Der Beitrag bringt in interdisziplinär angelegten Textanalysen die deutlich privilegierte Stellung von Ovids Metamorphosen als gemeinsamem Substrat und nahezu durchgängigem Referenztext der wichtigsten Mythenadaptionen für Jugendliche zur Anschauung.
Zunächst wird der gegenwärtige Boom an Mythenpopularisierungen für jüngere Rezipienten sowohl in der neueren Ovidrezeption als auch in der Historie dieses Genres verankert. Sodann wird anhand der postmodernen Adaption von handlungsbestimmenden mythologischen Orten aus Ovids Weltgedicht gezeigt, wie Ovids komplexe Erneuerung der mythischen Tradition die Gegenwartsautoren zu erstaunlich ähnlichen Verfahren der kreativen Anverwandlung inspiriert hat.
Die international überaus erfolgreichen aktuellen Jugendbuchreihen "Percy Jackson und Helden des Olymp" von Rick Riordan, "Jack Perdu" von Katherine Marsh, "Die sagenhaften Göttergirls" von Suzanne Williams und Joan Holub, "Die Irrfahrer" von Gerd Scherm und "Schwein gehabt, Zeus!" von Paul Shipton bezeugen die bemerkenswerte Dominanz der griechisch-römischen Mythologie in der gegenwärtigen Alltagskultur. Die rezeptionsphilologische und fachdidaktische Erschließung dieser aktuellen Werke stellt ein Desiderat der Altertumswissenschaften dar.
Ovids Metamorphosen im Spiegel der Jugendliteratur:
VON ARKADIEN ÜBER NEW YORK INS LABYRINTH DES MINOTAURUS
von Dr. Michael Stierstorfer
Um einen kurzen Einblick in die postmoderne Adaptionsweise mythologischer Settings zu geben, wird im Folgenden kurz gezeigt, wie das Setting Olymp im Disneyfilm „Hercules“ visualisiert wird, welcher 2013 neu aufgelegt wurde. Dieser zeichnet den höchsten Berg Griechenlands – ein wichtiger göttlicher Ort, an dem auch die folgende Mythenreise „Vom Himmel durch die Welt zur Hölle“ beginnen soll – ganz nach dem Vorbild Ovids als prunkvollen Palast, in dem die Olympier heiter-ausgelassen leben, lieben und streiten: Die Kamera nähert sich aus der Totale einem riesigen, auf der Spitze eines Berges schwebenden, von Wolken umgarnten Palast. Dieser wirkt sehr erhaben. Am Fuße des Berges befinden sich einige Griechische Tempel und aus schwindelerregender Höhe plätschern kleine Wasserfälle in die Tiefe. Auch Helios flitzt mit seinem Sonnenwagen frech durchs Bild. An der Spitze tummelt sich das gesamte Pantheon der hohen und niederen Gottheiten und feiert eine gediegene Cocktailparty anlässlich der Geburt des Zeussohnes Herkules. Athene lässt ihre Eule aus einem Cocktailglas eine Olive picken, Poseidon spielt seinem mit Dreizack, Diana scherzt mit ihrer Hindin, Ares schlägt kampfeswütig mit seinem Schwert nach kleinen Amoretten, die ihn verspotten, die fliehende Aphrodite wird von einem Satyr angegraben und Narziss betrachtet sich in einem Handspiegel und küsst enthusiastisch sein Abbild. Der Götterbote Hermes nähert sich nicht nur mit Heroldstab, sondern auch mit einem bunten Blumenstrauß der Göttermutter Hera, die entgegen den Standardversionen ihren Sohn Herkules liebevoll in den Arm nimmt. Auch Zeus kümmert sich rührend um seinen kleinen Götterspross, der in einer aus Wolkendunst geformten Wiege friedlich schlummert. Im Hintergrund befindet sich eine Stoa Poikile, die Klein-Herkules aus Versehen mit dem Blitz seines Vaters beschädigt. Wie von Geisterhand repariert sich die zerstörte Säule jedoch von selbst.1 Dieser spielerisch-postmoderne Umgang mit Mythemen2 nach dem Vorbild Ovids soll im Folgenden als paradigmatisch für die aktuelle Mythenadaptionswelle angesehen werden. Ziel dieses Beitrags ist es, anhand von ausgewählten Beispielen evidente Parallelen zwischen modernen Adaptionen und Ovids Meisterwerk Metamorphosen herauszustellen, um zu beweisen, dass das aetas Ovidiana noch lange nicht beendet ist.
