In der vorliegenden Arbeit sollen folgende Leitfragen beantwortet werden: Was sind mögliche realistische Szenarien für das Kriegsende? Was wären die Folgen für die beteiligten Länder? Rückt die Ukraine durch die Invasion weiter in Richtung Westen? Welche Vor- und Nachteile hätte die EU durch eine Aufnahme? Ist eine Aufnahme in die EU zeitnah realistisch? Wie verändert sich die Stellung der EU im globalen Weltgeschehen? Inwiefern muss der Umgang mit autokratischen Staaten angepasst werden? Was ist dafür nötig? Kann die Aufnahme von Flüchtlingen zur Bekämpfung des Fachkräftemangels beitragen?
"Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht." Mit diesem Zitat verdeutlichte die deutsche Außenministerin Anna-Lena Baerbock am Tag nach Beginn der Russischen Invasion von welcher Relevanz diese neue Dimension des Ukraine-Konflikts für das globale Weltgeschehen sein wird. Seitdem beherrscht dieses Thema das globale politische Weltgeschehen. Doch dieses Zitat wirft ebenso viele Fragen auf: Was genau zeichnet diese neue Welt aus? Inwiefern sind wir davon betroffen und welche Rolle wird Europa darin spielen? Fest steht, dass sich in dieser "anderen Welt" die globalen Kräfteverhältnisse verschieben werden.
Aus diesem Grund soll dem Rezipierenden in der folgenden Arbeit ein Einblick in die Thematik der russischen Invasion in der Ukraine und den damit einhergehenden Folgen für die Europäische Union gewährt werden. Diese sollen anhand vorher aufgestellter Leitfragen einen allgemeinen Erkenntnisgewinn für die anstehenden Herausforderungen der EU liefern. Denn insbesondere für die EU wird der Ukraine-Konflikt maßgebliche Folgen nach sich ziehen, welche sich in den verschiedensten Bereichen ausdrücken werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Geschichte der Ukraine seit dem Zerfall der Sowjetunion
3. Eine völkerrechtliche Einordnung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine
3.1 Die Invasion
3.2 Welche Rolle spielt das Völkerrecht?
3.3 Der Vorwurf des Genozids als Rechtfertigung für die russische Invasion
3.4 Welche Kriegsverbrechen werden Russland vorgeworfen?
3.5 Welche der vorgeworfenen Kriegsverbrechen lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt belegen? - Eine eigene Einschätzung
3.6 Der Status-Quo in der juristischen Aufarbeitung der vorgeworfenen Kriegsverbrechen
4. Die Rolle der EU und der NATO
4.1 Die internationale Bedeutung des Konflikts - eine historische Einordnung
4.2 Die EU als außenpolitischer Akteur
4.3 Das Verhältnis der Ukraine zur EU und NATO
4.4 Eine Erörterung vergangener westlicher Russlandpolitik
4.5 Reaktionen und Zuständigkeiten auf den Konflikt
4.5.1 Eine chronologische Aufarbeitung der durch die EU verhängten Sanktionspakete
4.5.2 Welchen Wert besitzen die restriktiven Maßnahmen der EU?
5. Mögliche Folgen für die EU
5.1 Geopolitische Folgen
5.2 Sicherheitspolitische Folgen
5.3 Wirtschaftliche Folgen
5.4 Migrationspolitische Folgen von Fluchtbewegungen in Folge des Krieges
6. Ausblick
6.1 Mögliche Szenarien für den weiteren Kriegsverlauf
6.1.1 Szenario 1: Die Ukraine gewinnt Krieg / Putschszenario
6.1.2 Szenario 2: Das Unterwerfungsszenario
6.1.3 Szenario 3: Verhandlungsfrieden
6.1.4 Ein eigenes Zwischenfazit
6.2 Eine Diskussion: Sollte die Ukraine in die EU aufgenommen werden?
6.3 Die zukünftige globale Rolle der EU
I. Abbildungsverzeichnis
II. Literaturverzeichnis
Hinweis: Die Abbildungen in dieser Arbeit mussten aus urheberrechtlichen Gründen von der Redaktion entfernt werden.
Die russische Invasion in der Ukraine - eine Folgenabschätzung für die EU
1. Einleitung
„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.“ (Auswärtiges Amt 2022) Mit diesem Zitat verdeutlichte die deutsche Außenministerin Anna-Lena Baerbock am Tag nach Beginn der Russischen Invasion von welcher Relevanz diese neue Dimension des Ukraine-Konflikts für das globale Weltgeschehen sein wird. Seitdem beherrscht dieses Thema das globale politische Weltgeschehen. Doch dieses Zitat wirft ebenso viele Fragen auf: Was genau zeichnet diese neue Welt aus? Inwiefern sind wir davon betroffen und welche Rolle wird Europa darin spielen? Fest steht, dass sich in dieser „anderen Welt“ die globalen Kräfteverhältnisse verschieben werden. Aus diesem Grund soll dem Rezipierenden in der folgenden Arbeit ein Einblick in die Thematik der russischen Invasion in der Ukraine und den damit einhergehenden Folgen für die Europäische Union1 gewährt werden. Diese sollen anhand vorher aufgestellter Leitfragen einen allgemeinen Erkenntnisgewinn für die anstehenden Herausforderungen der EU liefern. Denn insbesondere für die EU wird der Ukraine-Konflikt maßgebliche Folgen nach sich ziehen, welche sich in den verschiedensten Bereichen ausdrücken werden. Als Russland am 24.2.2022 die Ukraine angriff, geschah damit etwas, was sich außerhalb meiner Vorstellungskraft befand. Kannte man den Krieg ansonsten nur aus dem Fernsehen, fühlte man sich von dem einen auf den anderen Moment plötzlich unmittelbar davon betroffen. Geschockt von den Bildern und Ereignissen stand für mich ziemlich schnell fest, dass ich mich näher mit dieser Thematik im Rahmen meiner Masterarbeit auseinandersetzen möchte. Davon erhoffte ich mir möglichst viele Antworten auf die an mich selbst gestellten Fragen zu finden. Darüber hinaus erschien es mir reizvoll, mich spezifisch aus völkerrechtlicher Sicht (unabhängig eigener Gefühle und Sympathien) mit dem Kriegsgeschehen und den Hintergründen zu befassen. Während der Literaturrecherche zwischen Februar und Anfang Mai lagen lediglich vereinzelte wissenschaftliche Quellen vor, sodass vermehrt auf Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine zurückgegriffen werden musste. Da mein Anspruch an dieser Arbeit jedoch darin lag, bei Abgabe eine möglichst aktuelle Ausgangslage zu präsentieren, wurde wichtige aus dem wissenschaftlichen, völkerrechtlichen und englischsprachigen Raum stammende Literatur nachträglich mitberücksichtigt, um die fortführenden Erkenntnisse des Kriegsverlaufs angemessen bewerten zu können. Des Weiteren darf erwähnt werden, dass sich die Informationslage (vor allem bezogen auf die Kapitel, in denen die konkreten Kampfhandlungen beschrieben wurden) aufgrund des anhaltenden Konflikts nicht nur regelmäßig verändert hat, sondern auch viele der genannten Informationen von einer der beiden Kriegsparteien stammen und somit weder als vollständig gesichert noch als vollends objektiv gelten können.
