In dieser Bachelorarbeit wird die Thematik der Meinungsfreiheit diskutiert. Die Diskussion findet vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie, sowie der Argumentation Mills in "On Liberty", statt. Die Bachelorarbeit beabsichtigt die Frage zu klären, ob es akzeptable Grenzen der Meinungsfreiheit gibt und falls ja, wo diese liegen. Relevanz der Thematik: Die Betrachtung der Meinungsfreiheit und ihrer akzeptablen Grenzen während der Corona-Pandemie ist insofern relevant, als die Meinungsfreiheit ein Grundrecht ist und in den letzten Monaten viele verschiedene Meinungen geäußert wurden. Diese Meinungen wurden auf den unterschiedlichsten Wegen an die Gesellschaft herangetragen.
Die Frage, was durch die Meinungsfreiheit geschützt wird und wo die Grenzen liegen, ist nicht nur eine juristische Frage, sondern auch eine Frage von philosophischer Bedeutung. In der Rechtsphilosophie ergibt sich aus Rechten, die jemand hat, auch immer ein nicht-Recht für eine andere Person. Bei der Meinungsfreiheit besteht dieses nicht-Recht darin, die Meinungen von anderen Menschen zu zensieren oder zu unterdrücken. Wenn es akzeptable Grenzen der Meinungsfreiheit gäbe, dann dürfen bestimmte Meinungen, die diese Grenze überschreiten, nicht geäußert werden oder müssten angepasst werden. Es muss daher untersucht werden, ob es akzeptable Grenzen der Meinungsfreiheit gibt und wenn ja, wo diese liegen. Dabei ist es auch wichtig den Fokus daraufzusetzen, ob das Recht der Meinungsfreiheit in einer Ausnahmesituation, wie der Corona-Pandemie, noch gilt. Die Argumentation von J. S. Mill als Grundlage dieser Arbeit ist entscheidend, da im weiteren Verlauf einige seiner Argumente auf die heutige Situation angewendet werden können. Mill argumentiert in Kapitel 1 und insbesondere in Kapitel 2 seines Buches für die Notwendigkeit der Meinungsfreiheit. Die Anwendung der Argumentation Mills auf die heutige Situation besitzt demnach einen großen Nutzen für die Suche nach den akzeptablen Grenzen der Meinungsfreiheit.
1.2.3 Meinungsfreiheit im Internet
2.3 Unterschiedliche Meinungsbildung
2.4 Die Struktur der Arbeit – Aufbau und Ablauf dargestellt
3 John Stuart Mill in dem Essay ‚On Liberty’
3.2 Argumentationsstruktur von Kapitel 2
4 Meinungsfreiheit während der Corona-Pandemie
4.1 Demonstrationen
4.1.1 ‚Schutz der Allgemeinheit‘ gegen ‚Recht auf Versammlungen‘
4.2 Meinungsfreiheit in den sozialen Netzwerken
4.2.1 Findet eine Zensur der Meinung im Internet statt?
4.3 Maskenpflicht
4.4 Akzeptable Grenzen der Meinungsfreiheit – Radikale Meinungsfreiheit oder gibt es Grenzen des Sagbaren?
5 Schlussfolgerungen
5.1 Akzeptable Grenzen der Meinungsfreiheit
5.2 Problematik der Meinungsfreiheit während der Coronapandemie und im Allgemeinen
6 Ausblick
6.1 Mögliche Lösungsvorschläge
6.1.1 Debattenkultur/Kompromisse
6.1.2 Gesetze
7 Quellenverzeichnis
1 Definitionen
In diesem Kapitel werden zunächst wichtige Begriffe, die im Verlauf dieser Arbeit verwendet werden, definiert. Die Begriffserklärungen sind nötig, damit die Arbeit für fachfremde und dem medialen Zeitalter nicht zugewandte Leser leichter zu verstehen ist.
1.1 Das Grundgesetz
Das Grundgesetz ist unsere Verfassung. Es enthält die wichtigsten Regeln für den Staat und damit auch für das Zusammenleben der Menschen in Deutschland. An diese Regeln müssen sich alle halten, zum Beispiel Schulen, Krankenhäuser, Gerichte, Behörden, aber auch alle Bürgerinnen und Bürger. Auch alle Gesetze müssen das Grundgesetz beachten.[1]
Die ersten 19 Artikel des Grundgesetzes enthalten die Grundrechte (es werden im Folgenden nur die für diese Arbeit notwendigen Grundrechte zitiert[2]):
Art. 1
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
Art. 2
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.
(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.
Art. 6
(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.
Zusatz:
Nicht geschützt ist die unfriedliche, besonders die gewalttätige Versammlung. [...] Versammlungen unter freiem Himmel können verboten oder aufgelöst werden, wenn die öffentliche Sicherheit gefährdet ist.[3]
1.2 Die Meinungsfreiheit
Der Ausdruck der Meinungsfreiheit bezieht sich auf den in Kapitel 2.1 formal genannten Artikel 5 des Grundgesetzes und wird im Weiteren genauer betrachtet.
1.2.1 Geschichte
Zur Zeit der Antike finden sich Belege, dass die athenische Gesellschaft grundlegende Strukturen der Rede- und Meinungsfreiheit beinhaltete.[4] Diese Strukturen gingen jedoch im Zeitalter des römischen Reiches und im nachfolgenden Mittelalter verloren. Es galten im Folgenden die christlichen Grundsätze und eine Offenheit gegenüber dem Neuen war nicht gegeben.[5] Im 17. Jahrhundert und den darauffolgenden Jahren erlebte der geistige Austausch eine Wiederauferstehung, denn „Oxford etwa kultivierte das Gespräch und den freien Gedankenaustausch der Bürger und die Kunst der öffentlichen Rede“[6]. Es ist in der im 18. Jahrhundert veröffentlichten ‚Declaration des droits de l’homme et du citoyen‘ (Erklärung der Menschen und Bürgerrechte, 1789) in Artikel 11 geschrieben: „Die freie Mitteilung der Gedanken und Meinungen ist eines der kostbarsten Menschenrechte.“[7]. Eine Annäherung an den Artikel 5 (siehe Kapitel 2.1) des Grundgesetzes gab es in Deutschland erstmals im Jahr 1848. In der ‚Paulskirchenverfassung‘ heißt es in Paragraph 143: „Jeder Deutsche hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern.“[8]. Darauffolgend wurde die Meinungsfreiheit in der Verfassung der Weimarer Republik definiert: „Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern.“[9]. Basierend auf den Definitionen der letzten Jahrhunderte ist die heutige Grundlage der Meinungsfreiheit im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in dem Artikel 5 verankert (siehe Kapitel 2.1). Dieses Recht auf Meinungsfreiheit gilt für jeden in Deutschland lebenden Bürger und jede Bürgerin.
1.2.2 Zensur
Im Bezug auf die Meinungsfreiheit ist der Begriff der Zensur als Zurückhaltung, Verhinderung oder Anpassung von Meinungsäußerungen definiert. In Artikel 5 (siehe Kapitel 2.1) des Grundgesetzes wird strikt festgelegt, dass eine Zensur nicht stattfindet und damit eine Zensurfreiheit gilt. Jedoch kann eine Beschränkung bei gewaltverherrlichenden, gewaltverharmlosenden, pornographischen und personenschadenden Medien, Äußerungen o.ä. vom Staat vorgenommen werden.[10]
1.2.3 Meinungsfreiheit im Internet
Das Internet hat in den letzten 10 Jahren als Kommunikationsmedium einen Anstieg erlebt und ist neben Radio und Fernsehen eine Hauptquelle der Informationsbeschaffung. Nach Artikel 5 des Grundgesetzes (siehe Kapitel 2.1) hat jeder Mensch das Recht auch im Internet seine Meinung frei zu äußern. Darauf basierend findet auch in diesem Zusammenhang keine Zensur (siehe Kapitel 2.2.2) statt.