Vorab soll ein diachroner Überblick über die Rezeptionsgeschichte der antiken Mythologie vorwiegend in der deutschen KJL vom 18.-21. Jahrhundert gegeben werden. Ziel dieser Zusammenschau ist es, die neu zu konstatierende typisch ovidianische Adaptionsweise postmoderner KJL-Werke von der bisherigen abzugrenzen.
Natürlich ist die Adaption von antiker Mythologie3 in der KJL an sich keine Neuheit, denn schon seit der Renaissance bauten Autoren Elemente aus der griechisch-römischen Mythologie in ihre Werke ein. Dass dieses Phänomen jedoch in der Postmoderne insbesondere seit dem Jahr 2005 in einer so signifikanten Vielfalt und Bandbreite der verwendeten Mytheme kulminiert, ist sehr wohl eine Neuheit. Außerdem hat die Analyse von postmodernen Mythenadaptionen an sich bereits als Desiderat zu gelten.4 Dieses Defizit bezüglich der Forschungslage konstatiert auch die Didaktikerin Schmitt, die diese insgesamt als „ernüchternd“ einschätzt.5 Ihre vielseitige und bereits oben erwähnte Dissertation Von Herakles bis Spider-Man thematisiert Mythenadaptionen in den Medien Buch und Film und räumt dem antiken Mythos einen hohen Stellenwert im Deutschunterricht ein. Neben einem gelungenen zeitlichen Abriss zur mythoshaltigen KJL deckt Schmitt Mythologeme in Steinhöfels Die Mitte der Welt 6 (1998) auf und bietet einen diachron angelegten Überblick über die Adaptionsvielfalt des trojanischen Sagenkreises. Dieser reicht von den antiken Dramen des Sophokles und Euripides über Goethes Iphigenie auf Tauris (1787) bis hin zur Troja-Verfilmung (2004) von Petersen. Darüber hinaus führt sie moderne Comic Helden, wie z.B. Spider-Man und Wonder-Woman, auf deren mythologischen Ursprung zurück, indem sie diese eingehend mit antiken Heroen vergleicht.7
Als Beleg für die Hypothese, dass der gegenwärtige, freie Adaptionsboom durchaus eine Besonderheit darstellt, soll die postmoderne Mythenrezeption von den Adaptionsweisen, die in den vergangenen Jahrhunderten vorherrschten, abgegrenzt und mit diesen kontrastiert werden. Zur diachronen Erfassung und Bewertung der Rezeptionsgeschichte antiker Mythologie in der deutschsprachigen KJL sei komprimiert auf den systematischen Überblick (18.-21. Jahrhundert) von Rutenfranz verwiesen.8 Das erste für die Entwicklung von Nacherzählungen antiker Mythen relevante Werk stammt aus dem 18. Jahrhundert, während man sich im 17. Jahrhundert primär auf Nachschlagewerke beschränkte.
Als älteste wirkungsgeschichtlich herausragende Nacherzählung, welche nicht nur die bedeutendste der Goethezeit und der Romantik ist, sondern auch in Reclams Universalbibliothek aufgenommen wurde und Eingang in den damaligen Schulkanon erhielt, führt Rutenfranz Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten (1791) von Karl Philipp Moritz an. Einer für die Familiarisierung der Klassiker bedeutendsten Autoren ist neben dem berühmten Gustav Schwab der in Vergessenheit geratene Karl Friedrich Becker mit seinen „Erzählungen aus der alten Welt“ (1802/1803). Diese bestehen aus drei Bänden, welche die Odyssee, den trojanischen Krieg und kleinere griechische Erzählungen, wie z.B. die Reise der Argonauten oder die Abenteuer des Herakles bzw. des Theseus, thematisieren.
Diese Adaption bereitet erstmals die Sagen gezielt für ein kindliches Publikum zu volksmärchenhaften Erzählungen mit integriertem Spannungsbogen auf, ohne dass die Mythen auf eine sachlich-lexikalische Darstellung einzelner antiker Gestalten in Bildtafeln reduziert würden.
