problematisches Phänomen im Bezug auf Lehren und Lernen dar. Dass diesen Mythen hierbei nicht nur Schüler*innen oder Studierende glauben schenken, sondern auch fachlich ausgebildete (angehende) Lehrkräfte ist bedenklich. Für das Themenfeld der Neuromythen existiert umfangreiche Literatur zu den häufigsten (Fehl-)Konzepten bei Lehrenden (Howard-Jones, 2014; Dekkeretal., 2012; Zhang et al., 2019; Ferreroetal., 2016; Lethaby&Harries, 2016); explizit für angehende Lehrkräfte beschäftigen sich die Arbeiten von Grospietsch & Mayer (2017; 2019; 2020) mit prävalenten neurowissenschaftlich nicht annehmbaren Konzeptionen.
Aufgrund des eingangs dargelegten Wandels hin zur digitalisierten Lehr-Lern-Umgebung müssen neue Wege zur Widerlegung von Neuromythen gefunden werden. Für den Einsatz in der schulischen und universitären Lehre bedarf es qualitativ hochwertiger Videos, um dem Bildungsanspruch sowie den fachlichen Inhalten gerecht zu werden. Zur Produktion effektiver Videos für den Einsatz in der Lehre liegen einige Beiträge vor (Wolf & Kulgemeyer, 2016; Kulgemeyer, 2018, 2020). Allerdings mangelt es an spezifischen Umsetzungshinweisen für Videos zur dauerhaften Anpassung von Alltagsvorstellungen – und damit auch Neuromythen. Daher stellt sich die Frage, welche didaktischen und methodischen Voraussetzungen von einem potentiellen Lehr-Lern-Material erfüllt werden müssen, um die Widerlegung von Neuromythen nachhaltig zu fördern.
Das Ziel der Forschung ist deshalb die Konzeption eines neuartigen multimedialen Lehr-Lern-Materials, das aufgrund seiner didaktischen Grundlagen sowie gestalterischen Umsetzung die Widerlegung von Neuromythen zu fördern vermag. Aufgrund der theoretischen sowie methodischen Anlehnung an die conceptual change -Theorie (Posner et al., 1982) wird das vorgestellte Material als Konzeptwechselvideo bezeichnet. Anhand eines exemplarischen Videoentwurfs und eines dazugehörigen didaktisch-methodischen Kommentars sollen die Potentiale und Grenzen identifiziert und diskutiert werden.
Dazu soll in Kapitel 2.1 zunächst einer der am weitesten verbreiteten Neuromythen unter angehenden Lehrkräften – der Lerntypen-Mythos – genauer analysiert werden. Dabei wird knapp auf die Verbreitung dieser Alltagsvorstellung unter Lehrkräften eingegangen, um die Tragweite des Problems genauer zu erfassen. Ausgehend von der fachlichen Betrachtung des Mythos sollen Argumente herausgearbeitet werden, die zum Widerlegen dieser Fehlvorstellung geeignet sind. Im anschließenden Kapitel 2.2 werden didaktische Grundlagen und Methoden beschrieben, die eine beständige Veränderung individueller Vorstellungen fördern können. Zur Widerlegung von Neuromythen – beziehungsweise allgemein von prävalenten Fehlkon-zepten –eignen sich hierzu vor allem die conceptual change -Theorie (Posneretal., 1982) sowie daraus abgeleitete theoretische sowie methodische Implikationen. Als mögliche ideelle Vorlage für die Entwicklungsrahmen werden in Kapitel 2.2.4 und 2.2.5 die erfolgsversprechenden Lehr-Lern-Materialien Konzeptwechseltext (Egbers & Marohn, 2013; Grospietsch, angenommen) und evidence-laden narrative (Darner, 2019) im Hinblick auf ihr Potential als textliche Grundlage hin untersucht. An die Erörterung der didaktischen Grundlagen schließt mit Kapitel 2.3 eine zielorientierte Zusammenfassung kognitionspsychologischer Grundlagen an. Für die Entwicklung eines Gestaltungsrahmens multimedialer Materialien haben sich vor allem die Cognitive Load Theory (Chandler & Sweller, 1991; Paas & Sweller, 2014) sowie die Cognitive Theory of Multimedia Learning (Mayer, 2020, 2014a, b) als wegweisend gezeigt. Zur Differenzierung und Präzisierung der erörterten didaktischen und kognitionspsychologischen Grundlagen werden in Kapitel 2.4 weiterhin die sogenannten Gehirngerechten Prinzipien (Grospietsch, 2019) beschrieben und mit in den theoretischen Rahmen des Konzeptwechselvideos einbezogen.
Ausgehend von den herausgestellten theoretischen Implikationen wird in Kapitel 3 ein fundierter Gestaltungsrahmen für Konzeptwechselvideos konstruiert, der die wesentlichen Bedingungen für die Produktion eines nachhaltigen Videos im Allgemeinen sowie en detail darlegt. Dabei steht primär die Unterstützung der Konzeptwechselbedingungen durch audiovisuelle Elemente sowie die inhaltliche Struktur im Vordergrund.
Für eine erste Einschätzung der Umsetzbarkeit von Konzeptwechselvideos wird in Kapitel 5 der exemplarische Entwurf eines Videos in Form eines Storyboards vorgestellt. Dieses wird nach den in Kapitel 3 dargelegten Prinzipien gestaltet. Zur differenzierten Analyse wird zudem ein methodisch-didaktischer Kommentar zur Umsetzung angefügt, um mögliche Schwierigkeiten in der Gestaltung identifizieren zu können. Zur Reduktion des Umfangs der vorliegenden Arbeit wird auf die praktische Produktion des exemplarischen Videos verzichtet.
Die Ergebnisse der beispielhaften Videoentwicklung sollen in Kapitel 6 ausführlich diskutiert werden. Dabei soll die Umsetzung anhand der in Kapitel 4 dargelegten Kriterien bewertet werden. Anschließend sollen die allgemeinen Limitationen von Konzeptwechselvideos sowie die Grenzen der vorliegenden Arbeit herausgestellt werden.
Die Arbeit endet mit einer Zusammenfassung sowie einem abschließenden Fazit, wobei weitere Forschungsansätze aufgezeigt werden sollen.
2. Theoretischer Rahmen
Um die dargelegte Problemstellung adäquat zu analysieren, bedarf es zunächst einer theoretischen Begriffsbestimmung und Zielverortung. Zu Beginn sollen Neuromythen im Allgemeinen definiert werden. Daran anknüpfend wird einer der prävalentesten Neuromythen, der sogenannte Lerntypen-Mythos, genauer beschrieben. Diesen detaillierten Darstellungen folgt die Analyse zum Ursprung des Mythos sowie der Ursachen für dessen Fortbestehen. Anschließend soll die Stichhaltigkeit der Argumentation aus fachwissenschaftlicher Perspektive erfasst beziehungsweisse die Fehlvorstellungen zu neurobiologischen und lernpsychologischen Prinzipien genauer identifiziert werden.