1.3 Soziale Medien
Mit der Hilfe sozialer Medien können heutzutage Informationen schnellstmöglich abgerufen, viele Menschen in kürzester Zeit erreicht und ein direkter Meinungsaustausch realisiert werden. Der Zugriff auf soziale Medien ist schneller möglich als bei einem anderen Medium wie der Zeitung. Die Aktualität der behandelten Thematiken ist der Zeitung zeitlich voraus. Es ist vergleichbar mit einem Briefwechsel, der innerhalb von Sekunden stattfinden kann. Die Anonymität spielt bei der Nutzung solcher Medien eine wichtige Rolle. Damit können Meinungen ungefiltert und enthemmter an die Öffentlichkeit getragen werden.[11] Das liegt daran, dass, anders als bei einem persönlichen Gespräch, keinerlei respektive eine geringere Hemmschwelle gegenüber dem Kommunikationspartner vorhanden ist.
1.3.1 YouTube
YouTube ist eines der größten und meist genutzten sozialen Medien der Welt.[12] Dort kann jeder Mensch seinen eigenen Kanal erstellen und Videos hochladen. Nutzer können andere Videos anschauen und kommentieren. Dabei werden die hochgeladenen Videos und Kommentare von der Plattform YouTube selber kontrolliert und bei Verstoß gegen die eigen definierten Richtlinien gelöscht. Eine Zensur durch die Bundesrepublik Deutschland findet jedoch nicht statt. Die Zahl der monatlich aktiven Nutzer liegt bei 2,0 Milliarden Menschen (Stand 2020)[13].
1.3.2 Facebook
Facebook gehört ebenfalls zu einer der am häufigsten genutzten sozialen Medien. Im Gegensatz zu YouTube (siehe Kapitel 2.3.1) ist es innerhalb von Facebook neben Videos auch möglich einzelne Beiträge, die nur in schriftlicher oder bildlicher Form vorliegen, hochzuladen. Um diese Inhalte zu sehen, müssen sich Menschen auf dieser Plattform zunächst befreunden. Dabei werden bei Verstoß gegen die eigen definierten Richtlinien die jeweiligen Beiträge, Fotos oder Videos gelöscht. Eine Zensur durch die Bundesrepublik Deutschland findet jedoch nicht statt. Facebook hat ca. 2,5 Milliarden monatlich aktive Nutzer (Stand 2020)[14].
1.3.3 Telegram
Im Vergleich zu YouTube (siehe Kapitel 2.3.1) und Facebook (siehe Kapitel 2.3.2) ist der digitale Sofortnachrichtendienst Telegram wie ein digitaler Briefaustausch aufgebaut. Neben der Möglichkeit Nachrichten an seine eigenen Kontakte zu senden und auf diese zu antworten, bietet Telegram auch die Funktion an, sogenannte Gruppen zu erstellen, in denen Nachrichten nur gepostet werden können, ohne dass andere Teilnehmer darauf antworten können. Der große Unterschied zwischen Telegram und den zwei großen sozialen Medien Facebook und YouTube besteht darin, dass Telegram minimalistische Richtlinien hat und der Meinungsäußerung keine Grenzen setzt.[15] Auf Telegram werden, bis auf terroristische Äußerungen, keine Meinungen, Nachrichten oder Videos o.ä. zensiert. Telegram hat ca. 500 Millionen monatlich aktive Nutzer.[16]
1.4 Konventionen
In dieser Arbeit werden sowohl entscheidende Gedankenexperimente als auch Beispiele, die einen Sachverhalt besser verständlich machen sollen, farblich hervorgehoben.
Beispiel: Gedankenexperiment:
2 Einleitung
2.1 Rückblick
Am Tag des 31. Dezembers 2019 wurde die WHO (World Health Organisation/ Weltgesundheitsorganisation) über mehrere Fälle von Lungenentzündungen in der Volksrepublik China in Kenntnis gesetzt. Wenige Tage später, am 07.01.2020, wurde als Ursache eine Viruserkrankung festgestellt. Diese Viruserkrankung ist heute unter dem Namen „Covid-19-Virus“ bekannt.[17] Das Virus wurde erstmals am 27.01.2020 in Deutschland an einem Patienten diagnostiziert und aufgezeichnet.[18] Das Virus hat sich schnell ausgebreitet, sodass die europäische Region zur Mitte des Monats März als Epizentrum galt und 40 Prozent aller Fälle stellte.[19] Als Reaktion darauf wurden am 22.03.2020 allgemeine Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen von der Bundesregierung ausgesprochen und viele Menschen mussten ihre berufliche Tätigkeit aussetzen.[20] Anfang April wurden die geltenden Kontaktbeschränkungen weiter verlängert, da sich das Virus immer noch ausbreitete.[21] Im weiteren Verlauf des Jahres wurden öffentliche Veranstaltungen wie beispielsweise Konzerte und Fußballspiel abgesagt. Damit hatten nur noch systemrelevante Läden geöffnet, womit der restliche Teil des gesellschaftlichen Lebens pausiert war.
Um das Gesundheitssystem in dieser schwierigen Situation zu entlasten, war das Ziel dieser Maßnahmen die Zunahme der Fallzahlen über die Zeit hinweg zu kontrollieren, sodass sich weniger Menschen in einem kurzen Zeitraum ansteckten.[22] Am 01.08.2020 demonstrierten schätzungsweise 20.000 Menschen in Berlin gegen die vorher von der Politik beschlossenen Maßnahmen. Die Demonstration wurde unterbrochen und aufgelöst. Die Infektionszahlen stiegen in den kommenden Wochen rasant an. Am 19.08.2020 lag der sieben-Tage-Schnitt (der Wert stellt die infizierten Fälle pro 100.000 Menschen in den letzten 7 Tagen dar) der Neuinfektionen auf demselben Niveau wie zu Beginn Mai 2020.[23] In den folgenden Monaten stiegen die Infektionszahlen weiter an, weshalb die Bundeskanzlerin am 17.10.2020 die Bürger gebeten hat, die sozialen Kontakte, soweit wie es nur möglich ist, zu reduzieren.[24] Zusätzlich wurde am 28.10.2020 vom Bund und den Ländern ein Teillockdown beschlossen.[25] Es folgten weitere Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen. Am 18.11.2020 wurde von Bundestag und Bundesrat ein neues und damit das dritte Bevölkerungsschutzgesetz verabschiedet, dass die Coronaschutzmaßnahmen behandelt. Infolge der Verabschiedung demonstrierten in Berlin tausende Menschen.[26] Zu der Weihnachtszeit wurde der Teillockdown von Bund und Ländern auf einen harten Lockdown vom 16.12.2020 bis hin zum 10.01.2021 umgestellt.[27] Es wurde beschlossen, dass der Lockdown auch nach dem 10.01.2021 gelten soll. Zum jetzigen Zeitpunkt (Verfassung dieser Arbeit, Februar-April 2021) gelten die Corona-Lockdownregeln weiterhin und es wird über eine mögliche Verlängerung nachgedacht. Auch wenn systemrelevante Geschäfte und Unternehmen geöffnet haben, so ist der Rest des sozialen Lebens aufgrund der Kontaktbeschränkungen pausiert. Einige Menschen befinden sich im Homeoffice und bangen um ihre existenzielle Zukunft. Insgesamt wurden im Verlauf des Jahres 2020 viele Entscheidungen getroffen und den Menschen viele Einschränkungen auferlegt.