Trotzdem übertrumpfte Gustav Schwabs Werk Die schönsten Sagen des klassischen Altertums (1838) durch eine größere Vielfalt und einen breiteren Grundriss der antiken Sagenwelt das Kompendium von Becker. Der Aufbau von Schwabs Mythographie ähnelt derjenigen von Becker sehr, sodass Becker als Wegbereiter von Schwab gelten kann.
Beiden Mythographen ist folglich gemeinsam, dass sie die Göttersagen aussparen, während sie die Heldensagen fokussieren. Dabei moralisiert Becker explizit, Schwab hingegen nur implizit.
Schwab betont außerdem seine Nähe zum Original, entfernt jedoch alles, was in seiner Zeit anstößig wirken könnte und transponiert die antike poetische Form in eine prosaische. Noch heute gilt dieses Kompendium als Vorbild für viele weitere. Der Erfolg von Schwabs Mythographie für Kinder und Jugendliche war über hundert Jahre ungebrochen.
In der DDR setzte in den 1950er Jahren ein erstaunlicher Rezeptionsboom von antiker Mythologie ein. Denn vor allem selbsttätige Helden wie Prometheus oder Herakles wurden von DDR-Autoren in ihren Werken aufgegriffen, zu denen u.a. auch Bertolt Brecht (Antigone), Anna Seghers (Das Argonautenschiff), Heiner Müller (Antigone) und Christa Wolf (Kassandra) gehörten. Oftmals wurde jedoch von den Verfechtern des Regimes mit den Adaptionen antiker Mythologie speziell für Heranwachsende der ideologische Zweck forciert, Kinder und Jugendliche im Rahmen des sozialistischen Bildungsprogramms mit dem antiken Erbe vertraut zu machen. Verfasst wurden diese Werke zum ersten Mal in der Geschichte nicht mehr von Gymnasial- und Universitätslehrern, sondern von etablierten Schriftstellern. Darüber hinaus wurden die Sagen des klassischen Altertums nicht mehr lediglich für Schüler höherer Bildungsanstalten, sondern auch für Kinder des einfachen Volks aufbereitet und damit im Wortsinn popularisiert. Franz Fühmann wurde als erster von vielen weiteren Autoren mit einer kindgerechten Neuerzählung antiker Sagen beauftragt. Für den Kinderbuchverlag „Neues Leben“ verfasste er 1966 eine Adaption der Odyssee mit dem Titel Das hölzerne Pferd. Die Sage vom Untergang Trojas und von den Irrfahrten des Odysseus und 1974 eine herausragende Neufassung des Prometheus-Mythos Prometheus. Die Titanenschlacht.9
Während dem antiken Sagengut in Form von kindgerechten Nacherzählungen in der DDR höchste Beachtung geschenkt wurde, blieben solche Bearbeitungen in der BRD eher eine Randerscheinung. Diese Aussage trifft jedoch nicht auf Modernisierungen der homerischen Epen zu. In diesem Zusammenhang sind folgende Werke anzuführen, welche eine breite Öffentlichkeit erreicht haben: Die Reisen des listigen Mannes (Imme Dros, 1993), Die Mitte der Welt (Andreas Steinhöfel, 2004), Theos Reise (Catherine Clément, 2001), Anaxandra (Caroline B. Cooney, 2006).