Als Grundlage zur Beantwortung der zuvor aufgestellten Leitfragen werden in den einzelnen Kapiteln dieser Arbeit viele verschiedene Facetten beleuchtet. Somit ist nahezu jedes Unterkapitel als ein Puzzlestück zu verstehen, welches Antworten auf Fragen geben soll, um das Verständnis zur Thematik aufeinander aufbauend zu erweitern. Diese Struktur umfangreicher Themenbereiche erschien mir wichtig, da sie durch ihre Stringenz als Grundlage dazu dient, die daraus entstehende Folgenabschätzung für die EU nachvollziehen zu können. Als Ausgangspunkt dient hierfür die Geschichte der Ukraine, da sie die Hintergründe für die Entstehung des Kriegsausbruchs darstellt. Im darauffolgenden Kapitel werden die Gründe für die Invasion und die Interessen beider Seiten betrachtet. Dabei ist es wichtig zu verstehen, um was für eine Art von Krieg es sich handelt, wie dieser historisch einzuordnen ist, welche Pläne Russland bei der Invasion verfolgt, wie diese umgesetzt werden und welche ihrer Ziele sie bis dato erreicht haben. Darüber hinaus wird der Krieg in diesem Kapitel aus einer völkerrechtlichen Sichtweise heraus analysiert. Dabei liegt der Fokus auf den bisher vorgeworfenen Kriegsverbrechen und einer Selektion derer, die sich zum jetzigen Zeitpunkt bereits verifizieren lassen. Die Erkenntnisse dieser Analyse dienen als Hauptbestandteil für die darauffolgende juristische Aufarbeitung und die eingenommene Rolle von EU und NATO während des Ukraine-Kriegs, welche im Anschluss daran näher beleuchtet werden. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werden die beiden Bündnisse gemeinsam mit anderen vereinzelten westlichen Staaten, die für diese Thematik jedoch eine untergeordnete Rolle spiele, unter dem Begriff „Der Westen“ zusammengefasst. Das Ziel dieses Kapitels ist ihre Zuständigkeit und Position im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu analysieren und dabei folgende Fragen zu beantworten: Inwiefern trägt der Westen eine Mitschuld an der russischen Invasion? In welchem Ausmaß sind EU und NATO von dem Krieg betroffen und welche Position nehmen sie dabei ein? Auch dieses Kapitel dient als eine Art Baustein um das darauffolgende Kapitel mögliche Folgen für die EU nachvollziehen zu können. In diesem findet eine Analyse der sicherheitspolitischen, geopolitischen, wirtschaftlichen und migrationspolitischen Auswirkungen von Fluchtbewegungen infolge des russischen Angriffskrieges anhand eigener Einschätzungen, sowie derer verschiedener Politologen, Wissenschaftler, Juristen und Professoren statt. In den beiden letztgenannten Bereichen dient Deutschland aufgrund seiner führenden Rolle als stärkste Volkwirtschaft als Indikator für die Auswirkungen auf die gesamte EU. Der abschließende Ausblick befasst sich mit möglichen Endszenarien des Krieges, der Debatte um eine zeitnahe Aufnahme der Ukraine in die EU sowie der Suche nach einer neuen Stellung der EU im Weltgeschehen. Dabei sollen die gewonnen Erkenntnisse folgende Leitfragen beantworten:
Was sind mögliche realistische Szenarien für Kriegsende? Was wären die Folgen für die beteiligten Länder?
Rückt die Ukraine durch die Invasion weiter in Richtung Westen? Welche Vor- und Nachteile hätte die EU durch eine Aufnahme? Ist eine Aufnahme in die EU zeitnah realistisch?
Wie verändert sich die Stellung der EU im globalen Weltgeschehen? Vor welche Herausforderungen werden sie gestellt, was ist ihre neue Rolle und welche Chancen ergeben sich dadurch? Inwiefern muss der Umgang mit autokratischen Staaten angepasst werden? Was ist dafür nötig? Was bedeutet das, für das zukünftige Verhältnis zu Russland?
Eine Verknüpfung aus den verschiedenen neuen Herausforderungen: Kann die Aufnahme von Flüchtlingen zur Bekämpfung des Fachkräftemangels beitragen?
2. Die Geschichte der Ukraine seit dem Zerfall der Sowjetunion
Eingeklemmt zwischen der EU-Ostgrenze und Russland ist die Ukraine mit einer Fläche von 603.000 Quadratkilometern der größte Staat, dessen Grenzen vollständig in Europa liegen. Der ukrainische Staat, der einst zu den 15 Sowjetrepubliken zählte, existiert in seinen heutigen Grenzen somit erst seit 1991 und ist in historischen Dimensionen gedacht somit noch ein sehr junger Staat. Nach einem gescheiterten Putschversuch in Moskau, in dem reaktionäre Kräfte vergeblich versuchten das Staatsoberhaupt der Sowjetunion abzusetzen, erklärte die Ukraine am 1. Dezember 1991 im Zuge einer Volksabstimmung, bei der über 90% der Bevölkerung für einen Austritt gestimmt hatten, ihre Unabhängigkeit (vgl. Schulz 2022). Der Beschluss der Unabhängigkeit zog weitreichende Folgen und aufkommende Grundsatzentscheidungen mit sich. Mit dem Untergang der über jahrzehntelang-regierenden kommunistischen Partei der Sowjetunion fand eine Neuorientierung in Richtung Westen statt, von der man sich erhoffte, die eigenen Probleme durch marktwirtschaftliche Prinzipien innerhalb der neugefundenen Staatsgrenzen besser zu lösen. Spätestens seit der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 ist die Beziehung zwischen Russland und der Ukraine zerfahren. Zu den Gründen zählen die Aufteilung der Schwarzmeerflotte, der Status der Halbinsel Krim und der Stadt Sewastopol sowie die ausstehenden Gasschulden (vgl. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 2022c). Indem die Ukraine in großen Mengen Erdgas von ihrem Nachbarstaat importierte, blieb sie trotz ihrer formalen Unabhängigkeit weiterhin wirtschaftlich und finanziell stark von Russland abhängig. Darüber hinaus sorgte der Status der Ukraine als wichtigstes Transitland für russische Erdgasexporte nach Europa zu daraus resultierenden Konflikten, die vom Streit um Konditionen bis hin zu mehrfachen Lieferstopps führten. In einem Zwiespalt zwischen Neutralität, pragmatischer Beziehungen zu Russland und westlicher Identitätsbildung befindet sich die Ukraine seitdem in einem Orientierungsprozess, um ihre Rolle in der internationalen Politik zu finden. Dadurch, dass das neu regierende politische Herrschaftssystem jedoch weiterhin von alten sowjetischen Eliten geprägt und beeinflusst wurde, schritten die geplanten Entwicklungen nicht wie zuvor erhofft voran (vgl. Schulz 2022). Als ein bedeutendes Ereignis der postsowjetischen Ukraine gilt das Budapester Memorandum vom 5. Dezember 1994, in dem sich die USA, Russland und Großbritannien zur Einhaltung territorialer Unversehrtheit und politischer Unabhängigkeit der Ukraine, Kasachstans und Belarus verpflichteten. Ein weiterer Meilenstein in der jüngeren ukrainischen Geschichte war die neue Verfassung, welche 1996 durch das Parlament verabschiedet wurde und dadurch die damalige, aus der Sowjetzeit stammende, Verfassung ersetzte. Neben einer starken Stellung des Präsidenten, wurden weitere Grundrechte garantiert, die Ukraine als Einheitsstaat und ukrainisch zur Staatssprache erklärt, sowie den Minderheiten ein Garantieschutz ihrer Identitäten und Sprachen gewährt (ebd.). Während der damalige Präsident Janukowytsch offen vom Kreml unterstützt wurde, erfuhr sein Konkurrent Wiktor Juschtschenko Zuspruch von europäischen und US-amerikanischen Politikerinnen, da er eine soziale Marktwirtschaft, den Kampf gegen die Korruption und eine Annäherung an den Westen versprach. Nachdem die Stichwahl knapp an Janukowytsch ging, wurde kurz darauf klar, dass die Ergebnisse manipuliert worden waren (ebd.). im Zuge dieser manipulierten Wahl kam es in den Wochen darauf zu Protesten bei denen täglich bis zu einer Million Menschen auf dem Maidan, dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz, zusammenkamen, um dort ihren Protest kundzutun. Während dieser Zeit schien ein immer tiefer werdender Riss durchs Land zu gehen und es gab nur wenige Bestrebungen der politisch Verantwortlichen, um dies zu ändern (vgl. Ser- gijenko 2020: 11). Durch das öffentliche Auftreten in der Farbe Orange, die bereits für den Wahlkampf Juschtschenkos verwendet wurde, gaben die Protestierenden den Ereignissen einen Namen, die Orangene Revolution. Die Proteste hielten so lange an, bis eine Prüfung der Wahlergebnisse unausweichlich wurde, in Folge derer die Wahl Janukowytschs dann für ungültig erklärt wurde. Die Neuwahlen gewann Juschtschenko mit deutlichem Abstand. Am 23. Januar 2005 wurde er als dritter Präsident der Ukraine vereidigt.