2.2 Relevanz der Thematik
Die Betrachtung der Meinungsfreiheit und ihrer akzeptablen Grenzen während der Corona-Pandemie ist insofern relevant, als dass die Meinungsfreiheit ein Grundrecht ist und in den letzten Monaten viele verschiedene Meinungen geäußert wurden. Diese Meinungen wurden auf den unterschiedlichsten Wegen an die Gesellschaft herangetragen. Die Frage, was durch die Meinungsfreiheit geschützt wird und wo die Grenzen liegen, ist nicht nur eine juristische Frage, sondern auch eine Frage von philosophischer Bedeutung.[28] In der Rechtsphilosophie ergibt sich aus Rechten, die jemand hat, auch immer ein nicht-Recht für eine andere Person. Bei der Meinungsfreiheit besteht dieses nicht-Recht darin, die Meinungen von anderen Menschen zu zensieren oder zu unterdrücken. Wenn es akzeptable Grenzen der Meinungsfreiheit gäbe, dann dürfen bestimmte Meinungen, die diese Grenze überschreiten, nicht geäußert werden oder müssten angepasst werden. Es muss daher untersucht werden, ob es akzeptable Grenzen der Meinungsfreiheit gibt und wenn ja, wo diese liegen. Dabei ist es auch wichtig den Fokus darauf zu setzen, ob das Recht der Meinungsfreiheit in einer Ausnahmesituation, wie der Corona-Pandemie, noch gilt. Die Argumentation von J. S. Mill als Grundlage dieser Arbeit ist entscheidend, da im weiteren Verlauf einige seiner Argumente auf die heutige Situation angewendet werden können. Mill argumentiert in Kapitel 1 und insbesondere in Kapitel 2 seines Buches für die Notwendigkeit der Meinungsfreiheit. Die Anwendung der Argumentation Mills auf die heutige Situation besitzt demnach einen großen Nutzen für die Suche nach den akzeptablen Grenzen der Meinungsfreiheit.
2.3 Unterschiedliche Meinungsbildung
Grundsätzlich bilden sich alle Menschen über Themen, mit denen sie sich auseinander setzen, eine Meinung. Die Meinungsbildung ist von der Umwelt und den eigenen bestehenden Ansichten abhängig.[29] Dabei führt die Wechselwirkung von eigener Reflektion und Umwelteinflüssen (Gespräche mit Mitmenschen, Internet, Zeitungen, etc.) schließlich dazu, dass sich jeder Mensch seine eigene und individuelle Meinung über jedes Thema bilden kann. Zusammenfassend bedeutet dies, dass die Meinungsbildung eines Menschen stark von dem eigenen sozialen Umfeld abhängt. Ebenso ist die Meinungsbildung abhängig von den Medien, mit deren Hilfe sich die Person informiert.[30] Daraus lässt sich ableiten, dass jeder Mensch zu einem bestimmten Thema eine andersartige Meinung hat.
2.4 Die Struktur der Arbeit – Aufbau und Ablauf dargestellt
Nachdem im vorausgehenden Teil der Arbeit wichtige Begriffe erläutert wurden (siehe Kapitel 2), werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit John Stuart Mills Argumente für die Notwendigkeit der Meinungsfreiheit, die er in „On Liberty“[31] darstellt, genauer betrachtet, sowie die Gegenargumente, die er durch einen gedachten Kritiker definiert. Die Argumente und Ansichten, die erneut aufgegriffen werden, werden mit einem kursiven Text dargestellt. Es werden mögliche Kritikpunkte in Mills Abhandlung dargestellt und diskutiert, ob diese haltbar sind. Daraufhin wird im Hauptteil der Arbeit diskutiert, wie es um die Meinungsfreiheit während der Corona-Pandemie steht/stand. Dabei wird der Fokus auch auf die zwei Seiten von Menschen mit gegensätzlichen Meinungen gelegt. Zu den Seiten gehören einmal diejenigen, die behaupten, dass es keine Meinungsfreiheit während der Pandemie gäbe, d.h., dass ihre freie Meinungsäußerung unterdrückt oder eingeschränkt wird. Sie sind der Meinung, dass ihnen das Recht auf Meinungsfreiheit genommen wird und dadurch eine Zensur stattfindet. Auf der anderen Seite wird betrachtet, wie die Argumentation der Menschen aussieht, die sich dafür aussprechen, dass es nach wie vor Meinungsfreiheit gibt. Unter Abwägung der Umstände während der Corona-Pandemie werden beide Positionen geprüft und es wird erarbeitet ob es akzeptable Grenzen der Meinungsfreiheit gibt. Dabei werden auch die jeweiligen Argumente respektive Gegenargumente in den Fokus gesetzt. Bevor jedoch die Grenzen ausgearbeitet werden können, ist es notwendig in Kapitel 5 zu untersuchen ob die Meinungsfreiheit in Deutschland noch besteht oder ob sie bereits unterdrückt bzw. verhindert wird. Anschließend wird untersucht, ob und wo es akzeptable Grenzen der Meinungsfreiheit geben kann. Auf die kursiv dargestellten Argumente Mills wird in den dazu passenden Kapiteln schlussendlich Bezug genommen. In den Schlussfolgerungen werden die akzeptablen Grenzen aufgezeigt und die allgemeine Problematik der Meinungsfreiheit behandelt.
3 John Stuart Mill in dem Essay ‚On Liberty’
3.1 Grundlagen in Kapitel 1
John Stuart Mill war ein Philosoph des 19 Jahrhunderts und ein Vertreter des Liberalismus.[32] Liberalisten zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Freiheit des Individuums gegenüber der Staatsgewalt fordern. J. S. Mill veröffentlichte sein Essay ‚On Liberty‘ im Jahr 1859. In dem Essay verteidigt er die Freiheit des Individuums gegenüber einer Tyrannei der Mehrheit. Außerdem befasst er sich mit der sozialen und bürgerlichen Freiheit, nicht aber mit der metaphysischen.