Gleichwohl bringt Rutenfranz am Ende ihres Rezeptionsüberblicks folgendes Resümee zur Bedeutung der antiken Mythologie auf dem postmodernen Buchmarkt und in der zeitgenössischen Forschung: „Marktbeherrschend bleibt die Schwab’sche Sammlung, die ungeheuere Verbreitung erfährt und weiterhin zahlreiche Neubearbeiter und Nachahmer findet. In der aktuellen kinderliterarischen Diskussion – so meinte Rutenfranz im Jahr 2004 – aber spielt das Sujet der antiken Mythologie kaum eine Rolle“.10
Dieses Urteil trifft indes auf den Jugendbuchmarkt seit dem Jahr 2005 / 2006 nicht mehr zu. Bei den Nacherzählungen ist nicht mehr die sprachlich antiquierte Schwab’sche Sammlung führend, sondern die Nacherzählungen von Dimiter Inkiow (z.B. Die Abenteuer des Odysseus 11 [2006] und Als Zeus der Kragen platzte [2007]). Obwohl der Plot oft ironisch-witzig modifiziert wurde, finden sich teils gravierende Abänderungen und Verfälschungen von für das Textverständnis bedeutenden Handlungssträngen. Außerdem bestimmen derzeit andere, viel freiere Adaptionen, welche in der KJL erstmals in den 1990er Jahren sporadisch aufkamen, den Buchmarkt. Die prämierten Bestseller-Reihen mit ihren Initialbänden Schwein gehabt, Zeus! (Paul Shipton, 2005) und Percy Jackson. Diebe im Olymp (Rick Riordan, 2006) lösten eine bis heute anhaltende wahre Welle freierer Adaptionen aus, hinter denen die Nacherzählungen zurück bleiben. Letztere etablieren sich weit weniger erfolgreich auf Bestsellerlisten als die freien mythopoetischen Werke.12 Außerdem erscheinen freie Adaptionen in einer wesentlich höheren Anzahl als Nacherzählungen, gehen oft in Serie und gründen häufig einen Medienverbund. Seit den 1960er Jahren treten Mytheme der antiken Sagen außerdem sporadisch in Klassikern der Fantasy und Phantastik auf, wie dies am Beispiel von „Das letzte Einhorn“ (Peter S. Beagle, 1961), „Die unendliche Geschichte“ (Michael Ende, 1979), „Ronja Räubertochter“ (Astrid Lindgren, 1982) und „Harry Potter und die Kammer des Schreckens“ (J.K. Rowling, 1998) deutlich wird.13
Folgende vier Aspekte sind also seit 2005 im Wesentlichen neu: 1. Die Antikenadaptionen der KJL gehen mit dem mythologischen Material wesentlich freier um. 2. Die freien Adaptionen der Postmoderne bedienen sich nicht mehr nur aus einem einzigen Sagenzyklus, wie dies z.B. bei den modernisierten Nacherzählungen Michael Köhlmeiers, des 2014 in Innsbruck im Rahmen des DAV-Kongresses mit dem Humanismus-Preis für herausragende Leistungen ausgezeichneten Autors, Telemach (1995) und Calypso (1997) der Fall war, sondern sie entlehnen antike Mytheme aus unterschiedlichen Zyklen und verquicken diese mehr oder weniger stringent miteinander. 3. Zu einem besonders hohen Anteil werden antike Mytheme in den Gattungen der Fantasy und Phantastik verarbeitet, wodurch ein variationenreicher parodistisch-ironischer Umgang nach dem Vorbild von Ovids Metamorphosen mit ihnen ermöglicht wird. In der Forschung hat sich in diesem Zusammenhang der Begriff ‚Mythopoesie‘ etabliert.14 4. Neben Ovids Metamorphosen, die am häufigsten direkt oder indirekt als Quelle von den Autoren genannt werden, beziehen sich die Werke vornehmlich auf Homers Odyssee sowie auf Hesiods Theogonie.15
Welche weiteren Mythenadaptionen haben die gegenwärtige Adaptionswelle ausgelöst bzw. maßgeblich geprägt? Einen klaren Höhepunkt bilden neben der bereits erwähnten Percy Jackson -, die Helden-des-Olymp - und die Jack-Perdu- Reihe sowie die Göttlich - und die Ewiglich -Trilogie. Aber auch der amüsante Zweiteiler Schwein gehabt, Zeus und Ein Schwein rettet die Welt, in dem die antiken Mythen auf intelligente Weise aus Sicht eines in ein Schwein verwandelten Gefährten des Odysseus namens Gryllus erzählt werden, ist ein Indiz für den Erfolg der aktuellen Vielfalt von mythoshaltigen Romanen auf dem Büchermarkt. Summa summarum kann konstatiert werden: Mythenadaptionen dominieren gegenwärtig das Genre der phantastischen Literatur für Kinder und Jugendliche. Während in den Romanen für Jungen und Mädchen die Kämpfe und Schicksale von Helden im Vordergrund stehen (u.a. prototypische Kampfmotive aus dem trojan. Krieg), zentriert sich der Inhalt der phantastischen Romane speziell für Mädchen um das Thema Liebe (u.a. Motive von unerfüllter Liebe aus den Metamorphosen, wie z.B. Orpheus und Eurydike, Hades und Persephone).16
[...]