Aufgrund anhaltender Streitigkeiten über territoriale Ansprüche erkannte Russland im „Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft“ die Ukraine als unabhängigen Staat an. Mit der „West-Annäherung“ der Ukraine durch den Beitritt zur GUAM (Organisation für Demokratie und Wirtschaftsentwicklung zwischen Georgien, Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien) sowie den darauffolgenden Beitritt zur Welthandelsorganisation im Jahr 2008 sah Russland seinen Einfluss jedoch dahinschwinden (vgl. Landeszentrale für politische Bildung Baden- Württemberg 2022c). Der zu diesem Zeitpunkt amtierende russische Präsident Dimitri Medwedew suchte die Schuld bei der ukrainischen Regierung, indem er im Folgejahr Schuldzuweisungen in einem offenen Brief an den damaligen Präsidenten Juschtschenko verfasste. Seiner Ansicht nach seien das ukrainische Streben in die NATO, die Abkoppelung von Russland im Energiesektor sowie die ukrainischen Waffenlieferungen an Georgien gezielt gegen Russland gerichtete Aktionen (ebd.). Eine weitere ausschlaggebende Ursache für den immer wieder aufkommenden Bruch im Verhältnis beider Länder zueinander ereignete sich jedoch schon einige Jahrzehnte zuvor. Die Schenkung der Halbinsel Krim in den 1950er Jahren anlässlich des 300jährigen Jubiläums der Einheit des ukrainischen Volks durch den damaligen Parteichef der Sowjetunion Nikita Chruschtschow bezeichnen Putin sowie einen Großteil der Russinnen rückblickend als einen großen Fehler. Das Gebiet des Steinkohlebergbaus und der Schwerindustrie gilt durch seine Lage am Schwarzen Meer schon seit jeher aus geopolitischer Sicht als strategisch wichtig für das russische Imperium (ebd.). Bis ins Jahr 2010 war die Politik in der Ukraine von inneren Machtkämpfen geprägt. Da ein Großteil der zuvor versprochenen Reformen nicht umgesetzt wurde, verloren Juschtschenko und sein Parlament vermehrt an Rückhalt in der Bevölkerung (vgl. Schulz 2022). Neben politischer Konfrontation mit Russland war der außenpolitische Kurs der Regierung von einer Annäherung an den Westen geprägt, welche in dem Ziel einer Aufnahme in EU und NATO mündete. Die 2007 aufgrund Juschtschenkos sinkender Beliebtheit vorgezogenen Neuwahlen waren ein weiterer Grund dafür, dass bis ins Jahr 2010 kaum Reformen auf den Weg gebracht werden konnten. Neben einer daraus resultierenden desolaten wirtschaftlichen und sozialen Situation des Landes, galt das Parlament inzwischen als ein Schauplatz gegenseitiger Vorwürfe, welche bis hin zu Handgreiflichkeiten ausuferten (ebd.). Somit zeigte sich bereits frühzeitig, dass die Orangene Revolution für keinen nachhaltigen Umschwung in der Politik sorgen konnte.
Nachdem der zuvor bereits gestürzte Janukowitsch nach den Wahlen 2010 erneut den Posten als Präsident einnahm, begann die Ukraine sowohl Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit der EU, welches eine weitreichende Integration des Landes in den Europäischen Wirtschaftsraum beinhaltete, als auch Verhandlungen mit Russland über einen möglichen Beitritt in die von Russland ins Leben gerufene Zollunion, mit dem Ziel möglichst viele der ehemaligen Sowjetstaaten in einem neuen Wirtschaftsraum zu vereinen. „Die immer deutlicheren Forderungen von beiden Seiten (EU und Russland), sich für eine Richtung zu entscheiden, destabilisierten die ukrainische Gesellschaft immer mehr und überforderten zunehmend die politischen Entscheidungsträger in Kiew.“ (Sergijenko 2020: 19) Infolge der Parlamentswahlen 2012, die mit einer Wahlbeteiligung von unter 60% die geringste seit der Erlangung der Unabhängigkeit aufwies, wurde deutlich, dass die unwirksame Politik der vergangenen Jahre zu einer Politikverdrossenheit bei der Bevölkerung geführt hatte. „Das Wahlvolk hatte den Staatszirkus durchschaut und begann sich zunehmend zu verweigern“ (ebd.: 13). Dem geringen Einkommensniveau und bitterer Armut standen konzentrierter Reichtum einiger weniger gegenüber.
Nachdem ein Teil der Bevölkerung gegen einen möglichen Beitritt der Ukraine in die russische Zollunion demonstrierte, gab Janukowitsch zum Jahresende 2013 dem Druck aus Russland nach und verkündete den Stopp der Verhandlungen über das Assoziierungseinkommen mit der EU. Daraufhin kam es erneut zu großen landesweiten Protestaktionen. Die amtierende Regierung reagierte mit harten Maßnahmen auf die neuerlichen Proteste. Die kritische Presse wurde eingeschränkt und politische Gegner wurden systematisch eingeschüchtert. Darüber hinaus wurden zahlreiche Verordnungen erlassen, welche die Macht des Präsidenten zusätzlich stärkten (vgl. Schulz 2022). Sein Versuch der gewaltsamen Räumung des Maidan durch militärische Spezialeinheiten führte zu einer weiteren Eskalationsstufe der Gewalt. Solidarisierungsbekundungen westlicher Politiker mit den Demonstrierenden führten hingegen zu einer Warnung des Kremls, sich nicht in ukrainische Angelegenheiten einzumischen. Infolge der anhaltenden Gewalt erklärte Ministerpräsident Asarow samt seiner Regierung am 28. Januar 2014 ihren Rücktritt. Während sich in den größeren urbanen Regionen im Zentrum und im Westen des Landes die ukrainische Zivilgesellschaft ein selbstbestimmtes, demokratisches Nationalverständnis entwickelt hatte, die bereit war sich aus der „Umarmung des großen Bruders“ zu lösen, regte sich durch die russische Propaganda im Osten und Süden der Ukraine vermehrt ein Widerspruch gegen die Forderungen der Maidan Demonstranten (ebd.).
Nachdem Janukowitsch im Februar 2014 durch seine Flucht nach Russland den Weg für einen erneuten Machtwechsel ebnete, wurde Sergij Askenow infolge der Besetzung des Regierungsgebäudes der seit 1994 „Autonomen Republik“ Krim unter Mithilfe von russischen PolitikerInnen zum neuen Ministerpräsidenten erklärt. Infolge eines angesetzten Referendums stimmten 97% der Krim-Bewohner für eine Wiedervereinigung mit Russland. Die damit einhergehenden Folgen zeigten sich in einer Einführung des Rubels als Zahlungsmittel, der Integration der Krim in offizielle russische Karten sowie dem Aushändigen der russischen Staatsbürgerschaft für die dort ansässigen Bewohner. Während Putin die Annexion der Krim im Jahr 2014 durch die Bedrohung der russischen Bürgerinnen in der Ukraine rechtfertigte, argumentierte die Gegenseite, dass es Russland nur darum ginge seinen Machtbereich auszuweiten. Insbesondere das Sichern der Basen der Schwarzmeerflotte sei Putin weitaus wichtiger als der Schutz seiner dort ansässigen russischen Landsleute (vgl. Richter 2022: 3). Putin begründete sein Vorgehen, indem er einen angeblichen Genozid an der russischen Bevölkerung durch das Kiewer Regime propagierte, wodurch die ukrainische Bevölkerung im Osten des Landes zusätzlich für den russischen Kurs mobilisiert wurde (vgl. Schulz 2022). Seiner Meinung nach sei die Ukraine zwar zweifellos ein unabhängiger Staat, jedoch dürfe nicht vergessen werden, dass der heutige russische Staat seine Wurzeln am Dnjepr hat und die Ukraine somit ein Teil der großen russischen oder russisch-ukrainischen Welt sei (ebd.). Dabei betont er immer wieder die soziale Bindungskraft der russischen Sprache und Literatur sowie der russischen Orthodoxie und der gemeinsamen ostslawischen Identität, welche insbesondere in den Separatistengebieten der Ukraine zur Legitimierung des russischen Einflusses beitrage (vgl. Österreichischer Rundfunk 2022). Neben dem Zugang zum Schwarzen Meer weist Russland der Ukraine eine besondere Rolle zu, da sie die zweitgrößte Teilrepublik der Sowjetunion war und somit oberste Priorität für die Wiedererrichtung einer russischen Einflusssphäre genießt. Als Hauptgrund für den Ausbruch und die Fortsetzung des Krieges sind somit die Interessen Russlands sowie deren schon immer da gewesenen territorialen, wirtschaftlichen und politischen Ansprüche an die Ukraine zu nennen (vgl. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 2022c; Sasse 2019: 41).
Die durch prorussische Demonstrationen zugespitzte Situation in den Städten Donezk und Luhansk mündete in der Besetzung der Gebäude der Regionalverwaltung durch die Separatisten. Mithilfe russischer Unterstützung in Form von Waffen schufen sie ein Klima der Angst und riefen beide Städte, nach hochumstrittenen Volksabstimmungen, als „Souveränen Volksrepubliken“ aus. Mit der Vereidigung Petro Poroschenkos im Mai 2014 schien das Land sich durch die hohe Fluktuation der Präsidenten und der immer wieder aufkommenden Demonstrationen in einer ewigen Revolution zu befinden. Jedoch sollten auch diese Präsidentschaftswahlen, in denen die revolutionär an die Macht gekommene provisorische Regierung sich durchsetzen konnte, nicht das Ende dieser bedeuten (vgl. Geistlinger 2014: 176f). Der Mitte Juni verkündete Friedensplan des neugewählten Präsidenten Poroschenko zeigte durch seine Vorschläge weitgehender Dezentralisierung für die Volksrepubliken Luhansk und Donezk, dass kaum ein Weg an der Föderalisierung der Ukraine vorbeiführen würde. Aufgrund anhaltender Auseinandersetzungen einigten sich Vertreter der Ukraine, der Separatisten, Russlands und der OSZE im September in Minsk auf eine Waffenruhe und den Austausch von Gefangenen (sog.