In dieser Arbeit wird auf die Reclam Lektüre des Essays referenziert, in welcher der Originaltext von Bruno Lemke übersetzt wurde und von Bernd Gräfrath in Form der 2. durchgesehenen und bibliographisch ergänzten Ausgabe im Jahr 2020 herausgegeben wurde. Das Essay ist insgesamt in fünf Kapitel aufgegliedert. In dieser Arbeit wird der Fokus hauptsächlich auf die Kapitel 1 (“Einleitung“) und Kapitel 2 (“Über die Freiheit des Gedanken und der Diskussion“ / “Of the Liberty of Thought and Discussion“) gelegt. Da in diesen Kapiteln eine Argumentation für die Meinungsfreiheit und darauf basierend wichtige Argumente zu finden sind, werden diese Teil dieser Arbeit sein. Mill benennt das Thema seiner Abhandlung wie folgt:
Der Zweck dieser Abhandlung ist es, einen sehr einfachen Grundsatz aufzustellen, welcher den Anspruch erhebt, das Verhältnis der Gesellschaft zum Individuum in Bezug auf Zwang oder Bevormundung zu regeln, gleichgültig ob die dabei gebrauchten Mittel physische Gewalt in der Form von gerichtlichen Strafen oder moralischer Zwang durch öffentliche Meinung sind.[33]
Dieser Grundsatz besagt, dass die Gesellschaft nur aus einem Grund das Recht hat, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumischen und zwar zum Selbstschutz oder zum Schutze anderer.[34] Das Prinzip, auf dem der Grundsatz basiert, wird im Allgemeinen auch als Schadensprinzip (“Harm Principle“) deklariert. Es ist nicht nur möglich, Menschen Schaden durch aktive Handlungen zuzuführen, sondern auch durch unterlassene Handlungen.[35] Mill ist dabei bewusst, dass dieser Grundsatz (s.o.) Einschränkungen braucht. Die Einschränkungen sind notwendig, da Mill nur geistig entwickelte Personen als, in diesem Sinne, Handlungsfähig erachtet – unreife Menschen müssen durch diese Einschränkungen geschützt werden.[36] Diese Einschränkungen fangen da an, wo der Mensch als unreif betrachtet wird. Das bedeutet, dass Mill Kinder und unreife Erwachsene aus seinem Grundsatz ausschließt. Des Weiteren schließt Mill ebenfalls barbarische Völker aus, da diese laut ihm auf einer nicht ausreichend hohen Entwicklungsstufe sind.[37] Die barbarischen Völker sind nicht in der Lage Freiheit frei und gleichberechtigt zu erörtern.[38] In der Einleitung stellt Mill dar, dass es drei Bereiche menschlicher Freiheit gibt. Der erste Bereich ist die Gedankenfreiheit, die unweigerlich mit der Meinungsfreiheit verknüpft ist. Dem zweiten Freiheitsbereich gilt das Hauptaugenmerk seines Essays und er wird als die „Freiheit des Geschmacks und der Studien, Freiheit, einen Lebensplan [...] zu entwerfen und zu tun, was uns beliebt[...].“[39] Dieser Bereich kann als Freiheit der eigenen Lebensgestaltung betitelt werden. Die dritte Freiheit ist die Freiheit zum Zusammenschluss, zur Vereinigung mit anderen, solange der Zusammenschluss unter das Schadensprinzip fällt. In Kapitel 2 beginnt Mill dann in seiner Abhandlung mit der Argumentation für die Notwendigkeit der Freiheit von Gedanken, Meinungen und Diskussionen.
3.2 Argumentationsstruktur von Kapitel 2
John Stuart Mill vertritt einen sehr starken Liberalismus, d. h. er fasst die Presse- und Gedankenfreiheit, damit auch immer verknüpft die Meinungsfreiheit, als sehr weit auf. Das Hauptaugenmerk des zweiten Kapitels ist die Darstellung seiner Sichtweisen und die Verteidigung gegen Einwände möglicher Gegner. Für Mill ist es klar, dass die Meinungsfreiheit nicht nur für das Individuum notwendig ist, sondern auch einen Nutzen für die Gesellschaft mit sich bringt.[40] Er geht in seiner Abhandlung soweit, dass er die Ansicht vertritt, dass alle Menschen über kurz oder lang von der extremen Meinungsfreiheit, die er vertritt, profitieren würden.[41] Das zweite Kapitel von seinem Essay ist in mehrere Hauptthesen untergliedert. Das Ziel ist die Verteidigung dieser Thesen gegen mögliche Einwände, um die Notwendigkeit der Meinungsfreiheit darzustellen. Hierzu zieht Mill einen gedachten Kritiker heran.
Mill beginnt seine Argumentation auf Seite 55 mit der ersten Hauptthese: „Die Meinung, die man durch Autorität zu unterdrücken versucht, ist möglicherweise richtig.“.[42]
Beispiel: Gehen wir von einer hypothetischen Regierung aus (eine Gruppe von Menschen, ein höher gestelltes Individuum, o.ä.). Diese Regierung vertritt Meinung A, wobei im Volk, bei einigen Individuen, bei einem Individuum oder bei einer kleinen Gruppe von Menschen der Fokus auf der Meinung B liegt. Die Regierung möchte mit ihrer Autorität die Meinung B unterdrücken.
In dem von Mill beschriebenen Fall ist allerdings Meinung B die Richtige. Mill ist demnach der Ansicht, dass die Meinungsfreiheit notwendig ist, da die Meinung von Andersdenkenden richtig sein könnte.[43] Personen, die versuchen, andere Meinungen, die ihrer Meinung zuwiderlaufen, zu unterdrücken, maßen sich eine absolute Unfehlbarkeit an.[44] Jeder reife Mensch weiß um die Fehlbarkeit seiner selbst, wenige gestehen diese aber ein, wenn es um ihre Meinungen und Ansichten geht.[45] Mill versucht zu zeigen, dass in einer Welt, in der ein Mensch fehlbar ist, auch eine ganze Regierung, eine große Gruppe von Menschen oder sogar eine Religion fehlbar sein kann.[46] Mill zieht an dieser Stelle das erste Mal einen gedachten Kritiker heran, der für die Meinung der anderen Seite argumentiert. Der Kritiker vertritt die Ansicht, dass die Menschen ihren Verstand nutzen sollten um ihre Meinungen nach bestem Gewissen zu formen. Mill würde diese Ansicht nicht kritisieren. Es wird durch diese These nämlich deutlich, dass ein Abwägen zwischen absolutem Skeptizismus und einer totalen Unfehlbarkeit als zu einseitig gelte.[47] Das heißt, der Kritiker ist der Ansicht, man sollte nach besten „Wissen und Gewissen“[48] handeln und verbieten, was man für schädlich hält. Das bedeutet aber noch nicht, den Anspruch zu stellen, frei von Irrtum zu sein. Wenn also ein Regierungsoberhaupt sich nach bestem Wissen und Gewissen seine Meinung gebildet hat und diese vertritt und auf der Grundlage dieser Meinung so handelt, dass er/sie eine andere, in seinen/ihren Augen schädliche Meinungsäußerung verhindert, dann wäre es dem Kritiker zufolge akzeptabel. Alles andere wäre Feigheit und in keinem Fall Gewissheit.[49] Mill hat die erste Ansicht nicht kritisiert, kritisiert jedoch die Folgerung des gedachten Kritikers, dass es Feigheit wäre, die als schädlich anerkannten Meinungen nicht an der Ausbreitung zu hindern.[50] Mill führt drei Gegenkritiken auf und bringt als erstes ein logisches Argument an, bei dem der Fokus darauf liegt, dass man nicht von der Annahme einer Richtigkeit auf die allgemeine Richtigkeit schließen kann. Mill unterscheidet hier zwischen der Annahme, dass eine Meinung richtig sei, „weil man trotz reichlicher Gelegenheit sie zu bekämpfen, sie nicht widerlegt hat, und der, dass sie richtig sei, nur um ihre Widerlegung nicht zuzulassen.“.