Nach der Präzisierung des Neuromythos soll der weitergehende Fokus der Arbeit auf der nachhaltigen Widerlegung desselbigen durch den Einsatz von Erklärvideos liegen. Dazu soll einerseits die Problematik als didaktische Aufgabe beschrieben, andererseits das Medium Erklärvideo selbst aus einer didaktischen Perspektive beleuchtet werden. Die effektive Gestaltung eines fruchtbaren Erklärvideos hängt jedoch nicht nur von seiner didaktischen, sondern auch von der multimedialen Konzeption ab. Daher schließt an die inhaltlich-didaktische Evaluation eine theoretische Auseinandersetzung mit kognitionspsychologischen Grundlagen der effektiven Gestaltung multimedialer Lernmaterialen an. Fundierende theoretische Beiträge in diesem Zusammenhang sind die Cognitive Load Theory (Chandler & Sweller, 1991; Paas & Sweller, 2014) sowie die darauf aufbauende Cognitive Theory of Multimedia Learning (Mayer, 2020, 2014a, b). Diese werden detailliert beschrieben und ihre Anwendbarkeit auf die Produktion von Erklärvideos geprüft. Um die Widerlegung der Neuromythen möglichst nachhaltig zu gestalten, bedarf es zudem weiterer inhaltlicher sowie gestalterischer Elemente – diese sollen abschließend auf Grundlage „Gehirngerechter Prinzipien“ (Grospietsch, 2019) für die Erstellung abgeleitet werden. Diese sollen dazu beitragen, dass die Betrachtenden des Erklärvideos ihre Vorstellungen im Hinblick auf den Neuromythos nicht nur kurz reflektieren, sondern ihre Überzeugungen und Konzepte langfristig anpassen und fachlich richtig memorieren.
2.1 Neuromythen
Der auf Alan Crockard zurückgehende Begriff „Neuromythen“ bezieht sich auf prävalente Annahmen über das menschliche Gehirn, die häufig auf laienhaften Interpretationen neurobiologischer Erkenntnisse beruhen.
Kurz gefasst handelt es sich bei Neuromythen prinzipiell um Fehlkonzepte im Bezug auf das Gehirn respektive dessen Funktions- und Arbeitsweise. Häufig werden hierbei naive Imaginationen über neurobiologische Forschung mit wünschenswerten Vorstellungen verbunden, sodass es zu einer Vermischung von biologischer Realität und persönlichem Wunschdenken kommt. Ist es der Allgemeinheit noch nachzusehen, dass diese mit fachwissenschaftlichen Ergebnissen beziehungsweise deren Interpretation gewissermaßen überfordert ist, so zeigen die Arbeiten von Grospietsch & Mayer (2017, 2019, 2020) und Krammer et al. (2019) sowie Dekker et al. (2017) besorgniserregend, dass solche Fehlkonzepte auch bei Lehrkräften und Lehramtsstudierenden weit verbreitet sind. Das ist insofern alarmierend, als dass Lehrkräfte als professionelle Lernbegleiter*innen den Schüler*innen nicht nur Fachinhalte, sondern das Lernen an sich lehren sollen. Hierunter fällt insbesondere das Vermitteln von Lernstrategien. Diese sollten aus evidenzbasierten Erkenntnissen abgeleitet sein und nicht auf unwissenschaftlichen Annahmen über die Funktionsweise des Gehirns beziehungsweise der menschlichen Kognition beruhen. Das notwendige Wissen wird zwar häufig peripher in Veranstaltungen der Lehrendenausbildung angesprochen, jedoch scheint hierbei die Nachhaltigkeit gering zu sein, wie die Studien von Grospietsch & Mayer (2017, 2019, 2020) nahelegen.
Eine Ursache für die Verbreitung und das Fortbestehen von Neuromythen lässt sich aus dem zunehmenden allgemeinen Interesse von Lehrkräften an neurowissenschaftlichen Erkenntnissen für den Einsatz im Unterricht ableiten (Grospietsch, 2019). In der Folge steigt die Anzahl entsprechender Literatur fortwährend. Vor allem bei Lehrkräften sind seit jeher Ratgeber beliebt, da diese eine einfache und effiziente Möglichkeit darstellen neue Methoden für den Lehralltag kennenzulernen (Grospietsch & Mayer, 2017; Looß, 2001). Diese bequeme Herangehensweise ist im Hinblick auf die Verbreitung von Neuromythen jedoch kritisch zu sehen: So sind häufig Implikationen aus verschiedenen Neuromythen wie die vermeintliche Existenz von Lerntypen (Die Lernprofis, 2019) oder die Effektivität von BrainGym® (Dennison etal., 2016) in solchen Ratgebern vertreten. Die häufige Nutzung dieser leicht zugänglichen und praxisorientierten Literatur befördert somit indirekt die Verbreitung von Neuromythen (Looß, 2001).
Im Folgenden soll einer der am weitesten verbreiteten Neuromythen, der Lerntypen-Mythos, näher beleuchtet werden. Aufgrund seiner Prävalenz unter angehenden Lehrkräften (Grospietsch & Mayer, 2019) stellt dieser Mythos eine der relevantesten Fehlkonzeptionen im Hinblick auf das Lehren und Lernen dar.
2.1.1 Lerntypen-Mythos
Der am häufigsten verbreitete und persistierende Neuromythos ist die Kategorisierung von Lernenden in verschiedene Lerntypen (Krammeret al., 2019; Grospietsch & Mayer, 2019, 2020; Meinhardt, 2019; Kirschner, 2017; Pashleretal., 2009; Massa & Mayer, 2006). Das Angebot an entsprechenden Lerntypen-Tests und Materialien ist bis heute sehr groß und vor allem im Internet häufig anzutreffen. Es zielt hierbei auf Lehrer*innen, Eltern und Schüler*innen ab, indem sie entsprechende Lerntipps für die jeweiligen Lerntypen anbieten (Lehrer-online, o.D.; lerncoach, 2020; Sütterlin, 2020; Kröschel, 2017). Einer Meta-Analyse wissenschaftlicher Publikationen der Jahre 2013–2015 aus den Datenbanken PubMed und ERIC ist zu entnehmen, dass 89 Prozent der betrachteten research paper dem Vorhandensein von Lerntypen implizit oder sogar direkt zustimmen (Newton,2015) und somit zur Verbreitung beitragen (Landrum & McDuffie, 2010).
Im Allgemeinen folgen verschiedene Lerntypen-Konzeptionen einem ähnlichen Schema beziehungsweise gründen auf vergleichbaren Prämissen: Zum einen postulieren sie, dass Individuen einem bestimmten Lerntyp angehören, zum anderen, dass Lernende sich in der Fähigkeit unterscheiden, mit verschiedenen Arten von Informationsdarbietungen umzugehen respektive mit diesen zu lernen. Als daraus abgeleitetes Prinzip wird angenommen, dass eine Passung zwischen vermeintlichem Lerntyp und entsprechendem Instruktionsmaterial zu einer Verbesserung der Lernleistung führt (Newton, 2015). Häufig beschreiben angenommene Lernstile jedoch lediglich individuelle Präferenzen von Lernumgebungen statt genuin kognitiver Unterschiede: So berücksichtigt das Learning Style Inventory von Dunn, Dunn& Price (1989) zunächst Lernumgebungsparameter wie Lichtverhältnisse, Raumtemperatur oder die Sozialform (Woolfolk, 2014).