Minsker Abkommen). Darüber hinaus beinhaltete das Abkommen, dass die Ukraine eine vollständige Kontrolle über das Gebiet innerhalb ihrer Staatsgrenzen zurückerlangen sollte (siehe Abbildung 1).
Während sowohl die Ukraine als auch Russland große Probleme damit hatten, die einzelnen Punkte aus dem Minsker Abkommen umzusetzen, hielt Russland an dem Ziel der Destabilisierung der Ukraine fest. Dies taten sie, indem ihr bewaffneter Angriff auf einem niedrigschwelligen Niveau weitergeführt wurde, um somit weiterhin einen Einfluss auf die politische und wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine nehmen zu können (vgl. Sasse 2019: 41; vgl. Schulz 2022). Statt die Politik innerhalb des Landes darauf auszulegen den Konflikt zu lösen, bestimmten Korruption und Rechtlosigkeit weiterhin den politischen Alltag in der Ukraine. Laut Bevölkerung hatte sich nach 2014 nur wenig für sie geändert (vgl. Sergijenko 2020: 40). „Ob du wählen gehst oder nicht; die Tröge bleiben immer dieselben, nur die Schweine wechseln“ (ebd.). Der durch den Kriegszustand aufgebaute politische Druck hinderte die Ukraine zusätzlich daran, die schwierigen politischen und wirtschaftlichen Reformen nach westlichen Modellen voranzubringen, sowie weitere Beitrittsverhandlungen zur EU und der NATO zu forcieren. Bei dem Krieg handelte es sich nicht um einen Bürgerkrieg, sondern um einen geopolitischen, internationalen Konflikt, an dem sich zwar vereinzelnd einige Separatisten beteiligten, jedoch nicht die gesamte Bevölkerung involviert war (vgl. Sasse 2019: 42). Ohne die massive Unterstützung Russlands in Form von Waffen und finanziellen Mitteln hätten die Separatisten ihre Stellungen wohl nicht halten können (ebd.). Rückblickend lässt sich sagen, dass Putins Intention insofern nicht aufging, als dass der Krieg sowohl den innen- als auch den außenpolitischen Kurs der Ukraine in Richtung Westen weiter bestärkte (ebd.: 41).
Mit der Präsidentenwahl am 31. Mai 2019 ging der zuvor durch die Fernsehsendung „Diener des Volkes“ bekannte Wolodymir Selenskyj bereits im ersten Wahlgang mit über 70% der Stimmen als Sieger hervor. Den damit verbundenen neuen Hoffnungen und Erwartungen folgten einige Reformen, wie beispielsweise ein Lobbygesetz, welches den Oligarchen künftige Finanzierung von Parteien verbieten sollte. Darüber hinaus fanden Annäherungen an den Westen und Friedensgespräche mit Russland statt. Nachdem seit Beginn des bewaffneten Konfliktes im Donbass inzwischen über 10.000 Zivilisten in der Ostukraine getötet wurden erfährt die Auseinandersetzung im Februar 2021 eine neue Dimension, indem Russland ein großes Truppenaufgebot von rund 150.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine stationierte. Darüber hinaus verkündete Putin bei einer weiteren Zunahme der Kampfhandlungen im Donbass militärisch zum Schutz seiner dort lebenden Staatsbürgerinnen in Form einer sogenannten „militärischen Spezialoperation“ einzugreifen. In einem veröffentlichten Artikel aus dem Juli 2021 betonte Putin erneut die Einheit beider Völker und die damit verbundenen Gebietsansprüche Russlands in der Ukraine (vgl. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 2022c). Er warf der ukrainischen Führung eine Fremdsteuerung durch den Westen vor und bezeichnet die Zweistaatlichkeit als einen „Unfall der Geschichte“. Ein Hauptaugenmerk legte Putin dabei auf den Donbass. Neben den ständigen Verstößen gegen das Minsker Abkommen, zeige die im Donbass herrschende Russophobie und Zwangsukrainisierung, die sich speziell gegen die russischsprachige Bevölkerung richte, dass Kiew diese Region nicht brauche (ebd.)
Anschließend an Putins Forderung, dass er keine weitere NATO-Osterweiterung und damit auch keinen Beitritt der Ukraine in das Bündnis dulden werde, startet Russland am 24. Februar 2022 den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Putins Auffassung nach sei die derzeitige ukrainische Regierung „faschistisch“ und müsse seinem Wortlaut nach „entnazifiziert“ und „entmilitarisiert“ werden, damit das dort ansässige russische Volk wieder in Frieden leben könne (vgl. Tagesschau 2022c). Infolge der Unterzeichnung eines „Freundschaftsvertrages“ und der Entsendung russischer Truppen wurden die Gebiete Donezk und Luhansk schließlich als unabhängige Staaten anerkannt und somit unter Putins militärischen Schutz gestellt. Insbesondere die Befürchtung vor einer sich verbreitenden westlichen demokratischen Denkweise in Richtung Russland lässt Putin in ein Denken und Argumentieren in Einflussfähren, Interessensgebieten und traditionellen Ansprüchen zurückkehren. So bezeichnete er den damaligen Zerfall der Sowjetunion als die „größte politische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ und stellte die Staatlichkeit der Ukraine infrage (ebd.). Diese sei nicht nur ein Nachbarland, sondern integraler Bestandteil der russischen Geschichte, Kultur und ihres spirituellen Kontinuums. An dieser Stelle ist ein Kulminationspunkt eines Konflikts erreicht, welcher spätestens nach der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1991 von der damaligen Sowjetunion, seinen Ausgang genommen hat (vgl. Österreichischer Rundfunk 2022).
3. Eine völkerrechtliche Einordnung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine
3.1 Die Invasion
Um verschiedene Facetten der Invasion näher zu beleuchten, bedarf es zunächst einer kurzen Analyse der Argumentation Putins zur dessen Vorgehen. Anhand seiner geopolitischen und geschichtlichen Denkweise möchte er durch die Wiederherstellung der russischen Einflusszone auf direkte Entscheidungen seiner Nachbarländer Einfluss nehmen können (vgl. Müller- Sieczkarek 2022: 3). Dementsprechend besitzt Putin verschiedene Forderungen an seinen ukrainischen Nachbarstaat. Erst durch die Anerkennung der Krim als russisches Territorium, die Anerkennung der Unabhängigkeit beider Volksrepubliken im Donbass und die Verankerung der Neutralität in der Verfassung der Ukraine wären die Bedingungen für ein mögliches Kriegsende erfüllt (vgl. Tagesschau 2022c). Aufgrund einer aus seiner Sicht faschistischen ukrainischen Regierung und den russischen Sicherheitsinteressen sei eine „Entnazifizierung“ und „Entmilitarisierung“ des Landes so legitim, wie die Ansprüche der Nachbarvölker auf Selbstbestimmung vor dem übermächtigen Russland illegitim seien (vgl. Kielmansegg 2022: 7). Dadurch, dass die Ukraine eine Mitgliedschaft in der NATO anstrebe, der Westen mit den Folgen der Pandemie beschäftigt ist, die Europäer um die Migration und Rechtsstaatlichkeit streiten und Putin die seit 20 Jahren betriebene Modernisierung der russischen Streitkräfte ausreichend für eine größere Militäraktion erschien, sah dieser den gewählten Zeitpunkt für den Beginn der Invasion als günstig an (vgl. Müller-Sieczkarek 2022: 3; Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel 2022: 1).