1 Vgl. Hercules, Ron Clements, Walt Disney 2013 / 1997, 03:00-05:55.
2 Eine kurze und griffige Definition von ‚Mythem‘ findet sich bei Heidmann Vischer, die ein Mythem als „kleinste konstitutive Einheit eines Mythos in der strukturalistischen Mytheninterpretation“ definiert. Heidmann Vischer 2000, Sp. 665. In diesem Zusammenhang verweist Heidmann Vischer auf Lévi-Strauss, der „die den Mythen zugrundeliegenden semantischen Einheiten (‚Mytheme‘) anhand ihrer Ähnlichkeit bzw. Verschiedenheit [untersucht]“. Heidmann Vischer definiert außerdem ,Mythos‘ im Sinne einer Erzählung zwar präziser, aber weniger griffig als Tepe: „ Mythos meint die erzählende Darstellung von kollektiv bedeutsamen Orten und Figuren oder Naturphänomenen, in aller Regel mit religiöser oder kultischer Dimension. In der fortlaufenden Tradierung und Rezeption entstehen zahlreiche Varianten, die unterschiedliche diskursive Funktionen erfüllen. Für die europäische Kultur sind fundamental die griechisch-römischen Mythen, die für uns erst in ihrer schriftlichen und ikonographischen Repräsentation fassbar werden. Eigenschaften und Funktionsweisen eines vorschriftlichen antiken Mythos sind von daher nur hypothetisch rekonstruierbar. Die Bedeutungsdimension des Mythos als erzählende Darstellung ist zentral für die literaturwissenschaftliche Perspektive“ (Sp. 664).
3 Der Begriff ‚antike Mythologie‘ bezieht sich in diesem Beitrag nur auf die griechisch-römische Mythologie. Die ägyptische und andere Mythologien sind darin nicht enthalten und werden bei Bedarf expressis verbis genannt.
4 Vgl. dazu die ergiebigen Dissertationen von Rutenfranz (2004), Schmitt (2006). Hinzu kommt ein reichhaltiger Tagungsband, welcher sich u.a. mit der Verwendung von Motiven aus der antiken Mythologie in Cornelia Funkes Tintenherz auseinandersetzt. Diese Art der freien Adaption wird darin als Mythentranslation betitelt (Seibert 2013). Im Bereich der Didaktik des altsprachlichen Unterrichts wird das Thema immer wieder diskutiert, so z. B. bei Fritsch (1974, 1987), Veit (1990), Stöver (1995), Kipf (2003, 2005) und Wieber (2005). Ferner historisch grundlegend bei Evers (2001). Letztere beschäftigt sich eingehend mit der Fragestellung von Bedeutung und Funktion der Bearbeitungen mythologischer Erzählungen in der Kinder- und Jugendliteratur des 19. Jahrhunderts. Bei ihrem diachronen Überblick über den Stellenwert der wiederaufbereiteten Sagenkompendien für den kinder- und jugendliterarischen Diskurs kommt sie zu folgendem schlüssigen Ergebnis: „Der Bereich der klassischen Sagen als KJL hat bis in die Gegenwart wenig Aufmerksamkeit gefunden. Sieht man die vorhandenen Darstellungen zur Geschichte der KJL seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch, stellt man fest, dass die Sagenbearbeitungen nur in wenigen überhaupt erwähnt, geschweige denn ausführlicher behandelt werden. Öfter findet man diese dagegen in Empfehlungsschriften und Anschaffungshinweisen für Jugend- bzw. Schülerbibliotheken genannt. Sind sie aber aufgeführt, stößt man immer wieder auf dieselben Titel“ (S. 64). Als Quintessenz ihrer Dissertation werden folgende wichtige Funktionen von Sagenbearbeitungen im 19. Jahrhundert präzisiert: „Im Rahmen der literarischen Sozialisation erfüllen die Sagenbearbeitungen gesellige, didaktische und sensibilisierende Funktionen. Diese dienen in einem übergeordneten Sinne dem Aufbau einer personalen Identität des Jugendlichen. Im Blick auf die Ausbildung der individuellen Identität dagegen erfüllen die Bearbeitungen kompensierende, erfahrungserweiternde und antizipierende Funktionen. […] In einem weiteren Schritt wurden die Sagenbearbeitungen schließlich als Erinnerungsfiguren des kulturellen Gedächtnisses gedeutet, die den Erwerb einer kollektiven bürgerlichen Identität mit humanistischer Ausprägung zum Ziel haben“ (S. 251). Gerade der von Evers belegte Aspekt der Didaktisierung ist auch in postmodernen Mythenadaptionen evident und soll daher Gegenstand des im Entstehen begriffenen Forschungsprojekts ‚Antike Mythologie in der postmodernen Alltagskultur‘ (Stierstorfer) werden.