Vor allem im deutschsprachigen Raum sind die Postulate FredericVesters aus seinem Werk „ Denken, Lernen, Vergessen(1975) weitläufig bekannt. Neben den von Vester postulierten Lerntypen gibt es eine Vielzahl weiterer Klassifikationssystemen für Lernende, welche eine Fülle diverser Lerntypen hervorgebracht haben. So zeigen Pashler et al. (2009), dass circa 71 verschiedene Konzepte von Lerntypen in der Literatur zu finden sind, von denen die meisten Studien jedoch nicht den grundlegenden wissenschaftlichen Kriterien und Standards entsprechen (Schäfer,2017). Aufgrund der Popularität des Vester’schen Mythos im deutschsprachigen Raum soll dieser im Folgenden – stellvertretend für andere Lerntypen-Mythen – weitergehend betrachtet werden.
Nach der Taxonomie Vesters (1975) können Lernende in vier verschiedene Lerntypen kategorisiert werden:
(1) der auditive Lerntyp lernt am besten durch gehörte Informationen wie beispielsweise Hörbücher;
(2) der visuelle Lerntyp erzielt die besten Ergebnisse, wenn er mit Schaubildern und Diagrammen arbeitet;
(3) der haptische Lerntyp muss die Dinge im Wortsinn „begreifen“;
(4) der intellektuelle Lerntyp –auch abstrakt-verbaler Lerntyp genannt – lernt Sachverhalte dadurch, dass er sich mit diesen auf kognitiver Ebene auseinandersetzt.
Die explizite Handlungsanweisung ist hierbei die Durchführung eines speziell gestalteten Tests, um den individuellen Lerntyp von Lernenden zu bestimmen. Nach der erfolgten Identifikation des jeweiligen Typus sollen den Lernenden angemessene Materialen zur Verfügung gestellt werden, um eine lerntypengerechte Aneignung von Wissen zu ermöglichen. Ziel ist es, den Lernenden durch diese optimale Passung das Lernen so einfach und effizient wie möglich zu machen.
Dass Lernen jedoch nicht nur durch die bloße Aufnahme von Informationen funktioniert – selbst wenn gemäß einer persönlichen Vorliebe dargeboten – ist neurobiologisch sowie lernpsychologisch weithin bekannt (Jäncke, 2013). Doch wie bei nahezu jedem Mythos, lässt sich auch für den Lerntypen-Mythos ein „wahrer Kern“ finden. Um diesen Funken Wahrheit genauer zu verorten, sollen im Anschluss die Ursprünge sowie die Gründe für das Fortbestehen des Lerntypen-Mythos dargelegt werden.
2.1.2 Ursprünge und Fortbestehen des Mythos
Betrachtet man die Thesen Vesters genauer, so fällt auf, dass diese prinzipiell einen fundamentalen Denkfehler aufweisen: In der Logik der Lerntypen-Theorie wird die Wahrnehmung als maßgebliches Moment für die Integration von Wissen in das Gedächtnis angenommen beziehungsweise gleichgesetzt. Hierbei steht die laienhafte Annahme, dass Informationen von den Sinnesorganen aufgenommen und direkt in das Langzeitgedächtnis übertragen werden würden, im Vordergrund. Bei optimaler Passung von Lerntyp und Lernmaterial würde diese direkte Integration bestmöglich gefördert. An dieser Stelle wird häufig das Konzept des ganzheitliche Lernens angeführt und gleichsam ad absurdum geführt, indem beispielsweise das Lernen von Buchstaben über die haptische Erfahrung durch das Erfühlen der jeweiligen Buchstabenform und -beschaffenheit mit den Füßen angeraten wird (Looß,2001; Meinhardt, 2019). Dass Lernen jedoch keine direkte Integration von Sinneseindrücken in das Langzeitgedächtnis darstellt, ist evident und aus lernpsychologischer Perspektive nicht haltbar. Um ein geeignetes mentales Modell von Sachverhalten zu generieren, müssen neue Informationen – ungeachtet ihrer modalen Repräsentation im Lernmaterial – semantisch sinnvoll verarbeitet werden, wobei die Lernleistung nicht direkt von der präferierten Darreichungsform abhängig ist; ungeachtet dessen fußen Vorstellungen zu Lerntypen auf genau dieser fachwissenschaftlich nicht haltbaren Prämisse (Newton&Miah, 2017; Jäncke, 2013). Wenn Vester beispielsweise drei von vier Lerntypen auf Sinnesmodalitäten zurückführt, so folgt er indirekt neurobiologischen Beobachtungen, dass verschiedene Wahrnehmungsqualitäten in spezifischen Arealen des Gehirns verarbeitet werden; die unterschiedliche corticale Verarbeitung scheint hierbei eine grundlegende Rolle bei der Entstehung dieses Neuromythos einzunehmen.
Die unterschiedliche Interpretation neurowissenschaftlicher Befunde kann – zumindest in Teilen – auf Fehldeutungen der wissenschaftlichen Fachsprache zurückgeführt werden (Grospietsch & Mayer, 2019; Howard-Jones,2014). Sprechen beispielsweise Neurowissenschaftler*innen von der Verarbeitung akustischer Signale im auditorischen Cortex, so ist damit eine erhöhte Aktivität in bestimmten Rindenfeldern gemeint, wobei den Forschenden jedoch bewusst ist, dass dieses Korrelat nicht die gesamte Verarbeitung von Sprache abbildet, sondern lediglich einen speziellen Aspekt der auditiven Wahrnehmung. Für naturwissenschaftliche Laien hingegen wird aus einem farbig hervorgehobenem Bereich einer bildgebenden Tomographie ein „Hörareal“, welches alleinig für das Hören zuständig ist.1 Die Problematik fachfremden Verstehens komplexer Sachverhalten ist evident, jedoch zeigt sich auch, dass selbst angehende Biologie-Lehrkräfte trotz ihrer fachlichen Expertise häufig an Neuromythen glauben und diese in ihre Unterrichtsplanung einbeziehen (Grospietsch&Mayer, 2019, 2020; Krammer et al., 2019; Macdonaldetal., 2017).
Eine weitere Quelle für die Persistenz des Lerntypen-Mythos kann auch in der faktisch vorhandenen individuellen Präferenz für verschiedene Darbietungsformen von Informationen bei Lernenden gefunden werden. So zeigen Untersuchungen von Koć-Januchta et al. (2016) sowie Höffleretal. (2017), dass es interindividuelle Differenzen bezüglich der visuellen und verbalen Darbietung von Sachverhalten gibt. Eine oberflächliche Betrachtung dieses Phänomens fördert eine entsprechende Heuristik zu Tage, bei der es logisch erscheint, dass Lernmaterialien lediglich angepasst an die jeweilige persönlichen Präferenz dargeboten werden müssen, um das Lernen bestmöglich zu gestalten – ungeachtet der Tatsache, dass nicht jeder Inhalt optimal durch entsprechende Darstellungen abgebildet werden kann: Um die Werke von Mozart in ihrer ästhetischen Vollendung zu verstehen, reicht es eben nicht aus, nur die Notenblätter zu studieren.