Der Plan der Invasion schien über einen Einmarsch an vier Achsen zu erfolgen (siehe Abbildung 2). Neben der ukrainischen Hauptstadt Kiew, nahmen die Russen die ostukrainische Metropole Charkiw ins Visier, zielten auf die Eroberung des restlichen Donbass ab und versuchten darüber hinaus den Süden des Landes zu erobern, um die Ukraine von ihren gesamten Seeverbindungen abzuschneiden (ebd.: 2). Nachdem sich der Krieg in den ersten Tagen noch vornehmlich als ein Kampf zwischen professionell geführten Armeen gestaltete, wandelte sich diese Annahme bereits innerhalb weniger Wochen. Da der Beginn der Invasion aus russischer Sicht weitestgehend erfolgslos blieb, nahm die russische Armee bereits nach kurzer Zeit nun auch vornehmliche zivile Ziele und Infrastruktur, wie Wohnblocks oder Krankenhäuser unter Beschuss. Durch das Fehlen humanitärer Korridore wurden nicht nur tausende Zivilisten getötet, sondern auch Hunderttausende in ihren beschossenen Städten eingekesselt und somit multiplen Problemlagen ausgesetzt (z.B. Wasser- und Nahrungsmittelknappheiten, kein Zugang zu Strom und Elektrizität, mangelnde medizinische Versorgung).
Die anschließenden Wochen der Invasion waren von der Diskussion um weitere Unterstützung in Form von Waffen an die Ukraine gezeichnet. Im Rahmen des NATO-Gipfels forderte beispielsweise Estland die Lieferung von Panzern und Kampfflugzeugen zur Unterstützung der Ukraine (vgl. Pribyl 2022: 3). Dies wurde zu diesem Zeitpunkt jedoch von der Mehrheit der NATO-Länder abgelehnt. Macron appellierte daran, dass es eine Grenze gebe, welche darin bestehe, nicht selbst zur Kriegspartei zu werden (ebd.). Die anhaltende russische Invasion be- wegte die NATO jedoch dazu, die eigenen Truppen im östlichen NATO-Gebiet massiv aufzustocken und darüber hinaus in der Luft sowohl mehr Jets einzusetzen als auch die integrierte Luft- und Raketenabwehr zu stärken, womit die Vereinbarungen der NATO-Russland-Grund- akte Geschichte sind. In einer Abschlusserklärung der NATO-Bündnispartner warnten die Staaten Russland vor dem Einsatz chemischer Waffen und der Gefährdung der globalen Sicherheit. Der Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte in Europa habe zudem Bündnisfähigkeiten zur Abwehr von chemischen, biologischen und atomaren Bedrohungen aktiviert (vgl. Der Spiegel 2022b). Neben dem Stationieren vier zusätzlicher Battlegroups in der Slowakei, Ungarn, Bulgarien und Rumänien erklärte NATO-Generalsekretär Stoltenberg, dass die NATO weitere Waffen an die Ukraine liefern und Russland mit „noch nie da gewesenen Kosten“ belegen würde (ebd.).
Nachdem die russische Armee es in der ersten Woche verpasste die ukrainische Luftwaffe zu zerstören und zudem kaum geschützte Bodentruppen in viel zu kleinen Einheiten ins Land schickte, zeigten sich erste eklatante Mängel in der Koordination der russischen Streitkräfte (vgl. Becker et al. 2022: 22f.). „Es ist schockierend, wie inkompetent sie in den Grundlagen gemeinsamer Militäroperationen eines fortgeschrittenen Landes sind“, so der ehemalige Pentagon-Beamte Barry Pavel gegenüber der Washington Post. (Witte et al. 2022) Zwar passte Putin diese Strategie daraufhin durch mehr Raketen, Granaten, Angriffe auf zivile Ziele und das Umzingeln großer Bevölkerungszentren an, jedoch ließ sich die Armeelogistik nicht in dem gleichen Tempo ändern wie die Taktik, so Ed Arnold vom Rusi (ebd.). Dementsprechend waren schätzungsweise rund 70% der russischen Truppen in der Ukraine nicht ausreichend mit Nahrung und Treibstoff versorgt (ebd.). Hinzu kamen weitere Fehler des russischen Militärs, welche dem zeitlichen Druck ihres Vorhabens geschuldet waren, sagt Jon Spencer, Leiter der Urban Warfare Studies am New Yorker Madison Policy Forum (vgl. Schaap 2022: 19). Mit der Strategieänderung Putins erreichte jedoch auch die Kriegsführung ein neues Ausmaß in Form von Zerstörung und Grausamkeit. Neben den Bomben auf zivile Einrichtungen und Fluchtkorridore, sowie hemmungslosen Plünderungen wurden in Städten wie Butscha oder Mariupol Massengräber mit hunderten von Leichen gefunden. Infolge der Belagerung des Hafens in Mariupol kam es zu Engpässen bei Wasser-, Lebensmittel- und der Medikamentenversorgung.
Während die Angriffe im Süden der Ukraine aus russischer Sicht einigermaßen erfolgreich verliefen und einige Gebiete besetzt werden konnten, kamen im Norden des Landes weitere Probleme hinzu. Laut den Aussagen verschiedener WissenschaftlerInnen zeigte sich bereits sehr früh, dass das Kräfteverhältnis der beiden Armeen gar nicht so ungleich zum Vorteil der russischen Streitkräfte war, wie anfangs gedacht (ebd.; vgl. Müller-Sieczkarek 2022: 3). Trotz einer nominell mehr als doppelt so großen Militärstärke wurden die Russen somit in den Augen vieler Beobachterinnen deutlich leistungsfähiger eingeschätzt, als es sich dann im Konflikt darstellte (siehe Abbildung 3). Neben deutlich moderneren und effektiveren Kommunikationsstrukturen verfolgten die ukrainischen Truppen eine Art Doppelstrategie (vgl. Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel 2022: 2). Indem sie sich in urbane Gebiete zurückzogen, konnten die russischen Streitkräfte ihre zahlenmäßige Überlegenheit schwerer ausnutzen und die russischen Eroberungsversuche entpuppten sich schnell als sehr verlustreich. Zum anderen setzten sie insbesondere im Norden auf zahlreiche Überfälle in viel bewaldeten schlammigen Geländen und griffen dort an, wo sich Fahrzeuge nur schwer abseits der Straßen bewegen konnten. Mithilfe dieser Vorgehensweise schafften sie es, den russischen Konvois in kleinen beweglichen Gruppen mit Panzerabwehrwaffen regelmäßig schwere Schäden zuzufügen. „Die Ukrainer zwingen die russischen Streitkräfte in einen Kampf, in dem Masse oder eine größere zusammenhängende Truppe keinen Vorteil bringen“ analysiert Michael Kofmann, der Leiter der Russlandabteilung des Center for Naval Analyses, einer Forschungseinrichtung der US-Marine gegenüber dem Spiegel. (Imhof/ Schaap 2022: 12) Zwar stammen die meisten Informationen aus dem Hauptquartier der ukrainischen Streitkräfte und sind in der Regel glaubwürdiger als die Informationen des russischen Militärs, jedoch gewinnt man oft den Eindruck, dass die Erfolge ihrer eigenen Truppen und die Verluste des russischen Militärs oftmals als weitreichender dargestellt werden, als sie tatsächlich sind (vgl. Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel 2022: 3). Das unerwartet ausgewogene Kräfteverhältnis beider Länder zueinander war jedoch nicht die einzige Fehlannahme in den russischen Plänen für die Invasion gegen die Ukraine. Einer der ausschlaggebendsten Faktoren für den ausbleibenden militärischen Erfolg Russlands ist der Moral der eigenen Truppen zu zuschulden. Die Gründe dafür bestehen zum einen darin, dass ein Großteil der Armee aus jungen, schlecht ausgebildeten wehrpflichtigen Soldaten besteht, welche nicht darauf vorbereitet waren in einen Krieg zu ziehen (vgl. Schaap 2022: 18). Das Militär hatte sich zudem auf eine Art Polizeiaktion zum Sturz der Regierung ohne großen Widerstand vorbereitet und nicht auf einen echten Krieg (vgl. Sieczkarek 2022: 3). Stattdessen reagierte sowohl das ukrainische Militär auf die Kämpfe als auch tausende Menschen der ukrainischen Zivilbevölkerung, indem sie durch das Werfen von Molotowcocktails auf die russischen Schützenpanzer und offenen Proteste in Städten wie Cherson gegen russische Soldaten ihren Widerstand zum Ausdruck brachten. Denn mit Anbeginn der russischen Invasion haben viele in ukrainischen Städten lebende Menschen ihre Sympathien für Russland verloren und präsentieren sich nun vereint als stolz kämpfende UkrainerInnen im Widerstand gegen Russland, so der ukrainische Philosoph Wolodymyr Jermolenko (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2022b). Dass sich teilweise sogar unbewaffnete Frauen und Männer russischen Panzern entgegenstellen, zeigt den enormen Widerstandsgeist der ukrainischen Bevölkerung. „Die Ukraine ist in dem Gefühl, was eine Nation ist, die an ein Territorium, an einen Staat gebunden ist, viel weiterentwickelt, als viele erwartet hatten.“ (Sasse 2019: 43) Damit einhergehend stieg mit Beginn der Invasion stetig der Glaube der ukrainischen Bevölkerung daran, den russischen Angriffskrieg abwehren zu können (siehe Abbildung 4). „Die unbedingte Verteidigungsbereitschaft der Ukrainer passte nicht in das russische Propagandabild. Der Misserfolg der russischen Streitkräfte war zu einem großen Teil der Tatsache geschuldet, dass die Militärs den Propagandalosungen aus Moskau Gehör geschenkt haben, oder schenken mussten. Aber auch die Erfahrungen mit der weitgehenden Passivität der Ukrainer aus Anlass der Krim-Besetzung 2014 könnten eine Rolle gespielt haben.“ (Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel 2022: 6) Die Demoralisierung der russischen Soldaten drückte sich nicht nur in der Verweigerung von Befehlen aus, sondern nahm stattdessen sogar Formen der Sabotage an. Neben dem Lahmlegen der eigenen Ausrüstung wurden sogar eigene Flugzeuge abgeschossen, so Jeremy Fleming, der Chef des britischen Geheimdienstes GCHQ (ebd.: 9f.; vgl. Gutscher/ Sattar 2022: 2). Darüber hinaus zeigen Videos in den sozialen Medien zurückgelassenes russisches Militärequipment in Form von Panzern, Raketenwerfern und Flugabwehrgeschützen, welche funktionstüchtig in die Hände der UkrainerInnen fielen. Dies sei ein eindeutiges Zeichen für die schlechte Moral der Truppen, so Phillips O’Brien, Professor für Militärstrategie an der University of St Andrews in Großbritannien (vgl. Schaap 2022: 18). Jedoch schätzte nicht nur Putin die Lage vor Kriegsbeginn falsch ein. Aus der Sicht Selenskyjs war der russische Aufmarsch nur eine Drohkulisse, die nicht in einem tatsächlichen Krieg enden würde (vgl. Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel 2022: 7). Dadurch kam die Mobilmachung zu spät und die ukrainischen Streitkräfte schienen teilweise überrascht.