5 Schmitt 2006, S. 61.
6 Die besonders gelungene Verdichtung der problemorientierten Romanhandlung durch Mytheme aus den unterschiedlichsten Sagenzyklen findet auch in einem Artikel von Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon 2006 Zuspruch: „Der 1998 erschienene und für den deutschen Jugendbuchpreis 1999 nominierte Roman Die Mitte der Welt, das bekannteste Werk Andreas Steinhöfels, vereint alle dominanten Themen des Autors: Im Zentrum des Romans steht die Liebe, die mit Schmerz, Schuld und mit Kommunikation verbunden ist, sie motiviert die Handlungsweise der Figuren und ist seine ‚Mitte der Welt‘. […] In Die Mitte der Welt arbeitet Andreas Steinhöfel in besonderem Maß mit bildlichen Bezügen. Bereits der Name der Mutter, Glass, verweist – so der Autor während einer Lesung – in doppelter Verschlüsselung auf Leto, die Mutter von Apollo und Artemis. Doch auch ohne diesen verborgenen Hinweis, der dem Text allein nicht mehr entnehmbar ist, sind die Verweise zur antiken Mythologie durch die Geburtsszene – Glass bringt die Zwillinge im Freien, an einen Baum geklammert zur Welt – und die Namensgebung des Geschwisterpaares, Phil und Dianne, schon zu Beginn des Romans eindeutig“ (S. 11-14).
7 Vgl. Schmitt (2006), S. 1-190.
8 Vgl. Rutenfranz (2004), S. 45-138.
9 Zu diesem Überblick der DDR-Mythenadaptionen ist noch zu ergänzen, dass einige Autoren der Erwachsenenliteratur das griechisch-römische Sagengut ganz gegenläufig zur KJL funktionalisierten, um Regime-Kritik zu üben: „Die massive Präsenz antiker Themen in der Literatur der DDR wird gewöhnlich als Strategie der Umgehung der Zensur angesehen, einer politischen Zensur, die eine direkte, unverschleierte Kritik an gesellschaftlichen Missständen nicht zuließ“ (Crăciun 2000, S. 12).
10 Rutenfranz (2004), S. 138.
11 Dimiter Inkiows Hörbuch Ilias erreichte 2004 Platz 3 der hr 2 Hörbuch Bestsellerliste und wurde 2006 für den Deutschen Hörbuchpreis nominiert (Vgl. www.igel-records.de/news/gewinnspiel-ilias [Stand: 15.12.13]). Die These, dass die Sagensammlungen von Inkiow derzeit als beliebteste Nacherzählungen anzusehen sind, untermauert Bonacker 2011, die in ihrem Beitrag moderne Adaptionen von Sagen, Sachbücher und (fantastische) Kriminalromane thematisiert und anschließend bewertet: „Am Anfang war Gustav Schwab. Seit 1838 seine Sagen des klassischen Alter tums erschienen, zählen Bearbeitungen antiker Mythen zum gängigen Kanon der Kinder- und Jugendliteratur. Zu den derzeit beliebtesten Erzählern antiker Mythen zählt zweifelsfrei der 2006 verstorbene Dimiter Inkiow, der sich in verschiedenen Publikationen mit den alten Texten auseinandergesetzt hat. In ansprechender, sprachlich einfach gehaltener und dabei amüsanter Weise fasst er in Als Zeus der Kragen platzte (dtv junior) die bekanntesten Göttersagen zusammen und verhilft schon Achtjährigen zu einem besseren Überblick: Welcher griechische Gott ist wie mit welchem anderen verwandt? Wie kam es zu Zwist und Zwietracht, und welche Auswirkungen hatte das auf die Welt der Menschen? Katja Gehrmann fängt in ihren Zeichnungen den heiteren Grundton von Inkiows Erzählungen ein“ (S. 22). Auch in Geolino Extra. Fantasy. Die Welt der Drachen, Zwerge und Vampire findet sich eine Empfehlung von Inkiows Sagensammlung Griechische Sagen I (1997) in der Hörbuchfassung: „Klappt doch! Von Typen, die Steine rollen, und launischen Göttern: Die griechischen Sagen sind auch heute noch spannend. Vor allem, wenn sie so toll erzählt werden wie hier“ (S. 97).