Darüberhinaus führen auch kognitive Verzerrungen zu einer fehlerhaften Wahrnehmung ursächlicher Prozesse, die zu einer Verbesserung des Lernverhaltens, respektive der (schulischen) Leistungen, geführt haben. So muss eine verbesserte Note im Fach Englisch nicht primär darauf zurückzuführen sein, dass der*die Schüler*in nun durch das Hören englischsprachiger Podcasts per se besser Englisch lernt, nachdem man einen auditiven Lerntyp festgestellt hat. Stattdessen ist es denkbar, dass der Lernaufwand durch eine self-fulfilling prophecy beziehungsweise die fachbezogene Beschäftigung auf das entsprechende Schulfach ausgeweitet wurde. Somit bliebe ein Wirksamkeitsnachweis des lerntypenspezifischen Materials in diesem Falle zwar ungeklärt, für Vertretende des Mythos hingegen kann durch verschiedene kognitive Verzerrungen, e.g. confirmation bias oder prior belief bias, der Schein einer Kausalität verstärkt werden (Newton,2015; Cook&Lewandowsky,2011; Becker & Birkenbach, 2013).
Ein besonderes Problem stellt zusätzlich die relative begriffliche Nähe der mythischen Lerntypen und den empirisch gut untersuchten Lernstilen beziehungsweise Lernstrategien dar. So werden einerseits unterschiedliche Begriffe für ähnliche Ansätze angewandt, beispielsweise Lernstil und Lernorientierung, andererseits bezeichnen diverse an sich ähnlich klingende Begriffe gänzlich unterschiedliche Ansichten bezüglich der Kategorisierung von Lernenden, wie Lernertyp (Streblow & Schiefele, 2006) und Lerntyp. Durch diese nicht eindeutige Verwendung können Missverständnisse in der allgemeinen Rezeption bezüglich verschiedener Konzeptionen auftreten.
Nicht zuletzt die einfache Verfügbarkeit und leichte Anwendung von Lerntypen-Tests führt zu einer allgemeinen Verbreitung – vor allem im Schulwesen (Coffield, 2012). Für praktizierende Lehrkräfte erscheinen solche Tests – insbesondere vor dem Hintergrund der vielfach geforderten Binnendifferenzierung – als willkommenes Mittel ihren eigenen Unterricht methodisch an unterschiedlichste Ansprüche ihrer Schüler*innen anzupassen. Die dahinterstehende Logik ist genauso attraktiv wie unwirksam: durch simples Kategorisieren von Lernenden können einfache individualisierte Lernangebote geschaffen werden (Landrum & McDuffie, 2010). Neben kostenfreien Angeboten (z. B. Birnbaum (2016), Lehrermarktplatz.de (2018), PearsonStudium (o.D.)) hat sich auch eine ganze Branche gebildet, die versucht ihre eigenen Lerntypen-Tests zu vermarkten. So beschreibt Coffield(2012) detailliert, wie das Lerntypen-Modell (Dunn & Dunn, 1992a, b) und der dazugehörige Test von dem Ehepaar Dunn kommerziell genutzt wird, obschon es die eigenen Postulate weder reliabel noch valide zu testen vermag (Woolfolk, 2014).
Die Ursprünge sowie die Gründe für das Fortbestehen des Lerntypen-Mythos sind wie dargelegt vielfältig und liegen häufig in der Fehldeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Aus diesem Grund soll nachfolgend eine fachliche Bewertung der Plausibilität des Mythos vorgenommen werden.
2.1.3 Fachliche Betrachtung des Lerntypen-Theorie
In vielen Studien konnten keine Lerntypen, im Sinne Vesters und co. nachgewiesen werden. So konnten Krätzig & Arbuthnott (2006) keinen signifikanten Zusammenhang zwischen Lernstil und objektiver Erinnerungsleistung nachweisen. Aus neurobiologischer und lernpsychologischer Sichtweise ist den praxisbezogenen Anwendungsratschlägen der Lerntypen-Theorie entgegenzusetzen, obgleich sich gewisse Verarbeitungsareale für unterschiedliche sensorische Informationen durch fMRT-Studien nachweisen ließen, dass die Interaktion zwischen den verschiedenen Bereichen des Gehirns die eigentliche Lernleistung ausmacht; es ist demnach aus wissenschaftlicher Perspektive naiv anzunehmen, dass Informationen nur durch einen präferierten sensorischen Modus verarbeitet würden (Howard-Jones, 2014; Lethaby & Harries, 2016; Kirschner & Van Marriënboer, 2013).
Aus didaktischer Perspektive ist die Verwendung von Lerntypen beziehungsweise die Anwendung vermeintlich lerntypengerechter Unterrichtskonzepte aus fachlicher Sicht ebenfalls zurückzuweisen. Neben dem fehlenden Wirksamkeitsnachweis zeigen evidenzbasierte Beobachtungen zum Lernen, dass die Beschränkung auf eine Art der Informationsdarbietung den Lernerfolg gegenüber einer vielschichtigen, multisensorischen Vermittlungsweise vermindert (Jäncke, 2013). Wie im Laufe der vorliegenden Arbeit dargelegt werden wird, kann multimediales Lernen das Verständnis komplexerer Sachverhalte fördern – unter der Voraussetzung, dass die dargelegten Gestaltungs- und Anwendungsprinzipien entsprechend umgesetzt werden (Mayer, 2014a, b). Lernten Menschen nur über einen Zugangsweg, beispielsweise durch Haptik, so würde nur dieser spezifische Aspekt der zu lernenden Sachverhalten in ein mentales Modell überführt und andere Objekteigenschaften wie das Aussehen ausgespart (Krätzig & Arbuthnott, 2006). Weiterhin zeigen weitere neurobiologische Hypothesen, dass die Aktivierung möglichst vieler Aspekte in neuronalen Netzwerke das Lernen neuer Inhalte begünstigt. Diese Konsolidierung verschiedener Gedächtnisinhalte erhöht die Behaltenswahrscheinlichkeit erlernter Sachverhalte deutlich (Bearet al., 2018; Jäncke, 2013).
Zwar konnte wiederum nachgewiesen werden, dass Lernende eine persönliche Präferenz bezüglich der Darbietungsweise von Informationen aufzeigen, das heißt sie ziehen es entweder vor neue Sachverhalte durch visuelle oder verbale Vermittlung zu erlernen (Koć-Januchta et al., 2016; Höffler et al., 2017); die daraus abgeleitete Vorstellung, dass diese Präferenzen mit einfachen Mitteln gemessen und anhand der Ergebnisse eindeutige Zuordnungen in Lerntypen vorgenommen werden könnten, ist jedoch empirisch und logisch nicht haltbar. Dies liegt zum einen an der Fehlvorstellung, Menschen entsprächen einem eindeutigen Lerntyp, zum anderen daran, dass entsprechende Tests nur unzuverlässige Ergebnisse liefern, die weder gültig noch reliabel sind (Pashleret al., 2009). Lerntypen-Tests nach Vester beispielsweise berücksichtigen weder individuelle Parameter wie die persönliche Lernerfahrung, noch weisen sie eine valide oder reliable Struktur im Bezug auf die Auswahl ihrer Items auf: diese setzen sich aus verschiedenen Begriffen zusammen, wobei Reihenfolge oder Wortlängeneffekte ignoriert werden (Quast, 2007). Insofern erweisen sich gängige Lerntypen-Materialien auch methodisch fehlerbehaftet.