Nachdem die russische Armee sich vorerst aus ukrainischem Gebiet zurückzog, um eine anstehende Großoffensive im Donbass zu planen, bat der ukrainische Präsident Wolodymyr Se- lenskyj den Westen verstärkt um zusätzliche Hilfe. Darüber hinaus seien die Waffen nicht nur für die ukrainische Sicherheit, sondern ebenso für die Sicherheit der weiteren NATO-Länder vonnöten (vgl. Gutschker 2022a: 5). Zu diesem Zeitpunkt fand ein Umdenken in der NATO statt, welches vor wenigen Wochen noch undenkbar gewesen wäre. So wich die NATO von ihrer bisherigen Linie ab, in der sie lediglich defensive Waffen an die Ukraine lieferte, und forderte die Verbündeten dazu auf, weitere Unterstützung in Form vieler verschiedener Waffensysteme für die Ukraine bereitzustellen (ebd.). Stoltenberg rechtfertigte die Entscheidung, in dem eine Unterstützung der Ukraine in Form von defensiven und offensive Waffen aufrechterhalten werden müsse, um der russischen Invasion standhalten zu können. Dafür sei es zunehmend wichtig, das aktuelle Zeitfenster bis zum anstehenden Großangriff Russlands zu nutzen (ebd.). Zu Beginn der Invasion verwiesen einige Mitgliedsstaaten noch auf die Gefahr, dass solche Lieferungen eine Eskalation des Konflikts provozieren könnten. Denkt man an die Aussage Macrons und der nicht zu übertretenden roten Linie vor wenigen Wochen zurück, lässt sich das jetzige Handeln der NATO gar als eine Zäsur bezeichnen (ebd.). Das lange militärisch zurückhaltende und russlandfreundlich agierende Europa vollzieht mit der Lieferung schwerer Waffen eine gewaltige Kurskorrektur, welche jedoch nötig ist (vgl. Busse 2022b: 1). Für diese Form der Strategieänderung gibt es verschiedene Gründe. Aus politischer Sicht ist der öffentliche Druck nach dem Massaker von Butscha insofern gestiegen, als das künftige Massaker in der Ukraine verhindert werden müssten (vgl. Gutschker 2022a: 5). Militärisch gesehen hat Russland die Kämpfe um Kiew und Charkiw verloren und muss seine Einheiten zunächst neu aufstellen. Aufgrund dieses Rückzugs entsteht ein Zeitfenster, welches die Lieferungen aus dem Westen einfacher als noch zuvor macht (ebd.). Zu dieser Zeit veränderte die NATO nicht nur ihre Strategie auf das unmittelbare Kriegsgeschehen. Darüber hinaus arbeiteten die Außenminister nämlich bereits an einem neuen strategischen Konzept, wie ein längerfristiges Verhältnis zu Russland aussehen könnte. Durch den russischen Angriffskrieg habe sich die Beziehung so fundamental verändert, dass an das bisherige Trias von Abschreckung, Verteidigung und Dialog so nicht mehr zu denken sei, so Stoltenberg (ebd.).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das russische Militär weiter hinter den Erwartungen zurückblieb und die derzeit in der Ukraine verweilenden Kräfte auch aufgrund massiver Hilfe durch die NATO-Staaten nicht für eine dauerhafte Besetzung des Landes ausreichen würden. Mit der Verlagerung der Schwerpunktes auf den Donbass und den Süden des Landes scheint Putin und seine russische Führung jedoch aus den zuvor gemachten Fehlern gelernt zu haben.
3.2 Welche Rolle spielt das Völkerrecht?
Im folgenden Kapitel soll der zuvor2 geschilderte Ablauf der Invasion aus völkerrechtlicher Sicht analysiert werden. Um mögliche Brüche oder Verletzungen des VRs während der Invasion bewerten zu können, ist es unabdingbar dafür zunächst die grundsätzliche Rolle des VRs in diesem Konflikt näher zu beleuchten. Das VR gilt in einer modernisierten Version als das „Recht, welches das Verhalten von Staaten und internationalen Organisationen, ihre Beziehungen untereinander und zu gewissen natürlichen und juristischen Personen betrifft.“ (Rotte 2016: 29) Eine maßgebliche Rechtsgrundlage aus dem VR ist die Charta der Vereinten Nationen (UN), welcher zum Zeitpunkt der russischen Invasion 193 Staaten unterzeichnet haben. Dazu zählen sowohl Russland als auch die Ukraine. Als einer der wichtigsten Grundsätze der UNCharta zählt das in Art. 2 Nr. 4 geregelte generelle Gewaltverbot, in dem festgeschrieben ist, dass alle Mitglieder jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete Androhung oder Anwendung von Gewalt in ihren internationalen Beziehungen unterlassen (vgl. Die Vereinten Nationen 2022). Jedem Staat, der das VR anerkennt, ist es somit verboten, einen anderen Staat mit kriegerischen Mitteln anzugreifen. Andernfalls besitzt der betreffende Staat die Möglichkeit, entsprechende Sanktionen zu verhängen. Der Bochumer Völkerrechtler Pierre Thielbörger wertet diesen Artikel als eine „ganz große Errungenschaft der Vereinten Nationen“, da Krieg einst die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln war und die Vereinten Nationen es sich damit zum Ziel gesetzt haben, dass dies in Zukunft nicht weiter gelte (vgl. Kornmeier 2022). Für die nachfolgende Bewertung möglicher Kriegsverbrechen, gilt es einen besonderen Fokus auf das Humanitäre VR (ius in bello) zu legen, da dieses in bewaffneten Konflikten Anwendung findet. Ein international bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn eine staatliche Konfliktpartei gegen eine andere staatliche Konfliktpartei Waffengewalt einsetzt (vgl. Bundesministerium der Verteidigung 2016: 27). Dabei ist es unerheblich, ob die beiden Konfliktparteien sich als im Krieg befindlich betrachten. Zudem ist die Anwendung des Humanitären VRs unabhängig davon, ob eine förmliche Kriegserklärung abgegeben wurde oder „ob die bewaffnete Auseinandersetzung unter Verletzung der Bestimmungen des VRs, z.B. des Verbots des Angriffskrieges, begonnen worden ist. Ein Staat ist auch dann an die Regeln des Humanitären VRs gebunden, wenn er Opfer eines völkerrechtswidrigen militärischen Angriffs geworden ist“ (ebd.: 29).