[51] Mill sagt damit, dass man eine Meinung nur zum Zweck des Handelns als richtig annehmen kann, wenn die totale Freiheit besteht, diese Meinung zu missbilligen oder ihr zu widersprechen. Mill wird im weiteren Verlauf des Kapitels noch einmal die Notwendigkeit der Möglichkeit zur Kritik und Diskussion herausstellen. Ein weiterer Punkt, den Mill gegen die Folgerung des Kritikers anführt, ist ein empirisches Argument. Mill zieht dafür den Katholizismus heran. Mills Argument beruht darauf, dass er die Katholiken, welche in der Geschichte keine andere Meinung als die ihre zugelassen haben, als Beispiel nutzt. Er sagt, dass selbst bei einer Heiligsprechung eines Menschen ein „Advokat des Teufels“ [52] Teil der Zeremonie ist, um ihn anzuhören. Das Argument besteht darin, dass selbst die römisch-katholische Kirche im gewissen Maße einsieht, dass es notwendig ist, alles, was die Gegenseite zu erwägen hat, anzuhören. Das wird mit folgender Aussage belegt: „Unsere Überzeugungen haben keine verlässliche Schutzwache als eine ständige Einladung [..], sie als unbegründet zu erweisen.“.[53] Es wird herausgestellt, dass Mill durch seinen radikalen Liberalismus der Ansicht ist, dass alle Meinungen angehört werden müssen. Das Ansichten nur als wahr erwiesen werden können, wenn sie verfügbar sind, kritisiert zu werden. Mill bringt noch eine dritte Widerlegung der Folgerung des Kritikers in Form einer weiteren empirischen Entgegnung. Dabei zieht er drei geschichtliche, hervorragende Menschen als Beispiel der Fehlbarkeit des Menschen heran. Mill bezieht sich auf Socrates und Jesus, die beide von Personen, die sie selber achteten, vor Gericht zum Tode verurteilt wurden. Das dritte Beispiel bildet Marc Aurel, der laut Mill einer der schlausten und hervorragendsten Menschen war.[54] Dieser Kaiser war trotz seiner Gutherzigkeit und seinen positiven Absichten für Volk und Land die Ursache der Christenverfolgung. Mit diesen Beispielen versucht Mill zu zeigen, dass auch Menschen mit wahrhaft guten Absichten und den richtigen Überzeugungen sich grobe Fehltritte erlauben. Mill zeigt dem Kritiker damit, dass durch die Richtigkeit einer Überzeugung, an die ein Mensch glaubt, er/sie nicht davon freigesprochen ist, bei der Unterdrückung anderer Meinungen einen großen Fehler zu begehen.[55]
Die möglichen Kritikpunkte gegen die Meinungsfreiheit hat Mill bisher auf der Grundlage dargestellt, dass die Kritiker die schädlichen Meinungen unterdrücken wollen, da sie an die Richtigkeit ihrer Überzeugungen glauben. Ein anderer Kritiker könnte die Ansicht vertreten, wie Mill sie im Folgenden aufzeigt. Er zieht einen Kritiker heran, der die allgemeine uneingeschränkte Meinungsfreiheit für die Gesellschaft als schädlich erachtet. Der Kritiker bezieht sich somit auf das von den Liberalisten akzeptierte Schadensprinzip (Harm Principle). Die hier angebrachte Kritik sagt, dass es vertretbar wäre, eine geltende Meinung vor entgegengesetzten Meinungen zu schützen, da sie gesellschaftlich relevant ist. Das heißt der Wahrheitswert der Meinungen und Ansichten rückt in den Hintergrund. Ein dafür mögliches Beispiel ist der Schutz der Säulen des christlichen Glaubens in England (zu Mills Zeit) vor entgegengesetzten Meinungsäußerungen, da diese das gesellschaftliche System ins Schwanken bringen könnten. Mill erwidert daraufhin, dass ein Glaube, eine Überzeugung, die bewusst der Wahrheit widerspricht, nicht von Nutzen für die Menschen sein kann. Mill spricht davon, dass eine Überzeugung, will sie als allgemein gültig gelten, auch auf innere Wahrheit geprüft werden muss. Mill legt dem Kritiker daraufhin folgende Worte in den Mund: „Wahrheit triumphiert stets über Verfolgung.“[56]. Somit ist es für den Kritiker akzeptabel, Meinungen zu unterdrücken, da sich die Wahrheit schon durchsetzen werde. Mill entkräftet diese Kritik durch ein empirisches Argument, dass die Wahrheit im Verlaufe der Geschichte häufig durch Verfolgungen unterdrückt worden ist: „Die Reformation brach mindestens zwanzigmal vor Luther aus und wurde jedes Mal unterdrückt.“[57]. Ein weiterer Einwand, den Mill gegen die Position des Kritikers vorbringt besteht darin, dass er Personen, die die Ansichten des Kritikers teilen, zu solchen einordnet, die der Überzeugung sind, dass „neue Wahrheiten einst wohl wünschenswert gewesen“ seien, „jetzt hätten wir aber genug davon.“[58]. Personen, die zu dieser Kategorie gehören, sind Reaktionäre, für die die Wahrheit an zweiter Stelle steht und die Ruhe an oberster.[59] Mill geht auf diese Art der Kritiker ein und äußert, dass diese sagen könnten, dass zur damaligen Zeit (19 Jahrhundert) Ketzer und Verkünder neuer Anschauungen nicht mehr getötet wurden. Der imaginäre Kritiker könnte dieses Argument offenlegen, um sowohl zu zeigen, dass er an der Wahrheit und nicht nur an der Festigung der eigenen Meinung festhalte, als auch um zu zeigen, dass die Meinungsfreiheit einen Fortschritt gemacht hat.
Mill zeigt, dass Ketzer zwar nicht mehr getötet werden, aber auf andere Art und Weise Nachteile erfahren.[60] Das spricht dafür, dass Personen, die andere Überzeugungen und Meinungen als die vorherrschende Meinung hatten, im damaligen England stark benachteiligt wurden. Ebenfalls spricht es dafür, dass die Menschen nicht nach der Wahrheit strebten, sondern nur darauf abzielten, ihre Ansichten und Meinungen nicht gegen entgegengesetzte Meinungen verteidigen zu müssen. Die Nicht-Christen erfuhren in England und ihren Kolonien eine gesellschaftliche Benachteiligung. Sie durften vor Gericht kein Zeugnis ablegen, wodurch ihnen der Rechtsschutz aberkannt wurde. Sie konnten beraubt und bestohlen werden und hatten keinerlei rechtlichen Schutz, da die vorherrschende Meinung der Ansicht war, dass ihr Eid wertlos sei. Mill entgegnet diesen Punkten, dass die Regel sich selbst widerspreche. Ketzer die als Lügner tituliert werden und deren Eid daher wertlos sei, könnten mit ihrer ketzerischen Meinung innehalten und lügen, dass sie keine Ketzer seien. Somit würden sie den Rechtsschutz erhalten. Nur Personen, die der Lüge absagen, um keine falsche Meinung zu äußern, gelten als Ketzer und ihnen würde der Rechtsschutz verweigert. Ein anderer Punkt besteht darin, dass es keinerlei empirische Beweise dafür gibt, dass das Wort eines Atheisten in nur einem minimalen Maße weniger ehrenwert sei als das eines Christen. Ebenso gibt es keine Beweise dafür, dass ein Atheist unehrlicher sei. [61] Ebenfalls stellt sich die Frage auf der Grundlage, dass den Atheisten der Rechtsschutz verwehrt bleibt, weil sie nicht an das ewige Leben glauben, ob die Christen nur nach der Wahrheit suchen, weil sie Angst vor folgender Bestrafung haben?[62]
Mill geht im weiteren Verlauf von den gesellschaftlichen Rechtsfolgen über zu der Tyrannei der öffentlichen Meinung und den daraus resultierenden Folgen:
Denn das ist es – es sind die Meinungen und Empfindungen, die sie gegen alle hegen, welche die ihnen richtig erscheinenden Grundsätze nicht teilen, was England nicht zu einer Stätte geistiger Freiheit werden lässt.[63]
Mill äußert, dass die rechtlichen Grundlagen, die oben genannt wurden, dazu führen, dass die öffentliche Meinung einen hohen Druck auf die Menschen ausübt und so die Meinungsfreiheit einschränkt.[64] Mill schließt aufgrund der durch die Öffentlichkeit eingeschränkten Meinung, dass die Menschen sich selber schaden.