Auch aus rein logischer Perspektive zeigt die Theorie Vesters deutliche Defizite auf. Offenkundig setzt Vester eine ungenaue und undifferenzierte Klassifikation mit seiner Kategorisierung in drei sensorische und einen kognitiven Lerntyp ein: während die Lerntypen (1) – (3) auf Wahrnehmungsweisen und Informationsaufnahme gründen, basiert der intellektuelle Lerntyp auf kognitiven Prozessen. Allein aus logischen Gründen ist diese vorgeschlagene Klassifikation nicht zulässig, da nicht kriterienstet kategorisiert wird (Looß,2001). Dass Lernen stets ein Vorgang zwischen Perzeption, geistiger Rezeption und Integration ist, wird von Vester bei dieser Kategorisierung ebenfalls nicht beachtet. Zudem werden die kognitiven Leistungen der vermeintlichen Lerntypen (1) – (3) gewissermaßen geleugnet, da suggeriert wird keine geistigen Anstrengungen unternehmen zu müssen, um sich Wissen anzueignen; dies beutetet im Umkehrschluss, dass nur der (4) kognitive Lerntyp abstrakte Sachverhalte verstehen und lernen könnte (Looß, 2001)
Allen Ansätzen der Typisierung von Lernenden ist gemein, dass damit stets die Erwartung einhergeht, für unterschiedliche Lernende eine entsprechend angepasste Lernumgebung zu finden (Nett& Götz, 2019; Creß, 2006). An dem Konzept der Lerntypen – wie sie bei Vester und anderen auftreten – ist in diesem Kontext primär zu kritisieren, dass sie den jeweiligen Lerntyp als unveränderliches Persönlichkeitsmerkmal betrachten – demnach verwenden Lernende keine situationsbedingten Herangehensweisen, um spezifische Probleme auf angemessene Art und Weise zu lösen. Vielmehr bedeutet dies, dass eine unzureichende Passung zwischen Lernendenpersönlichkeit und Lernangebot zu verstärkten Verstehensproblemen führt, da die Lernenden in ihrem Lernstil verhaftet sind. Nachteilig bei der Anwendung der vereinfachenden Betrachtung der Lerntypen-Thesen ist die Reduktion auf eine Lernweise. Hierdurch werden dem Gehirn möglicherweise nur unzureichende Sinneseindrücke dargeboten, wodurch eine vertiefte Integration in neuronale Netzwerke erschwert wird. Darüberhinaus führt die Beschränkung auf eine spezifische Lernweise zur Reduktion der angewandten Lernstrategien. Dabei zeigt sich deutlich, dass der Einsatz unterschiedlicher Strategien den Lernerfolg signifikant steigern und nachhaltiges Verstehen fördern kann (Friedrich & Mandel, 2006;Perelset al., 2020).
2.1.4 Argumente gegen die Existenz von Lerntypen
Aus den dargelegten Ursprüngen sowie der fachlichen Analyse des Lerntypen-Mythos können Argumente für die Revision dieser Fehlvorstellung abgeleitet werden. Im Folgenden sollen wesentliche Aspekte zusammengetragen werden, um eine Argumentation für die Konzeption eines widerlegenden Lehr-Lern-Materials aufbauen zu können.
Die mangelnde empirische Unterstützung für die Existenz von Lerntypen sowie die methodischen Fehler der entsprechenden Tests zeigen auf, dass das Festhalten an Lerntypen aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar ist (Pashler et al., 2009). Auch die Effektivität vermeintlich passender Lernmaterialien konnte nicht bestätigt werden (Krätzig & Arbuthnott, 2006).
Grundsätzlich ist die Lerntypen-Theorie Vesters jedoch aufgrund fachlich falscher Annahmen abzulehnen. Es zeigt sich, dass eine fehlerhafte Prämisse das Fundament dieses Konzeptes darstellt. Im Verständnis von Vester (1975) werden Wahrnehmung und Lernen gewissermaßen gleichgesetzt und kognitive Prozesse lediglich bei dem postulierten intellektuellen Lerntyp angenommen. Wie dargelegt, ist diese Annahme aus neurobiologischer (Bear et al., 2018) und kognitionspychologischer (Jäncke, 2013) Perspektive nicht haltbar: Lernen setzt sich unabhängig von der individuellen Präferenz immer aus Wahrnehmung und anschließenden kognitiven Bewertungs- und Sinnstiftungsprozessen zusammen. Es zeigt sich sogar, dass die Kombination verschiedener Zugänge zu Informationen sowie unterschiedlicher Strategien zur Konstruktion mentaler Modelle zuträglich ist (Perels et al., 2020).
Letztlich ist auf die logische Inkonsistenz der Vester’schen Lerntypen-Theorie hinzuweisen. Die dargelegte Kategorisierung unterteilt Lernende in vier verschiedene Typen, bei denen drei von der Art der Wahrnehmung definiert werden, eine aber aufgrund der kognitiven Prozesse unterschieden wird (Looß, 2001). Diese nicht kriterienstete Taxonomie gilt es daher aus rein logischen Gründen abzulehnen, da sie auf arbiträren Auswahlkriterien beruht.
2.2 Erklärvideos als didaktisches Medium
Wie bereits in der Einleitung beschrieben, stellen audiovisuelle Formate einen Großteil der digitalen Lehre dar. Die Verwendung von Lehr-/Lernvideos erscheint – nicht nur in der gegenwärtigen Pandemie – als sinnvolle Ergänzung für die Vermittlung von Wissen in diversen didaktischen Umfeldern – so auch in der universitären Ausbildung von angehenden Lehrkräften (Dorgerloh & Wolf, 2020). Hierbei sind verschiedene Modi denkbar: zum einen können Erklärvideos von Lernenden für Lernende (peer to peer) produziert, zum anderen – und das ist sicherlich häufiger der Fall – kann das entsprechende Video von den Lehrenden erstellt werden.2 Auch wenn der Einsatz von peer to peer- Produktionen eine didaktisch attraktive Methode zum problembasierten Lernen darstellt, so ist die Effektivität eines soliden Erklärvideos nicht minder interessant oder lernförderlich; vorausgesetzt die Qualität des Produktes ist hinsichtlich der didaktischen und kognitionspsychologischen Aspekte adäquat (Kulgemeyer, 2019a). Diese Dimensionen sollen in den folgenden Kapiteln genauer erläutert werden und auf den Kontext der Erstellung eines Erklärvideos zur Widerlegung von Neuromythen angewendet werden. Ausgangspunkt für diese Abhandlung sollen zunächst die didaktischen Grundlagen sein, mithilfe derer Neuromythen erfolgreich widerlegt werden können. Anschließend sollen kognitionspsychologische Voraussetzungen zur effektiven und kreativen Ausgestaltung des Videoprodukts dargelegt werden.
2.2.1 Merkmale eines guten Erklärvideos
Im Kern unterscheiden sich Erklärvideos von anderen multimedialen Inhalten, wie beispielsweise Infotainment-Beiträgen oder Dokumentarfilmen, durch die Absicht, fachliche Inhalte nicht nur informativ aufzubereiten, sondern den Zuschauenden explizit Wissen bedeutungsvoll und nachhaltig zu vermitteln – dem Namen entsprechend eben zu erklären. Diese Prämisse fußt auf der akzeptablen Annahme, dass es sich beim Erklären nicht nur um bloßes transmissives Dozieren von Fachinhalten, sondern um einen interaktiven Prozess zwischen Adressaten und den Erklärenden handelt (Kulgemeyer, 2018). Hierbei zeigt sich jedoch ummittelbar eine mediale Komplikation, da Videos nur unidirektional funktionieren; das heißt es kann keine direkte Kommunikation aufgebaut werden. Allerdings lassen sich nach Kulgemeyer (2018) einige Kriterien identifizieren, die das Verständnis von Erklärvideos wesentlich vereinfachen können.
Eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiches Erklären ist die adressatengerechte Aufbereitung der fachlichen Informationen. Hierfür ist die Kenntnis des Lernstandes, aber auch der sonstigen metakognitiven Fähigkeiten der Lernenden nötig. Bei einer möglichst genauen Passung zwischen Fähigkeiten und Kenntnisstand der Lernenden kann ein hohes Maß an Verständlichkeit gefördert werden (Kulgemeyer, 2018, 2019b).
Weiterhin zeichnen sich gute Erklärungen durch die Verwendung einer verständlichen Sprache sowie passender Beispiele aus. Dabei gilt es Fachtermini insofern zu beschränken, als dass nur die wichtigsten Begriffe Verwendung finden, ansonsten aber eine adressatenorientierte Sprache verwendet wird (Kulgemeyer, 2016, 2019b). Weiterhin gibt es verschiedene „Veranschaulichungswerkzeuge“ (Kulgemeyer, 2018, S. 9), die eine vertiefte Verarbeitung der Informationen unterstützen sollen. Dabei bietet sich für die Verwendung in Erklärvideos vor allem der Gebrauch von alltagsbezogenen Beispielen an, die von den Lernenden zusammen mit den Fachinhalten in ein mentales Modell integriert werden können. Weiterhin fördert die Nutzung von bildlichen Darstellungen die kognitiven Prozesse zur Konstruktion adäquater mentaler Modelle (Kulgemeyer, 2016, 2019b). Allerdings sollte der Einsatz dessen eher minimalistisch erfolgen, da die übermäßige Verwendung zur Belastung der kognitiven Leistungsfähigkeit führen kann (Mayer, 2014b) (s.u.Kapitel 2.3 Kognitionspsychologische Grundlagen).
Ein allgemeines Problem, das beim Einsatz von Erklärvideos auftreten kann, ist die Tatsache, dass Lernende dazu neigen die eigenständige Beschäftigung mit Erklärungen dann abzubrechen, wenn sie zwar oberflächliche Facetten verstanden, aber keine thematische Durchdringung des Inhaltes erreicht haben (Lipowsky & Hess, 2019). Diese „Verstehensillusion“ (Kulgemeyer, 2018, S. 9) tritt dabei vor allem bei Sachverhalten auf, denen eine gängige Alltagskonzeption gegenübersteht.
Im nachfolgenden Kapitel wird daher ein didaktisches Modell vorgestellt, das die Integration alltäglicher Vorstellungen sowie fachlicher Inhalte explizit verwendet, um einen didaktisch begründeten Gestaltungsrahmen von Lernmaterial zu erzeugen, mithilfe dessen auch Erklärvideos theoretisch fundiert konzipiert werden können.
2.2.2 Didaktische Grundlagen
Eine Grundlage für ein gut produziertes und effektives Erklärvideo, mithilfe dessen sich Neuromythen widerlegen lassen, stellt das Modell der Didaktischen Rekonstruktion (Kattmann et al., 1997) dar: Dieses Modell bezieht sich im Kern auf den konstruktivistischen Prozess von Verstehen und Missverstehen fachwissenschaftlicher Inhalte sowie um die Herstellung von bedeutungsvollen Beziehungen zwischen Fachwissen und Alltagsvorstellung (Spörhase, 2019; Gropengießer & Kattmann, 2016). In diesem Modell werden drei verschiedene Arten von Wissen differenziert: (1)Wissen der Lernenden, das heißt Vorstellungen und mentale Modelle, mit denen die Lernenden ihre Umwelt wahrnehmen und interpretieren, (2)Fachwissen, also die gesicherten Erkenntnisse von Forschenden sowie (3)didaktisch-unterrichtliches Wissen, welches durch den Planungs- und Strukturierungsprozess der Lehrkräfte entsteht (Spörhase, 2019). Diese Wissensarten sind hierbei von gleicher Relevanz für den Lernprozess und von daher auch in die Gestaltung des Erklärvideos einzubeziehen. Aus den beschriebenen Wissenskonzeptionen lassen sich Handlungsempfehlungen ableiten, die den Prozess der didaktischen Rekonstruktion unterstützen können. Diese sollen folgend kurz beschrieben werden. Im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit wird immer wieder Bezug auf diese Prinzipien genommen.
Um einen Zugang zur Zielgruppe zu finden, ist eine vorhergehende Analyse der vorhandenen Konzepte und Vorstellungen zum Fachinhalt nötig. Nur durch die Kenntnis der prävalenten mentalen Modelle können mögliche Lernhindernisse, aber auch Potentiale erkannt und entsprechend vermieden beziehungsweise nutzbar gemacht werden. Da es sich beim Lernen um einen individuellen Prozess handelt, der neben den bereits bestehenden Ideen und Konzepten auch durch affektive und physiologische Komponenten beeinflusst wird, sind die Lernenden sowie ihre Vorstellungen als zentraler Ausgangspunkt der inhaltlichen sowie didaktischen Planung zu betrachten, obschon der didaktische Rekonstruktionsprozess an sich keiner linearen Natur ist (Spörhase, 2019; Zabel, 2016; Gropengießer& Kattmann, 2016; Gebhard,2016). Auf die persönlichen Vorstellungen zu fachlichen Themen soll in Kapitel 2.2.3 Alltagsvorstellungen und Konzeptwechsel genauer eingegangen werden.
Zur Klärung der Inhalte bedarf es einer kritischen fachlichen Analyse des Gegenstandes. Hierbei steht allen voran eine Sachanalyse des wissenschaftlichen Themengebietes unter Berücksichtigung der Vermittlungsperspektive. Das heißt exakt zu bestimmen, welche Aspekte einer wissenschaftlichen Theorie unabdingbar für das Verständnis der beobachteten Phänomene sind und inwiefern diese gegebenenfalls vereinfacht werden müssen. Das dahinterliegende Prinzip der didaktischen Rekonstruktion zielt hierbei allerdings nicht nur auf die inhaltliche Vereinfachung, sondern auch auf das sprachliche Niveau (Gropengießer & Kattmann, 2016). Konkret bedeutet dies, dass Fachsprache zur Vermittlung der Inhalte nur bewusst, das heißt an ausgewählten Stellen, verwendet werden sollte. Die Nutzung einer vereinfachten und anthropozentrischen Sprache dient hierbei der Erzeugung eines erleichterten Zugangs zu biologischen Konzepten. Somit stellt die inhaltliche Klärung nicht nur eine sachbezogenen Analyse, sondern eine praxisbezogenen Evaluation von fachlichen Vermittlungspotentialen dar (Spörhase, 2019).
Für die Planung eines aussichtsreichen Erklärvideos stellt die Synthese aus fachwissenschaftlicher Analyse und der Erfassung der Lernendenvorstellung im Bezug auf den zu widerlegenden Neuromythos eine Grundvoraussetzung dar. Dem Modell der didaktischen Rekonstruktion folgend sollte die Gestaltung des Videos auf eine entsprechende didaktische Struktur zurückgreifen, die sich auf die jeweiligen ermittelten Präkonzepte der Zielgruppe sowie auf die wichtigsten fachwissenschaftlichen Erkenntnisse stützt. Die wechselseitige Einflussnahme der dargelegten Dimensionen sollte hierbei immer mitbedacht und entsprechend eingearbeitet werden (Spörhase, 2019).