Zum Humanitären VR gehört unter den humanitären Einschränkungen beispielsweise die Schonung der Zivilbevölkerung (vgl. Rotte 2016: 97). Des Weiteren gilt der Grundsatz der ständigen Unterscheidung zwischen der Zivilbevölkerung und Kombattanten, sowie zwischen militärischen Zielen und zivilen Gütern. Damit ist zum einen gemeint, dass Kriegshandlungen nur gegen militärische Ziele erlaubt sind, es jedoch kein grundsätzliches Verbot von Kriegshandlungen gibt, bei denen auch Zivilisten zu Schaden kommen können (ebd.: 99). Nimmt ein Staat bewusst die Verletzung der Zivilbevölkerung in Kauf, muss er dabei jedoch stets das Mittel auswählen, dass bei dieser am wenigsten Schaden verursacht. Angriffe, bei denen die Zivilbevölkerung im Verhältnis zum erwarteten unmittelbaren militärischen Vorteil exzessiv Schaden nimmt, sind nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und Kollateralschadenregel laut Humanitärem VR verboten und gelten als Kriegsverbrechen (ebd.; Bundesministerium für Verteidigung 2016: 49).
3.3 Der Vorwurf des Genozids als Rechtfertigung für die russische Invasion
Um die jüngsten Ereignisse in der Ostukraine aus völkerrechtlicher Sicht beurteilen zu können, muss man bereits bei der Annexion der Krim im Jahr 2014 ansetzen (vgl. Geistlinger 2014: 178). Mit der Anerkennung der „Republik Krim“ am 17.3.2014 griff Russland bereits in die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine ein und verstieß damit gegen das Interventionsverbot nach Art. 2 Nr. 1 der Charta der Vereinten Nationen (vgl. Luchterhandt 2014: 173). Der daraus entstandene Vertrag vom 18. März 2014 über die Aufnahme der „Republik Krim" in die Russische Föderation ist demzufolge gemäß Art. 53 WVK nichtig, da er die territoriale Integrität der Ukraine und das Annexionsverbot nach Art. 2 Nr. 4 der Charta verletzt und damit den zwingenden Normen (ius cogens) des universellen VRs widerspricht (ebd.). Da es sich hierbei um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, ist dieser nach der Maßgabe der Wiener Vertragsrechtskonvention vom 23.5.1969 zu beurteilen (ebd.: 171f).
Putin rechtfertigte den Krieg öffentlich damit, dass in der Ost-Ukraine ein Völkermord an den RussInnen begangen werde, hierfür legte er jedoch keine Beweise vor (vgl. Focus 2022). In Artikel 51 der UN-Charta ist das Recht auf Selbstverteidigung geregelt, dem ein bewaffneter Angriff vorausgehen muss. Eine Bedrohung Russlands durch einen möglichen Beitritt der Ukraine zur NATO nutzt Putin dabei als Rechtfertigung für sein Vorgehen. Aus juristischer Sicht würde ein Großteil der westlichen VölkerrechtlerInnen diese Argumentation als nicht zulässig ansehen, da sie keine militärische Gewalt rechtfertige (vgl. Kornmeier 2022). Die Ukraine reagierte umgehend auf die Beschuldigung und bat den Internationalen Strafgerichtshof3 um Klarstellung in der Sache. Darüber hinaus betonte die Ukraine, dass alle durch den Genozid-Vorwurf legitimierten Aktionen Russlands, inklusive der Anerkennung der Republiken Luhansk und Donezk und des militärischen Vorgehens gegen die Ukraine, völkerrechtswidrig seien (vgl. Rotte 2022b). Für einen gemäß der Völkermord-Konventionen von 1948 stattfindenden Völkermord in der Ostukraine fand der Internationale Gerichtshof4 zum aktuellen Zeitpunkt keine „substantiierten“ Belege. In der Frage, ob eine Vertragspartei wie Russland auf der Basis der Konvention das Recht besitze, unilateral zu militärischen Maßnahmen zu greifen, um einen angeblichen oder tatsächlichen Genozid zu unterbinden, entschied der IGH aufgrund mangeln- der Beweise ebenfalls gegen Russland (ebd.). Hierbei handelt es sich zunächst um eine vorläufige Entscheidung. Bis zur Sprechung des Urteils im Hauptverfahren könnten noch einige Jahre vergehen. Beobachterinnen werten das Urteil als ein Signal dafür, dass auch ein ständiges Mitglied des Weltsicherheitsrates nicht über dem Recht steht (vgl. Focus 2022). „Für die Ukraine ist dies ein weiteres friedliches Mittel, um den Druck auf Russland zu erhöhen“, sagte Valerie Oosterveld, Professorin für internationales Recht in Kanada auf einer Online-Pressekonferenz (ebd.). Diese Entscheidung des IGH könne außerdem eine wichtige Unterstützung für andere Verfahren sein, wie etwa vor dem IStGH oder Organen der UN. In einer nachgereichten schriftlichen Stellungnahme nennt Russland nicht mehr die Gefahr eines Völkermords als Kriegsgrund, sondern nur noch das Selbstverteidigungsrecht aus Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Somit sei der IGH nach Argumentation der russischen Regierung nicht mehr zuständig für den Fall (vgl. Bräutigam 2022).
3.4 Welche Kriegsverbrechen werden Russland vorgeworfen?
Im Folgenden sollen die Russland und dem russischen Militär seit Kriegsbeginn vorgeworfenen Kriegsverbrechen eingeordnet werden. Hierfür gilt es zunächst zu analysieren, welche vermeintlichen Kriegsverbrechen diskutiert werden. Nachdem sich in der Ukraine im Dezember 1991 mehr als 92% der Bevölkerung beim Referendum für eine Eigenständigkeit aussprachen, hatte Russlands Präsident Wladimir Putin ihnen in der jüngeren Vergangenheit wiederholt das Existenzrecht abgesprochen. Seiner Meinung nach gehöre die Ukraine zum Teil der „Russischen Welt“. Der Bochumer Völkerrechtler Pierre Thielbörger wertet dieses Verhalten Putins hingegen als unzulässig (vgl. Kornmeier 2022). Nach Meinung nahezu aller anderen Staaten sei die Ukraine ein eigenständiger Staat. „Es ist ein Staat mit Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt. Und daraus ergibt sich die Souveränität", so der Völkerrechtler. Er bezeichnet die historisch vorgetragenen Argumente zwar als interessant, jedoch ebenso irrelevant. Eine Verschiebung von Grenzen sei rechtlich nur dann zulässig, wenn Russland und die Ukraine sich vertraglich darüber geeinigt hätten, dies haben sie aber nicht. Extreme Ausnahmefälle gewähren Völkern außerdem ein sogenanntes Sezessionsrecht, welches ihnen die Abspaltung erlaubt. Dieses ergibt sich wiederum aus dem Recht auf Selbstbestimmung der Völker. Hierbei handele es sich aber nur um Fälle von besonders schwerer Menschenrechtsverletzungen gegenüber einer Gruppe. Da diese Schwelle hierbei jedoch nicht erreicht sei, stehe den OstukrainerInnen kein Recht auf Sezession zu, so Thielbörger weiter. Durch die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975, der Charta von Paris 1990, sowie der Russland-NATO-Grundakte 1997 hatte Russland zuvor wiederholt der Unversehrtheit existierender Grenzen und Achtung territorialer Integrität zugestimmt (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2022a).
Mit dem Zusammenziehen russischer Truppen an der Ostgrenze der Ukraine und dem darauffolgenden Einmarsch in ukrainisches Territorium sieht Russland sich mit dem Vorwurf eines Verstoßes gegen das generelle Gewaltverbot nach Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta konfrontiert. Die Invasion in der Ukraine beinhalte dabei zwei russische Verstöße gegen das Gewaltverbot. Neben dem Zusammenziehen der Truppen, bei dem es sich um eine Androhung von Gewalt handele, ziehe die Versetzung der Truppen auf ukrainisches Gebiet eine direkte Gewaltanwendung mit sich (vgl. Kornmeier 2022). Mit der darauffolgenden Anerkennung der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine als unabhängige Staaten hat Russland somit sowohl gegen das Interventionsgebot aus Art. 2 Nr. 1 der UN-Charta als auch gegen die inneren Angelegenheiten der Ukraine verstoßen. Dadurch, dass ein Staat die freie Handhabe darüber besitzt unter welchen Voraussetzungen ein Mensch als neuer Staatsbürger anerkannt wird, gilt dieses Verfahren als sehr geläufig. Wenn durch die Einbürgerungen jedoch systematisch versucht werde einen anderen Staat, der dadurch Staatsangehörige verliere, zu destabilisieren, sei dies möglicherweise eine verbotene Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Staates und somit ein weiterer Verstoß gegen Art. 2 Nr. 1 der UN-Charta (ebd.).