Unsere bloß gesellschaftliche Unduldsamkeit [...] zwingt die Menschen [...] sie (die Meinung) zu verheimlichen oder von jedem kräftigen Bemühen zur Verbreitung abzustehen.[65]
Mill schließt aus diesen Umständen Folgen für die Menschen der Gesellschaft. Dadurch, dass die Meinungen nur in kleinen Kreisen bleiben, in denen sie gewachsen sind, wird der Frieden in der geistigen Welt gewahrt, führt aber dazu, dass die Menschen die moralische Courage des menschlichen Geistes opfern.[66] Dieser Umstand kann als eine unmittelbare Folge der Meinungseinschränkung durch die Gesellschaft gelten. Ebenfalls werden die Menschen aus denselben Gründen Wahrheitsheuchler und Verkünder von Gemeinplätzen. Die Menschen beschränken ihre Meinungen und Äußerungen auf gesellschaftlich akzeptable Themen. Es werden keine fortschrittlichen oder kritischen Gedanken öffentlich ausgeführt, was dazu führt, dass keine offenen, keine furchtlosen Charaktere heranwachsen.[67] Es ergeben sich weitere Folgen für die Menschen, die keine Atheisten sind, aufgrund der fehlenden öffentlichen Diskussion über Meinungsverschiedenheit. Die Menschen haben Angst davor, ihre Meinung frei zu äußern, da sie befürchten, etwas Falsches zu sagen und infolge dessen möglicherweise als Ketzer betrachtet zu werden. Die kognitive Entwicklung aller Menschen wird auf der Basis der Angst eingeschränkt, was dazu führt, dass fortschrittliche Gedankengänge nicht konsequent zu Ende gedacht werden. Diese Einschränkung wirkt sich auf die gesamte Gesellschaft negativ aus.[68] In der heutigen Gesellschaft gibt es die von Mill beschilderten Probleme weiterhin. Gerade wenn es um die Flüchtlingsdebatte oder Rassismus im Allgemeinen geht, haben die Leute Angst, als Rassist oder Rechtsextremist abgestempelt zu werden und daher schränken einige ihre öffentliche und freie Meinungsäußerung ein. Mill spricht sich dafür aus, keine Frage als endgültig gelöst zu betrachten. Unterschiedliche Meinungen müssen aus allen Blickwinkeln betrachtet werden und das Recht haben, frei geäußert zu werden. Ein offener Meinungsaustausch muss gewährleistet sein um eine „hohe Stufe geistiger Tätigkeiten“[69] zu erreichen. Das zeigt Mills Individualismus und schließt so die Argumentation für die erste These ab, bei der er gezeigt hat, dass die Meinungsfreiheit von Nöten ist, da die herrschende Meinung nicht immer die Richtige ist und es daher entscheidend ist andere Meinungen anzuhören. „Niemand kann ein großer Denker sein, der nicht erkennt, dass es seine erste Pflicht als Denker ist, seinem Intellekt zu folgen, zu welchen Schlüssen er ihn auch leiten mag.“[70]. Die Meinungsfreiheit ist entscheidend, da die herrschenden Meinungen nicht immer als richtig angesehen werden können.
Mill hat in der ersten These angenommen, dass man nie sicher sein kann, dass die vorherrschende Meinung die einzig richtige Meinung ist. In der zweiten Hauptthese argumentiert Mill für die Notwendigkeit der Meinungsfreiheit, auch wenn die vorherrschende Meinung die Richtige sei. Ebenfalls zeigt er, welcher Wert der Meinung zukommt, wenn sie nicht öffentlich gegen andere Meinungen bestehen muss.[71] So geht es in der zweiten Hauptthese darum, zu zeigen, dass eine Meinung, die richtig ist, nur von Wert ist, wenn sie regelmäßig zur Debatte gestellt wird. Eine Meinung, die nicht kontinuierlich im Fokus einer Debatte steht und ohne Diskussion als richtig erachtet wird, ist nach Mill nicht mehr als „totes Dogma“.[72] Eine Meinung, eine Überzeugung, eine Ansicht, die als richtig gilt und tatsächlich wahr ist, wird sich im Diskurs mit entgegengesetzten Meinungen, Überzeugungen und Ansichten stets behaupten. Menschen müssen sich mit Meinungen und Ansichten auseinandersetzen und nicht nur ihre Überlieferung für wahr erachten. Es ist wichtig, die Gründe und Argumente hinter einer Ansicht zu kennen um diese zu vertreten.[73] „Die Einsicht in die Beweggründe unseres eigenen Denkens“[74] soll dabei helfen, den Verstand und die Urteilsfähigkeit auszubilden. Menschen sollen ihren Verstand nutzen, um die Tiefen ihrer Meinungen zu erkunden und ihre Ansichten gegen Einwände begründen können.
Beispiel: Ich höre in der Universität einen Professor in einem Gespräch seine Meinung äußern und denke mir ohne Reflektion der Meinung, dass sie mir als äußerst klug erscheint und ich folgere, da diese Person Professor ist, muss die Meinung sinnvoll und richtig sein. Wenn ich diese Meinung übernehme und versuche sie am nächsten Tag meinen Freunden darzustellen, könnten diese mit Gegenargumenten die Meinung angreifen. Ich wäre nicht in der Lage, die Richtigkeit dieser Meinung zu verteidigen, da ich nicht die Hintergründe und Grundlagen meiner Ansichten kenne, weil ich diese Meinung „bloß nachgeschwätzt“[75] habe.