2.2.3 Alltagsvorstellungen und Konzeptwechsel
Zur Widerlegung von Neuromythen ist eine gewisse Kenntnis der zugrundeliegenden Vorstellungen der angestrebten Zielgruppe notwendig. Ergebnisse aus der fachdidaktischen Forschung zeigen auf, dass Neuromythen sowie andere vorwissenschaftlichen Annahmen zwar teilweise mit den korrekten Fachmodellen konvergieren können, sie jedoch häufig an wesentlichen Punkten fachlich falsch sind. Da solche Fehlkonzeptionen primär durch alltägliche Einflüsse und individuelle Erfahrungen geprägt sind, werden sie in der didaktischen Forschung auch als Alltagskonzepte oder -vorstellungen bezeichnet (Neuhaus, Urhahne& Ufer,2019; Gebhard, 2016; Kattmann,2015; Graf&Hamdorf, 2011). Der Umgang mit diesen Fehlkonzepten3 stellt ein kritisches Moment in der Gestaltung von Unterricht, aber auch in der Produktion von Erklärvideos dar: Für den weiteren Lernprozess stellt sich der Mangel an inhaltlichem Wissen und fachlichen Kompetenzen als hinderlich für die Aneignung der korrekten wissenschaftlichen Ansätze und Denkweisen heraus und ist damit ein Erschwernis für das Lernen (Weitzel,2019; Zabel,2016; Graf&Hamdorf, 2011). Allerdings zeigt sich, dass sich vorhandene Alltagsvorstellungen nicht ohne Weiteres durch die fachlich richtigen Konzepte ersetzen lassen. So sind die persönlichen Fehlkonzepte für die Lernenden bisweilen meist ausreichend gewesen, um sich in der eigenen Lebenswelt zurechtzufinden. Daher scheint keine Notwendigkeit zu herrschen, dass bestehende Konzept zu überdenken, gegebenenfalls anzupassen oder gänzlich zu verwerfen (Graf&Hamdorf,2011; Schnotz,2006). Darüberhinaus besteht auch eine gewisse affektive Bindung an die persönlichen Konzepte, da diese aus der intimen, vertrauten Erfahrung heraus entstehen, sodass ein Zweifel an den persönlichen Konzepten gleichsam mögliche Bedenken gegenüber des eigenen Selbst hervorrufen können (Vaughn et al., 2020; Gebhard,2016). Weiterhin werden Fehlkonzepte, also auch Neuromythen, durch unterschiedliche kognitive Verzerrungen begünstigt beziehungsweise beim Versuch der Widerlegung gar noch verstärkt. Vor allem die folgenden backfire effects können eine direkte Offenlegung der Fehlerhaftigkeit individueller Vorstellungen erschweren (Cook& Lewandowsky, 2011; Newton & Miah, 2017; Grospietsch, 2019):
(1) familiarity backfire effect: Im Kern beschreibt der Effekt die Beobachtung, dass vertraute Informationen eher als wahr angesehen werden als unbekannte Fakten.
(2) overkill backfire effect: Sachverhalte, die leicht zu verstehen sind, werden eher als korrekt angenommen als solche die einen erhöhten kognitiven Aufwand benötigen.
(3) worldview backfire effect: Der stärkste backfire effect dieser Aufzählung drückt die Erkenntnis aus, dass Widerlegungsversuche, die auf stark verfestigte Ansichten abzielen, dazu führen, dass diese vorhandenen Fehlvorstellungen noch verstärkt geglaubt werden.
Es zeigt sich demnach, dass das Widerlegen von wissenschaftlichen Fehlkonzepten nicht nur mithilfe des reinen Präsentierens evidenzbasierter Fakten geschehen kann, da die alleinige Darlegung nicht nur hinderlich, sondern gar gegenteilig wirken kann. Demnach sollte ein Widerlegungsansatz nicht auf der vollständigen Ersetzung der vorhandenen Vorstellungen basieren, sondern auf der Erweiterung dieser um fachlich akzeptable Erklärungen.
Andererseits stellen fehlerhafte Vorstellungen an sich einen fruchtbaren Boden für mögliche Lern- und Widerlegungsszenarien dar: durch eine gezielte Thematisierung der unzutreffenden Konzepte kann, mithilfe einer geschickten Argumentation, ein Überdenken der persönlichen Vorstellung angeregt werden. Diese Herangehensweise ist in der didaktischen und psychologischen Forschung als conceptual change 4 bekannt (Posner et al., 1982; Chi, 2008; Gropengießer &Marohn,2018). Grundlage dieser Herangehensweise ist ein konstruktivistisches Lernverständnis – dies bedeutet, dass Lernende das neue Wissen aktiv konstruieren müssen und ihnen nicht einfach vorgegeben werden kann. Im Fokus des Konstruktivismus5 steht daher immer das lernende Subjekt, welches mithilfe von bereits vorhandenen Schemata neue Aspekte und Sachverhalte in ein neues Verständnis von Sich und seiner Umwelt konstruierend integriert (Duit, 1995; Weitzel, 2018; Zabel, 2016). Um das angestrebte Ziel, sei es das Widerlegen von Neuromythen oder die Erarbeitung fachlichen Wissens, mittels conceptual change zu erreichen, müssen nach Posner et al. (1982) vier Bedingungen erfüllt sein: (1)Unzufriedenheit mit den eigenen Vorstellungen, (2) Verständlichkeit der neuen fachlichen Denkweise, (3) Plausibilität fachlicher Erklärungen sowie (4) Fruchtbarkeit derer, das heißt aufkommende Fragen besser beantworten zu können als die vorherige, fachlich inkorrekte Erklärung (Krüger,2007; Weitzel,2018).
Der häufigste Ansatz zum Einleiten eines Konzeptwechsels ist die Auslösung eines kognitiven Konfliktes bei den Lernenden (Lin et al., 2016; Gropengießer&Marohn, 2018). Die entstehende kognitive Dissonanz soll für die Lernenden ein Handlungsmotiv darstellen, wodurch zu Lernhandlungen angeregt werden soll. Das Ziel dieser Handlungen stellt die Reduktion der von den Lernenden als unangenehm empfundenen Unstimmigkeiten bezüglich der persönlichen Vorstellungen dar (Lefrançois, 2015). Hierfür gibt es eine Vielzahl an Methoden, welche sich auf die genannten Bedingungen für den Konzeptwechsel beziehen. In den meisten Fällen werden die Lernenden dazu angeregt sich mit dem Fachinhalt dergestalt auseinanderzusetzen, dass die geforderte Unzufriedenheit mit den eigenen Vorstellungen zum Thema aufkommt. In der Konsequenz sollen sich die Lernenden aktiv mit ihren bestehenden Konzepten beschäftigen, diese reflektieren und schließlich realisieren, dass ihre bisherigen vorwissenschaftlichen Ansätze zur Klärung der aufkommenden Fragen nicht ausreichend sind (Weitzel,2018).
Im Folgenden werden zwei textbasierte Methoden vorgestellt und knapp kontrastiert.