Mit dem steigenden Ausmaß der Angriffe während des Kriegsverlaufs bezichtigt die EU Russland, es greife die Zivilbevölkerung an und ziele unter anderem auf Krankenhäuser, Schulen und Schutzräume (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung 2022d). Auch hier gilt es zu differenzieren. Zwar gehört laut EU-Aussagen auch maßvolles Leid zum Krieg dazu, jedoch dürfe die Zivilbevölkerung nicht gezielt angegriffen werden. Greift ein Zivilist selbst zu den Waffen verliert er somit auch den Status als unbeteiligter Zivilist, ebenso kann ein zulässiger Angriff zu unvermeidbaren Kollateralschäden in der Zivilbevölkerung führen, in keinem der Fälle würde sich der Täter unmittelbar im Sinne des humanitären VRs strafbar machen (vgl. Müller 2022: 1). Anders gestaltet sich es jedoch, wenn unbeteiligte Kinder, Frauen und Männer wahllos oder ganz bewusst zum Ziel werden, wie dies offenbar zuletzt nicht nur in Butscha oder Kramatorsk geschehen war. Neben diesem Vorwurf der EU, bezeichnet Amnesty International die genannten Angriffe auf die Zivilbevölkerung als wahllos und wirft Russland zudem das Benutzen verbotener Streumunition vor, erklärte Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland (vgl. Die Welt 2022).
Die wohl stärkste Anschuldigung der Russland bezichtigt wird, ist die des Völkermordes. In Art. II der auch von Russland unterzeichneten Völkermordkonvention heißt es, dass man unter dem Begriff Völkermord die beabsichtigte Zerstörung einer nationalen, ethnischen, rassischen, religiösen oder sozialen Gruppe verstehe (vgl. Völkermordkonvention 1948). Darunter gehört die Tötung von Mitgliedern der Gruppe; die Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen (ebd.). Mit einer hohen Sicherheit fanden bereits zum jetzigen Zeitpunkt Kriegsverbrechen während der russischen Invasion statt, jedoch zeigt die Definition des Begriffs Völkermord, dass dieser für etwas viel Furchtbareres steht (vgl. Rotte 2022b). Zwar gab es nach Rotte in den ersten Wochen der Invasion kaum Indizien für eine „systematische Auslöschung einer Bevölkerungsgruppe“, jedoch argumentiert der Jurist und Journalist Reinhard Müller bereits einige Wochen später, dass durchaus ein „Vernichtungswille“ erkennbar sei (vgl. Müller 2022: 1). Dieser drücke sich dadurch aus, dass unter russischer Herrschaft und mit russischer Billigung UkrainerInnen in der Absicht getötet worden seien, um sie als Gruppe zu zerstören, ihnen schwere Schäden zuzufügen, ihnen destruktive Lebensbedingungen aufzuerlegen oder ihnen ihre Kinder gewaltsam wegzunehmen (ebd.). Dass darüber hinaus nichts von der Verpflichtung der politischen russischen Militärführung solche Verbrechen zu verhindern und sich um Aufklärung zu bemühen spürbar sei, stärkt Müller in seiner Ansicht. Ein Grund für die veränderte Wahrnehmung von Müller gegenüber Rotte liegt möglicherweise in den Aufnahmen von Massengräbern in Städten wie Butscha, welche den strategischen Wandel Putins während des Kriegsverlaufs zum Ausdruck bringen. Mit dem Ablaufen der ersten Kriegsmonate ermittelt die ukrainische Generalstaatsanwältin sowie das UN-Menschenrechtsbüro inzwischen in 5.800 Fällen möglicher Kriegsverbrechen gegen Russland (vgl. Leitner 2022).
3.5 Welche der vorgeworfenen Kriegsverbrechen lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt belegen? - Eine eigene Einschätzung
In einer finalen Einschätzung sollen die vorgeworfenen Kriegsverbrechen kurz analysiert werden. Der Vorwurf einer Verletzung der territorialen Integrität ist trotz der Rechtfertigungsversuche der russischen Regierung aufgrund ihrer vorherigen Aussagen und der von ihnen vor Kriegsbeginn unterzeichneten Verträge unbestreitbar. Der Vorwurf des Benutzen von geächteten Waffen ist aufgrund der eingesetzten verbotenen Streumunition vermutlich nachweisbar. Eindeutiger ist hingegen das Nachweisen bewusster russischer Angriffe auf die Zivilbevölkerung als Kriegsmittel. Auch wenn solche Gräueltaten gegenüber Zivilisten in der jüngeren Kriegsgeschichte vermehrt vorkamen und sich eine Grenze zwischen Zivilisten und Kombattanten durch ihren aktiven Widerstand nicht mehr eindeutig ziehen lässt, scheint spätestens mit den Quellen über das Massaker von Butscha eine Terrorisierung in Form von Erschießungen, Hinrichtungen und Vergewaltigungen der Zivilbevölkerung nach humanitärem und Völkerstrafrecht verifizierbar zu sein. Bei den Angriffen handelte es sich um wahllose Angriffe auf Wohnviertel, Infrastruktureinrichtungen und öffentliche Gebäude mit, darunter auch Krankenhäuser, Geburtsklinken und Bahnhöfe mit Flüchtlingen. Bereits in der Vergangenheit bei den Einsätzen in Syrien und Georgien wurde Russland solch ein völkerrechtswidriges Verhalten als bewusstes Kriegsmittel vorgeworfen. Bedenkt man darüber hinaus, dass zum jetzigen Zeitpunkt nichts von der Verpflichtung der politischen russischen Militärführung solche Verbrechen zu verhindern und sich um Aufklärung zu bemühen spürbar ist, drückt dies möglicherweise das erschreckende Maß der Frustration über das Nichterreichen der militärischen Ziele Russlands auf. Ob diese jedoch eine tatsächliche Strafverfolgung nach sich ziehen, scheint derzeit noch unwahrscheinlich.
Ob bereits von einem beabsichtigten Völkermord gesprochen werden kann, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nur sehr schwer einschätzen. Dafür in Betracht kämen die Tötung von Mitgliedern einer Gruppe, die Verursachung von schwerem körperlichen und seelischem Schaden an diesen Mitgliedern sowie die "vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen". Durch das Verstellen von Fluchtwegen, den gezielten Angriffen auf Zivilisten und dem Absprechen des Existenzrechts und des Volkes mit einer eigenen Identität gibt es sicherlich Tatbestände, die für einen Völkermord sprechen. Jedoch ist die Brutalität an Tötungen allein nicht ausreichend, um einen Völkermord festzustellen. Vielmehr zählt die „Absicht“ eine bestimmte Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören und dies lässt sich zum aktuellen Zeitpunkt der Invasion nur sehr schwer feststellen. Ob das Ausmaß bereits dies des Genozids erreicht, lässt sich derzeit nicht vollständig verifizieren. Analysiert man darüber hinaus die Rhetorik Putins, lässt sich erkennen, dass zwar das Existenzrecht der ukrainischen Nationalität geleugnet wird, aber ob damit das Existenzrecht der Ukrainer als Volk gemeint ist, wird nicht eindeutig klar. Vielmehr könnte es um die ukrainische Identität gehen, welche er unter Russlands Einflussbereich sehen möchte. Dies ist zwar auch völkerrechtswidrig, jedoch ist der Nachweis für einen Völkermord deutlich schwieriger zu erbringen als der für ein Kriegsverbrechen. Darüber hinaus sollte man bedenken, dass der Vorwurf eines Völkermords in Kriegen sehr häufig vorgebracht wird. Beispielsweise tat Putin dies mit dem Vorwurf des Genozids am russischen Volk in der Ostukraine, um internationale Aufmerksamkeit zu erhalten oder/und eigenes militärisches Verhalten zu rechtfertigen. Insbesondere bei solchen Vorwürfen sollte berücksichtigt werden, dass diese oftmals zur Propaganda eigenen Handelns genutzt werden, sich aus einer neutralen Sichtweise heraus jedoch nur sehr schwer belegen lassen. Aus diesem Grund lässt sich der Vorwurf des Völkermords meiner Ansicht nach zum jetzigen Zeitpunkt (noch) nicht eindeutig belegen.
[...]
1 Der Begriff „Europäische Union“ wird im Folgenden mit „EU“ abgekürzt.
2 Der Begriff „Völkerrecht“ wird im Folgenden mit „VR“ abgekürzt.
3 Der Begriff „Internationale Strafgerichtshof“ wird im Folgenden mit „IStGh“ abgekürzt.
4 Der Begriff „Internationaler Gerichtshof“ wird im Folgenden mit „IGH“ abgekürzt.
- Citar trabajo
- Fabian Bintz (Autor), 2022, Die russische Invasion in der Ukraine. Eine Folgenabschätzung für die EU, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1274427
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