12 Dies ist an den Bestsellerplatzierungen, welche wöchentlich auf der Website http://www.buchreport.de/nachrichten/bestseller.htm und monatlich im Nachrichtenmagazin Spiegel veröffentlicht werden, seit dem Jahr 2005 ersichtlich (Stand: 15.12.2013).
13 Dazu seinen exemplarisch folgende Textstellen genannt: A. Das letzte Einhorn (Peter S. Beagle, 1961): „ Arachne von Lydien !“, verkündete Rukh. „Garantiert der Welt größte Weberin – ihr Schicksal ist der Beweis dafür. Sie hatte das Pech, die Göttin Athene in einem Wettbewerb zu besiegen.“ (S. 27) B. Die unendliche Geschichte (Michael Ende, 1979): Aber eines Tages erschien ein weißhaariger, alter Schwarz- Zentaur im Zeltlager. […] Es war Cairon. (S. 44) C. Ronja Räubertochter (Astrid Lindgren, 1982): Schön waren die Druden [Diese Mischwesen aus Frau und Vogel weisen eine frappierende Ähnlichkeit mit den Harpyien auf; Anm. M.S.] und toll und grausam. Mit ihren steinharten Augen spähten sie über den Wald nach jemand aus, dem sie mit ihren scharfen Krallen das Blut aus dem Leibe kratzen konnten. (S. 29) D. Harry Potter und die Kammer des Schreckens (J.K. Rowling 1998): Fawkes schwebte um ihren Kopf herum und der Basilisk schnappte mit langen, säbeldünnen Giftzähnen nach ihm – Fawkes stürzte sich kopfüber in die Tiefe. […] – er blickte ihr direkt ins Gesicht und sah, dass ihre Augen, beide großen wulstigen Augen, vom Phoenix durchstochen worden waren; Blut floss auf den Boden und die Schlange zischte in tödlicher Qual. (S. 328)
14 Vgl. Ewers (2012), S. 19-40.
15 Im Folgenden soll für jede antike Quelle ein Beispiel genannt werden: 1. Ovids Metamorphosen: Krausser 2004, S. 212: Der Geisterhund Max berichtet den tierischen Protagonisten, die sich auf einer Katabasis befinden: „Max legte den Kopf schief. ‚Man hat Pompeii ausgegraben ? Ehrlich?‘ ‚Schon vor einiger Zeit.‘ ‚Das ist ja interessant. Ich hätts mir denken können. Nichts behält seine Gestalt. Kennst du das? Mein Herrchen liebte den Dichter Ovid, hat ihn gerne zitiert.‘“ 2. Homers Odyssee: Scherm 2007, S. 350: Homer tritt persönlich mit Odysseus ins Gespräch und lässt sich dessen Abenteuer erzählen: „Schließlich stellte Homeros fest: ‚Mein Fürst, Eure Gedanken schlagen mehr Haken, als der flinke Hase zu folgen vermag. Doch scheint mir der Schatz Eurer Erfahrungen ein guter Stoff für ein großes Epos zu sein. Man sollte es dichten, aufschreiben und es Odyssee nennen.‘“3. Hesiod Theogonie: Ohms 2013, S. 210: Philine und Eleni recherchieren im Internet nach der Abstammung der Göttin Nyx: „Philine fing an vorzulesen: ‚ Die Hesperiden sind Nymphen aus der griechischen Mythologie. Ihre Zahl schwankt zwischen drei und sieben… ‘ Sie überflog ein Stück und las dann weiter: ‚ Ihr Vater ist ja nach Überlieferung entweder Erebos, Atlas oder Hesperos und ihre Mutter ist laut Hesiod die Nyx, die Göttin der Nacht.‘“
16 Vgl. Stierstorfer, Michael: Antike Mythologie in der postmodernen Alltagskultur (KJL, Belletristik und Film). Projektskizze eines interdisziplinären Dissertationsprojekts: Das griechisch-römische Sagengut als Fundus von Desideraten und prototypischen Motiven für die aktuelle phantastische Literatur und den Fantasy-Film. In: Pegasus-Onlinezeitschrift. Wissenschaftlicher Periodikum der Didaktik der Fächer Latein und Griechisch (Im Erscheinen, 25 Manuskriptseiten).
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