Eine andere Situation würde sich ergeben, wenn ich die Meinung des Professors reflektiert hätte und mir selber die Grundlagen und möglichen Gegenargumente aufgezeigt hätte. So könnte ich in der Überzeugung, dass diese Meinung richtig ist, sie (die Meinung) im Diskurs mit meinen Freunden standhaft belegen und ihre (hier angenommene) Richtigkeit herausstellen. Mill sagt damit, dass es notwendig ist, sich mit seinen Meinungen und denen der anderen auseinander zu setzen. Es ist wichtig, einen Diskurs zuzulassen, auch wenn die herrschende Meinung als richtig gilt. Mill schafft hiermit sein Idealbild der Menschen, bei dem der Meinungsfreiheit die oberste Notwendigkeit zugeordnet wird. Die Menschen sollen ihre Überzeugungen begründet darstellen können und in einer Diskussion gegen andere Meinungen und Überzeugungen verteidigen können.[76]
Mill zieht erneut ein mögliches Gegenargument eines Kritikers heran, der sagen könnte, dass man die Menschen auch über die Gründe ihrer Ansichten belehren könnte. Ein Argument wäre die Wissenschaft der Mathematik und Geometrie, bei der die Grundlagen und Gründe der Ansichten gelehrt werden könnten. Mill geht sofort darauf ein und zeigt, dass die Mathematik und Geometrie so konstituiert sind, dass „die Eigentümlichkeit der Gewissheit mathematischer Wahrheiten“ die ist, „dass alle Beweisgründe auf der einen Seite liegen.“[77] In der Mathematik und Geometrie wäre eine Diskussion somit überflüssig, da man die Grundlagen erlernen kann. Bei den Naturwissenschaften gibt es allerdings immer eine weitere Erklärung für einen Zustand. Beim Punkt der Meinungsfreiheit hängt die Wahrheit vom „Abwägen zweier Reihen von einander ausschließenden Gründen ab.“[78] Das heißt, ein Diskurs über die unterschiedlichen Ansichten ist entscheidend, um die Wahrheit zu finden. Eine Betrachtung der unterschiedlichen Meinungen aus allen Blickwinkeln ist notwendig.[79] Mill bringt dafür das Beispiel Ciceros an, den er für den zweitbesten Redner des Altertums hält. Cicero hat sich stetig mit den Überzeugungen der Anderen befasst, um seine Meinung standhaft zu verteidigen und die gegnerischen Ansichten kritisieren zu können. Die Meinung eines Menschen kann nur einer anderen Meinung vorgezogen werden, wenn dieser Mensch in der Lage ist, die gegenläufige Meinung zu kritisieren und die angenommene Richtigkeit seiner Meinung im Diskurs zu verteidigen.[80] Mill stellt neben dem Cicero Beispiel ein weiteres dar. Die obersten Christen, um ihre Ansichten besser verteidigen zu können, setzen sich mit den Ansichten der Ketzer auseinander. „Die beiderseitigen Gründe in vollem Licht zu sehen“[81], ist entscheidend, um ein Urteil zu fällen.
Der Kritiker könnte hier einwenden, dass nicht alle Menschen die Gründe und Grundlagen der Philosophie und Theologie verstehen müssen. Es ist für sie schlichtweg nicht nötig, „alles zu wissen und zu verstehen, was gegen oder für ihre Meinungen [...] vorgebracht werden kann.“[82]. Der Kritiker äußert, dass die Menschen einsehen würden, dass sie nicht in der Lage sind, die Lösung der Probleme zu finden. Allerdings treten sie die Lösung der Fragen an „besonders geschulte Köpfe“[83] ab. Außerdem übernehmen sie in dem Vertrauen, dass alle Probleme und Zweifel gelöst werden, die Ansichten und Meinungen von den „besonders geschulten Köpfen“[84]. Der Kritiker sagt damit, es reiche aus, wenn die Gelehrten alle Antworten kennen und diese den Menschen lehren würden. Somit bräuchte es keinen öffentlichen Meinungsaustausch und es müsste nicht jede Meinung angehört und diskutiert werden. Dieses Argument enthält einen Fehlschluss. Es legt die freie Meinungsäußerung und den notwendigen Diskurs unter Philosophen und Theologen zu Grunde, da die Ansichten der Philosophen und Theologen von dem Volk nur als „begründete Gewissheit“[85] angesehen werden können, wenn diese frei untereinander diskutieren könnten. Mill argumentiert im Folgenden für die Notwendigkeit der Meinungsfreiheit mit dem bereits oben genannten Beispiel, dass einige Geistige das Recht haben, ketzerische Werke zu lesen. Er versucht durch diese Argumentation zu zeigen, dass selbst die katholische Kirche, welche seinem radikalen Liberalismus strikt entgegensteht, Prinzipien des Liberalismus nutzt. Mill argumentiert weiter, dass bei einer fehlenden Diskussion nicht nur die Wurzeln der Ansichten und Erkenntnisse, sondern auch die Bedeutung eine Rolle spielen. Der „Verfall der Lebenskraft eines Glaubens“[86] tritt ein, wenn die zugrunde liegende Meinung aufhört, sich gegen Einwände zu verteidigen und wenn die zugrunde liegende Meinung nicht versucht sich durch Diskussionen weiter auszubreiten. Es bleiben nur noch Hülsen und Schalen des ursprünglichen Gedankens übrig.[87] Die Forderung nach offenen Diskussionen, um die Grundlagen und Erkenntnisse der vertretenen Meinung zu kennen, ist für Mill entscheidend. Mill folgert aus dieser Argumentation, dass sich die Lehre den Überzeugungen anzupassen habe. Er zieht die Sokratische Dialektik heran, bei der Sokrates im Gespräch mit Schülern sowohl die Schwierigkeiten als auch die positiven Aspekte einer Überzeugung bespricht. Indem sie alle Grundlagen der Überzeugungen kennen, müssen die Schüler eine eigene Meinung ausbilden. Fortfahrend spricht Mill den Menschen, deren Meinung falsch ist, eine wichtige Rolle zu, wenn sie trotzdem die geltenden Ansichten kritisieren. Durch diese Menschen und ihre Kritik setzt sich der Rest der Gesellschaft mit den vorherrschenden Meinungen auseinander und bringt die Gewissheit und die Lebenskraft der Überzeugungen wieder in die kognitive Welt der Menschen.[88] Mill schließt damit die Argumentation für die Notwendigkeit der Meinungsfreiheit, selbst wenn die vorherrschende Meinung die Richtige ist. Eine Diskussion unterschiedlicher Meinungen ist somit wichtig, um die Erkenntnisse, die Grundlagen und die Argumente der Meinungen am Leben zu erhalten. Eine Diskussion ist entscheidend, damit eine Meinung nicht als totes Dogma gilt, sondern als lebendige Wahrheit.[89]
Es ist sowohl mit Hilfe der ersten Hauptthese, dass die vorherrschende Meinung die Falsche sei und dementsprechend eine gegenläufige die Richtige sei, für die Meinungsfreiheit argumentiert worden. Die zweite Hauptthese, dass die Meinungsfreiheit von Nöten ist, auch wenn die herrschende Meinung die Richtige sei, spricht nach Mill für die Meinungsfreiheit. Wenn beide Meinungen entgegengesetzt sind und keine der beiden Ansichten die ganze Wahrheit enthält, formuliert Mill eine weitere dritte These. In dieser stellt er fest, dass die Meinungsfreiheit gegeben sein muss, um die Wahrheit zu erkennen. Menschen sind so konstituiert, dass sie ihrer Meinung immer die ganze Wahrheit zuordnen und die entgegenlaufende Meinung die Falsche ist.[90]