2.2.4 Konzeptwechseltexte
Eine mögliche Herangehensweise zur Induktion der Anpassung individueller Präkonzepte stellt dabei die Methode der Konzeptwechseltexte dar. Dieser Ansatz fußt auf den dargelegten Prinzipien des conceptual changes und soll die Rezipienten zur Erweiterung ihrer eigenen Vorstellungen um fachlich korrekte Aspekte instruieren (Grospietsch, angenommen). Bei Konzeptwechseltexten handelt es sich um ein Lehr-Lern-Material, welches die Lesenden aufgrund seines Inhalts und insbesondere seiner Struktur zum Überdenken der eigenen Vorstellungen und so letztlich zu einem Konzeptwechsel führen soll (Grospietsch, angenommen; Egbers & Marohn, 2013). Dabei wird die Struktur des Textes an die von Posner et al. (1982) aufgestellten Prinzipien angelehnt: Der Text soll Unzufriedenheit mit den eigenen Konzepten zum ausgewählten Sachverhalt durch die Aktivierung vorhandener Vorstellungen bei gleichzeitigem Aufzeigen der Mängel an Erklärungspotential hervorrufen. Dies geschieht unter Anderem durch eine entsprechend formulierte Aufgabenstellung zu Beginn des Textes. Die Lernenden werden durch dieses metakonzeptuelle Element somit direkt aufgefordert ihre bisherigen Modelle zu aktivieren und zudem ein Bewusstsein für die Differenzen zu schaffen (Grospietsch, 2019). Unmittelbar nach dieser kognitiven Aktivierung der eigenen Vorstellungen wird ein Widerlegungsimpuls gegeben, der deutlich machen soll, dass es sich bei den zuvor aufgegriffenen Vorstellungen um fachwissenschaftlich nicht haltbare Modelle handelt.
Anschließend werden im Text fachlich korrekte Informationen dargeboten, mithilfe derer die Lesenden die aufgekommenen Fragen logisch und plausibel erklären können. Eine Besonderheit der Konzeptwechseltexte im Vergleich zu anderen Sachtexten ist hierbei, dass nicht nur wissenschaftlich richtige Fakten genannt, sondern auch häufige Fehlkonzepte aufgezeigt und widerlegt werden. Durch das bewusste Kontrastieren von unzureichendem Alltagskonzept und fruchtbaren fachlich korrekten Erklärungen soll der kognitive Konflikt generiert und somit ein Konzeptwechsel angeregt werden (Grospietsch, angenommen; Grospietsch& Mayer, 2018). Der Vorteil von Konzeptwechseltexten gegenüber klassischen Sachtexten wird bisher in einer Vielzahl von Studien aufgezeigt (Sel& Sözer, 2019; Armağan et al., 2017).6 Durch den Einsatz von Konzeptwechseltexten können Alltagskonzepte erfolgreich reduziert und um wissenschaftlich haltbare Vorstellungen ergänzt werden. Hierbei zeigt sich außerdem, dass vor allem ältere Schüler*innen von dieser Art des Konzeptwechsels zu profitieren scheinen (Grospietsch, angenommen).
2.2.5 Evidence-laden Narratives
Eine weitere potentielle methodische Grundlage für ein Konzeptwechselvideo stellt das von Darner (2019) vorgestellte evidence-laden narrative (ELN ) dar. Das vorgeschlagene Konzept ähnelt den Konzeptwechseltexten in der didaktischen und kognitionspsychologischen Grundlage – conceptual change und Erfüllung der basic needs 7 sowie Einsatz metakonzeptueller Elemente – wählen dabei stilistisch jedoch eher den Ansatz des Storytelling. Zur Widerlegung von wissenschaftlichen Mythen soll in der jeweiligen Geschichte eine personalisierte, narrative Instanz einen Konzeptwechsel durchlaufen. Hierbei soll zunächst die Relevanz eines wissenschaftlich korrekten Konzepts hervorgehoben werden, indem diesem wichtige Werte beigemessen werden. Eine entsprechende Geschichte im Kontext des Lerntypen-Mythos könnte daher wie folgt beginnen: „Da Benjamin vor einer wichtigen Abschlussprüfung steht sind für ihn Lerntipps sehr hilfreich: Weil er keine Zeit für ineffektive Methoden aufbringen möchte, müssen die Empfehlungen gut recherchiert sein.“ Daran anschließend soll nach Darner (2019) der Weg der evidenzbasierten Evaluation von verschiedenen Möglichkeiten anhand der fortzuführenden Geschichte nachgezeichnet werden. Zudem sollen die Lernenden innerhalb der Geschichte immer wieder dazu angehalten werden darüber nachzudenken, wie sie in derselben Situation gedacht, gefühlt oder gehandelt hätten. Dadurch soll möglichen backfire -Effekten vorgebeugt werden, indem das Gefühl der Selbstbildbedrohung durch die dialektische Herangehensweise abgeschwächt werden soll. Inwiefern sich jedoch ELN fruchtbarer gegenüber Konzeptwechseltexten erweisen – vor allem im Kontext der Produktion von Erklär- beziehungsweise Konzeptwechselvideos – kann aus einer theoretischen Perspektive nur schwerlich dargelegt werden und sollte daher experimentell untersucht werden. Aufgrund der relativ geringen Evidenzen für die Wirksamkeit soll in der vorliegenden Abhandlung der Ansatz der ELN nicht weiter verfolgt werden.
[...]
1 An dieser Stelle sei auch auf andere, weitverbreitete Neuromythen wie den „Festplatten-Mythos“ oder den populären „10%-Mythos“ verwiesen, welche auf ähnlichen Fehlinterpretationen gründen können (Grospietsch & Mayer, 2019).
2 Eine kurz gefasste Übersicht über potentielle Einsatzmöglichkeiten von Erklärvideos bieten Wolf & Kulgemeyer2016.
3 Der Begriff „Fehlkonzept“ (und dessen Abwandlungen) wird in vielen didaktischen Werken wegen seiner negativen Konnotation sowie seines normativen Charakters häufig abgelehnt und stattdessen Termini wie „Präkonzept", "vorunterrichtliche Vorstellung“ oder eben „Alltagskonzept“ verwendet. Trotz dieser berechtigten Einwände wird dieser Begriff weiterhin gebraucht, da auch aus fachwissenschaftlicher Perspektive argumentiert wird.
4 Der Begriff „Konzeptwechsel“ unterlag einem gewissen Wandel: Während Posner et al. (1982) noch von einem radikalen Austausch von Vorstellungen ausgehen, verweisen neuere Beiträge auf eine moderate Modifikation und Erweiterung von bestehenden Konzepten (Linet al.,2016; Gebhard,2016; Özdemir & Clark, 2007). Diese gemäßigte Lesart wird in der vorliegenden Arbeit angewandt.
5 Um aussagekräftige, theoriegeleitete Ableitungen für die Gestaltung von Erklärvideos vorzunehmen, wird im Sinne des ontologischen Realismus davon abgesehen, Modelle des radikalen Konstruktivismus zu berücksichtigen, sondern eine moderate Position eingenommen (zur Vertiefung: Zabel, 2016).
6 Einen Überblick über den bisherigen Forschungsstand bieten Grospietsch & Mayer (eingereicht)
7 Die basic needs sind nach der Selbstbestimmungstheorie von Deci & Ryan (1993) grundlegende menschliche Bedürfnisse die einen bedeutsamen Einfluss auf die Motivation haben (Perels et al., 2019).
- Quote paper
- Tim Szczygiel (Author), 2020, Gestaltung von Erklärvideos zur Widerlegung von Neuromythen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1274462
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