Darauf basierend sagt Mill, dass „nur durch Unterschiedlichkeit der Meinungen [...] eine Möglichkeit besteht, allen Seiten der Wahrheit faires Spiel zu schaffen.“[91] Mill nimmt einen gedachten Kritiker hinzu der dafür plädieren könnte, dass es aber allgemeingültige Wahrheiten und vollkommene Meinungen gibt. Der Kritiker bezieht sich auf die christliche Moral, die nach seinen Ansichten eine ganze Wahrheit ist. Der Ansatzpunkt Mills ist der, dass er die Überzeugung, dass die christliche Moral eine ganze Wahrheit ist, angreift. Wenn beide Meinungen nur Teilwahrheiten enthalten, können sie nur durch Meinungsaustauch die ‚goldene Mitte‘ finden. Das spricht für die Notwendigkeit der Meinungsfreiheit. Keine Meinung kann für sich die allgemeine Gültigkeit beanspruchen, was Mill dadurch zeigt, dass nicht einmal die christliche Moral, die eine gesellschaftlich hohe Meinung besitzt, über die ganze Wahrheit verfügt. Wenn die christliche Moral als unvollkommen anerkannt werden würde, so wäre seine These bestätigt. Mill kritisiert damit die Wahrheitsansprüche der geltenden Weltanschauung und stellt fest, dass die christliche Morallehre nicht eindeutig ist. Die Grundlage der christlichen Moral ist das Neue Testament, welches durch eine eher poetische Wortwahl auffällt und seine Morallehre auf Einzelheiten bezieht. Es ist nicht möglich, das Neue Testament als eine allgemeine moralische Gesetzgebung zu sehen.[92] Das Neue Testament kann durch die Verknüpfung mit dem Alten Testament als „Sammlung sittlicher Lehren“[93] gesehen werden. Das Alte Testament ist aber barbarisch und baut auf einem barbarischen Volk auf.[94] Der nächste argumentative Punkt besteht darin, zu zeigen, dass die christliche Lehre nicht vorbildhaft ist, sondern teilweise unvollständig. Da sie „unvollständig und einseitig“[95] sei, sagt Mill, dass die Gesellschaft damit in einem schlechteren Zustand wäre als sie es jetzt ist. Die christliche Morallehre ist verneinend, unterwürfig und besteht zu großem Teil aus Gehorsam und Vorschriften, die sagen, ‚du sollst nicht!‘.[96] Wenn diese Art der Moral die Grundlage bildet, den Geist und die Empfindungen zu formen, dann entwickeln sich Menschen mit einem kriecherischen, niedrigen und verwerflichen Charakter.[97] Die besten und achtenswertesten Morallehren entstammen den Männern, die keine Christen waren und den christlichen Glauben verworfen haben.[98] Die christliche Lehre ist nach Mill uneindeutig und führt dazu, dass die Gesellschaft sich nicht zu einer offenen Gesellschaft entwickelt. Er hat gezeigt, dass nicht einmal die christliche Lehre die ganze Wahrheit für sich beanspruchen kann. Somit ist es seiner Meinung nach logisch, dass die Menschen sich untereinander über ihre Ansichten, Meinungen und Überzeugungen austauschen müssen, um die ganze Wahrheit zu finden. In der Politik ist es üblich eine Opposition zu haben, die die Rolle des Gegenspieler übernimmt.[99]
Wir haben nun also erkannt, dass für das geistige Wohlbefinden der Menschheit die Freiheit der Meinung und die Freiheit, diese auch auszudrücken, notwendig ist, und zwar aus vier Gründen, die wir kurz wiederholen wollen.[100]
1. Durch die Unterdrückung einer möglich richtigen Meinung gesteht man sich selber Unfehlbarkeit zu.
2. Die unterdrückte Meinung könnte durch ihren kleinen Teil der Wahrheit die vorherrschende Meinung komplementieren und zur ganzen Wahrheit führen.
3. Auch eine Meinung, die die ganze Wahrheit enthält, muss zur Debatte stehen, da sie sonst nur ein Vorurteil bleibt.
4. Die Erkenntnis und die Lebhaftigkeit einer Meinung geht verloren, wenn sie nicht weiterhin zum Diskurs bereit ist.
Die vierte These befasst sich mit den Grenzen der Meinungsfreiheit. Eine offen geführte Debatte darf durchaus Ärgernis hervorrufen. Der Staat sollte sich gänzlich von der Einschränkung der Meinungsfreiheit entfernen und die Gesellschaft einen offenen Meinungsaustausch führen lassen. Persönliche Angriffe und Grobheiten müssen von beiden diskutierenden Parteien untersagt werden und wer trotzdem einen „Mangel an Aufrichtigkeit, oder Bosheit, Frömmelei und Unduldsamkeit offenbart“, der sollte von der öffentlichen Meinung der Gesellschaft verdammt werden.[101] Die öffentliche Meinungsäußerung hat dort ihre Grenzen, wo das Leben und Wohlbefinden einer tatsächlichen Person bedroht ist.
Beispiel: Eine Meinungsäußerung, dass Bankangestellte für die Armut der Bürger verantwortlich sind, kann getätigt werden, ist aber dann zu unterbinden, wenn sie sich an eine Menge von aufgebrachten Bürgern vor dem Haus eines Bankangestellten richtet, da sich somit eine direkte Gefahr für den Bankangestellten ergibt.
Mit diesem Beispiel wird gezeigt, dass eine Meinungsäußerung Grenzen hat, als auch, dass diese Grenzen individuell angepasst werden müssen. Mill nutzt für diese Illustration das Kornhändlerbeispiel, welches gleich aufgebaut ist wie das eben gezeigte Beispiel. Die Meinungsfreiheit kann nicht ohne Einschränkungen als Pflicht erachtet werden, wie Mill durch dieses Beispiel zeigt. Das Schadensprinzip tritt in Kraft, es dürfen keine Aufhetzungen zu Straftaten geäußert werden. Indem sich alle Bürger an das Schadensprinzip halten, muss der Staat in keinerlei Weise in die freie Meinungsäußerung eingreifen.[102] Die Zügelung der Meinungsfreiheit durch energisches Eingreifen ist dann gestattet, wenn von der Meinungsäußerung eine Gefahr für Dritte ausgeht.[103] Ebenfalls ist die Meinungsfreiheit zu beschränken, wenn eine Person sich durch diese Meinungsäußerung „zu einer Belästigung für andere entwickelt.“[104]
3.3 Kritik
Es gilt zu sagen, dass Mill eine stringente und nachvollziehbare Argumentation für den Diskurs der Meinungsfreiheit führt. Leser/-innen, die nicht bewandert sind, wenn es philosophische Werke betrifft, sind ebenfalls in der Lage die Argumentation Mills nachzuvollziehen. Setzt man sich allerdings philosophisch mit der Argumentation auseinander, gibt es einige Punkte, die man kritisieren kann.
Der von Mill dargestellte Grundsatz dieser Abhandlung lautet im englischen Originaltext: „That the only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of a civilized community, against his will, is to prevent harm to others.”[105] Übersetzt man diesen Grundsatz in die deutsche Sprache, stellt sich die Frage, wie man ‚prevent‘ übersetzt, beziehungsweise wie Mill dieses ‚prevent‘ versteht. ‚Prevent‘ kann auf mehrere Arten in die deutsche Sprache übersetzt werden. Bruno Lemke wählte ‚verhüten‘, laut Duden ist ‚verhindern‘, aber auch ‚vorbeugen‘ möglich. In der deutschen Sprache hieße es dann, dass man Zwang gegen den Willen eines Menschen der Gesellschaft ausüben darf, um dem Leid anderer Menschen vorzubeugen. Spielt man diesen Gedanken weiter durch, stellt sich die Frage, ob ein Überwachungsstaat mit dieser Begründung legitimiert werden könnte. Dieser Ansatzpunkt der Kritik ist allerdings haltlos, da Mill in den oben dargestellten Kapiteln eindeutig gegen diese Art der Staatsherrschaft ist. Daher lässt sich sagen, dass Mill den deutschen Ausdruck des ‚Verhinderns‘ anstatt des ‚Vorbeugens‘ bevorzugen würde.
- Citar trabajo
- Oliver Busch (Autor), 2021, Grenzen der Meinungsfreiheit während der Corona-Pandemie im Anschluss an die Argumentation von J.S. Mill in "On Liberty", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1274127
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